Katalog der potentiellen forensischen Gutachtenfehler
Diagnose-Fehler (DiagF)
Zu:
Potentielle Fehler in forensisch psychiatrischen
Gutachten, Beschlüssen und Urteilen der Maßregeljustiz
Eine methodenkritische Untersuchung illustriert
an einigen Fällen u. a. am Fall Gustl
F. Mollath
mit einem Katalog
der potentiellen forensischen Gutachtenfehler sowie einiger RichterInnen-Fehler.
von Rudolf
Sponsel, Erlangen
_
Abstract
- Zusammenfassung - Summary
In dieser Arbeit wird im I. Teil eine Einführung in die psychiatrische Diagnose-Problematik gegeben. Im II. Teil wird das Thema Diagnose zunächst aus rechtlicher, sodann aus allgemein-medizinischer, psychiatrischer und forensisch-psychiatrischer Sicht dargelegt. Im III. Teil werden häufige und wichtige Diagnose-Fehler beschrieben und am Fall Mollath demonstriert. Im IV. Teil finden sich Anlagen zum wissenschaftlichen Apparat.
Drei Grundprobleme der forensisch-psychiatrischen Diagnostik konnten in dieser Arbeit geklärt werden:
Kompaktwissen Psychodiagnostik
Jede
Diagnose beruht auf Daten des Erlebens, des
Verhaltens
oder des Körpers (z.B. körperliche Zeichen, Reflexe,
Laborwerte, Scans). Durch Definitionskataloge, Kriterienlisten und Regeln
werden aus Daten (1. Ebene)
Symptome
(2. Ebene) und daraus
Syndrome (3.
Ebene) gewonnen. Nachdem die Daten, Symptome und Syndrome unspezifisch
sind, also bei mehreren Störungen oder Krankheiten vorkommen können,
muss nach den Regeln der Psychopathologie aus dem Befund
(4. Ebene) - der Gesamtschau aller für die Fragestellung wichtig erachteten
Daten - die Diagnose (5. Ebene) begründet werden. Der
Befund
umfasst mehr als Diagnosen im engeren medizinischen Sinne, auch Sachverhalte,
die nicht vorliegen ("ohne Befund"), was oft auch wichtig sein kann. Ist
die Diagnose nicht praktisch hinreichend sicher und kommen weitere Diagnosen
in Frage, wird dies durch die Angabe von sog. Differentialdiagnosen
- oft mit dem Kürzel "dd" - kenntlich gemacht. In der forensischen
Psychopathologie muss schließlich der Befund zu den Beweisfragen
kausal in Beziehung (6. Ebene) gesetzt werden, d.h. es ist zu begründen,
wie festgestellte Störungen z.B. bei Begehung der Tat (§ 20,
21 StGB) auf diese eingewirkt haben. Genau diese Aufgabe können wir
der forensischen
Psychodiagnostik zurechnen.
Zu fordern ist weiter eine nähere zeitliche
Angabe zum Anfang, seit wann die Störung vorliegt, welchen
Verlauf
sie genommen hat, in welchem aktuellen Status sie sich gerade
befindet und mit welchem weiteren Verlauf zu rechnen ist:
Prognose.
Unverzichtbar sind auch Angaben zur Sicherheit und Gültigkeit
der Befunde und Diagnosen.
Um den Diagnosebegriff auch auf die vorangehenden
Ebenen (Daten, Symptome, Syndrome, Befunde) anwenden zu können, ist
ein verallgemeinerter
Diagnosebegriff von Sachverhaltsfeststellungen nützlich. Tatsächlich
wird der Begriff Diagnose seit langem nicht mehr nur im medizinischen Bereich
verwendet, sondern in vielen Lebensgebieten,
in denen Störungen zu finden und festzustellen sind.
Kompaktwissen
Forensische Psychodiagnostik
Forensische Diagnosen betreffen alle psychologischen und psychopathologischen
Entsprechungen
der Rechtsbegriffe, z.B. (der Index "§"
macht deutlich, dass das Wort einen Rechtsbegriff zum Inhalt hat und keinen
alltagssprachlichen [=ohne Index], bildungssprachlichen "b"
oder fachlichen "f", z.B. "psy", mehr unten):
Nachdem man es den Worten - den Kleidern der Begriffe -
nicht ansieht, in welchem Sinne, in welcher Sprache sie gerade verwendet
werden, kann man, um Missverständnisse zu vermeiden oder zu minimieren,
Indizes verwenden. Das ist zwar oft nicht nötig, aber sehr wohl im
schwierigen Gebiet der Rechtsbegriffe und ihrer fachlichen Entsprechungen.
Viele Begriffe des Alltags, aus der Bildungs- oder den Fachsprachen werden
zu Rechtsbegriffen, sofern sie, was meistens der Fall ist, in Gesetzen
und Verordnungen vorkommen. Das wird in Schrift und Sprache des Rechts
nicht sehr deutlich gemacht, so dass es ständig zu Un- und Missverständnissen
kommt.
Verwendet man ein Wort im alltagssprachlichen Sinne,
kann man die gängige Praxis, dass der Index entfällt, als vereinbart
ansehen. Verwendet man ein Wort in einem bestimmten bildungssprachlichen
Sinne, kann man dies durch den Index b (Wortb, Rechtb)
oder gleich spezifiziert (Rechtbrockhaus, PsychologieDWB)
kennzeichnen. Eine fachsprachliche Verwendung kann man durch den Index
f
(Wortf, Psychologief) oder gleich spezifiziert
(Wortgerm, Psychologiepsy) ausdrücken. Einsichtsfähigkeitfpsy
oder Einsichtsfähigkeitfpsychiat geben Begriffe in
psychologischer bzw. in psychiatrischer Bedeutung wieder.
Probleme
und Kritik der Unzuverlässigkeit psychiatrischer Diagnosen
Die allgemeine Psychiatrie, wovon natürlich auch die forensische
Psychiatrie betroffen war, stand und steht im Grunde seit sie existiert
in der Kritik - unabhängig von ihrer Willfährigkeit gegenüber
Herrschaftssystemen. Es wurde bemängelt, dass die psychiatrische Diagnose,
die ein Mensch erhält, sehr davon abhängt, zu welcher Zeit, von
wem oder in welcher Einrichtung man gerade diagnostiziert wird. Diagnosen
in der Psychiatrie haben daher den schlechten Ruf einer gewissen Beliebigkeit,
was mit dem Anspruch einer Wissenschaft unverträglich ist. Das wurde
in mehreren kritischen Werken (z.B. Kendell 1978; Rosenhan 1973 [inzwischen
bezweifelt], Monehan 1973) eindrucksvoll belegt. Dies führte in den
1960er -70er Jahren zu drei großen und kritischen weltweiten Entwicklungen:
einerseits der Antipsychiatrie,
die die Psychiatrie gänzlich abschaffen wollte, und andererseits einer
weltweiten Psychiatriereformbewegung mit zwei Schwerpunkten: Humanisierung
der psychiatrischen Anstalten und der Entwicklung von objektiveren, genaueren
und zutreffenderen, Wissenschaftsansprüchen mehr genügenden Methoden
der Klassifikation und Diagnose (Feighner-Kriterien).
Dahinter steckt die einfache klare und nachvollziehbare Überlegung:
Wie will man kontrolliert behandeln und forschen, wenn gar nicht klar ist,
was da eigentlich behandelt und erforscht werden soll und jeder etwas anderes
meint?
Die Topeka-Tragödie des betrunkenen dänischen
Matrosen, der für 20 Jahre in der Psychiatrie verschwand, weil man
sein dänisch für "schizophrenen Wortsalat" hielt spricht für
sich.
Der Rosenhan-Versuch ergab, dass Diagnosen fast
100%ig objektiv und reliabel, aber zu 0% valide sein können. D.h.
alle BeurteilerInnen gelangen zum fast gleichen Ergebnis von dem von Anfang
an klar war - so war der Versuch aufgebaut - dass es falsch ist.
Einige Belege
zur Unzuverlässigkeit und Problematik psychiatrischer Diagnosen
Diagnosen
in der Psychiatrie nach Klaus Dörner (1981) S. 139ff:
"Es ist noch nicht lange her, seit die Psychiatrie schüchtern
angefangen hat, ihre mühsam errrungene Wissenschaftlichkeit selbst
der wissenschaftlichen Untersuchung auszusetzen, sich selbst infragezustellen,
was eigentlich die Voraussetzung jeder Wissenschaft und vor allem jedes
Fortschritts einer Wissenschaft ist. So ist es auch nicht zu verwundern,
daß es erst seit etwa 2 Jahrzehnten Untersuchungen darüber gibt,
was es eigentlich mit der [>140] Einrichtung »Diagnose« in
der Psychiatrie auf sich hat, was eigentlich damit gemessen wird, wie weit
die Ergebnisse vergleichbar und übertragbar sind, welche Réhabilitât
den Diagnosen zuzuschreiben ist, wofür sie brauchbar sind. FN1
So hatten nach Schmidt und Fonda die Psychiater
eines Krankenhauses 426 Patienten in 11 diagnostische Kategorien einzuordnen,
erreichten aber nur in 55% Ubereinstimmung. Sie war verständlicherweise
am größten bei den organisch bedingten Zuständen (74%),
schlechter bei den Psychosen (47%), am schwächsten bei den Neurosen
(24%). Beck ließ Patienten jeweils von 2 erfahrenen Psychiatern diagnostizieren.
Obwohl nur 6 mögliche Diagnosen zur Auswahl vorgegeben waren, lag
die Übereinstimmung bei 50%. Ward et al. untersuchten die Ursachen
für die mangelhafte Ubereinstimmung der Beck'schen Untersuchung: in
5% der Fälle lag es an der Inkonsistenz der Patienten (sie stellten
sich dem jeweiligen Diagnostiker unterschiedlich dar); 32,5% betraf die
Diagnostiker-Inkonsistenz (unterschiedliche Interview-Technik bzw. Daten-Interpretation);
in 62,5% der Fälle war die Ursache die Inadäquatheit der 6 diagnostischen
Kategorien. Selbst bei der einfachen alternativen Entscheidung schizophren
oder nicht, finden verschiedene Untersucher 10-40% Übereinstimmungsmangel.
Vor einigen Jahren lag das Verhältnis schizophren: manisch-depressiv
an der Hamburger Klinik 10 : 90, an der Heidelberger Klinik jedoch 70 :
30. Wir alle kennen Patienten, denen zur selben Zeit von 5 Psychiatern
5 verschiedene Diagnosen zugesprochen werden, oder Krankengeschichten bzw.
Begutachtungsakten, die im Lauf der Zeit das ganze Diagnosenschema durchlaufen.
Neben einer solchen UnZuverlässigkeit der Diagnosen,
die das Reden von einer gemeinsamen Fachsprache lächerlich macht,
schon weil 5 Psychiater aus 5 verschiedenen Schulen ganz unterschiedliche
Dinge wahrnehmen und andere ignorieren, ist die mangelhafte Beziehung zwischen
Symptom-Beschreibung und Diagnose zu erwähnen. Lehrbuch und klinischer
Alltag haben wenig miteinander zu tun. Zigler und Phillips haben Diagnosen
und Symptome in 793 Krankengeschichten verglichen. Sie fanden, daß
Symptomhäufigkeiten bei Diagnosen auftreten, für die das eigentlich
nicht vorgesehen ist; daß Patienten gute Chancen haben, eine Diagnose
zu bekommen, ohne die zugehörigen Symptome zu bieten; daß bezogen
auf die Gesamtpopulation auch die wesentlichen Symptome wenig häufig
auftreten, teils nicht häufiger als in der »normalen«
Population; und daß die Symptome sich diagnostisch in großem
Ausmaß überlappen. Während die Lehrbücher vorschreiben,
daß neurotische Störungen oft, Persönlichkeitsstörungen
selten subjektive Angst haben, fanden Ullmann und Hunrichs in Wirklichkeit
eher das Gegenteil. Andererseits wird zwar behauptet, daß die [>141]
Verhaltensbeschreibung diagnostisch neutral sei, doch wissen alle, daß
z. B. mit »läppisch« hebephren und mit »ideenflüchtig«
manisch gemeint ist.
Problematisch bleibt auch, daß die meisten
Diagnosen ideal-typisch konstruiert sind, d. h. nach den seltenen reinen
Fällen, den »Lehrbuchfällen«. Uber diese sagen sie
viel aus, über die große Mehrheit der anderen, die eigentlich
die Wirklichkeit ausmachen, wenig. Diagnosen sagen weiterhin meist nichts
über den Ausprägungsgrad der Symptome aus, nichts über den
Kontext, in dem das symptomatische Verhalten entsteht, nichts über
die große oder geringe Bedeutung der Störung für das Leben
des Individuums, nichts über die Funktionsbereiche, die von der Störung
nicht betroffen sind und - nur wenig über die Möglichkeiten therapeutischen
Vorgehens.
Bannister et al. untersuchten an 1000 Patienten die Beziehung zwischen
Diagnose und Therapie. Sie fanden, daß je nach der Zahl der diagnostischen
Kategorien die Diagnosen nur in 18 bis 33 % der Fälle richtige Voraussagen
auf die Wahl der geeigneten Therapie erlaubten. Sie schlossen daraus, daß
offenbar andere Faktoren wichtiger für die Therapie sind als die Diagnose.
Angesichts der UnZuverlässigkeit und Inkonsistenz
der psychiatrischen Diagnostik, der unzureichenden Beziehung zwischen Diagnose
und Symptomatik bzw. Therapie (zu schweigen von der Beziehung zu den Ursachen,
zur Ätiologie), sind wir in unserem Überlegungen an den Punkt
gekommen, an dem zu sagen ist, daß unter wissenschaftlichen Kriterien
die ganze Einrichtung der psychiatrischen Diagnostik nach dem Modell der
Körpermedizin fragwürdig geworden ist und ihrem eigenen Anspruch,
Ordnung und Handlungsanweisungen zu vermitteln, nicht gerecht wird. Die
gesamte Forschung, die auf den Fiktionen der psychiatrischen Diagnostik
basiert, ist entweder überflüssig oder in ihrem Aussagewert erheblich
eingeschränkt. Die Ausbildung hätte sich ebenfalls nach anderen
Kriterien umzusehen als denen der Diagnostik."
Monahan-Studie
"Bereits die Monahan-Studie aus dem Jahre 1973 stellte fest, dass zwischen
65% und 95% aller Personen, die von Psychiatern als gefährlich eingestuft
wurden, dies in Wirklichkeit nicht sind. Studien in den 70er, 80er und
90er Jahren an Psychiatriepatienten lieferten Erkenntnisse, die schockierend
sind: Eine Studie an 131 nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Patienten
des Psychiatric Center in New York ergab 1985, dass schätzungsweise
75% aller Patienten bei der Einlieferung ins Zentrum fehldiagnostiziert
wurden." [G&M
20.11.2008]
Rosenhan-Versuch (1973)
"Rosenhan (1973) ließ zwölf freiwillige Versuchspersonen
ohne jegliche psychische Störungen in verschiedene psychiatrische
Kliniken einweisen. Bei der Aufnahme sollten die Pseudopatienten lediglich
ein Symptom berichten, ansonsten jedoch völlig zutreffende Angaben
über sich und ihre Lebensumstände machen. Als Symptom wählte
der Autor ein Verhalten aus, das noch nie in der Fachliteratur beschrieben
worden war: Die Versuchspersonen sollten angeben, sie hörten Stimmen,
die (in deutscher Übersetzung) "leer", "hohl" und "bums" sagten. Unmittelbar
nach der Aufnahme berichteten die "Patienten" nicht mehr von diesem Symptom
und verhielten sich auch ansonsten völlig normal. Trotzdem wurden
alle Patienten als psychotisch diagnostiziert (elfmal als schizophren,
einmal als manisch-depressiv). Es lag also ein außerordentlich hohes
Ausmaß an diagnostischer Übereinstimmung vor. Dennoch waren
alle Diagnosen falsch, sie besaßen also keine Validität."
Quelle (S. 7): Margraf, J. (1994)
Mini-DIPS. Diagnostisches Kurz-Interview bei psychischen Störungen.
Berlin: Springer.
Inzwischen sind Zweifel an der Studie geäußert
geworden (22.6.2018, updated 2.11.2019 New York Post). Cahalan, Susannah
(2019) The Great Pretender: The Undercover Mission That Changed Our Understanding
of Madness. Hachette Nashville: Grand Central Publishing.
Topeka Skandal (1950/60er Jahre)
Günter Ammon (1979, I.) berichtet in der Einleitung S. 1f: " Wenige
Jahre bevor ich nach Topeka kam, war das dortige State-Hospital noch eine
mittelalterliche Verwahranstalt. Niemand fühlte sich für das,
was dort geschah, verantwortlich. Es gab dort außer einem Superintendenten,
der die Funktion des ärztlichen Direktors hatte, zwei Abteilungsärzte,
von denen einer Alkoholiker und der andere kein Psychiater war. Dazu kamen
zwei Krankenschwestern und eine Anzahl unausgebildeter grobschlächtiger
Pfleger. Ein Journalist, der sich als Patient in die Anstalt eingeschmuggelt
hatte, berichtete in der Presse über die unmenschlichen Zustände
in der Klinik und meldete diese den Behörden. Die staatlichen Instanzen
konnten nicht mehr länger an den bislang totgeschwiegenen Mißständen
vorbeigehen. Bei der öffentlichen Untersuchung stellte sich heraus,
daß über die Hälfte der Patienten längst hätte
entlassen werden können. So wurde dort [>2] zum Beispiel
ein dänischer Matrose gefunden, der vor zwanzig Jahren betrunken aufgegriffen
worden und dann in der Klinik festgehalten worden war, weil man seine dänische
Sprache für »schizophrenen Wortsalat« hielt. Je mehr er
tobte, um so mehr galt dies als ein Beweis für seine angebliche schizophrene
Erkrankung. In dieser Anstalt waren noch Zwangsjacken in Gebrauch, im Keller
befanden sich Anschnallstühle und Ketten."
Schlechte Ärzte ?- Fehldiagnosen bei Psychiatern liegen bei 45 %. November 20th, 2008 - 03:45 in: Gesundheit & Medizin [G&M 20.11.2008]
"Wegen Fehldiagnose: Mädchen 6 Jahre in der Psychiatrie Weil die Diagnose Schizophrenie lautete, wurde eine damals 15-Jährige in die Psychiatrie eingewiesen. Dort verbrachte sie die nächsten sechs Jahre ihres Lebens. Innerhalb dieser sechs Jahre hatte sie zwar auch die Klinik gewechselt, allerdings habe es nie eine neue Untersuchung oder Diagnose gegeben...." [paradisi 18.2.2008]
Diagnose-Hilfen Checklisten, Kriterien,
Definitionen, Beschreibungen
Eine der Folgen der Krise der Fehldiagnosen in der Psychiatrie war,
dass man sich verstärkt daran machte, mit Hilfe mit Kriterien, Checklisten,
Definitionen, Beschreibungen und Charakterisierungen dem Fehl- und Willkür-Diagnosenproblem
beizukommen. Leider ist man hier nicht tief und konsequent genug vorgegangen,
so dass noch einiges zu tun bleibt, vor allem an der Basis, den Daten
des Erlebens und Verhaltens und ihrer Beziehung zu den Symptomen.
Die Grundaufgabe der Diagnostik ist die Erfassung
für bedeutsam erachteter Daten der verschiedenen Ebenen, ihre Absicherung
und Dokumentation. Für die Standardaufgaben der Diagnostik sollten
die Checklisten, Kriterien, Definitionen, Beschreibungen und Charakterisierungen
eine Hilfe sein (z.B.: AMDP,
CPRS, ICD-10, IMPS, PSE,
SCL-90-R, ).
Die folgende falsche Ansicht bezüglich der kleinsten Bausteine
erklärt, weshalb die psychiatrischen Diagnosen leider immer noch auf
sehr sumpfigen Boden stehen:
Exkurs Kritik amerikanischer
Fehlentwicklungen: der DSM-5
Kritisch merkten Hoff & Sass (2010) im HBFP, Bd. 2, an, S. 24: "Vor allem, aber keineswegs nur von juristischer Seite (Blau 1989) ist kritisch darauf hingewiesen worden, dass die operationalen Diagnosesysteme eine starke Erweiterung des Kataloges psychischer Störungen hervorgerufen haben; so etwa enthält das DSM-IV ca. 1000 Einzelkriterien für 395 psychiatrische Diagnosen. Es wird eine „Psychiatrisierung des Alltags“ befürchtet, etwa dergestalt, dass auch leichte und noch dem normalpsychologischen Bereich zuzuordnende Stimmungsschwankungen bereits mit einer psychiatrischen Diagnose versehen werden."
DSM-5 Diese Befürchtung ist nun mit dem DSM-5 in einem unerträglichen Maße eingetreten. Damit haben die Amerikaner aufgrund des Drucks der Pharma- und Psychiatrisierungsindustrie das Feld der Wissenschaft verlassen und es ist nur zu hoffen, das der ICD-11 nicht auch diesen Irrweg geht.
1 Die forensisch-psychopathologische Diagnose im Recht und Kommentaren
Im Zusammenhang mit dem Rechtsbegriff der Schuldfähigkeit habe
ich
BGH-Entscheidungen
von 2000-2013 (Belege a.a.O.) ausgewertet. Zusammenfassend ergab sich
folgendes: "Diagnosen oder Feststellungen von psychischen Störungen
genügen
nicht, um die Voraussetzungen für Schuldunfähigkeit zu
begründen. Es müssen konkrete, nachvollziehbare und
ausführliche Darlegungen erfolgen, zu welchen Eingangsmerkmalen
des § 20 StGB die einzelnen Störungen gehören und wie sie
sich auf die einzelnen Handlungen bei Begehung der Tat(en) auswirken (wie
es der § 20 auch treffend formuliert: "Ohne
Schuld handelt, wer
bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften
...
"). Dies ist auch schon deshalb notwendig, damit sich das Gericht ein eigenes
Bild und Urteil bilden kann, wozu es auch verpflichtet
ist. Daher darf das Gericht ein Sachverständigengutachten nicht einfach
übernehmen, vielmehr muss es das Gutachten kritisch prüfen und
kontrollieren. Das geht natürlich nur, wenn das Gutachten in klarem
Deutsch vorliegt und sein Vorgehen übersichtlich deutlich
macht und angemessen begründet. Die Diagnosen, die den
Eingangsmerkmalen zugeordnet werden, müssen sicher sein
und dürfen nicht als Vermutungen, Möglichkeiten, hypothetische
Erwägungen bzw. durch oder verknüpfte Alternativen formuliert
sein. Bei Persönlichkeitsstörungen ist zudem eine Gesamtschau
und umfassende Betrachtung (Lebensverlauf, Persönlichkeit,
Verhalten vor der Tat, bei der Tat und nach der Tat) erforderlich. Die
näheren
Umstände der Tat sind stets beachtlich, aufzuklären und
ausreichend zu erörtern. Im einzelnen ist dazulegen,
wie die Störung sich bei der Tat auf Einsicht
und Steuerung auswirkte. Liegt erhebliche Verminderung der
Einsichtsfähigkeit vor, ist genau zu klären, ob sich daraus ergibt,
dass die Einsicht in das Unrecht der Tat fehlte, nur dann wäre Unterbringung
veranlasst."
Im folgenden gebe ich daher nur zwei besonders wichtige
Beschlüsse zu den Anforderungen an ein psychiatrisches Gutachten und
einige, von der obigen Quelle nicht erfasste, Entscheidungen wieder.
Nachvollziehbarkeit,
Transparenz, Weg angeben BGH, Urteil vom 21. 1. 2004 - 1 StR 346/03
(LG Stuttgart), NJW 2004, 1810
"cc) ... Bei der forensischen Begutachtung hat sich der Sachverständige
methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen
Kenntnisstand gerecht werden. ... In seinem Gutachten hat er nach den Geboten
der Nachvollziehbarkeit und der Transparenz für alle Verfahrensbeteiligten
nach Möglichkeit darzulegen, auf Grund welcher Anknüpfungstatsachen
und auf welchem Weg er zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist
(vgl. BGHSt 44, BGHST Jahr 44 Seite 26 [BGHST Jahr 44 Seite 33] = NJW 1998,
NJW Jahr 1998 Seite 2458 = NStZ 1998, NSTZ Jahr 1998 Seite 422; BGHSt 45,
BGHST Jahr 45 Seite 164 [BGHST Jahr 45 Seite 169] = NJW 1999, NJW Jahr
1999 Seite 2746 = NStZ 2000, NSTZ Jahr 2000 Seite 100; st. Rspr.).
BGH
Anforderungen an ein psychiatrisches Gutachten u.a. Diagnosesicherheit
und Verwerfung von "Oder-Diagnosen" bei den Eingangsmerkmalen
Beschluß vom 12.11.2004 - 2 StR 367/04 (LG Koblenz), in: BGH:
Anforderungen an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten NStZ
2005, 205. Randnummer 2 a) Aus den Gründen des BGH-Beschlusses:
“Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH
kann für die Anwendung der §§ STGB § 20, STGB §
21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben, welche der Eingangsvoraussetzungen
des § STGB § 20 StGB vorliegt. Das gilt gleichermaßen für
die Anordnung des § STGB § 63 StGB (vgl. BGH NStZ-RR 2003, NSTZ-RR
Jahr 2003 Seite 232; StraFo 2003, 282; Beschl. v. 21. 9. 2004 - 3 StR 333/04),
denn dieser setzt einen länger dauernden psychischen Defektzustand
des Betr. voraus, auf welchem dessen Gefährlichkeit beruht (vgl. etwa
BGHSt 34, BGHST Jahr 34 Seite 24, BGHST Jahr 34 Seite 28; 42, BGHST Jahr
42 Seite 385, BGHST Jahr 42 Seite 388; BGH NStZ 1991, NSTZ Jahr 1991 Seite
528; NStZ-RR 1997, NSTZ-RR Jahr 1997 Seite 166; 2000, NSTZ-RR Jahr 2000
Seite 298; LK-Hanack 11. Aufl., § 63 Rn 66; Tröndle/Fischer 52.
Aufl., § 63 Rn 6f., 12 - jew. mwN). Selbst wenn im Einzelfall die
Grenzen zwischen diagnostischen Zuordnungen nach einem der gängigen
Klassifikationssysteme fließend und die Einordnung unter eines der
Eingangsmerkmale des § STGB § 20 StGB schwierig sein mögen,
weil z.B. mehrere Merkmale gleichzeitig vorliegen oder keines in „reiner”
Form gegeben ist, ist das Tatgericht gehalten, zum einen konkrete Feststellungen
zu den handlungsleitenden Auswirkungen der Störung zum Zeitpunkt der
Tat (vgl. § STGB § 20 StGB) zu treffen und zum anderen auf der
Grundlage einer umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Lebensgeschichte,
Lebensumständen und Verhalten des Angekl. und der Anlasstat in nachprüfbarer
Weise darzulegen, worin der [<205] „Zustand” des Beschuldigten besteht
und welche seiner Auswirkungen die Anordnung der gravierenden, unter Umständen
lebenslangen Maßregel nach § STGB § 63 StGB gebieten. Die
bloße Angabe einer Diagnose im Sinne eines der Klassifikationssysteme
ICD-10 oder DSM-IV ersetzt weder die Feststellung eines der Merkmale des
§ STGB § 20 StGB noch belegt sie für sich schon das Vorliegen
eines Zustands i.S.d. § STGB § 63 StGB (vgl. BGH Beschl. v. 21.
9. 2004 - 3 StR 333/04 mwN).“ Dies wird in Randnummer 9 bekräftigt.
Überdies Randnummer 11 ee) Feststellung und Begründung der Diagnose
einer Störung belegen nicht deren strafrechtliche Relevanz."
BGH zum Thema: Zufallsbefunde, Befunderhebungsfehler und Diagnoseirrtum Urteil vom 21.12.2010 - VI ZR 284/09 - . In den Leitsätzen wird ausgeführt: "BGB § 280 Abs. 1, § 823 Abs. 1 Aa, ZPO § 286 B
BGH zum Problem
neuer Tatsachen und psychiatrischer Diagnosen Beschluss vom 22.
Februar 2006 - 5 StR 585/05 -, hieraus:
bb) Beachtlich sind nach dem Wortlaut von § 66b Abs. 1 und Abs.
2 StGB nur solche Tatsachen, die vor Ende des Vollzugs „erkennbar“ geworden
sind. Umstände, die schon für den früheren Tatrichter erkennbar
waren, die er aber nicht erkannt hat, scheiden als neue Tatsachen aus (BGH
NStZ 2005, 561, 562 m. Anm. Ullenbruch; BGH NStZ 2005, 684, 686). In diesem
Sinne „erkennbar“ sind auch so lche Umstände, die ein Tatrichter nach
Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO für die Frage der Anordnung
einer freiheitsentziehenden Maßregel hätte auf klären müssen
(BGH StV 2006, 66).
Die bloße neue (abweichende) Bewertung von
bereits bei der Anlassverurteilung bekannten oder erkennbaren Tatsachen
– insbesondere eine abweichende psychiatrische Diagnose auf bekannter Tatsachengrundlage
– stellt keine „neue“ Tatsache dar (vgl. BGH NStZ 2005, 684, 686; BGH StV
2006, 66, 67; BGH, Urteile vom 19. Januar 2006 – 4 StR 222/05 sowie 393/05;
Tröndle/Fischer aaO § 66b Rdn. 14). Rechtsfehler, die durch mangelnde
Aufklärung oder infolge Nichtberücksichtigung bereits bekannter
oder erkennbarer Tatsachen entstanden sind, dürfen nicht durch die
nachträgliche -Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
korrigiert werden (BGH NStZ 2005, 561, 562; 684, 686; StV 2006, 66, 67).
cc) Entscheidender Zeitpunkt für die Frage der Neuheit derartiger Tatsachen ist nicht stets die letzte Tatsachenentscheidung bei der Anlassverurteilung (vgl. BGH NStZ 2005, 684, 686; BGH, Beschluss vom 12. Januar 2006 – 4 StR 485/05), sondern bei weiteren Verurteilungen die letzte Tatsachenverhandlung, in der eine Entscheidung über die primäre Anordnung von Sicherungsverwahrung hätte erfolgen können (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 106 m. Anm. Eisenberg StV 2005, 345; a. A. OLG Brandenburg NStZ 2005, 272, 275; Veh NStZ 2005, 307, 309 ff.). „Neu“ im Sinne der Rechtsprechung zu § 66b Abs. 2 StGB können damit nur solche Tatsachen sein, die nach der letzten Möglichkeit, Sicherungsverwahrung anzuordnen, erkennbar wurden. Dies ergibt sich aus Folgendem: ... ..."
BGH Psychiatrische
Diagnose nicht mit Eingangsmerkmal § 20 StGB gleichzusetzen, Beschluss
vom 6. Oktober 2005 - StR 328/05 -
"... Die im Urteil wiedergegebenen Ausführungen des Sachverständigen, es liege keine Pädophilie, sondern eine Störung der Sexualpräferenz vor, lassen bereits daran zweifeln, ob überhaupt ein Störungsbild zutreffend festgestellt worden ist, denn die Pädophilie (ICD 10 F65.4) ist eine von mehreren Störungen der Sexualpräferenz (vgl. Dilling, Mombour, Schmidt [Hrsg.], Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 5. Aufl. S. 244 ff.). Es fehlt zudem an einer Beschreibung des Ausprägungsgrades der angenommenen Störung und ihrer Auswirkung auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten, so dass der Senat nicht nachvollziehen kann, warum das Landgericht von einer beim Angeklagten vorliegenden schweren ander en seelischen Abartigkeit ausgegangen ist (vgl. BGHSt 49, 45, 52).
Zudem lassen die Darlegungen besorgen, es sei der Sachverständige gewesen, der aus einem Störungsbild unmittelbar auf die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit und von da wiederum unmittelbar auf die Bejahung erheblich eingeschränkter Steuerungsfähigkeit geschlossen hat, und das Landgericht habe die Verteilung der Verantwortlichkeit zwischen dem Sachverständigen und dem Richter verkannt. Die psychiatrische Diagnose eines Störungsbildes ist nicht mit einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB gleichzusetzen. Ob der sachverständige Befund unter ein Eingangsmerkmal des § 20 StGB zu subsumieren ist, entscheidet nach sachverständiger Beratung der Richter. Gleiches gilt für die sich daran anschließende Frage, ob dadurch die Schuldfähigkeit des Angeklagten erheblich eingeschränkt ist (vgl. Boetticher/ Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57, 58). ..."
DiagF09r
Ferndiagnosen sind verboten
> Fachliche Beurteilung DiagF09f,
Beispiele DiagF09b.
Auch sog. Aktengutachten können als
Ferndiagnosen angesehen werden, weil sie nicht auf persönlicher Untersuchung
und Exploration beruhen (> Zum Okkultismus
in der forensischen Psychiatrie)
§ 48 Die Diagnosestellung Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. Auflage 2010 (fett-kursiv RS)
II. Verbot der Ferndiagnose
Randnummer 5 Ebenso wie eine Fernbehandlung ist die Ferndiagnose
unzulässig. FN1 Das schließt nicht aus, dass der
Arzt in Notfällen und telefonischer oder telematischer Information
berechtigt ist, bis zu seinem Eintreffen einstweilige Maßnahmen anzuordnen.FN2
FN1 Vgl Kern MedR 495; Kroha, 28; BGH VersR 1959, 589; 1961, 1039;
1971, 1123; 1975, 283; BGH DMW 1983, 1571; OLG Hamm VersR 1980, 291. zurück
zum Text
FN2 Vgl E Schmidt, Die Besuchspflicht des Arztes, DMW 1955, 1216;
Weißauer, Anästhesiologische Informationen, 1974, 126; Kern
MedR 497. "
Begriff
der Differentialdiagnose im Arztrecht
§ 48 Die Differentialdiagnose Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts,
4. Auflage 2010 nach beck-online.
"Randnummer 10 Differentialdiagnose bedeutet wörtlich die Unterscheidung
oder Erkenntnis des Unterscheidbaren. Bevor die Diagnose auf eine bestimmte
Krankheit festgelegt wird, sind andere Krankheiten und Syndrome zu vergleichen
und auszuschließen. Demgegenüber steht die nosologische Methode,
dh die systematische Aufzählung aller mit einer bestimmten Krankheit
verbundenen Erscheinungen. Die kausale Diagnose umfasst die Ätiologie,
dh den eigentlichen und tieferen Grund der Störung, und die Pathogenese,
dh den Entstehungsmechanismus. Nur die kausale Diagnose ermöglicht
zugleich auch eine kausale Therapie. Begrifflich zu unterscheiden sind
ferner die vorläufige Diagnose (Verdachtsdiagnose/Arbeitsdiagnose)
FN1 nach der ersten Untersuchung, die Gruppendiagnose als Auswahl verschiedener
Möglichkeiten und die endgültige Diagnose. FN2
FN1 Steffen/Pauge RdNr 155; Geiß/Greiner RdNr B 55. Im Therapieversuch
eines praktizierenden Orthopäden mit geringen Dosen von Kortisonpräparaten
bei medizinisch vertretbarer Verdachtsdiagnose auf chronische Polyarthritis
ist auch dann kein Behandlungsfehler zu sehen, wenn der Arzt noch nicht
alle diagnostischen Mittel ausgeschöpft hatte. Vgl OLG Celle VersR
1989, 806.
FN2 Groß, in: Eser/Lutterotti/Sporken, Sp 261, empfiehlt,
die vorläufige Diagnose zur Selbstkontrolle für die weiteren
Untersuchungen und als Hilfe für etwaige andere Ärzte schriftlich
niederzulegen."
2
Einige Fachmeinungen zu Diagnosemethoden und Diagnosefehlern in der Medizin,
Psychologie, Psychopathologie, Psychiatrie und in der Forensik
mit Exkursen zur Klassifikation
der Kritik, zur radikalen Kritik
der Antipsychiatrie, zur Realität
des Psychischen und der zwei Welten und zur Wissenschaftstheorie:
nomothetisch und idiographisch, erklären und verstehen in den Psychowissenschaften.
2.1 Exkurs: Hintergrund und Situation zur Lage und Kritik der Psychiatrie
Die Psychiatrie hat es mit Ausnahme- und Grenzsituationen zu tun; oft
mit Menschen, die ihre Selbstlenkungsfähigkeit
entscheidend eingebüßt haben, die von ihren Angehörigen
nicht mehr getragen werden können; die Symptome und Verhaltensweisen
produzieren, die unverständlich, unberechenbar und unbeeinflußbar
erscheinen und von daher auch nicht selten Angst, Hilflosigkeit, Wut und
Ablehnung hervorrufen. So gesehen wundert sich wohl niemand, dass außergewöhnliche
Ausnahme- und Grenzsituationen auch außergewöhnliche Reaktionen,
Verfahrens- und Behandlungsweisen mit sich bringen können. Und deshalb
hat die Psychiatrie auch gute Chancen, so lange sie existiert, im Brennpunkt
vielfältiger Kritik zu stehen. Das Ringen um angemessene Behandlungsweisen
wird womöglich eine immerwährende Aufgabe bleiben. Wo immer Menschen
große Macht über andere Menschen haben - z.B. in Heimen, Erziehungsstätten,
Gefängnissen, Krankenhäusern, Gefangenenlagern und in besonders
von Abhängigkeit bedrohten Verhältnissen (z.B. tiefenregressiven
Psychotherapien, interessegeleiteten Begutachtungssituationen) - ist eine
besondere, unabhängige Kontrolle notwendig. Das gilt auch für
die Psychiatrie. Wir alle sind gefährdet, ob als potentielle TäterInnen
oder Opfer, weil keiner über den Verhältnissen steht und kaum
einer gegen alle Versuchungen gefeit ist. Kritik an und Kontrolle der Psychiatrie,
wie an anderen Einrichtungen mit entsprechender Macht über Menschen,
ist nicht nur erlaubt, sondern wichtig, ja notwendig, wobei aber natürlich
auch die Kritik selbst keine heilige Kuh und ihrerseits kritikwürdig
ist.
2.1.1 Klassifikation
der Kritik [Quelle]
Die Kritik an der Psychiatrie möchte ich wie folgt unterscheiden:
Bei allen Kritiken gibt es die Möglichkeit einer jeweils verschärften
Variante, indem AnerkennerInnen des geleugneten und bekämpften Sachverhaltes
entwertet und teilweise regelrecht niedergemacht, entehrt und beleidigt
werden, wenn sie als Unmenschen, VerbrecherInnen, Folterknechte, FaschistInnen
etc. beschimpft werden. K1 bedeutet demnach, dass nicht nur psychische
Störungen wie z.B. Wahn, Halluzination, Identitätsverlust oder
der Verlust der Selbstlenkungsfähigkeit geleugnet und bekämpft
werden, sondern die AnerkennerInnen als Unmenschen, VerbrecherInnen, Folterknechte
und FaschistInnen beschimpft und beleidigt werden. Diese Methode ist typisch
für viele Antipsychiatrischen.
2.1.2 Zur
grundlegenden Kritik der Antipsychiatrie
In seinem berüchtigten Buch Geisteskrankheit - Ein moderner
Mythos faßt Thomas Szasz seine radikalen antipsychiatrischen
Thesen zur Psychiatrie in einem Nachtrag vom 1.1.1972 wie folgt zusammen
[Quelle S. 195/96],
Zusammenfassung (S. 294 f):
Geist wird von Szasz vom Körper getrennt und als etwas Nichtkörperliches
angesehen, ein Standpunkt, der in der mittelalterlichen Philosophie und
Theologie sehr vertreten wurde und in Descartes'
Dualismus-Wahn gipfelt. Mit der dogmatischen Definition, dass Krankheiten
nur im Körper vorkommen können und Geist nach Szasz per definitionem
nicht zum Körper gehört, gibt es auch keine Geisteskrankheit.
Nun gibt es sowieso keine Krankheiten in der Natur. Krankheit ist eine
- sozialrechtliche - Konstruktion des Menschen: der Mensch definiert bestimmte
Zustände als krank. Im Grunde geht es bei dieser Position von Szasz
um die Realität des Psychischen, der ich mich nun zuwenden möchte
(mehr und detaillierte Kritik an der Position von Szasz finden Sie hier).
2.1.3 Zur Realität
des Psychischen und der zwei Welten
Die allermeisten Menschen dieser Welt zweifeln nicht daran, dass sie
etwas erleben,
z.B. wahrnehmen, vorstellen, phantasieren, fühlen, empfinden, gestimmt
und verfasst sind, wünschen, wollen, denken, erinnern, planen, entscheiden,
entschließen und schließlich auch tun oder lassen, sprechen
und ausdrücken.
In Frage gestellt wird dies nur von einigen wenigen
radikal, mitunter sophistisch eingestellten Skeptikern, Hirnforschern und
von der Antipsychiatrie. Ich gehe in dieser Arbeit ebenso von der Realität
des Psychischen aus wie von der Tatsache, dass psychisches Erleben zu Recht
als gestört, ja als krankhaft beurteilt werden kann. Tun und Lassen
ist mitunter deutlich gestört, z.B. bei Impulsivität, Zwang,
Sucht, Hörigkeit, Depression, Ich-Störungen bei Schizoprenien
(wenn Schübe die Kontrolle übernehmen).
Wer das Psychische nicht als Realität anerkennt,
mit dem kann man nicht und braucht man auch nicht zu sprechen.
Aber gestritten wird unter dem Stichwort Leib-Seele-Problem in der
Philosophie und Wissenschaft seit Menschengedenken, welcheRealität
dem Psychischen zukommt, was das für eine Realität sein soll.
Im wesentlichen wurden hier folgende Standpunkte eingenommen:
2.1.4
Nomothetisch und idiographisch, Erklären und verstehen in den Psychowissenschaften
Von Windelband (1894) wurde der scheinbare Gegensatz zwischen der nomothetischen,
Gesetze und Regel suchenden, und der idiographischen, den konkreten Einzelfall
verstehenden, Wissenschaft geschaffen. Dilthey (1900) stiftete den scheinbaren
Gegensatz zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem
Verstehen.
In der Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie
haben wir es in der Praxis immer mit dem Einzelfall oder einem individuellen
Einzelfall-System (z.B. Familie) zu tun. Gesetzesartiges oder Regelhaftes
gibt es aber nicht nur im Längsschnitt, in Entwicklung und Verlauf,
sondern auch im Einzelfall. Einen prinzipiellen Gegensatz zwischen erklären
und verstehen vermag ich nicht zu erkennen. Wenn jemand einen Pullover
anzieht, weil ihm zu kalt ist, so können wir sinnvoll und verständlich
sagen, wir erklären das Pullover anziehen mit unangenehm erlebtem
Kälteempfinden. Sagen wir, wir verstehen, dass er einen Pullover
anzieht, weil ihm kalt ist, schwingt hier mit, dass wir uns einfühlen
können, dass wir selbst Ähnliches schon erlebt haben. Diese Bedeutung
hat sich seit Windelband und Dilthey in den Geisteswissenschaften - und
seit Jaspers (1913) in der Psychopathologie - eingebürgert, so mag
man sie denn so belassen; hier aber mit der Erweiterung, dass in den Sozial-
und Geisteswissenschaften erklären und Erklärung sowohl erwünscht
als auch möglich und zulässig sind. Die meisten dürften
nicht verstehen, wie jemand auf Befehl von Stimmen einen Angehörigen
umbringt, weil die allermeisten das selbst noch nie erlebt haben, aber
dieser Sachverhalt taugt durchaus als Erklärung für einen Mord
durch einen schizophrenen Schub. Ich werde in meinen forensischen Arbeiten
diesen künstlichen und falschen Gegensatz nicht übernehmen und
nicht weiter pflegen. Den Grundfragen des Verstehens gehe ich in einer
anderen Arbeit nach.
Das Thema erklären und verstehen spielt auch
in der Psychiatrie eine historische Rolle (Jaspers, Kehrer, Gruhle, Straus).
Besonders aber in der forensischen Psychiatrie (> Beweisfragen-Fehler),
wenn es z.B. darum geht, festzustellen, inwieweit die psychopathologischen
Entsprechungen ("Voraussetzungen") für Einsichts-§
und Steuerungsfähigkeit§, Gefährlichkeit§
oder Wiederholungsrisiko§ vorliegen.
2.2.1 Medizinische Diagnostik in Wörterbüchern und Lexikas
Pschyrembel, 257. A.
(1994), S. 322:
"Diagnose (gr. ..., Entscheidung) f: (engl.)
diagnosis; zweifelsfreie Zuordnung einer gesundheitl. Störung zu einem
Krankheitsbegriff; i. w. S. Bez. f. ein Symptom (z. B. Akutes Abdomen)
bzw. eine Vermutung (sog. Verdachtsdiagnose); vgl. Klassifizierung.
Diagnosenschlüssel, klinischer (*):
Abk. KDS; für klin. Dokumentationszwecke entwickeltes, aus fünfstelligen
numerischen Diagnoseschlüsseln bestehendes, zweidimensionales (Topographie,
Nosologie) Klassifikationssystem für Krankheiten; vgl. Internationale
Klassifikation der Krankheiten.
Diagnostik (gr. ... fähig zu unterscheiden)
f: (engl.) diagnostic investigation; Sammelbez. f. Verfahren, die zur Abklärung
einer Krankheitsursache bzw. Beratungsursache* angewandt werden, z. B.
Befragung (Anamnese*), körperliche Untersuchung, ggf. apparative u.
Laboruntersuchungen. Bei häufig auftretenden, typischen u. meist gutartigen
Erkr. wird in der Basisversorgung i. d. R. ein sog. abwartendes Offenlassen
(Klassifizierung mit Verzicht auf exakte Diagnose) praktiziert."
Roche Lexikon Medizin
(1998), S. 376f:
"Diagnose, Diagnosis: die nosologisch-systemische
Benennung eines Krankheitsbildes, in der Praxis die Summe der Erkenntnisse,
auf denen das ärztliche Handeln beruht; vgl. Diagnostik. [E] diagnosis
- D. per exclusionem: eine nicht direkt aufgrund der Befunde, sondern
durch Ausschluß konkurrierender Diagnosen gestellte Diagnose (Differentialdiagnostik).
[E] d. by exclusion. - D. ex juvantibus Diagnose anhand eines Therapie-Erfolges
oder -Mißerfolges.
Diagnostik: alle auf die »Erkennung«
eines Krankheitsgeschehens als definierte nosologische Einheit (vgl. Diagnose)
gerichteten Maßnahmen. Umfaßt die Erhebung der Anamnese, Untersuchung
des Patienten, evtl. auch seiner Ausscheidungen, Körpersäfte
(u.a. als Serumdiagnostik), Gewebe bzw. Zellen (Biopsie, Zytodiagnostik),
Strahlenanw. (als Röntgendiagnostik, Szintigraphie), Nutzung bioelektrischer
Ströme (EKG, EEG, EMG) oder des Schalls (Audiometrie, Ultraschalldiagnostik).
- I.w.S. auch Bez. für die »Diagnoselehre«. [E] diagnostic
investigation. - D., invasive: D. unter Verletzung der Körperintegrität;
z.B. Probeoperation, Biopsie, Angiographie, Arthroskopie, -graphie. - D.,
pränatale: s.u. pränatale D."
Der Gesundheits Brockhaus
(1990), S. 147:
"Diagnose [grch. »unterscheidende
Beurteilung«], das Erkennen der Krankheit, die Voraussetzung einer
sachgemäßen Behandlung. Zur Stellung der D. gehören:
1) die Vorgeschichte (Anamnese) der Krankheit. Der
Kranke soll sich bemühen, die Anzeichen, die er selbst bei der Krankheit
empfunden und beobachtet hat, genau in zeitlich angeordneter Reihenfolge
zu schildern. Hierzu gehören Angaben über Allgemeinbefinden,
Auftreten von Müdigkeit und Arbeitsunlust, Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit,
Stuhlgang, Wasserlassen, Erbrechen, Husten, Kurzatmigkeit, Schweißausbrüche,
Schmerzen, abnorme Druckgefühle oder sonstige Empfindungen, wie Kribbeln
auf der Haut, Ohrensausen, Nachlassen der Sehkraft, des Gehörs oder
des Gedächtnisses, Auftreten von Schwellungen, Hautausschlägen
u. a. Der Kranke soll auf entsprechende Fragen des Arztes eingehen und
dabei bedenken, daß der Arzt das, was dem Kranken vielleicht schon
durch monatelanges Erleben selbstverständlich geworden ist, zunächst
nicht weiß.
2) Das Prüfen der besonderen Umstände,
unter denen die Krankheit entstanden ist; hierzu gehört neben Alter,
Geschlecht, Beruf, sozialer Lage, Lebensweise des Kranken auch die Familiengeschichte.
Sind ähnl. Krankheitsfälle bei Eltern, Großeltern oder
anderen Blutsverwandten aufgetreten (Familienanamnese), so kann dies von
entscheidender Bedeutung sein. Besteht der Verdacht auf Infektionskrankheiten
bei Kindern, so ist es wichtig zu wissen, ob ähnl. Fälle in der
Nachbarschaft, im Kindergarten, in der Schule vorgekommen sind, oder z.
B. bei Verdacht auf Kinderlähmung, ob das Kind gegen diese Krankheit
geimpft wurde. Andere Fragen lauten: Sind Unfälle, starke Verkühlungen,
Genuß ungewöhnl. Speisen, starke seel. Erregungen wie berufl.
Sorgen, Ehekonflikte, Trauererlebnisse u. a. vorangegangen? Der Kranke
kann und soll seinem Arzt diese Dinge anvertrauen, da dieser unter dem
Gebot der absoluten Schweigepflicht steht. (>Arzt)
3) Die Feststellung objektiver Befunde durch die
Untersuchung besteht im Betrachten (Inspektion), Betasten (Palpation),
Abklopfen (Perkussion) und Abhorchen (Auskultation), u. U. Fiebermessen
und Feststellen von Größe und Gewicht. Hinzu kommen die chem.,
mikroskop. oder bakteriolog. Untersuchung der Ausscheidungen (Blut, Magensaft,
Auswurf, Stuhl, Harn u. a.) und Sonderuntersuchungen wie Röntgen-,
Ultraschall- und nuklearmedizin. Verfahren, Elektrokardiogramm (Feststellen
der Herztätigkeit) und alle Methoden, Körperhöhlen durch
die > Endoskopie sichtbar zu machen. Mit der Verschiebung der ärztl.
Tätigkeit in den Bereich der Vorbeugung (Prophylaxe) hat sich die
Frühdiagnostik (Vorsorgeuntersuchung) entwickelt. Moderne Datenverarbeitungsanlagen
ermöglichen auch in der Diagnostik eine umfangreiche Dokumentation
und schnelle Wiedergabe der Daten.
Die unter Abgrenzung gegen ähnl. Erkrankungen
(Differentialdiagnose) gestellte D. ist Voraussetzung für eine
gezielte Behandlung und für Voraussagen über Verlauf und Heilungsaussichten
der Krankheit (Prognose). Fehldiagnosen entstehen durch Übersehen
oder Fehlbewerten von Krankheitszeichen."
2.2.2 Medizinische Diagnostik aus wissenschaftlicher Sicht
Gross, Rudolf (1969) Medizinische Diagnostik - Grundlagen und Praxis. Heidelberg: Springer. S. 6ff
Obwohl die 219seitige Monographie bald ein halbes Jahrhundert alt ist, erscheint sie immer noch als gutes, sehr informatives Werk, das auch die (Grund-) Probleme der medizinischen Diagnostik sehr gründlich erfasst, erörtert und darstellt (mit 617 Literaturhinweisen). Hier S. 6ff:
"1.2. Definition der Diagnose
Unter der Diagnose (von .... — durchschauen,
gründlich erkennen) versteht man gemeinhin die Erkennung einer Krankheit.
Es hat sich zwar eine Gebrauchsvorstellung von Diagnostik und von Diagnose
entwickelt. Diese Begriffe sind aber in ihrem Wesensgehalt viel komplexer,
als sie die tägliche Anwendung erscheinen läßt. Zunächst
ist die Diagnose nichts Feststehendes (Statisches), sondern etwas Veränderliches
(Dynamisches) — eine Funktion der Zeit. Zeit ist hier in doppeltem
Sinn gemeint: zunächst als Krankheitsablauf, dann auch als
der aktuelle Stand der Medizin — von den Grenzen des Wissens bis
zu den zeitgemäßen Modediagnosen. „Jede Zeit hat ihre Diagnosen“
[75]. Die Zeit spielt noch in einem dritten Sinn in die Diagnose hinein:
mit dem Zeitpunkt der Feststellung. Es bedarf keiner Begründung,
daß die Dia[>7]gnose um so wertvoller ist, je früher sie gestellt
wird — und umgekehrt. Je mehr sie sich als „Frühdiagnose“ dem Grenzbereich
von gesund und krank nähert, um so schwieriger wird sie zugleich,
um so häufiger sind die (positiven und negativen) Fehlurteile. Wir
hatten schon gesehen und werden es noch mehrfach wiederholen müssen,
daß man eine Diagnose sehr verschieden weit treiben kann. Es gibt
die vorläufige Diagnose nach der ersten Untersuchung. Sie ist
oft eine Gruppendiagnose, d. h. eine Auswahl von verschiedenen Möglichkeiten
(Differentialdiagnosen, s. u.). Die
Einweisungsdiagnose sollte den
Ehrgeiz des praktischen Arztes, die
Entlassungsdiagnose den des
Klinikers ausmachen. Mit anderen Worten: es gibt von den ersten Mutmaßungen
des Kranken selbst über seinen Zustand bis zu den abschließenden
objektiven Feststellungen nach Kenntnis des Verlaufes oder durch den Pathologen
(der auch seinerseits manchmal noch Änderungen nach Überprüfung
der histologischen Schnitte unter anderen Gesichtspunkten vornehmen muß!)
alle Abstufungen der Einengung und Sicherheit. „Die Diagnose“ muß
täglich mit dem Zustand des Kranken, neueren Befunden, nachgelieferten
Protokollen, Therapieergebnissen usw. konfrontiert, ergänzt und ggf.
vorurteilsfrei berichtigt werden. Das autistische Beharren auf einer vorgefaßten
Meinung ist, wie im Kapitel 5.2 näher ausgeführt wird, eine der
wichtigsten Ursachen von Fehldiagnosen. Schon deshalb dienen die sog. „Blick-Diagnosen“
mehr der eigenen Eitelkeit als dem Kranken. Das hat nichts damit zu tun,
daß „erste Eindrücke“ in der Sprechstunde — hier im neurologisch-psychiatrischen
Bereich — eine 95%ige Übereinstimmung mit der endgültigen Diagnose
erbracht haben sollen [384]: In jedem Fall bedarf eine solche „synthetische
Schau“, wie im Kapitel über die Intuition (2.7) noch ausgeführt
wird, der Bestätigung durch analytische Tatsachen.
Ein weiteres Kennzeichen der Diagnose ist ihre begriffliche
Unbestimmtheit. Wie schon R. KOCH [75] erkannte, kann sie sich auf
3 Kategorien erstrecken:
1. krankhafte Ursachen (z.B. Tuberkulose);
2. krankhafte Vorgänge (z. B. Mitralinsuffizienz);
3. krankhafte Erscheinungen (z. B. Urticaria).
In einer neueren Definition [84] gehen Diagnosebezeichnungen aus von: Autorennamen — aus der Volkssprache übernommenen Bezeichnungen — ursächlichen Vorstellungen — Leitsymptomen — anatomischen Lokalisationen — pathologisch-anatomischen Hauptbefunden. Diese der Klarheit und späteren statistischen Auswertung abträgliche Vielfalt der diagnostischen Begriffe ist historisch bedingt und in absehbarer Zeit wohl kaum abzustellen. In unserer praktischen Diagnostik verwenden wir Begriffe, die zu einer dieser Kategorien oder Kombinationen daraus gehören. Neben diesen die Krankheit kennzeichnenden Diagnosen können aber auch anthropologische Merkmale des Kranken (z. B. seine Konstitution, seine Psychosomatik, seine Erlebnisse) in die Diagnose eingehen (z. B. als Unruhe, Spannung, Verstimmung, Neurose [>8] usw.). Kranksein ist kein bloßes biologisches Geschehen, sondern ein biographisches Ereignis [119]. R. KOCH [75] trennte in diesem Sinn eine theoretische von einer praktischen Diagnose, GROTE [290] eine Zustandsdiagnose („das, was ist und wie es wurde“) von einer Bedeutungsdiagnose („das, was ein Kranker aus seiner Störung macht“). „Die Bedeutungsdiagnose ist der Weg von der Abstraktion der systematischen Krankheitsbezeichnung zur Wirklichkeit des Leidenden“ [23, 290]. Subjektives Erleben und objektive Störung sind freilich häufig, ja überwiegend, gemischt (s. dazu auch die Ausführungen über Kranke und Krankheiten am Anfang des Kap. 2.1). ..."
Gross, Rudolf S. 107: Absolut sichere Diagnosen gibt es nicht
"Wie bereits im Teil 1 ausgeführt wurde, gibt es daher im logischen
Sinn keine „absolut sichere“ Diagnose. Damit wird der Grad von Sicherheit
(Wahrscheinlichkeit) ein wesentlicher Bestandteil unserer Diagnosen."
Braun, Robert N. & Mader, Frank H. (2005)
Programmierte Diagnostik in der Allgemeinmedizin. 82 Checklisten für
Anamnese und Untersuchung. 5., aktualisierte und überarbeitete Auflage.
Heidelberg: Springer. S. 7f, hier fett im Originaltext blau:
"Die diagnostischen Bemühungen des Arztes, das heißt Befragung
und Untersuchung des Patienten bei einer konkreten Beratungsursache, nennen
wir Diagnostik.
Die Diagnostik ist der Weg, der von der Beratungsursache
(BU) zum Ziel, dem Beratungsergebnis (BE), führt. Am Ende
der Diagnostik (»Beratung«) stehen die Bewertung
und Benennung der Erkenntnisse; diese werden in einem Beratungsergebnis
zusammengefasst.
Die in der Regel intuitive Diagnostik in
der Allgemeinpraxis ist im Unterschied zur klinischen Diagnostik
durch eine teilweise andere Vorgehensweise charakterisiert. Neben dem Wissen,
der Kenntnis und der [>8] Erfahrung des Hausarztes wird sie vor allem u.
a. durch den Zeitfaktor (vgl. 1.3), die begrenzten Hilfsmittel und durch
das Untersuchungsziel bestimmt, das durch den Versorgungsauftrag vorgegeben
ist.
Der in der klinischen Medizin übliche Begriff
»Differenzialdiagnostik«
ist entbehrlich, da jede Diagnostik zwischen verschiedenen Krankheiten
differenziert."
2.2.4 Begriff
der Differentialdiagnose
Der
wissenschaftlich richtige Ansatz: Die Feighner Kriterien [W]
Feighner war wohl mit der erste, der klare operationale Kriterien für
psychiatrische Diagnosen entwickelte, wonach man klipp und klar entscheiden
konnte, ob eine psychopathologische Diagnose vorliegt oder nicht. Kendell
(1978) berichtet, S. 142f:
"Sammlungen von operationalen Definitionen dieser
Art gibt es schon. So haben zum Beispiel Feighner, Robins, Guze, Woodruff,
Winokur und Munoz (1973) die Kriterien für die 15 wichtigsten
der von ihnen in St. Louis verwendeten diagnostischen Kategorien veröffentlicht.
Man mag bei einigen ihrer Kriterien anderer Meinung sein oder sie sogar
in Frage stellen, aber die Notwendigkeit eindeutiger Kriterien dieser Art
ist wohl kaum zu bezweifeln.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Definitionstypen,
dem deskriptiven und dem operationalen, läßt sich wahrscheinlich
am besten durch ein Beispiel darstellen. Im britischen Glossar (Registrar
General's Glossary) ist die Angstneurose folgendermaßen definiert:
„Eine Störung, die sich im psychischen und/oder
im somatischen Bereich vorwiegend in übermäßiger, oft bis
zur Panik gesteigerten Ängstlichkeit von diffuser Qualität äußert,
wobei andere psychoneurotische Komponenten wie etwa zwangsneurotische oder
hysterische Phänomene, obgleich sie vorhanden sein können, nicht
das klinische Bild beherrschen."
Demgegenüber geben Feighner und seine
Kollegen folgende Kriterien an:
1. „Die folgenden Manifestationen müssen vorhanden
sein:
a) Ersterkrankung vor dem vierzigsten Lebensjahr;
b) Chronische Nervosität mit wiederholten Angstanfällen,
die sich in Befürchtungen, Ängstlichkeit oder dem Gefühl,
drohenden Schicksalsschlägen ausgesetzt zu sein, äußern,
wobei mindestens vier der folgenden Symptome bei den meisten Anfällen
vorhanden sein müssen: (I) Dyspnoe, (II) Herzklopfen, (III) Schmerzen
oder unangenehme Gefühle in der Brust, (IV) Erstickungsgefühle,
(V) Schwindelgefühle und (VI) Parästhesien.
2. Die Angstanfälle sind für die Diagnose
wesentlich; sie müssen unabhängig von besonderen körperlichen
Anstrengungen und außerhalb lebensbedrohlicher Situationen auftreten.
Auch dürfen keine körperlichen Krankheiten vorhanden sein, auf
welche diese Angstsymptome möglicherweise zurückgehen könnten.
Es müssen mindestens sechs Angstanfälle in Intervallen von wenigstens
einer Woche aufgetreten sein.
3. Beim Vorhandensein anderer psychiatrischer Erkrankungen
wird diese Diagnose nur dann gestellt, wenn die unter 1 und 2 beschriebenen
Kriterien dem Beginn der anderen psychiatrischen Erkrankung mindestens
zwei Jahre vorausgehen."
Zu wissen, daß eine Gruppe von Patienten nach
den Kriterien des Registrar General's Glossary diagnostiziert wurde, gibt
uns in der Praxis nicht mehr Informationen, als wenn bekannt ist, daß
ihre Diagnose „von erfahrenen Psychiatern", oder „in Übereinstimmung
mit der Beschreibung in einem bestimmten Lehrbuch" gestellt wurde; wenn
jedoch bekannt ist, daß die Kriterien der Gruppe aus St. Louis verwendet
wurden, so hat man ziemlich genaue Angaben darüber, welche Patienten
einbezogen wurden und welche nicht."
Huber in Psychiatrie (2005),
S. 20f: "Diagnose [3.12]
Unter Berücksichtigung und Abwägung aller Untersuchungsergebnisse
versucht der Arzt, am Schluß der Untersuchung zu einer Diagnose
zu gelangen (s. S. 5, S. 35ff). Die hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte
werden in den Abschnitten über die speziellen Krankheitsbilder dargestellt.
Allgemein sind bei der psychiatrischen Diagnostik drei Grundregeln
zu beachten.
1. Man kann eine psychiatrische Diagnose nie auf
ein Einzelsymptom allein gründen. Stets [>21] ist das psychopathologische
Gesamtsyndrom maßgeblich, durch das die Einzelsymptome ihre -
u. U. jeweils verschiedene - diagnostische Bedeutung erhalten (s. S. 40f.,
44f.). Die klinisch-psychopathologische Gesamtsituation entscheidet:
Man kann keine Psychopathologie »auf des Messers Schneide«
treiben. Der Untersucher gelangt in der Regel von der Feststellung psychopathologischer
Einzelphänomene zur Beschreibung eines psychopathologischen Syndroms
und von hier unter Berücksichtigung der somatischen Befunde zur Krankheitsdiagnose.
2. Alle psychopathologischen Symptome und Syndrome
[3.12.1] sindunspezifisch. Es gibt keine
psychopathologischen Phänomene oder Syndrome, die ausschließlich
bei einer bestimmten Grundkrankheit (einer unmittelbaren oder mittelbaren
Hirnkrankheit oder nur bei Schizophrenien oder Zyklothymien) vorkommen
(s. S. 41).
3. Aus Punkt 2 ergibt sich, daß man ohne
genaue körperliche, neurologische und internistische Untersuchung
keine definitive psychiatrische Diagnose stellen kann (s. S. 35f.),
weil z. B. bekannte Hirnkrankheiten (etwa ein Hirntumor oder eine Enzephalitis)
unter dem Bild von Schizophrenien und Zyklothymien oder Neurosen auftreten
können.
Das Lebensalter erlaubt nur sehr vorsichtige
Rückschlüsse auf die in Frage kommenden diagnostischen Möglichkeiten,
weil nur ein kleiner Teil psychiatrischer Krankheiten und Störungen,
z. B. progressive Paralyse, bestimmte degenerative Hirnprozesse, psychopathische
Persönlichkeitsstörungen oder Oligophrenien (s. S. 94, 116ff.,
424ff, 577ff.), ein bestimmtes Manifestationsalter bevorzugt (bzw.
schon in der frühen Kindheit erkennbar ist), während z. B. das
Ersterkrankungsalter bei den schizophrenen und affektiven Psychosen sehr
unterschiedlich ist (s. S. 166, S. 256f., S. 298).
Bei einer Reihe psychiatrischer Krankheiten und
Störungen ist eine sichere Diagnose erst nach längerer Beobachtung
des Verlaufs möglich. Manche Eigenschaften bestimmter Persönlichkeitsvarianten,
z.B. hinsichtlich des subjektiven Befindens, des Daseins- und Lebensgefühls
oder der Schwierigkeiten mit der Umwelt und Gemeinschaft, lernt man erst
nach längerer Beobachtung kennen; dies gilt oft auch für Kinder
und Jugendliche mit Verhaltensstörungen. Die psychopathologischen
Einzelsymptome sind oft vieldeutig und diagnostisch neutral. Die Psychosen,
sowohl die endogenen wie die organischen, haben oft uncharakteristische,
neurose- oder psychopathieähnliche Anfänge, in denen eine
sichere Diagnose unmöglich ist und selbst eine (vorläufige) Verdachtsdiagnose
ohne sorgfältige Erhebung des körperlichen und psychopathologischen
Befundes und Beobachtung des Verlaufs durch einen erfahrenen Untersucher
nicht gestellt werden kann. Schizophrenien z. B. können lange Zeit
und oft über viele Jahre als uncharakteristische Prodrome mit Basissymptomen
(s. S. 318) und/oder unter dem Bild einer neurotischen Störung (pseudoneurotische
Schizophrenie, s. S. 36, S. 317f.) verlaufen.
Zwischen Erlebnisreaktionen und Persönlichkeitsentwicklungen
einerseits und - körperlich begründbaren wie endogenen - Psychosen
andererseits gibt es im psychopathologischen Erscheinungsbild Übergänge,
vor allem im Anfang einer Psychose und bei milderen Verläufen (s.
S. 53; s. a. S. 192)."
Psychiatrische Diagnostik und Klassifikation ist von jeher ein kontrovers
diskutiertes Thema (KENDELL,
1978). In den vergangenen Jahren haben Versuche einer reliablen und validen
Klassifikation psychischer Störungen sowohl im klinischen als auch
im wissenschaftlichen Bereich deutlich an Bedeutung gewonnen, nachdem sie
bis in die 80er Jahre hinein erheblich kritisiert wurden. Wesentliche Vorbehalte
bezogen sich zum einen auf mögliche soziale Konsequenzen psychiatrischer
Diagnosen für den Patienten (Stichworte: Etikettierung, Stigmatisierung,
soziale Kontrolle), zum anderen aber auch auf die insgesamt eher unbefriedigende
Relevanz psychiatrischer Diagnosen und Klassifikationssysteme für
die Indikation psychotherapeutischer, pharmakologischer und anderer Therapieansätze.
Aus wissenschaftlicher Perspektive wurde zudem Kritik
an früheren Klassifikationssystemen geäußert, da die diagnostische
Übereinstimmung von Klinikern als gering anzusehen sei, was insbesondere
für die Diagnostik von neurotischen, affektiven und Persönlichkeitsstörungen
auch zutraf. Verschiedene Übersichtsarbeiten belegten, daß die
Übereinstimmung zwischen Psychiatern oft kaum größer war
als der Zufall, insbesondere beim Vergleich zwischen Psychiatern aus verschiedenen
Ländern (s. z.B. SPITZER und FLEISS, 1994). Unter Berücksichtigung
dieser Kritikpunkte und Vorbehalte wurden in den vergangenen 10 bis 20
Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, die Klassifikationsansätze
zu verbessern, um damit auch eine höhere Akzeptanz bei den Anwendern
zu erreichen. Bevor auf diese Entwicklungen näher eingegangen wird,
vorab einige Definitionen, die für das weitere Verständnis
von Bedeutung sind:
Grundproblem
psychiatrischer Diagnostik dokumentiert
Die folgenden Ausführungen der profunden und informativen Arbeit
berücksichtigen zwar die elementare Datenbasis ausdrücklich,
verkennen aber die grundlegende Bedeutung im diagnostischen Prozeß,
wenn unter 7.2 ausgeführt wird: "Die unterste Ebene ist die Symptomebene.
Hier werden Symptome als kleinste Beschreibungsein{>54]heiten psychopathologischer
Phänomene erfaßt. ..." Genau das ist das Grundproblem
psychiatrischer Diagnostik. Die Datenfundamente sind nicht normiert und
geregelt und deshalb kommt bei vielen PsychiaterInnen so viel Unterschiedliches
heraus.
S. 53f:
"7 Diagnostischer
Prozeß
In den vorausgehenden Abschnitten wurden die wesentlichen Grundlagen
der diagnostischen Entscheidung dargestellt. Nachfolgend wird versucht,
diese im Sinne der diagnostischen Prozesse zu integrieren.
7.1 Grundlagen
In den diagnostischen Prozeß werden sehr unterschiedliche Informationen
einbezogen. So lassen sich zum einen große Abweichungen in der Art
und im Umfang von Informationen konstatieren, die verschiedene Interviewer
erfassen wollen. Zum anderen läßt sich eine erhebliche Variationsbreite
in der diagnostischen Relevanz der verschiedenen Informationselemente feststellen.
Dabei müssen unterschiedliche Datenebenen und Datenquellen differenziert
werden. Folgende bedeutsame Datenebenen lassen sich unterscheiden (BAUMANN
und STIEGLITZ, 1994):
Für die Diagnostik der meisten psychischen Störungen stellen
jedoch der psychische Befund und die Anamnese weiterhin die zentralen Bausteine
dar.
Neben den unterschiedlichen Datenebenen sind verschiedene
Datenquellen
zu unterscheiden, die Informationen liefern und im diagnostischen Prozeß
genutzt werden können. Dies trifft insbesondere auf die psychische
Datenebene zu, in der Angaben von Angehörigen, nahen Bezugspersonen
oder Partnern neben den Angaben des Patienten selbst eine wichtige Rolle
spielen. Auf der psychopathologischen Ebene ist insbesondere die Einschätzung
des Untersuchers von zentraler Bedeutung.
7.2 Diagnostische
Ebenen: Symptom, Syndrom, Diagnose
Psychiatrische Diagnostik kann auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden,
wobei untergeordnete Ebenen als Grundlage für Entscheidungen auf höheren
Ebenen angesehen werden können. In Tabelle 2-15 findet sich die Unterscheidung
der Ebenen hinsichtlich Symptom, Syndrom und Diagnose:
... ..."
"1.4.1. Begriff und Sinn
Diagnose heißt Erkennen eines klinisch beobachtbaren psychopathologischen
Bildes (Symptom, Syndrom, Zustandsbild, Zustands-Verlaufs-Bild) als typisch,
wiederholt in ähnlicher Grundgestalt vorkommend - und heißt
Zuordnen dieses Bildes zu einem Krankheitsbegriff
Diagnostik - der Erkenntnis- und Zuordnungsprozeß
- wird heute in Verkennung ihres wahren Sinnes vielfach zu Unrecht als
Etikettierung verunglimpft.
Diagnostik aber brauchen wir, wo immer wir ein „Zustandsbild",
d. i. eine Erfahrungs- und Verhaltensweise eines Menschen, zu beurteilen
haben hinsichtlich seiner Entstehung und in Hinsicht auf die Frage, was
- nach dem jeweiligen Stand des Wissens - am besten dagegen zu tun ist.
Sinn und Ziel der Diagnostik ist die therapeutische und prophylaktische
Handlungsanweisung.
Leider ergibt sich beim heutigen Stand des Pathogenesewissens
und der Therapiemethoden aus der Diagnose noch nicht immer eine befriedigend
erfolgreiche Therapie und Prophylaxe."
"... Einen Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer {>366} Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden." Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. A. 1948, S. 365f. |
Ausführungen zur Diagnose finden sich in Jaspers psychopathologischem
Jahrhundertwerk (Erstauflage 1913, hier aus der 5. Auflage 1948 zitiert)
in folgenden Teilen, Kapiteln und Abschnitten:
IV, I, § 3: Die Symptomenkomplexe 487
IV, I, § 4: Die Einteilung der Krankheiten (Diagnosenschema) 506
VI, I, § 4: Die Begriffe Gesundheit und Krankheit 651
Anhang: Von der Untersuchung des Kranken 687
Im Sachregister führt Jaspers an:
S. 506f:
"§ 4. Die
Einteilung der Krankheiten (Diagnosenschema)
Wir kennen im einzelnen bestimmte Erscheinungen, Kausalverhältnisse
und Sinnbeziehungen usw., aber die Gestalten der Krankheitsganzheiten sind
wie ein unendliches, unübersehbares Gewebe, das wir nicht auflösen
können. Die einzelnen Krankheitsgestalten finden wir nicht vor wie
Pflanzen, die wir in ein Herbarium ordnen. Vielmehr ist ja gerade, was
eine „Pflanze" - eine Krankheit - ist, vielfach ungewiß.
Auf die Frage, was diagnostizieren wir? ist
durch die Praxis im Laufe der Zeit geantwortet durch die Benennung von
Einzelsymptomen, Einzelzusammenhängen, Symptomenkomplexen, Ursachverhältnissen
usw. bis die Idee der Krankheitseinheit der Diagnostik ihren eigenen bedeutenden
und zugleich unerfüllbaren Sinn gab. Diagnose soll das eine, allumfassende
Krankheitsgeschehen treffen, das einen Menschen befallen hat und als ein
jeweils bestimmtes neben anderen bestimmten Einheiten gilt.
Entwerfen wir ein Gesamtschema der Psychosen (das
Diagnosenschema), so möchten wir alle Gesichtspunkte, die wir als
einzelne besprochen haben, zusammenordnen. Aber wie auch immer wir den
Entwurf machen, wir merken, daß es nicht geht; daß wir vorläufig
und gewaltsam ordnen; verschiedene Möglichkeiten bestehen, weswegen
mehrere Forscher durchaus verschiedene Schemata aufstellen; daß die
Ordnung sowohl logisch wie real immer unstimmig ausfällt.
Warum macht man denn immer von neuem diesen vergeblichen
Versuch? Erstens weil wir erkenntnismäßig sehen wollen, was
wir unter der Idee der Krankheitseinheit an Gesamtübersicht
der vorkommenden Seelenkrankheiten erreicht haben: auch gerade in
der Weise des Nichtgelingens an den jeweiligen radikalen Unstimmigkeiten
wird uns der Stand unserer Erkenntnis bewußt. Zweitens weil jede
Darstellung
der speziellen Psychiatrie zur Grundlage eine Einteilung der Psychosen
braucht: ohne ein solches Schema kann sie ihren Stoff nicht ordnen. Drittens
weil man es als ein Mittel statistischer Erfassung eines großen
Krankenbestandes braucht.
a) Forderungen an das Diagnosenschema. Das
ideale Schema müßte folgenden Ansprüchen genügen:
Es muß derart sein, daß jeder Fall nur an einer Stelle eingeordnet
werden kann; daß jeder Fall einen Platz findet; daß die Einordnung
objektiv zwingend ist, so daß verschiedene Beobachter zur gleichen
Einordnung der Fälle kommen.
Ein solches Schema wäre nur möglich, wenn
alles Kranksein der Seele aufteilbar wäre in Krankheitsgattungen,
die sich im Einzelfall gegenseitig ausschließen, die ihrem Wesen
nach nebeneinanderstehen, und die die Idee der Krankheitseinheit verwirklichen.
Da das nicht der Fall ist, sind die Ansprüche angesichts jenes Ideals
ermäßigt wie folgt zu formulieren (>507): Die einfachen großen
Grundlinien müssen entscheidend hervortreten. Die Untergliederung
muß nach dem Maße der Wesentlichkeit für die Totalauffassung
geschehen.
Was als scheinbar gleichartig nebeneinander steht,
muß seinem Sinn nach (dem Sinn des Tatbestandes, der Auffassung,
der methodischen Forschung) auf derselben Ebene liegen. Das Heterogene
muß sich deutlich gegenüberstehen. [fett-kursiv RS]
Es
darf keine Verschleierung des Nichtwissens stattfinden. Das Unstimmige
muß offen zutage treten. Lieber Entschiedenheit und damit der Anreiz
der Unzufriedenheit, als Beruhigung durch ein Scheinwissen im Ungefähren
und in bloß logischer Ordnung.
Wenn wir ein Diagnosenschema entwerfen, so können
wir das also nur mit einem Verzicht als Anfang. Entgegen der Idee der Krankheitseinheit
müssen wir wieder jeweils einem der Gesichtspunkte (Ursache, psychologische
Struktur, anatomischer Befund. Verlauf und Ausgang) den Vorzug geben, und
müssen entgegen den Tatsachen auch da Grenzen machen, wo es keine
gibt; eine solche Einteilung hat daher nur einen stets vorläufigen
Ordnungswert. Sie ist eine Fiktion, die ihre Aufgabe erfüllt, wenn
sie die zur Zeit relativ richtigste ist. Es gibt kein ,,natürliches"
System, in das sich alle Fälle einordnen lassen. Auch dem erfahrensten
Psychiater kommen immer wieder zahlreiche Fälle vor, die er nicht
kennt, und die er zunächst nicht einordnen kann, welches Diagnosenschema
er auch zugrunde legt (so bekannten z. B. Gaupp und Wernicke).
... ..."
2.4
Einige Forensisch-psychiatrische Fachmeinungen zur Diagnose
Zusammenfassung: Forensische Psychodiagnostik dient der Erfassung der
Entsprechungen der Rechtsbegriffe, zu denen Sachverständigenbeweisbedarf
besteht.
Als erstes stellt sich die Frage, ob es überhaupt
eine spezielle forensische Diagnostik gibt und falls, wodurch sich diese
von der üblichen Diagnostik in der Psychologie, Psychopathologie,
Psychiatrie und Psychotherapie unterscheidet?
Da es viele Rechtsfragen und Rechtsbegriffe gibt,
zu denen ein Bedarf an Sachverständigenbeweisen besteht, mit denen
die meisten PsychologInnen, ÄrztInnen, PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen
in ihrer Alltagspraxis wenig zu tun haben, am ehesten noch ÄrztInnen
und PsychiaterInnen (Betreuung, Selbst- und Fremdgefährdung), liegt
es nahe, die spezielle forensische Diagnostik an die Entsprechungen der
Rechtsbegriffe anzubinden wie bereits in der Zusammenfassung "Kompaktwissen
forensische Psychodiagnostik" ausgeführt. Zur Forensischen Psychodiagnostik
zählen dann auch alle Check- und Risikolisten, Tests, Interview- und
Explorationsleitfäden, die Sachverhalte zu den Entsprechungen
der Rechtsbegriffe untersuchen und erheben.
2.4.1 Zum Problem der Rechtsbegriffe und ihrer Entsprechungen
Das Kapitel Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff sowie deren Bedeutung für die forensische Psychiatrie von Hoff & Saß (2010) im Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, S. 15, zeigt, dass sie die Begriffe durcheinanderbringen und statt der psychopathologischen Entsprechungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit die Rechtsbegriffe selbst, was nur dem Gericht obliegt, zum Gegenstand der psychiatrischen Begutachtung machen:
Die Autoren erläutern und bekräftigen ihr falsches Grundverständnis
der Aufgabe des forensischen Sachverständigen (S. 15f):
"Im Falle des forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindungsprozesses
haben wir es nämlich ebenfalls mit insgesamt drei in unterschiedlicher
Weise voneinander abhängigen Ebenen zu tun, doch ergeben sich eine
Reihe von Unterschieden: Auf jeder dieser Ebenen ist in einem ersten Schritt
festzustellen, ob ein bestimmter Sachverhalt vorliegt oder nicht,
sowie in einem zweiten, eben nicht optionalen, sondern – wie schon angesprochen
– zwingend erforderlichen Schritt, wie ausgeprägt der Sachverhalt
vorhanden ist. Diese Notwendigkeit des zweiten Schrittes ergibt sich freilich
nur, wenn im ersten Schritt das Vorliegen einer Störung bejaht wird.
Zunächst ist also die Frage zu beantworten, ob eines der vier psychopathologischen
Merkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen zum angenommenen Tatzeitpunkt
vorgelegen hat oder nicht, also – in der Formulierung ohne das Quantifizierungsmerkmal
– eine „seelische Störung“, eine „Bewusstseinsstörung“, „Schwachsinn“
oder eine „andere seelische Abartigkeit“. Beson-[>16]ders klar hat Kurt
Schneider (1948) dieses zweischrittige Vorgehen mit dem „zweistöckigen
Aufbau“ des damaligen § 51 StGB begründet.
Mit Ausnahme des dritten Merkmals, des „Schwachsinns“,
der im Begriff selbst bereits eine Quantifizierung enthält, ist eine
zusätzliche Schweregradbewertung gefordert: Die seelische Störung
muss als „krankhaft“, die Bewusstseinsstörung als „tiefgreifend“ und
die andere seelische Abartigkeit als „schwer“ klassifiziert werden, damit
sich die Frage der im „zweiten Stockwerk“ der Schuldfähigkeitsbeurteilung
zu beurteilenden Einsichts- und Steuerungsfähigkeit überhaupt
stellt. Und auch bei letzterer geht es um die Feststellung eines Sachverhaltes
einerseits und um dessen Quantifizierung andererseits: Festzustellen
ist nämlich, ob eine Beeinträchtigung der Einsichts- und/oder
Steuerungsfähigkeit aufgrund eines oder mehrerer Merkmale des „ersten
Stockwerkes“ vorliegt; zu quantifizieren ist, ob eine solche Beeinträchtigung
zum Tatzeitpunkt erheblich war (§ 21 StGB) oder zu einer Aufhebung
einer oder beider genannter Fähigkeiten führte (§ 20 StGB)."
Was Hoff & Saß hier von sich geben, wäre alles richtig, wenn die Aufgabe des Gerichts gemeint wäre. Vom forensischen Sachverständigen ist indessen gefordert, dass er die psychopathologischen Entsprechungen zu den Rechtsbegriffen so aufbereitet, dass das Gericht eben die betreffenden Rechtsbegriffe - krankhafte seelische Störung§, tiefgreifende Bewusstseinsstörung§, Schwachsinn§, schwere andere seelische Abartigkeit§, Einsichtsfähigkeit§, Steuerungsfähigkeit§, - beurteilen und bewerten kann.
Dieser Fehler wird oft gemacht, ich habe mich selbst schon dabei ertappt. Das hat damit zu tun, weil das Recht hier weitgehend unklar, konfus und vieldeutig ist. Es wird nicht klipp und klar getrennt zwischen den Rechtsbegriffen und ihren fachlichen oder alltäglichen Entsprechungen. Mit Rechtssicherheit hat das nicht das Geringste zu tun. Man fragt sich an dieser Stelle, was alle die vielen Professoren in den Rechtswissenschaften eigentlich machen und wann sie gedenken, das Jahrhunderptoblem anzugehen (>Interdisziplinäre Arbeitsgruppen).
Kröber macht
diesen Fehler zunächst nicht, wenn er in seinem Kapitel
Praxis
der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung, Handbuch
der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, S. 158 ausführt:
"Das juristische Vokabular in verschiedenen Rechtsgebieten
verwendet oft den Begriff „Fähigkeit“. So gibt es – in den diversen
Gesetzbüchern und juristischen Entscheidungen – Arbeitsfähigkeit,
Erwerbsfähigkeit, Berufsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit,
Prozessfähigkeit, Testierfähigkeit, Einwilligungsfähigkeit,
Vernehmungsfähigkeit, Verhandlungsfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit
und Schuldfähigkeit. Es ist ganz entscheidend, sich dessen bewusst
zu bleiben, dass es sich hier stets exklusiv um Rechtsbegriffe handelt,
nicht jedoch um natürliche oder biologische Eigenschaften eines Menschen.
Eine natürliche Eigenschaft wäre die Hörfähigkeit oder
die Zeugungsfähigkeit; eine natürliche Eigenschaft kann man nicht
per Gesetzesänderung erhalten oder verlieren. Dies gilt jedoch für
alle juristischen „Fähigkeiten“: bei ihnen handelt es sich um Zuschreibungen,
die unter bestimmten juristischen Voraussetzungen automatisch eintreten
(z. B. in der mitternächtlichen Sekunde, in der man 14 oder 18 Jahre
alt wird) und bestehen, solange sie nicht durch eine juristische Entscheidung
aufgehoben oder eingeschränkt sind."
Doch als Kröber
sich dem zweiten Schritt der zweigliedrigen Aufgabe, S. 160, dem 2.
Stockwerk zuwendet, unterläuft auch ihm der klassische Fehler (fett-kursiv
RS):
"Gerade deshalb ist der zweite Schritt der fallbezogenen
konkreten Umsetzung des erhobenen Befundes auf die Beurteilung der jeweils
fraglichen „Fähigkeit“ eine eigenständige und ebenso wichtige
Aufgabe des Gutachters wie die Befunderhebung und Diagnosestellung.
Dazu muss der Sachverständige ein korrektes Verständnis der juristischen
Bedeutung der jeweils nachgefragten „Fähigkeit“ erworben haben; dies
geschieht in der Ausbildung, durch Studium der Lehr- und Handbücher
oder auch durch Nachfrage beim Auftraggeber. Diese „Fähigkeit“ (z.
B. Schuldfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit) ist im Gesetz
in aller Regel nicht positiv definiert, sondern als gegeben unterstellt
im für alle Erwachsenen anzunehmenden Normalfall. Dass von einer „Fähigkeit“
im konkreten Fall kein Gebrauch gemacht wurde, beweist nicht bereits deren
Fehlen. Die Einschränkung oder Aufhebung der jeweiligen Fähigkeit
ist zumeist durch einen knappen Gesetzestext definiert und in höchstrichterlichen
Urteilen, die sich in der Kommentarliteratur finden, ausführlicher
erläutert. Gerade weil der Sachverständige gleichsam als Dolmetscher
zwischen der Sprache der Erfahrungswissenschaften wie Medizin und Psychologie
einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits vermitteln soll, obliegt
es ihm, sich darüber klar zu werden, wie die in seinem Bereich wichtigen
Rechtsbegriffe gemeint sind und angewendet werden. (Nicht minder wünschenswert
ist es, dass auch die Strafrichter sich in dieser Mittlerrolle zwischen
Erfahrungswissen(schaft) und Strafrecht sehen und sich entsprechend hinsichtlich
psychiatrischer und psychologischer Begrifflichkeit eine angemessene Kennerschaft
erwerben.) Gestützt auf eine gezielte Exploration und die Anwendung
klinischen Wissens über typische Beeinträchtigungen beim jeweiligen
Störungsbild sind also im zweiten Schritt Art und Ausmaß der
Beeinträchtigungen im Hinblick auf die fragliche „Fähigkeit“
im Gutachten plastisch darzulegen."
Der Sachverständige muss keineswegs deuten, rätseln, raten, erarbeiten, was Recht und Gesetz, die Justiz, von ihm will. Das soll sie selber lernen klar und deutlich auszudrücken. JuristInnen, die das nicht können, sollten keine Gutachtenaufträge vergeben.
2.4.2 Methodik
der Psychodiagnostik
Das folgende Strukturmodell von Steller seines Kapitels Gegenstandsbereiche
und Methodik der psychologischen Begutachtung (185-212) im Handbuch
der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2, hebt sowohl die Hypothesenorientierung
als auch die Bedeutung der Planung und Durchführung systematischer
Datenerhebung hervor, S. 194:
Der diagnostische Prozess in der forensischen Psychiatrie nach Steller
Aus den Erläuterungen zu dem Modell sei noch ein Abschnitt zur
diagnostischen Aussage herausgegriffen, S. 196:
"Anhand des Modells lässt sich auch belegen,
dass eine diagnostische Aussage immer nur das vorläufige Endergebnis
einer Verknüpfung von Einzeldaten zu Hypothesen darstellt. Eine diagnostische
Aussage behält zu jedem Zeitpunkt den Charakter einer Hypothese. Da
formalisierte oder gar quantifizierbare Entscheidungsregeln zur Beendigung
notwendiger Datenbeschaffungen nicht existieren, können keine verbindlichen
Regeln für Art und Umfang sowie für die Beendigung eines diagnostischen
Prozesses im Einzelfall formuliert werden. Dennoch herrscht diesbezüglich
keine Willkür: Mit dem Modell hypothesengeleiteter forensisch-psychologischer
Begutachtung lässt sich unnötige Breitbanddiagnostik identifizieren."
Weitere Fundstellen zu diagnostischen Themen durch Sachregistereinträge im Handbuch der Forensischen Psychiatrie
HBFP1 Diagnostik, multiaxiale 477
HBFP3
HBFP4 kein Eintrag.
HBFP5 kein Eintrag
Foerster & Winckler 2009
Auch bei Foerster & Winckler in Forensisch-psychiatrische Untersuchung,
in Foerster, Klaus & Dreßing, Harald (2009, Hrsg.) Venzlaff &
Foerster. Psychiatrische Begutachtung, einem Standardwerk der Forensischen
Psychiatrie zeigt sich der Fehler, als kleinste Beschreibungseinheit psychopathologischer
Phänomene, das Symptom anzusehen, wie das unten folgende Zitat aus
S. 26 belegt.
Tatsächlich sind es die Daten des Erlebens
und Verhaltens (neben Körperdaten), die das Fundament der Symptomzuweisung
bilden. Ist dieses Fundament nicht klar geregelt, ist für den berüchtigten
Sumpf und Treibsand der psychiatrischen Diagnostik Tür und Tor geöffnet,
wie man gerade an den Mollath-Gutachten extrem vorgeführt bekommt.
Es wird dann einfach viel zu viel gemeint (> Meinungsachten)
statt aus konkreten Erlebens- und Verhaltensdaten nachvollziehbar die Symptomzuweisung
zu begründen. .
"2.8 Vom psychopathologischen Symptom zur psychiatrischen Diagnose
Ein Symptom ist definiert als die kleinste
Beschreibungseinheit psychopathologischer Phänomene. Dabei handelt
es sich entweder um beobachtbare Verhaltensweisen in der Untersuchungssituation
oder um vom Patienten berichtete Störungen.
Auf der nächsten Ebene der Diagnostik werden
Symptome zu Syndromen zusammengefasst. Ein Syndrom bedeutet eine
typische
Konstellation von Symptomen, jedoch keine spezifische Konstellation.
Es handelt sich bei einem Syndrom um bestimmte Kombinationen von Symptomen,
die überzufällig häufig festzustellen sind, beispielsweise
depressives Syndrom, paranoides Syndrom, halluzinatorisches Syndrom.
Die psychiatrische Diagnose ist zu verstehen als die Integration
von Symptomen und/oder Syndromen, den Ergebnissen zusätzlicher Untersuchungen
und der Berücksichtigung aller Informationen. Die gutachtliche Aufgabe
ist jedoch mit der Stellung einer Diagnose noch nicht abgeschlossen. Bei
der Begutachtung geht es immer auch um die Einschätzung des Grades
und des Ausmaßes einer gegebenenfalls vorliegenden psychopathologischen
Symptomatik, d.h. um die Einschätzung des Schweregrades. Die
Beurteilung
des Schweregrades ist für alle forensisch-psychiatrischen Fragen
von allergrößter Bedeutung, da die rechtliche Bewertung grundsätzlich
nicht von der Diagnose, sondern in erster Linie von Grad und Ausmaß
der psychopathologischen Symptomatik abhängt. Der psychiatrische Sachverständige
hat daher die Aufgabe, die von ihm festgestellten Befunde zu quantifizieren,
d.h. er muss sie in ihrem Schweregrad, in ihrer Intensität, in ihrem
Ausmaß, ihrer Ausprägung
und in ihren Auswirkungen auf
die konkrete Lebenswirklichkeit des Probanden einschätzen. [>27]"
"Unter Psychopathologie versteht man die deskriptive, klassifikatorische
und – hinsichtlich der individuellen erlebens- und biografiebezogenen Bedingtheiten
der psychischen Störungen – verstehende Beschreibung krankhaften Erlebens
und Verhaltens.
Psychopathologie beruht »auf der Beobachtung, Beschreibung und
Strukturierung geistiger und seelischer Abnormitäten beim Menschen,
erschlossen aus sprachlichen Mitteilungen, Verhaltensbeobachtung und Psychometrie«
(Payk 2002, S. 8)."
Die folgende falsche Aussage in Form eines Zitates
von Payk, in Schneider et al., S.37, zeigt das Grundproblem der psychiatrischen
Diagnostik:
Die Autoren führen weiter aus (S. 37):
"Psychopathologische Merkmale lassen sich unterschiedlichen
Bereichen psychischer Funktionen zuordnen und zentrieren sich um das Erleben
und Verhalten eines psychisch kranken Patienten. Sie werden auf unterschiedliche
Weise erfasst. Die Entscheidung, ob ein bestimmtes Phänomen als pathologisch
anzusehen ist, basiert letztlich immer auf der Fremdbeurteilung des Untersuchers,
orientiert an den jeweiligen Definitionen. Die Beurteilungsgrundlagen können
jedoch unterschiedlich sein:
Im 5-bändigen Handbuch der Forensischen Psychiatrie
(Kröber et al. 2006-2010) gibt es wie bei Venzlaff & Foerster
(2004) keinen Eintrag "Ferndiagnose". Auch so kann man Problemen
scheinbar entgehen: indem man sie gar nicht wahrnimmt.
Katalog
der potentiellen forensischen Gutachtenfehler
Fehler in forensisch-psychologischen, forensisch-psychopathologischen,
forensisch-psychiatrischen Gutachten.
Vorbemerkung: Das Einzelfallprinzip gebietet, sicherheitshalber nur
von potentiellen Fehlern zu sprechen. Der Katalog enthält also überwiegend
nur potentielle Fehler. Ob ein potentieller Fehler im spezifischen
Einzelfall wirklich ein Gutachten-Fehler ist, sollte nicht absolut-allgemein,
sondern im Realitätsrahmen und Situationskontext des Einzelfalles
untersucht und entschieden werden. Und natürlich hängt die Fehler-Diagnose
und das Gewicht, das ihr zukommt, auch sehr davon ab, aus welcher wissenschaftlichen
Perspektive oder Basis die Betrachtung erfolgt. PsychoanalytikerInnen haben
z.B. ein sehr lockeres Verhältnis zu Phantasie und Vermutungen und
verwechseln diese oft mit Wissenschaft, Empirie oder Objektivität.
Wichtig ist vielleicht auch, dass man sich eingesteht:
fehlerlose Gutachten gibt es nicht. Aber: die Problemlösung beginnt
bekanntlich mit der Problemwahrnehmung. Deshalb ist es sinnvoll, sich seinen
möglichen Fehlern grundsätzlich zu öffnen. Manche Fehler
mögen auch keine ernste Bedeutung haben, andere aber im jeweiligen
Einzelfall vielleicht schon. Und es gibt fatale Fehler, die ein Gutachten
nicht verwertbar machen (z.B. Oder-Diagnosen, Verfassung und Befinden zu
den Tatzeiten nicht exploriert oder, bei keinem Ergebnis hierzu, die Beweisfrage
als nicht beantwortbar erklärt, nicht persönlich untersucht,
unzulängliche Mittel und Methoden angewendet, ... ... ...)
Kleine Fehlertaxonomie: (1) Fatale, nicht mehr reparierbare
Fehler. (2) Fatale Fehler ohne nähere Spezifikation. (3) Fatale, aber
grundsätzlich noch reparierbare Fehler ("Nachbesserung", weiteres
Ergänzungsgutachten). (4) Fehler ohne bedeutsame Auswirkung
auf die Beantwortung der Beweisfrage. (5) Sonstiger in seiner Bedeutsamkeit
nicht richtig oder zuverlässig einschätzbarer Fehler.
Sonderfall: Fehlerhaftes Gutachten, aber im Ergebnis
nachvollziehbar und - wenn auch mit anderem Vorgehen - zum gleichen Ergebnis
gelangend.
Die Chronik der Geschichte kann auf der Seite gustl-for-help
eingesehen werden und die Kriminalgeschichte dieses Falles ist einmalig
auf den Seiten von Dr. Strate dokumentiert.
Ich beschränke mich hier auf den diagnostischen
Werdegang und seine Entwicklung. Hintergrund sind Ehekonflikte, im Brennpunkt
die steuervermeidende Tätigkeit der Ehegattin bei der HypoVereinsbank,
die auf massive Kritik des politisch engagiert-kritischen Humanisten und
Friedensaktivisten Gustl F. Mollath stößt, der eine bessere
Welt will und dem die Tatsache "Alle sieben Sekunden verhungert ein Kind"
(Ziegler) unerträglich ist.
Die Grundlagen für den Justiz- und Psychiatrieskandal
wurden von der damaligen Ehefrau durch ihre Aussagen und Aktivitäten
gelegt. Die Gutachten, gutachtlichen Stellungnahmen und die jeweiligen
Beweisfragen sind hier
gelistet.
Beleg DiagF01
Prototypische Struktur
Die 5. Ebene der Diagnose wird nicht korrekt aus 1. Daten des Erlebens-
oder Verhaltens über 2. Symptome, 3. Syndrome, 4. Befunden Schritt
für Schritt regelgeleitet und nachvollziehbar begründet, sondern
es tauchen Formulierungen auf wie "vermutlich", "vielleicht", "möglicherweise",
"möglich", "könnte", "auch", "annehmen" u.ä.
Während der zweite Fehlertyp das "oder" ("Ver-Oderung")
betrifft, geht es hier um das Vage, Unscharfe, Eventuelle, um Verdacht
und Vermutung. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn nicht
persönlich untersucht und exploriert wurde. Diese Lücke wird
gewöhnlich durch Meinen geschlossen,
statt den Auftrag als nicht erfüllbar ("non
liquet") zurückzugeben. Germanistisch ist auch die Verwendung
des Konjunktivs ein Indiz für Diagnoseunsicherheit.
Belege-DiagF01 Alle vier Mollath-Gutachter (Nbg., Bay., Berl., Ulm) haben nur Verdachts-, Vermutungs- oder bloße Meinungsdiagnosen. Keine ist auch nur annähernd solide und nachvollziehbar datenfundiert und angemessen begründet. Die Folgegutachter beziehen sich auf die Vorgutachter und schreiben im wesentlichen jeweils ab. Auf einer solchen dürftigen und völlig unzulänglichen Datenbasis darf man niemand seiner Freiheit berauben und auf Jahre oder gar Jahrzehnte im Maßregelvollzug verschwinden lassen.
Beleg DiagF01a (Lippert) Gustl
F. Mollaths Oder-Diagnosen Fehler beim Nürnberger Gutachter
Widersprüchliche und in sich unlogische Begründung Unterbringungsbeschluss
des Amtsgerichts Nürnberg vom 22.4.2004, 41 (Az.: Ds 802 Js 4743/03
S. 2):
Quelle: https://www.gustl-for-help.de/download/2004-05-05-Mollath-Amtsgericht-Einweisungsbeschluss.pdf
Obwohl der Gutachter nur zu einer Vermutung ohne jegliche Explorationsbasis gelangt, dass „eine gravierende psychische Erkrankung, vermutlich eine Psychose vorliegt“, wertet der Richter das mündliche Gutachten als „nachvollziehbar und überzeugend“. Für unsichere Vermutungs- oder Verdachtsdiagnosen) kann die Nichtverwertbarkeit aus dem BGH-Beschluss zu Oder-Diagnosen herangezogen werden.
Beleg DiagF01b (Leipziger)
Gustl F. Mollaths Oder-Diagnosen Fehler bei Dr. Leipziger > Beleg DiagF02
Um nicht zu redundant zu werden, möchte ich hier auf Beleg
DiagF02-01b verweisen.
Beleg DiagF01c (Kröber)
Gustl F. Mollaths Oder-Diagnosen Fehler bei Prof. Dr. Kröber
In Kröbers Gutachten fällt auf, dass er gar keine eigene
Erkundung und Erörterung zur Diagnose vornimmt, sondern sich voll
auf Dr. Leipzigers Vermutungen stützt, der gar nicht persönlich
untersucht und exploriert hat. Dafür erhebt er sich über Dr.
Simmerl ("Das Gutachten Simmerl stützt sich ... sowie auf die einmalige
Exploration ...") , der seine Ergebnisse im Gegensatz auf die keinmalige
Exploration Dr. Leipzigers und seiner selbst, auf eine persönliche
Untersuchung und Exploration stützten konnte wie es sich gehört.
Weder werden die psychischen Verfassungen zu den verschiedenen Tatvorwürfen
differenziert betrachtet und erörtert noch die 10 Tatzeitpunkte einer
gründlichen Prüfung unterzogen. So kommt Kröber S. 24 zu
dem abenteuerlichen Zwischenergebnis:
"Sicherlich wäre es gut und sinnvoll gewesen,
mit Herrn Mollath zu sprechen, dieser hätte sinnvollerweise die Chance
nutzen sollen, seine Sichtweise darzustellen. Andererseits findet sich
in den Akten eine durchaus gute und ausreichende Informationslage über
die psychische Verfassung und die Äußerungsweisen von Herrn
Mollath in den Jahren vor seiner Unterbringung. Von daher kann eindeutig
festgestellt werden, dass die Materialien, die insbesondere der Gutachter
Dr. Leipziger zusammengetragen hat, vollauf ausreichen, um die Diagnose
einer "wahnhaften Störung" zu rechtfertigen."
Abschließend kommt Kröber, S. 30f in
seinem Gutachten zu folgenden Endergebnis:
"Zusammenfassend ist also festzustellen, dass die in den Taten zutage
getretene Gefährlichkeit des Untergebrachten nach wie vor unvermindert
ist, da seine Krankheit nicht abgeklungen ist, auch nicht abgeschwächt
ist, und hinsichtlich einer notwendigen Therapie auch keinerlei Kooperationsbereitschaft
besteht. Eindeutig ist festzuhalten, dass nach allen vorliegenden Unterlagen
und nach dem weiteren Unterbringungsverlauf die Diagnose einer zumindest
wohnhaften Störung bestätigt wurde, wobei nicht
auszuschließen ist, dass diese Teil einer schizophrenen Erkrankung
ist, die bereits seit etwa 10 Jahren andauert. Dass zwischenzeitlich in
einem Betreuungsgutachten das Vorliegen von Geschäftsfähigkeit
attestiert wurde, überzeugt bei Kenntnis der relevanten Informationen
nicht; allerdings kommt es für die Unterbringung auf Geschäftsfähigkeit
auch nicht an. In dem entsprechenden Gutachten wird unzutreffend angenommen,
dass die Überzeugungen des Probanden nicht wahnhaft sind, sondern
der Realität entsprechen."
Obwohl keinerlei Untersuchungsergebnisse vorliegen,
basieren Kröbers groteske Schlussfolgerungen einzig und allein auf
einer unveränderten Haltung Mollaths, sich nicht untersuchen und explorieren
zu lassen.
Die falsche Logik
und Denkfehler bei Dr. Leipziger, Prof. Dr. Kröber und Prof. Dr. Pfäfflin
Herr Mollath hält sich von Anfang an für gesund und verweigert Dr. Lippert, Dr. Leipziger, Prof. Dr. Kröber eine persönliche Untersuchung und Exploration. Logisch konsistent und konsequent verweigert er daher auch eine "Behandlung". Nennen wir dieses elementare Erlebens- und Verhaltendatum Merkmal M1. Das Beweisfragen relevante Merkmalsmodell BRM der Gutachter Dr. Leipziger und Prof. Dr. Kröbers kann nun wie folgt (o.B.d.A.) dargestellt werden, wenn wir für M2 anhaltende Krankheit, M3 wahnhafte Störung, M4 unverminderte Gefährlichkeit einsetzen: BRM (Mollath) = M1, M2, M3, M4. Dr. Leipziger und Prof. Dr. Kröber schlussfolgern nun: Weil sich M1 nicht geändert hat, haben sich M2, M3 und M4 auch nicht geändert. Eine solche Schlussfigur ist weder in der Logik, noch in der Wissenschaftstheorie und in den Erfahrungswissenschaften und auch nicht dem gesunden Menschenverstand bekannt. Man könnte diese Schlussfigur nach ihrem wahrscheinlichen Zweck Beugehaft-Logik nennen: Kurz und bündig: wer nicht spurt und sich unterwirft ist krank und gefährlich, ja krank und gefährlich für immer - obwohl doch die empirische psychiatrische Forschung weiß, dass Wahn, selbst wenn es denn einer wäre, in vielen Fällen einfach wieder verschwindet oder sich mehr oder minder zurückbildet. So mündet die große Norwegenstudie (1992) in die Erkenntnis: "Die Maxime „einmal Paranoia, immer Paranoia" entspricht offensichtlich nicht den Tatsachen." Aber von den Wahn-Tatsachen wissen die crème de la crème Gutachter nichts oder sie wollen sie wie immer auch motiviert nichts davon wissen. Ja, sie sind noch nicht einmal in der Lage, einen Definitionsbezug anzugeben (erst Kröber im Telepolis-Interview bezieht sich auf Gruhle falsches Kriterium). Prof. Dr. Pfäfflin begeht trotz persönlicher Untersuchung und Exploration einen ähnlichen Denkfehler, allerdings unter der Voraussetzung dass die Überzeugungen tatsächlich als wahnhaft einzustufen sind. Er schreibt S.45: "Die Einweisungsdiagnose und die aktuelle Diagnose sind identisch. Herr M. hat sich bisher nicht von seinen als wahnhaft eingestuften Überzeugungen entfernt. Diese imponieren, wie dies bei dieser Diagnose ohnehin die Regel ist, als unkorrigierbar." Die langfristige Unkorrigierbarkeit bestätigt die Wahnliteratur aber gerade nicht. Selbst wenn man aber den "Schwarzgeldwahn" rein hypothetisch unterstellt, ist damit 5 Jahre später nichts über die Gefährlichkeit gesagt (hierzu) |
DiagF02 Es werden mehrere Diagnosen als "ver-oderte" Möglichkeiten ausgewiesen.
Beleg DiagF02
Prototypische Struktur
Führt eine GutachterIn aus, daß eine Störung S1 zugeordnet
zum Eingangsmerkmal "krankhafte seelische Störung" oder
eine Störung S2 zugeordnet zum Eingangsmerkmal "tiefgreifende
Bewusstseinsstörung" oder eine Störung S3 zugeordnet
zum Eingangsmerkmal "Schwachsinn" oder eine Störung
S4 zugeordnet zum Eingangsmerkmal "schwere
andere seelischen Abartigkeit" vorliegen kann, so bleibt
nicht verwertbar offen, welche der Eingangsvoraussetzungen vorliegt. Das
ist nach dem BGH
Beschluss vom 12.
11. 2004 - 2 StR 367/04 (LG Koblenz) nicht zulässig.
Beleg DiagF02-01 Gustl F. Mollaths
Oder-Diagnosen Fehler
Im Fall Gustl F. Mollath wird dieser Fehler gleich mehrfach gemacht
- nicht bemerkt, gerügt und zurückgewiesen von den Gerichten
- als ob der eine Gutachter die Fehler vom anderen übernimmt, möglicherweise
um nach außen ein Bild psychiatrischer Einheit zu demonstrieren.
Das ist bei Fehlern natürlich besonders fatal.
Beleg DiagF02-01b
Gustl F. Mollaths Oder-Diagnosen Fehler Bayreuther Gutachter
Bayreuther Gutachter kann sich in seinem Gutachten vom 25.7.2005 zur
Schuldfähigkeit zu keiner Diagnose durchringen (S. 28): „stellt das
… nicht sicher zuordenbare Krankheitsbild eindeutig eine schwere psychische
Erkrankung dar, die am ehesten [!, RS] dem biologischen Eingangskriterium
der krankhaften seelischen Störung, alternativ auch der schweren anderen
seelischen Abartigkeit zuzuordnen ist.“
Genau eine solche "Alternative" lässt der BGH
Beschluss vom 12. 11. 2004 nicht zu.
Der Bayreuther Gutachter erklärt
sich völlig unsicher und weiß im Grunde nichts außer
Spekulationen, Vermutungen, Erörtern von Möglichkeiten, oder
... Es können zwar im Einklang mit der Lebens- und Rechtsrealität
mehrere Eingangsvoraussetzungen
zugleich erfüllt sein, müssten
dann aber nach dem BGH
Beschluss 2004 logisch durch „und“ verknüpft werden. Es
ist danach nicht zulässig, zu sagen, es läge vielleicht E1.1
oder E1.2 oder E1.3 …, möglicherweise aber auch E2 oder E3 vor. Indikationen
für Diagnoseunsicherheiten sind auch Formulierungen wie „vermutlich“,
„alternativ“, „oder“, „käme in Frage“, in Betracht ziehen“, „könnte“,
"vielleicht", „möglich“ wie im Ergebnis der Eingangsvoraussetzungen
(S. 27f: fett-kursiv RS, dahinter die Unsicherheitssignatur) mitgeteilt
wird:
Differentialdiagnostisch käme [U2K2] beim Angeklagten auch die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie (ICD 10: F 20.0) in Betracht. Für diese Diagnose würden neben den paranoiden Inhalten des Angeklagten dessen affektive Störungen, seine bizarren Verhaltensmuster und vor allem - so [U3B1] sie bei ihm mit hinreichender Sicherheit angenommen werden können - Handeln kommentierende Stimmen sprechen.
Als weitere Differentialdiagnose müssten [U4K3] beim Angeklagten eine organische wahnhafte (schizophrenoforme) Störung in Betracht gezogen werden, für die allerdings eine organische Erkrankung oder Schädigung des Gehirns des Angeklagten als Ursache gefunden werden müsste.
Der Angeklagte hat sich jedoch sowohl einer laborchemischen als auch einer gezielten neurologischen oder apparativen Untersuchungen seines Gehirns, wie der Computertomographie des Kopfes, der Ableitung der Hirnstromkurve (EEG) oder anderer Untersuchungsverfahren nachhaltig verweigert, so dass eine mögliche organische Grundlage der beim Angeklagten diagnostizierten paranoiden Störung weder ausgeschlossen, noch belegt werden kann. [U5O1]
Die genannten möglichen Differentialdiagnosen [U6M1] der beim Angeklagten festgestellten komplexen wahrhaften Symptomatik mit zumindest sicher feststellbaren massiven affektiven Veränderungen stellen ungeachtet ihrer Ätiologie ein schweres, zwingend zu behandelndes psychiatrisches Krankheitsbild beim Angeklagten dar.
Die beim Angeklagten vorliegende schwere psychische Störung stellt eine krankhafte Störung im Sinne der biologischen Eingangskriterien der §§ 20/21 StGB; dar, könnte allenfalls [U7K4] aus eher akademischen Gründen im Falle der Diagnose der nur "wahnhaften Störung" nach ICD 10 F 22.0 alternativ auch [U8A1] dem biologischen Eingangskriterium der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden.
Somit stellt das beim Angeklagten sowohl zum Zeitpunkt der Begutachtung vorliegende als auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu den Tatzeitpunkten vorliegende geschilderte, differentialdiagnostisch aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft des [>29] Angeklagten nicht sicher zuordenbares Krankheitsbild [U9S1] eindeutig eine schwere; psychische Erkrankung dar, die am ehesten [U10S2] dem biologischen Eingangskriterium der krankhaften seelischen Störung, alternativ auch [U11A2] der schweren anderen seelischen Abartigkeit zuzuordnen ist.
Ohne Zweifel spricht das Verhalten des Angeklagten, das durch die Zeugenaussagen geschildert wird - soweit das Gericht den Angaben der betreffenden Zeugen Glauben schenkt - dafür, dass sich der Angeklagte zu den gegenständlichen Tatzeitpunkten in einer aus seinem Krankheitsbild [U12W1] herrührenden, massiven affektiven Erregung [U13F1] befunden hat, aufgrund deren zumindest seine Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB erheblich beeinträchtigt war. Unter dem Eindruck akuten wahnhaften Erlebens oder einer wahnhaft erlebten Bedrohung kann für die Tatzeitpunkte auch eine Aufhebung von Steuerungs- und/oder Einsichtsfähigkeit zumindest für die Tatkomplexe nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, in denen massive Aggressionshandlungen vom Angeklagten zu verzeichnen waren .
Von daher liegt beim Angeklagten zu den gegenständlichen Tatzeitpunkten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus forensisch-psychiatrischer Sicht zumindest eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit vor, wobei eine Aufhebung von Steuerungs- und/oder Einsichtsfähigkeit beim Angeklagte zu den Tatzeitpunkten nicht mit hinreichender Sicherheit [U14W2] aufgrund der derzeitig vorliegenden Erkenntnisse ausgeschlossen werden kann.“
Ergebnis
der Unsicherheitsprüfung entsprechend dem BGH Beschluss
Die Erörterungen zur Diagnostik und ihrer Zuordnung
zu den 4 Eingangsmerkmalen enthalten 14 Unsicherheiten, wovon 13 relevant
sind [außer U5O1] und nicht
die vom BGH verlangte Sicherheit erfüllen und sämtlich nicht
auf einer persönlichen Untersuchung und Exploration beruhen und sämtlich
nicht
kausal zu Daten während der Tatzeitpunkte in Beziehung gesetzt
werden.
Zu den Unsicherheiten gehören vier Konjunktive; zwei Widersprüche (einer gegen die Logik, W1, einer gegen die rechtlichen Gebote, W2); zwei Alternativen vom Typ "oder"; eine gebotene, aber fehlende Alternative (tiefgreifende Bewusstseinsstörung nicht angedacht); eine Bedingung, eine Möglichkeit und zwei direkt formulierte Unsicherheiten = 4+2+2+1+1+1+2 = 13. |
Alle Gerichte übernehmen die Diagnose-Fehler. Bis heute hat kein einziges Gericht den Diagnoseprozess kritisch durchleuchtet wie es die Pflicht der RichterInnen wäre.
DiagF03 Nichtberücksichtigung der üblichen Explorations- oder Diagnoseleitfäden (ICD-10) nicht berücksichtigt.
Belege-DiagF03: Mollath: Exploration- oder Diagnoseleitfäden werden (Ausnahme vom Ulmer, aber falsch) von keinem Mollath Gutachter gemacht. Selbst der Ulmer Gutachter, der durch die Gewährung persönlicher Untersuchung und Exploration die Möglichkeit hatte, das Daten-Vakuum der drei Vorgutachter auszubügeln, macht unverständlicherweise keinerlei Gebrauch davon, ja nicht einmal Anstalten. Statt Befinden und Verfassung zu den 10 Tatzeitpunkten z.B. mit Hilfe des SKID I festzustellen, untersucht er mit SKID II, der dann noch den Befund "kein Wahn nach SKID II" ergibt
Belege-DiagF04 Nachdem Dr. Leipziger und Prof. Dr. Kröber keinen der üblichen Explorations- oder Diagnoseleitfäden anwenden stellt sich die Frage gar nicht, wie ein nachvollziehbares Ergebnis zustande kommt.
Belege-DiagF05 Daten des Erlebens und Verhaltens spielen eine nur sehr geringe, ja fast gar keine Rolle. Es genügte die Behauptung Mollaths, es würden Schwarzgeldverschiebungen durchgeführt, um daraus bei den Gutachtern und der Justiz spontan und assoziativ einen "Schwarzgeldwahn" auf den Plan zu rufen. Weder wird eine Definition des Wahns, die man zugrundelegt, mitgeteilt, noch der Versuch unternommen, die Angaben mit hinreichend belastbaren Daten des Erlebens und Verhaltens zu begründen. Eine gründliche Bezugaufnahme auf die 10 Tatzeitpunkte hielt ohnehin niemand für nötig. Am merkwürdigsten ist aber, dass Mollath ja für jeden Menschen - mit durchschnittlicher Intelligenz und gesundem Menschenverstand - viele nachvollzieh- und kontrollierbare Fakten, einschließlich persönlicher Augenscheinzeugenschaft (Mitreise in die Schweiz) anführt, die seinen Behauptungen zu Schwarzgeldverschiebungen eine Qualität verliehen, die weit mehr als nur anlassbezogen verständlich, sondern schon so konkret waren, dass die Staatsanwaltschaft auf jeden Fall einem Anfangsverdacht zwingend hätte nachgehen müssen.
Es sei an dieser Stelle noch einmal erinnert: Jede forensische Diagnose mit wissenschaftlichem Anspruch muss einen sechsstufigen Prozess durchlaufen:
Belege-DiagF06: Das ist leider bei fast allen Mollath-Gutachtern der Fall und beginnt bereits bei Dr. Lippert, setzt sich dann fort bei Dr. Leipziger, Prof. Dr. Kröber und Prof. Dr. Pfäfflin wie bei den alljährlichen StellungnehmerInnen. Die gesamte psychiatrische Diagnostik beruht im Fall Mollath im wesentlichen auf den fremdanamnestischen und parteiischen Behauptungen einer massiv interessegeleiteten Ehefrau, die nie kritisch erörtert und geprüft wurden. Selbst ganz offensichtliche Fehler und Widersprüche erleiden dieses Schicksal und werden von allen befassten Gerichten völlig unkritisch so hingenommen und unisono weggebügelt nach dem Motto: der Mann spinnt und ist gemeingefährlich..
Belege-DiagF07-01 Falsche Diagnose
(OLG-Richter Fehler) bei Gustl F. Mollath
OLG-Beschluss, S. vom 5. Mai 2009 (2 Ws 617/08): "Nach
der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Straubing vom 8.1.2008 und den
Ausführungen
des Sachverständigen Prof. Dr. Kröber besteht die Persönlichkeitsstörung
fort."
Abgesehen davon, dass die Diagnosen der Gutachter sämtlich nicht
datenfundiert sind, sorgen auch noch die Gerichte für Verwirrung und
demonstrieren massive Unkenntnis der Sachlage. Als Beleg sei der OLG Nürnberg
Beschluss (2 Ws 617/08, StVK 25/08 LG Regensburg in Straubing 802 VRs 4743/03
StA Nürnberg-Fürth) zur sofortigen Beschwerde gegen die weitere
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vom 5. Mai 2009 zitiert
(kritische Stellen fett.kursiv RS):
Nach der Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses Straubing vom 8.1.2008 und den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Kröber besteht die Persönlichkeitsstörung fort. Es existierten bislang keine gemeinsamen Ansatzpunkte für eine konstruktive Therapie, da der Untergebrachte krankheitsbedingt jegliche Therapie bzw. Behandlung verweigere. Für eine Erledigterklärung der Unterbringung nach § 67 d Abs. 6 StGB war somit kein Raum. Da somit bei dem Untergebrachten auch noch keine (stabilen) Behandlungsfortschritte erzielt werden konnten, die einen Ansatzpunkt für eine günstige Sozialprognose ergeben könnten, kam auch eine Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung noch nicht in Betracht. Bei Aussetzung der Maßregel zur Bewährung wäre - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt- mit erheblichen rechtswidrigen Taten des Verurteilten zu rechnen.
Nachdem die Unterbringung erst seit dem 13.2.2007 (Rechtskraft des Urteils des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8.8.2006) vollzogen wird, sind auch die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer zur Verhältnismäßigkeit der Maßregel in keiner Weise zu beanstanden. Dies gilt auch, wenn man als Beginn der Unterbringung bereits die Unterbringung ab dem 27.2.2006 gemäß § 126 a StPO zugrunde legen würde.
Auch das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung. Ein nachvollziehbarer Grund für die Verweigerung der Untersuchung durch Prof. Dr. Kröber seitens des Untergebrachten ist für den Senat nicht ersichtlich. Die behauptete Verweigerung der Einsicht in die Behandlungsunterlagen durch das Bezirkskrankenhaus Straubing hat mit dem Sachverständigen Kröber nicht das Geringste zu tun. Eine Befangenheit des Sachverständigen, die einen Grund für die Unverwertbarkeit des Gutachtens darstellen könnte, vermag der Senat nicht ansatzweise zu erkennen. Der Sachverständige ist einer der anerkanntesten forensischen Psychiater Deutschlands und das Gutachten vom 27.6.2008 entspricht den aufgestellten Mindestanforderungen für ein Prognosegutachten voll. Angesichts der bereits dargestellten bisherigen Dauer der Unterbringung und der Tatsache, dass es sich bei den Anlasstaten um eine gefährliche Körperverletzung, eine vorsätzliche Körperverletzung und mehrere erhebliche Sachbeschädigungen handelte, deren Begehung nach den Feststellungen außerhalb des Maßregelvollzugs weiterhin noch vom Untergebrachten befürchtet werden muss, kann von einer Unverhältnismäßigkeit der Unterbringung , insbesondere unter Berücksichtigung, dass der Verurteilte nach wie vor eine Behandlung verweigert, zum jetzigen Zeitpunkt in keiner Weise gesprochen werden."
Keine Rede mehr von Wahn oder gar paranoider Schizophrenie. Plötzlich
soll eine völlig unspezifische "Persönlichkeitsstörung"
vorliegen. Die völlig unsinnige Logik, dass von einem unveränderten
Merkmal auf alle anderen geschlossen wird, ist ebenso abenteuerlich und
falsch wie die kühne Behauptung, dass Kröber die Mindestanforderungen
für ein Prognosegutachten voll erfülle. Er hat sie mitgeschrieben,
wie er überhaupt einige kluge Sachen schreibt, aber er hält sich
an seine eigenen Kriterien nicht, jedenfalls nicht im Fall Mollath.
Belege-DiagF08-01 Unzulängliche
Prüfung der Entsprechungen bei den vier Eingangsmerkmalen
Obwohl schon bei oberflächlicher Betrachtung jedem Kundigen auffällt,
dass einer der drei Haupttatvorwürfe ein Affektgeschehen beschreibt,
kommt keiner der Gutachter auf die offensichtlich naheliegende Idee, das
dritte Eingangsmerkmal, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung (Affekttäter)
in Betracht zu ziehen und differentialdiagnostisch abzuklären.
Es fehlt also die genaue Prüfung der Eingangsvoraussetzungen, was
im Folgenden am Unterbringungsgutachten von Dr. Leipziger erörtert
wird. Es sind hier Recht und Rechtsprechung klar. Hierzu Streng, Münchener
Kommentar zum StGB 2. Auflage 2011, StGB § 20 Schuldunfähigkeit
wegen seelischer Störungen:
Die Beweisfragen betreffen drei Tathandlungen zu verschiedenen Tatzeiten,
nämlich, wie Dr. Leipziger S. 1f ausführt:
Eingangsmerkmal
2 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung nicht erwogen
Tatvorwurf -1 schildert eine scheinbar anlasslose Tat (schlagen, beißen,
würgen, treten) was einen Erregungszustand nahelegt, der sich aus
angestauten Affekten gebildet und entladen hätte haben können.
Hier wäre auf jeden Fall die Eingangsvoraussetzung 2, die „tiefgreifende
Bewusstseinsstörung“, wenigstens zu bedenken und zu untersuchen gewesen.
Hierzu Streng, Münchener Kommentar zum StGB 2. Auflage 2011, StGB
§ 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen: „
Tatvorwurf-2 hätte, zumal er in seiner Intensität und
Ausprägung geringer als Tatvorwurf-1 erscheint, ebenfalls eine Prüfung
der Eingangsvoraussetzung 2, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung
als Möglichkeit berücksichtigen müssen. Ähnliches gilt
für Tatvorwurf-3.
Dass Dr. Leipziger Eingangsmerkmal 2, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung,
überhaupt nicht erörtert, ist insofern kaum nachzuvollziehen,
als er ja selbst, wenn auch undifferenziert, feststellt (S. 29, fett-kursiv
RS):“
Von den vier Eingangsmerkmalen kann nur Eingangsmerkmal 3, Schwachsinn,
sicher ausgeschlossen werden. Rein formal sind bei drei Tatvorwürfen
und drei in Frage kommenden Eingangsmerkmalen E1, E2, E4, folgende
9 Hypothesen möglich und zu prüfen:
Eingangsmerkmal § 20 StGB | Ja=J Nein=N Nicht feststellbar=Nf |
E1 Krankhafte seelische Störung | E1=J E1=N E1=Nf |
E2 Tiefgreifende Bewusstseinsstörung | E2=J E2=N E2=Nf |
E4 Schwere andere seelische Abartigkeit | E4=J E4=N E4=Nf |
Eine solche erforderliche Prüfung und fundiert-kritische Erörterung
aufgrund der Tatvorwurfsschilderungen erfolgt im Gutachten nicht. Lediglich
im Ergebnis wird Diagnoseunsicherheit klar bekannt. (> FHR3)
Belege-DiagF08-02 Unzulängliche Prüfung der Wahnätiologie
Differentialdiagnostische Überlegung wurden zwar angestellt, blieben sämtlich aber in ihrer Bedeutung und Unsicherheit offen, so dass man nur von Vermutungs- und Möglichkeitsdiagnosen („vermutlich“, „alternativ“, „oder“, „käme in Frage“, in Betracht ziehen“, „könnte“, „möglich“) sprechen kann, die im übrigen nach dem BHG-Beschluss aus 2004 unzulässig sind
Der BGH fordert natürlich mit Recht, dass bei einem so schwerwiegenden
Eingriff in die Grundrechte und Rechte (persönliche Freiheit und Autonomie),
eines Menschen, wenigstens Diagnosesicherheit herrschen muss. Unsichere
Vermutungsdiagnosen dürfen niemanden - womöglich über viele
Jahre hinweg - in den Maßregelvollzug der forensischen Psychiatrie
bringen. Und genau diese vom BGH geforderte Diagnosesicherheit lag im Fall
Mollath gerade nachweisbar nicht vor, noch nicht einmal auf der verbalen
Behauptungsebene.
Aber selbst wenn die Diagnosesicherheit auf der
verbalen Behauptungsebene gegeben gewesen wäre, was nicht der Fall
war, wäre immerhin unabdingbar zu zeigen, dass diese Diagnose(n) durch
klare Befunde und ebenso klare Datenquellen begründet sind. Behaupten,
meinen, vermuten genügt nicht bei einem wissenschaftlich fundierten
Gutachten mit solchen rechtlichen und menschlichen Tragweiten.
Ein extremer Mangel ist zudem, dass Alternativdiagnosen
nicht einmal im Ansatz erwogen worden sind. Das ist allerdings dann psychologisch
versteh-, wenn auch nicht billigbar, wenn man Vorurteil und Befangenheit
unterstellt, unbedingt eine psychotische Störung finden zu wollen,
einen Schwarzgeldwahn zu diagnostizieren. Hier zeigt sich, wie wichtig
das vom BGH anlässlich einer Beurteilung und Bewertung von aussagepsychologischen
Gutachten 1999 geforderte hypothesengeleitete Vorgehen ist, das vom 2
Senat des BVerfG noch einmal verallgemeinert bekräftigt wurde.
Wer nämlich mehrere Möglichkeiten und Hypothesen ins Auge fasst,
kommt hierdurch zwingend auch auf weitere differentialdiagnostische Möglichkeiten,
wie z.B. Anpassungsstörung, Stresssyndrom, Beziehungskonflikt, Lebenskrise.
Dass diese Möglichkeiten noch nicht einmal im Ansatz thematisiert
wurden, spricht in hohem Maße dafür, dass hier durch Vorurteil
und Befangenheit die gebotene forensisch-psychiatrische Sorgfalt grob verletzt
wurde.
Zu prüfende Möglichkeiten für den sog. "Schwarzgeldwahn"
Die Psychiatrisierung Mollaths fing mit einer fatalen und verbotenen
Ferndiagnose im BZK Erlangen an. Dr.
Leipziger berichtet:
"S. 5: „In einer ärztlichen Stellungnahme für
die
Geschädigte Petra Mollath, datiert vom 18.09.2003 (Bl. 76 führt
Frau Dr. Krach, Fachärztin der Institutsambulanz der Klinik für
Psychiatrie und, Psychotherapie des Klinikums Am Europakanal, Erlangen,
u.a. aus dass sie durch die Geschädigte zu einer psychiatrisch-psychotherapeutischen
Beratung, insbesondere in Sachen Ehescheidung und in ihrer Eigenschaft
als Zeugin eines Verfahrens gegen dem Ehemann in Sachen Körperverletzung
hinzugezogen worden sei.
Aufgrund der glaubhaften, von psychiatrischer Seite in sich schlüssigen
Anamnese gehe Frau Dr. Krach davon ans, dass der Ehemann (der Angeklagte)
mit großer Wáhrscheinlichkeit an einer ernstzunehmenden psychiatrischen
Erkrankung leide, im Rahmen derer eine erneute Fremdgefährlichkeit
zu erwarten sei.“
Damit war die Idee eines psychisch Gestörten
vorgebahnt. Auf diese Schiene sollten dann alle folgenden - strafrechtlichen
und vom Gericht bestellten (also nicht Dr. Simmerl, Dr. Weinberger) - Gutachter
unkritisch aufspringen.
Literatur (Auswahl) > Befund-Fehler, Beweisfragen-Fehler, Daten-Fehler, Explorations-Fehler, Untersuchungs-Fehler, Symptome, Syndrome, weitere Literaturquellen, Überblick Diagnostik der IP-GIPT,
Im Text zitierte Literatur & Texte u.a.:
IP-GIPT Links
. | einheitswissenschaftliche
Sicht. Ich vertrete neben den Ideen des Operationalismus, der Logischen
Propädeutik und einem gemäßigten Konstruktivismus
auch die ursprüngliche einheitswissenschaftliche Idee des Wiener
Kreises, auch wenn sein Projekt als vorläufig gescheitert angesehen
wird und ich mich selbst nicht als 'Jünger' betrachte. Ich meine dennoch
und diesbezüglich im Ein- klang mit dem Wiener
Kreis, daß es letztlich und im Grunde nur eine
Wissenschaftlichkeit gibt, gleichgültig, welcher spezifischen
Fachwissenschaft man angehört. Wissenschaftliches Arbeiten folgt einer
einheitlichen und für alle Wissenschaften typischen Struktur, angelehnt
an die allgemeine
formale Beweisstruktur.
Schulte, Joachim & McGuinness, Brian (1992, Hrsg.). Einheitswissenschaft - Das positive Paradigma des Logischen Empirismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geier, Manfred (1992). Der Wiener Kreis. Reinbek: Rowohlt (romono). Kamlah, W. & Lorenzen, P. (1967). Logische Propädeutik. Mannheim: BI. |
Wissenschaft [IL] schafft Wissen und dieses hat sie zu beweisen, damit es ein wissenschaftliches Wissen ist, wozu ich aber auch den Alltag und alle Lebensvorgänge rechne. Wissenschaft in diesem Sinne ist nichts Abgehobenes, Fernes, Unverständliches. Wirkliches Wissen sollte einem Laien vermittelbar sein (PUK - "Putzfrauenkriterium"). Siehe hierzu bitte das Hilbertsche gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann verständlichen Sprache wiedergeben." |
Allgemeine
wissenschaftliche
Beweisstruktur
und beweisartige Begründungsregel
Sie ist einfach - wenn auch nicht einfach durchzuführen - und lautet: Wähle einen Anfang und begründe Schritt für Schritt, wie man vom Anfang (Ende) zur nächsten Stelle bis zum Ende (Anfang) gelangt. Ein Beweis oder eine beweisartige Begründung ist eine Folge von Schritten: A0 => A1 => A2 => .... => Ai .... => An, Zwischen Vorgänger und Nachfolger darf es keine Lücken geben. Es kommt nicht auf die Formalisierung an, sie ist nur eine Erleichterung für die Prüfung. Entscheidend ist, dass jeder Schritt prüfbar nachvollzogen werden kann und dass es keine Lücken gibt. |
Praktische Anwendung und Veranschaulichung:
Das
Buch Eva -Ticket ins Paradies.
(3) Die psychischen Ereignisse können mehrperspektivisch betrachtet werden: z. B. physikalisch, biologisch, chemisch, physiologisch, neurologisch, internistisch, psychopharmakologisch, immunologisch, kybernetisch, psychologisch, sozial-ökonomisch, sozialpsychologisch, sozial-rechtlich und kommunikativ. Hinzu kommt, daß in der Computermetapher Hardware als körperlich und Software als psychisch die Realisation im "Betriebssystem Mensch" vielfach miteinander verflochten und vernetzt ist. Man kann es den biokybernetischen Ereignissen im Körper nicht unbedingt ansehen, ob sie "Hardware" oder "Software" repräsentieren. So finden wir häufig in den Mitteilungen und Büchern drei Ebenen durcheinander gehend: a) Perspektive (z. B. physikalisch, chemisch, biologisch, medizinisch, psychologisch, sozial), b) Hard- oder Software-Repräsentation, c) Ursache, Neben- und Begleiterscheinung oder Wirkung. Unbeschadet der Probleme, ist die konzeptionelle Vorsehung einer oder mehrerer Ursachen (Bäume oder Zweige) natürlich sinnvoll und vernünftig. Die Neigung mancher SystemikerInnen und VulgärkonstruktivistInnen, das Ursachenproblem herunterzuspielen oder gänzlich für überflüssig zu erklären, können wir in der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie weder teilen noch akzeptieren. > Krankheitsbegriff.
Merkmal (latente Dimension) | Operationalisierung(en) |
(a) Innere Unruhe | Ich bin innerlich unruhig und nervös. |
(b) Angst | Ich fühle Angst. |
(c) Depression | Nicht selten ist alles wie grau und tot und in mir ist nur Leere. |
Hayakawa (1967) zitiert S. 241 Bridgman kurz und bündig: "Um die Länge eines Gegenstandes herauszufinden, müssen wir bestimmte physikalische Operationen vornehmen. Der Begriff der Länge wird daher festgestellt, wenn die Operationen, durch die die Länge gemessen wird, festgestellt sind .... Im allgemeinen verstehen wir unter irgend einem Begriff nicht mehr als eine Anzahl von Operationen; DER BEGRIFF IST SYNONYM MIT DER ENTSPRECHENDEN ANZAHL VON OPERATIONEN. "(3)"
Zur
Geschichte des Operationalisierungsbegriffs in der Psychopathologie
Kendell (1978) berichtet, S. 27f: "Vor einigen Jahren machte der Philosoph
Carl
Hempel einem Publikum von Psychiatern und klinischen Psychologen, die
an Fragen der Diagnose und der Klassifikation interessiert waren, in taktvoller
Weise den Vorschlag, sie sollten das Problem dadurch angehen, daß
sie „operationale Definitionen" für alle die verschiedenen Krankheitskategorien
in ihrer Nomenklatur entwickelten (Hempel 1961). Dies war wirklich
der einzige Rat, den ein Philosoph oder Naturwissenschaftler überhaupt
hätte geben können. Der Ausdruck operationale Definition wurde
ursprünglich von Bridgman (1927) geprägt, der ihn folgendermaßen
definierte:
„Die operationale Definition eines wissenschaftlichen
Begriffes ist eine Übereinkunft des Inhalts, daß S auf alle
die Fälle - und nur auf die Fälle - anzuwenden ist, bei denen
die Durchführung der Testoperation T das spezielle Resultat 0 ergibt.
Wie Hempel selbst zugibt, muß im Rahmen
der psychiatrischen Diagnose der Ausdruck „operational" sehr großzügig
interpretiert werden, um auch noch bloße [>28] Beobachtungen mit
einschließen zu können. Im Grunde genommen sagt er nicht mehr,
als daß die Diagnose S auf alle die Personen, und nur auf die, angewandt
werden sollte, die das Merkmal Q bieten oder die dem entsprechenden Kriterium
genügen, wobei nur die Voraussetzung erfüllt sein muß,
daß O „objektiv" und „intersubjektiv verifizierbar" ist und nicht
nur intuitiv oder einfühlend vom Untersucher erfaßt wird.
Daraus ergibt sich die Schwierigkeit, wie man eine
ganze Reihe klinischer Bilder, von denen viele quantitativ variieren und
kein einzelnes gewöhnlich ausreicht, die fragliche Diagnose zu stellen,
auf ein einziges objektives Kriterium 0 reduzieren kann. Dies ist offensichtlich
eine schwierige und verwickelte Aufgabe. Ein großer Teil dieses Buches
ist direkt oder indirekt mit der Art und Weise befaßt, wie dieses
Ziel erreicht werden könnte. Deshalb ist es angezeigt, an dieser Stelle
zwei allgemeine Prinzipien, die sich hierauf beziehen, aufzustellen. Erstens
müssen Einzelsymptome oder Merkmale, die verschiedene Ausprägungsgrade
haben können, in dichotome Variable umgewandelt werden, indem man
ihnen bestimmte Trennungspunkte zuteilt, so daß die Frage nicht länger
lautet: „weist der Patient das X auf? " oder auch „wieviel X weist er auf?
sondern „weist er soviel X auf? ". Zweitens muß das traditionelle
polythetische Kriterium in ein monothetisches umgewandelt werden. Dies
läßt sich ganz einfach durchführen. Anstatt zu sagen, die
typischen Merkmale der Krankheit S seien A, B, C, D und E, und die Mehrzahl
von ihnen müßte vorhanden sein, bevor die Diagnose gestellt
werden kann, müssen A, B, C, D und E algebraisch kombiniert werden,
sodaß eindeutig festgelegt ist, welche Kombinationen dem Kriterium
O genügen und welche nicht.
Man könnte z.B. die Übereinkunft treffen,
daß beliebige drei oder vier der fünf Merkmale dem Kriterium
0 genügen, aber andere, komplexere Kriterien wären ebenfalls
zu akzeptieren unter der Voraussetzung, daß sich jede mögliche
Kombination damit abdecken ließe."
Objektivitäts-Paradigma
Eine Beurteilung heißt in dem Maße objektiv, wie unterschiedliche
BeurteilerInnen einen Sachverhalt gleichermaßen beurteilen, schätzen
oder messen.
Reliabilitäts-Paradigma
Eine Ausprägungsschätzung oder Messung einer Ausprägung
eines Merkmals ist in dem Maße reliabel, wie sie gleiche Werte unter
gleichen Bedingungen schätzt oder misst.
Validitäts-Paradigma
Eine Aussage zu einem Sachverhalt ist in dem Maßen valide, wie
die Aussage den Sachverhalt erfasst.
__
Wahn.
Definition: Wahn liegt vor, wenn mit rational unkorrigierbarer
(Logik,
Erfahrung) Gewissheit ein falsches Modell der Wirklichkeit
oder ein falscher Erkenntnisweg zu einem richtigen oder falschen
Modell der Wirklichkeit vertreten wird.
Beispiel falsches Modell der Wirklichkeit: Ein Passant
gähnt und das deutet ein fränkischer Proband als Zeichen Dr.
Merks, worauf er in die Knie geht und laut ruft: „Allmächd, Allmächd“.
Muss man so jemanden einsperren? Natürlich nicht.
Beispiel falscher Erkenntnisweg eines richtigen
Modells der Wirklichkeit: Ein Passant gähnt und ein Proband zieht
daraus den Schluss, dass Banken in hohen Maße an Steuerbetrugsdelikten
beteiligt sind. Passantengähnen ist keine in unserer Kultur und Wissenschaft
anerkannte Erkenntnisquelle für Schwarzgeldschiebereien, die natürlich
ein völlig reales Modell der Wirklichkeit sind.
Gustl F. Mollath hat seine Erkenntnisse nicht aus
dem Gähnen eines Passanten wahnhaft erschlossen, sondern seine Erkenntnisquellen
entsprechen genau denen unserer Kultur und Wissenschaft. Es gibt auch keine
Progredienz
(Ausdehnung, Erweiterung, Fortschreitung), wenn man mit gesundem Menschenverstand
hinschaut, was der forensisch-psychiatrischen Schlechtachterindustrie offenbar
zu schwierig erscheint. Es ist ja völlig logisch und verständlich,
dass, je mehr Menschen sein Anliegen und seine Erkenntnisse ablehnen, er
entsprechend mehr AblehnerInnen sieht. Daher ist das vermeintliche Progredienzzeichen
für einen angeblich sich ausdehnenden Wahn (wohin hat er sich denn
in den letzten 10 Jahren ausgedehnt?) auch keines, sondern es erklärt
sich ganz einfach aus der Natur des Sachverhalts.
Infos zum Wahn in der IP-GIPT:
In beiden Fällen, erst aus der Forensik Straubing, dann aus Rosenheim,
wird Wissenschaft beansprucht und versprochen
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Forensische Psychologie site: www.sgipt.org. |