Kritik und Alternative zur Traditionellen Diagnostik
in der Psychopathologie (1)
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Querverweise. * Literatur.
Die hauptsächlichen traditionellen Diagnosesysteme ICD und DSM, (besser AMDP oder PSE)(L1), haben folgende Hauptmängel:
(1) sie sind bereits an der Basis klassifizierend-kategorisierend
und verlieren daher beim Verschlüsseln ihren operationalen, konkreten
Bezug (falls es überhaupt einen gibt). Die Syndrom- und Krankheitszuweisungen
beruhen daher nicht auf den gleichen operationalen Basisinformationen.
Verlangt man z. B. die Erfüllung von 5 aus 8 Kriterien, so gibt es
bereits 56 verschiedene Möglichkeiten (8 über 5 Kombinationen
ohne Wiederholung) eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert
zu bekommen (DSM-III, S. 335), die sich nach diesem Ansatz also 56fach
unterscheiden kann.(2) Nach der
Verschlüsselung weiß der Computer gewöhnlich nicht mehr,
welcher der 56 Untertypen vorliegt. Warum also nicht gleich die Basisinformation
abspeichern und sich hierdurch resistent gegen wissenschaftliche Entwicklungen
und Moden machen? Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund,
es so zu machen, wie es im DSM-III und Nachfolger geschieht. Aber es gibt
eine Menge vernünftiger Gründe, es so nicht zu machen.
Bedeutungsänderung
ICD-10 Z55: Völlig unverständlich und falsch ist die direkte
Änderung der Bedeutung einer Diagnoseziffer wie z.B. bei der Zusatzdiagnose
Z55.x:
ICD-10 1991 Ausgabe, S. 323: "Z55.x
Probleme in Verbindung mit Ausbildung und Bildung."
ICD-10 2008 Ausgabe, S. 400: "
Z55III Probleme mit Bezug auf die Ausbildung und das Lese-Schreib-Vermögen".
Hier wurde durch das "und" und die Verbindung zum Lese-Schreibvermögen
ohne jede Erklärung oder Kommentar, warum man das gemacht hat und
wo die alte Bedeutung nun untergebracht ist, eine völlig neue Zusatz-Diagnose
geschaffen. Wer also forscht und Gruppen nach Diagnosekriterien zusammenstellen
will, hat nun ein aufwendiges Problem.
(2) ICD und DSM sind geschlossene Systeme, vorgefaßt, begrenzt und starr und erfassen daher viele Erscheinungen gar nicht. Da sich die Wissenschaft und Therapie in ständiger Bewegung und Entwicklung befindet, müssen die Systeme daher ständig überarbeitet und überholt werden. Da in der Regel keine Transformationsprogramme angeboten werden gibt es keine Forschungskontinuität. Die MedizinerInnen der WHO wissen(3) offenbar nicht, weshalb das nötig wäre und welche gigantischen Summen hierdurch periodisch zum Fenster hinausgeworfen werden: sie sind von der Forschungswirklichkeit offenbar zu weit entrückt. So liefert jede Revision eine neue Wirklichkeitsinterpretation, derzeit extrem im Übergang vom ICD-9. zur ICD-10. Revision.
(3) Symptome werden isoliert und abstrahiert von sozialen Kontexten und Befindlichkeiten erfaßt. Eine ökosystemische Diagnostik existiert nicht nur nicht, sie wird auch offensichtlich für unnötig erachtet. Damit ist diese Diagnostik auf ihrem Stand vor 100 Jahren.
(4) Positive Aspekte und Ressourcenerfassung, die therapeutisch sehr wichtig sein können, sind überhaupt nicht vorgesehen.
(5) Konstruktiv-operationale Normierungen liegen nicht vor. Die Merkmalsliste im ICD-10 ist merkwürdigerweise nicht im Klassifikationshandbuch (DILLING et al. 1991) veröffentlicht, sondern in einem Extrabuch (DITTMANN et al. 1992); dort findet sich nun seltsamerweise wiederum kein Glossar, dafür eine relativ unverständliche Kritik (S. 23) am AMDP-System, das seinerseits nun wieder ein Glossar - wie auch das PSE - und ein Minimum an ökosystemischer Diagnostik und soziologisch wichtigen Kriterien erfaßt.
Ausführlich und kritisch zur Problematik der traditionellen Klassifikationssysteme: SCHMIDTKE, A. (1980), aus psychiatrischer Sicht KENDELL, R. E. (dt. 1978). Eine wirkliche Entwicklung wird erst dann möglich sein, wenn präzise operational normierte Begriffsbildungen das babylonische Sprachgewirr und die Folgen überwindet. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet sind der ICD und das DSM für unsere Zwecke nicht zu gebrauchen: es sind Etikettierungen, die lediglich die zwanghafte Illusion einer (Pseudo-) Ordnung suggerieren. Mit solchen Systemen wird das Chaos in der psychologischen und psychopathologischen Diagnostik nicht weniger, sondern zementiert. Freilich liegt die tiefere Grundlage für dieses Chaos im Mangel an wissenschaftstheoretischer Einsicht(4) und Disziplin einer streng normierten Elementarterminologie. Sie ist nirgendwo wichtiger als auf dem Gebiet der Psychologie und Psychopathologie, weil hier die unmittelbare phänomengegebene Kontrolle oft fehlt. Die Situation hat sich seit BLEUERs (1919) berühmt- berüchtigten Titel "Das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin (und in der Psychologie fügen wir hinzu) und seine Überwindung" nicht gebessert und die neue 88-bändig konzipierte Enzyklopädie der deutschen akademischen Psychologie verstärkt das Problem anscheinend abermals, statt es zu bessern - geschweige denn endlich konstruktiv zu beseitigen.
Der Integrative Ansatz & das Diagnose System L-PSYCHO I
Bevor man sich hyperaktiv in die Kreation von Diagnostiksystemen stürzt oder uralte Ansätze immer wieder neu revidiert, sollte man sich - in bester methodologischer Tradition darüber klar werden, welche Eigenschaften das Diagnosesystem haben s o l l, also welche Ziele und Zwecke man zu erfüllen trachtet.
10 Wissenschaftlich Vernünftige Konstruktions-Kriterien
zur GIPT-Diagnostik
Grundprinzip unseres Ansatzes ist, daß wir zunächst unsere Ziele und Zwecke darlegen, wie ein psychotherapeutisch sinnvolles Diagnosesystem aufgebaut sein sollte.
1. Kriterium: Originalinformation bleibt erhalten.
Das Diagnosesystem basiert auf operational phänomenologischen
- und idealiter normierten - Elementarinformationen, die invariant
gegenüber Veränderungen der Entwicklung von den Klassenbildungen
der Syndrome und Krankheiten sind. Veränderungen in der Wissenschaft
und Modeströmungen beeinträchtigen und zerstören die Elementarinformationen
nicht, erhalten die Kontinuität, sind also informations-konservativ,
damit EDV- und forschungsfreundlich und außerdem gesamtgesellschaftlich
ökonomisch und sparsam.
2. Kriterium: Beliebig ergänzungs- und anpassungsfähig
Das System ist grundsätzlich offen und beliebig erweiterbar, damit
flexibel und anpassungsfähig. Es verwendet daher keine fixen Codierungen,
sondern eine einfache Kunstsprache - L-PSYCHO I -, die im wesentlichen
auf der Fach- und Alltagssprache aufbaut.
3. Kriterium: Beliebige Systeme einbind- und
anwendbar
Das System ist freundlich gegenüber allen existierenden oder künftigen
Diagnosesystemen, indem es die Verwendung beliebiger Systeme durch einfache
Lexikator Zuweisung z. B. Diagnostik nach AMDP, PSE, ICD-9, ICD-10, DSM-III,
DSM-IV, ..., zuläßt.
4. Kriterium: Begriffsnormierung
Die psychologischen und psychopathologischen Grundbegriffe sind zur
Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit einer strengen Normierung zu unterziehen,
damit wenigstens eine paragalileische Wissenschaftsbasis geschaffen wird(5).
Eine voll befriedigende wissenschaftliche Normierung ist von mir alleine
natürlich nicht zu leisten, aber ich habe einen Anfang gemacht (Sponsel,
R. (1995)), der in dieser Internet-Publikation fortgesetzt wird.(6)
Zusatz: Die Sprachnormierung ist ein erster, die konstruktiv operationale
Definition ein zweiter, sehr viel wesentlicherer Schritt zur Datensicherheit.
Und dennoch muß man die Frage der Datensicherheit und Datengüte
weitertreiben. Grob gesehen kann man sagen, daß für alle Informationsgewinnungsprozeduren
das Problem der Objektivität, Reliabilität, Validität gegeben
ist, und zwar völlig unabhängig davon, ob das in jemandes schulisches
Konzept paßt oder nicht. Für jedes relevant erscheinende Datum
in der Therapie stellt sich die Frage, wie sicher, zuverlässig, gültig
das Datum ist. Die Medizin hat hierfür kein Problembewußtsein,
keine Problemtradition, keine Methoden. Betrachtet man sich veröffentlichte
Meßwerte in der Medizin, so fehlen häufig Einheiten, Angaben
zur Stichprobe, Normierungen und Angaben zur Objektivität, Reliabilität
und Validität. Die meisten MedizinerInnen wissen nicht einmal, was
das ist. Entsprechend katastrophal zum medizinischen Problembewußtsein
ist natürlich das methodische Arsenal, wie mit den Problemen umzugehen
ist.
5. Kriterium: Positiv-Diagnostik wünschenswert und möglich
Das System versucht nicht nur Störungen, Probleme, Syndrome, Krankheiten
zu erfassen, sondern für ebenso wichtig wird eine "Positiv"-Diagnostik
der Ressourcen erachtet, vor allem unter therapeutischen Gesichtspunkten.
Therapie kann nämlich auch "nur" dadurch geschehen, daß man
die geglückten, gesunden und positiven Seiten ausdehnt und verstärkt.
Die Idee ist einfach: die relative Stärkung des Positiven impliziert
eine relative Schwächung des Negativen.
6. Kriterium: Therapie-Orientierung
Das System ist in der Hauptsache therapieorientiert, d. h. die erhobene
Information soll in erster Linie dazu dienen, möglichst effektive
Therapiepläne zu entwickeln und an die aktuelle Entwicklung der Therapie
anzupassen.
7. Kriterium: Beliebige Differenzierungstiefe
Zu allen Informationen müssen beliebige Informationstiefen, je
nach Einzelfallerfordernis, möglich sein.
8. Kriterium: Minimale allgemeine Repräsentativität
Es muß sichergestellt werden, daß eine gewisse Flächendeckung
und Breitenprüfung erfolgt, nicht daß z. B. der Schlaf, die
Sexualität, Geldprobleme, Gewissensbisse, Fähigkeiten oder besonders
Gelungenes übersehen wird (daher unsere AAA - Ausführliche Allgemeine
Anamnese).
9. Kriterium: Beliebige Präzision möglich
Das ist mit das schwierigste Prinzip, weil die gesamte menschliche
Kommunikation sehr vielseitig und umfassend ist. Hier auch nur die wichtigsten
Gesichtspunkte von menschlichen Kommunikations-, Nachrichten- und Informationssystemen
zu berücksichtigen erfordert großen Aufwand. L-PSYCHO I ist
zwar theoretisch schon sehr weit entwickelt. Es handelt sich hier weniger
um ein Problem der Theorie als um eines der Praxis. Präzision ist
nämlich sehr zeitaufwendig und daher auch sehr teuer. Hier muß
man in der Praxis Kompromisse schließen (siehe unten > Prinzipien).
10. Kriterium: Idiographische Repräsentativität
Das individuelle Leben soll in repräsentativen Merkmalen erfaßt
werden. Repräsentativ ist hierbei idiographisch zu fassen, d. h. es
wird der PatientIn / ProbandIn kein von außen definiertes pseudoobjektives
Raster übergestülpt, sondern es ist in die PatientIn hineinzuhorchen,
sich einzufühlen, was nach ihren Werten, Zielen und Idealen für
sie wichtig ist. Für eine PatientIn ist Karriere, Ehrgeiz wichtig,
für eine andere mehr die Liebe, Kontakt, zwischenmenschliche Beziehung
und Nähe. So mag denn die eine Kategorie im einen Fall auftauchen,
im anderen hingegen nicht.
Praxis GIPT-DS L-PSYCHO I
Im folgenden soll die praktisch pragmatische Seite der Sprache L-PSYCHO I entwickelt werden(7). Wichtig für den derzeitigen praktischen Gebrauch ist nur die Lexikator-Funktion, um zumindest vorläufig, bis eine entsprechende konstruktiv operational ausgearbeitete Sprachnormierung vorliegt, die gröbsten Mißverständnisquellen zu minimieren.
(1) Psychotherapie-Diagnostisches-Vorgehen
Diagnostiziert wird, was psychotherapeutisch relevant sein kann. Psychotherapie- Diagnostisch unterscheiden wir fünf diagnostische Hauptbereiche: (1) die Ausführliche Allgemeine Anamnese (AAA), damit nach Möglichkeit nichts übersehen wird), (2) die spezifische Syndromgenese (SSG), (3) Positiv-Diagnostik und Ressourcen (PDR), (4) therapierelevante Faktoren (TRF), (5) Sonstige, anderweitig nicht erfaßte (SNE). Hierbei orientieren wir uns an:
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Diagnostik site:www.sgipt.org. |