Suggestion und Suggestivfragen
Aussagepsychologische und vernehmungstechnische Kunstfehler
Kunst kommt vom Können, käm' sie vom Wünschen oder Wollen hieß sie Wunst
von Rudolf Sponsel, Erlangen
* Inhaltsverzeichnis
* Querverweise
*
Illustration zur Geschichte des Strafrechts: Peinliche
Gerichtsordnung Karls V. 1532 (bis etwa 1870 einflußreich)
Einfuehrung:Zur Kunst
der Vernehmung
Richtig, angemessen und wirkungsvoll vernehmen, interviewen, fragen
und explorieren [erforschen, erkunden; psychologische Gesprächstechnik]
ist eine hohe Kunst, für die die Natur kein Gen vorgesehen
hat. Diese Kunst ist also keine Frage von Begabung oder Anlage, sondern:
richtig, angemessen und wirkungsvoll vernehmen, interviewen, fragen und
explorieren muß - mehr oder minder mühsam - gelernt und angeeignet
werden. Polizei, Staatsanwälte und - hier besonders Ermittlungs- Richter
scheinen diese Kunst, wenn man dem berühmten Forscher und Jura-Professor
Peters (Fehlerquellen im Strafrecht) glauben darf, während ihres
Studiums und ihrer Ausbildung nicht lernen zu müssen. So stolpern
sie in die Praxis und 'lernen' - falls sie es jemals richtig lernen - nach
dem berüchtigten Prinzip trial and error, Versuch und Irrtum - und
einige mit viel error oder Irrtum. Das kann für Beschuldigte und Angeklagte
äußerst fatal sein. Ganz besonders fatal - für das Prozeßschicksal
- mit nicht mehr wieder gut zumachenden Folgen erweisen sich aussagepsychologische
und vernehmungstechnische Kunstfehler bei Kindern, besonders wenn es um
sexuellen Mißbrauch geht.
Es gibt viele Fehlerquellen in der Vernehmung und psychologischen Exploration (Erkundungsgespräch), die wichtigsten sind:
Die 12 'Verbote'
(‘Hauptsünden’) in der Vernehmung (Exploration)
Siehe auch §
136a StPO: verbotene Vernehmungsmethoden.
Obwohl das Problem der Suggestion - verstanden als allgemeine, nicht hypnotische Beeinflussung - und der Suggestivfragen den JuristInnen viel länger bekannt ist als der Psychologie, die als eigenständige akademische Disziplin gerade mal rund hundert Jahre alt ist, und nicht wenige Strafrechtslehrer und juristische Vernehmungswissenschaftler das Problem seit über 100 Jahren ganz ausgezeichnet darstellen, strotzen nicht wenige Vernehmungsprotokolle, wenn sie überhaupt richtig dokumentiert werden, nur so von Suggestivfragen. Nach meinen Schätzungen ist bei der Kriminalpolizei, StaatsanwältInnen, RichterInnen und sogar bei aussagepsychologischen Sachverständigen mit Suggestivfrageraten bis zu 50% zu rechnen. Und dies, obwohl viele namhafte JuristInnen und kompetente AussagepsychologInnen, das Problem und die Unzulässigkeit von Suggestivfragen, gerade bei Kindervernehmungen, seit über 100 Jahren darstellen und eindringlich davor warnen.
Die Erkenntnis über die Schädlichkeit der Suggestivfragen ging sogar soweit, daß Suggestivfragen in einigen ausländischen Strafprozeßordnungen verboten waren. Nahezu alle VernehmungswissenschaftlerInnen - seien es JuristInnen oder AussagepsychologInnen - sind sich darin einig, daß Suggestivfragen - ganz besonders in Kindervernehmungen - zu vermeiden sind. Ganz allgemein und brillant formulierte dies schon der:
S. 294 Ja-Nein-Kriterium: „Wenn dagegen die Befragung zu speziell und so eingerichtet ist, dass dem Zeugen dassjenige, was man von ihm wissen will, schon vorgesagt wird, so dass er nur mit Ja oder Nein darauf zu antworten nöthig hat [FN19] , so ist zu besorgen, dass entweder der leichtsinnige Zeuge, der die Folgen seiner Aussage nicht genau überlegt, die Gelegenheit ergreife und durch das trockene Ja von der weiteren Antwort sich losmacht, während der böswillige Zeuge, der vielleicht die Thatsache nicht wirklich erfahren hat, durch die bejahende Antwort Gelegenheit bekömmt, den Richter irre zu führen und den Glauben zu erwecken, als wenn er aus eigener Erfahrung über das Detail der Thatsache aussagte."
S. 357 Bedeutung Wortprotokoll [FNrs1] : „Daher wird es, um über die Glaubwürdigkeit der Aussage eines Zeugen urtheilen zu können, sehr wichtig, die an ihn gestellte Frage zu kennen [FN22], und nachtheilig ist daher auch die Art der Befragung, bei welcher in e i n e Frage mehrere Fragen um verschiedene Thatsachen zusammengedrängt werden. [FN23] "
S. 358f: Suggestivfragen: „Aus diesen Gründen wird ein durch suggestive Fragen veranlasstes Zeugnis manchen Zweifeln unterliegen [FN27], ohne dass man die Regel aufstellen kann, dass jede vorgekommene Suggestion die Glaubwürdigkeit vernichte. Nur die Umstände des einzelnen Falles entscheiden darüber, welchen Einfluss Suggestionen haben. Darnach wird die Glaubwürdigkeit dann leiden, 1) wenn viele Suggestionen gehäuft vorkommen, so dass die Hauptmerkmale der That, worüber der Zeuge aussagt, suggerirt worden sind; 2) wenn der Thatbestand des Verbrechens durch Zeugen hergestellt werden soll, und der Zeuge auf Suggestion aussagte; 3) der Namen eines Mitschuldigen suggerirt wurde, 4) wenn es auf Nebenumstände ankömmt, in Ansehung derer die Uebereinstimmung mehrerer Zeugen bedeutend wird und wo die nämlichen suggestiven Fragen an die verschiedenen Zeugen gestellt wurden; 5) wenn die Individualität des Zeugen und sein Benehmen die Besorgniss begründet, dass er nicht die nöthige Selbstständigkeit und den hinreichenden Verstand hat, um nur das, was er wirklich beobachtete, anzugeben, dass er vielmehr durch Vorhaltungen Anderer sich verleiten lassen könne, gegen die Wahrheit nur das, was man von ihm zu wissen verlangt, anzugeben."
Fußnoten Mittermaier
Fußnote 19, S. 294, bei Mittermaier:
„Z. B. wenn es heisst: war A bei der That gegenwärtig oder trug B
ein grünes Kleid."
FNrs1: Grundvoraussetzung, daß man eine
Exploration oder Vernehmung überhaupt auf ihre Angemessenheit bzw.
Fehlerhaftigkeit prüfen kann, ist ein Wortprotokoll. Pseudo-Protokolle,
wie sie nicht selten vor dem Ermittlungsrichter gefertigt werden, sollten
vom BGH als Protokoll-Kunstfehler verboten werden. Bei Kindervernehmungen
zum Thema sexueller Mißbrauch sind Wortprotokolle die Mindestanforderung,
viel besser wären videodokumentierte
Aussagen, weil hierdurch den Kindern die Quälerei unnötiger Mehrfachaussagen
und den Gerichten fehlerhafte Datenerhebungen - und damit falsch positive
oder falsch negative Urteile - erspart blieben.
Fußnote 22, S. 357, bei Mittermaier:
„Tadelnswerth ist daher jene Aufzeichnung im Protokolle, bei welcher ohne
Angabe der Fragen nur die Antworten in einer zusammenhängenden Erzählung
aufgefasst werden."
Fußnote 23, S. 357, bei Mittermaier:
„Z. B. ob Zeuge nicht wisse, dass A. diese oder jene Worte gesprochen,
und dass er dabei mit dem Messer gedroht habe. Es ist eine bekannte Erfahrung,
dass ungebildete Leute nur auf das merken, um was sie zuletzt gefragt wurden,
und dann, indem sie eigentlich nur den letzten Theil der Frage bejahen
wollen, die ganze Frage zu bejahen scheinen."
Fußnote 27, S. 358, bei Mittermaier:
„Kleinschrod Abh. aus dem peinl. Rechte I. Thl. nro. 2 § 17. 19. Bentham
traité I. p. 122, Parst über Suggestionen S. 111.
Der Jurist Hans Groß in seiner Criminalpsychologie (1897, S.
685-86):
"Die Suggestion ist so verbreitet, wie das Wort, wir werden suggeriert
durch die Erzählung eines Freundes, durch das Beispiel eines Fremden,
durch unser Befinden, durch unsere Nahrung und unsere [>686] kleinen
und großen Erlebnisse; unsere einfachsten Handlungen können
suggeriert sein, und die ganze Welt kann durch einen einzigen Menschen
suggeriert erscheinen ... Die alten Criminologen haben das Richtige geahnt
und haben die Stellung von Suggestivfragen strenge verpönt; ..."
Die epochalen Suggestionsversuche des Leiters der Psychologischen
Laboratoriums an der Pariser Sorbonne, Alfred Binets, veröffentlicht
in seinem berühmte Buch „La Suggestibilité" - das seltsamerweise
nie ins Deutsche übersetzt wurde - im Jahre 1900 wurden von William
Stern in seiner ebenfalls berühmten Arbeit „Zur Psychologie der Aussage"
1902 - mit dem die deutsche Aussagepsychologie begann - in der Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft (1902, S. 366) vorgestellt
und besprochen:
Aus der Darstellung der Ergebnisse von Binet durch William Stern
(1902, S. 368) ergibt sich folgendes Bild:
Die Ergebnisse sprechen für sich. Ich denke, es ist nach
über 100 Jahren endlich an der Zeit, die psychologische emotional-kognitive
Beeinflussungsforschung auf den Weg zu bringen und fest zu verankern. Wir
wissen immer noch viel zu wenig, welche kognitiven Entwicklungen, Verarbeitungen
und Fehler durch die verschiedenen bewußten und unbewußten
Einflüsse der Umwelt wie und durch
wen zustande kommen.
William Stern äußert sich (1905) in seinen Leitsätzen über die Bedeutung der Aussagepsychologie für das gerichtliche Verfahren zu den damals schon umfangreich vorliegenden Erkenntnissen zur Bedeutung von Suggestivfragen wie folgt:
„5. Die suggestive Form der Fragestellung ist unzulässig.
Suggestivfragen sind solche, die nicht nur eine Vorstellung darbieten,
sondern eine Stellungnahme nahe legen. Man kann in der Form der Fragestellung
eine ganze Stufenleiter der Suggestibilität aufstellen von der "Bestimmungs"frage:
"Welche Farbe hatte das Kleid?" bis zur "Erwartungs"frage: "Hatte das Kleid
nicht blaue Farbe?" "Hatte der Mann nicht einen Stock in der Hand?" Die
normale Fälschungswirkung solcher Suggestivfragen ist viel größer
als man gemeiniglich glaubt; war es doch bei Versuchen an Kindern verschiedener
Altersstufen möglich, unmittelbar nach aufmerksamer Betrachtung eines
Bildes durch Suggestivfragen nach Objekten, die gar nicht auf dem Bild
vorhanden waren ("War Niet ein Ofen auf dem Bilde?" usw.) in jedem dritten
Falle die Aussagefälschung zu realisieren."
Unter dem Leitsatz 8, teilt STERN mit (S. 76 [206]: „.. endlich ist die Suggestibilität bei Kindern viel stärker als bei späteren Altersstufen (nach meinen Versuchen sanken die durch Suggestivfragen bewirkten Aussageverfälschungen von 50% bei siebenjährigen, auf 20% bei fünf-zehnjährigen). So kommt es, daß oft kindliche Zeugen, die ja, ehe sie vor den Richter treten, schon zu Hause seitens der Eltern und anderer unzähligen unkontrollierten Suggestionen ausgesetzt waren, bereits mit völlig verschobenem Erinnerungsbilde in den Gerichtssaal treten, wo sie erneuten Fragezwängen und Suggestionen ausgesetzt werden."
Michel ist für unsere Sammlung deshalb interessant, weil er
vom Grundberuf her Lehrer und Pädagoge war. LehrerInnen, PädagogInnen
und ErzieherInnen verfügen über eine reichhaltige Erfahrung mit
Kindern haben ein enormes Wissen, das für die forensische Aussagepsychologie
sehr wertvoll sein kann. Michel möchte sein Büchlein Die Zeugnisfähigkeit
der Kinder vor Gericht auch als ganz praktisch verstanden wissen. Und das
ist es auch: Er geht nicht nur auf die Suggestion, sondern auch auf viele
damals schon sehr wichtige Fragen ein, wie man dem Inhaltsverzeichnis entnehmen
kann:
Einleitendes
Das Beobachtungs- und Auffassungsvermögen Die Affekte Die Erinnerungsfähigkeit Der lange Zeitraum zwischen Wahrnehmen und Verhör Das persönliche Moment der Zu- und Abneigung Der Einfluß der Presse und Lektüre Die Bewertung des Zeitmaßes und der Raumverhältnisse Das lange Warten vor der Vernehmung Das Vorverhör durch die niedern Polizeiorgane Die Suggestion Die Autosuggestion Die Phantasie Schlußbemerkungen Literatur Bibliographische Quelle: siehe bitte Literaturverzeichnis am Ende |
"Als schwerwiegendste Folge der Vorvernehmung der Kinder durch dazu
ungeeignete Personen ist die starke suggestive Beeinflussung der
Erinnerung und Darstellung durch die jugendlichen Zeugen anzusehen. Selbstverständlich
sind die Ursachen der Suggestion weit mannigfaltigere; sie sollen im nachfolgenden
des näheren dargelegt werden. Daß die Wahrnehmung ebenso,
wie die Erinnerung und Aussage, der Macht der suggestiven Beeinflussung
unterworfen ist, bedarf wohl kaum der besonderen Betonung. Ehe ich aber
näher hierauf eingehe, sei mir gestattet, den Begriff »Suggestion.«
näher zu präzisieren. Ein Beispiel wird mir dies erleichtern.
Dr. Frhr. v. Schrenck-Notzing erzählt in seiner Abhandlung »Über
Suggestion und Erinnerungsfälschung im Berchtold-Prozeß«:
»Ich konnte mehrere gesunde Arbeiter, die ich zum ersten Male in
meinem Leben sah, durch starke Affirmation dahin bringen, daß sie
schließlich bezeugten, einer fingierten Körperverletzungsscene
beigewohnt zu haben. Ich be-[<38] zweifle nicht, daß diese Personen
ihre Angaben beschworen hätten.« Wider Wissen und Willen waren
sie zu ihrer jetzigen subjektiven (irrigen) Überzeugung gelangt. Etwaige
Gegen- oder Hemmungsvorstellungen waren vollständig unterdrückt
und konnten nicht mehr klärend und berichtigend zur Geltung kommen.
»So lange wir für diesen psychischen Vorgang kein prägnanteres
Wort kennen, sind wir vollkommen berechtigt, denselben als Suggestion zu
bezeichnen.« »Suggestion heißt Beeinflussung, ist die
Zwangsjacke des Denkens, ein seelisches Element, welches die freie Denkungsweise
des Menschen stört und zum Teil zerstört, und diesem Moment kann
sich kein Mensch entziehen, weder der Gebildete noch der Ungebildete, der
eine ist in höherem Maße demselben zugänglich, der andere
minder.« (v. Pannwitz) Ich füge hinzu: Diesem kann sieh vor
allem ein Kind nicht entziehen. Denn bei ihm sind die vorerwähnten
als Hemmungsvorstellungen bezeichneten seelischen Bedingungen, die »Gegensuggestionen«,
in entsprechend geringerem Grade vertreten, da ihm noch die logische Reife,
das »geistige Kriterium« des Erwachsenen abgeht.
Die Ursache der Suggestion kann eine sehr verschiedene
sein. Am häufigsten tritt wohl die Verbalsuggestion auf. Elternhaus
und Schule sind Pflanzstätten der Erziehung des Kindes, sind aber
auch der Boden, auf dem so manche pädagogischen Fehler wachsen und
gedeihen, die das Kind gerade für das gesprochene Wort einer ihm autoritativen
Persönlichkeit nur zu empfänglich macht. Die wenigsten Eltern
erziehen ihren Liebling in der Weise, daß er schon in früher
Jugend auf eigenen Füßen zu stehen vermag, sich selbst in für
ein Kind schwierigeren Lagen zu helfen fähig ist. Die Folge ist, wenn
nicht noch zur rechten Zeit eine Änderung in der Erziehung eintritt,
eine Unbeholfenheit des zum Jüngling und Manne herangereiften Knaben
selbst den natürlichsten Vorkommnissen des täglichen Lebens gegenüber.
Und ist die Bevormundung in intellektueller Beziehung etwa [<39] geringer?"
Otto Lipmann hat bereits im Jahre 1908 eine umfassende Studie - Die
Wirkung von Suggestivfragen - mit 1500 (!) Versuchspersonen (Auflistung
S. 13-14.) und allen zu seiner Zeit bekannten experimentellen Untersuchungen
zu den verschiedenen Arten und Formen von Suggestivfragen vorgelegt.
Hierbei hat er auch eine Reihe von Maßen entwickelt, diskutiert und
die Ergebnisse auch quantifiziert.
Lipmann warnte eindringlich und ganz praktisch
für die Ermittlungstätigkeit (S. 165): „Die Resultate meiner
in §51 beschriebenen Versuchsreihe beweisen für die Praxis, daß
Suggestivfragen, die während des Vorverfahrens gestellt wurden, auch
in der Hauptverhandlung noch nachwirken können, selbst wenn bei dieser
suggestive Fragen völlig vermieden werden."
Anmerkung: Warum diese überaus verdienstvollen Arbeiten vielfach nicht einmal mehr erwähnt werden in der aussagepsychologischen Literatur ist unverständlich, z.B. nicht bei Köhnken 1990, Arntzen 1993, Bender & Noack II. 1995, Sporer & Meurer 1994. In Greuel, Fabian & Stadler 1997 wird Lipmann 1908 zwar aufgeführt, aber nicht auf seine Experimente eingegangen, nicht einmal Altmeister Undeutsch zitiert das Werk, wohl aber, daß Lipmann einen einst ablehnenden Standpunkt in Bezug auf die Zuverlässigkeit kindlicher Zeugenaussagen später revidierte. Was immer auch Lipmann für eine Meinung vertreten haben mag, kann dies doch nichts an der Bedeutung seiner umfangreichen und verdienstvollen empirisch-experimentellen Arbeit zur Wirkung von Suggestivfragen ändern: 80 Jahre vor Loftus!
Erich Wulffen war ein enzyklopädisch gebildeter Staatsanwalt
mit einer enormen Produktivität.
Eines seiner großen Werke hieß Das Kind (1913). Im ersten Kapitel
findet sich ein Abschnitt 10: Die Kinderaussage (S. 45-67) mit folgenden
Zwischenüberschriften: Experimente (45); Zeugnis vom Hörensagen
(49), Urteile der Gerichte (50); Suggestibilität der Kinder,
Experimente (51); Suggestivfragen (54); Gerichtliches Zeugenverhör
der Kinder (57); Aussageerziehung, Anschauung, Handarbeit, Zeichenunterricht
(63).
Wulffen war auf der Höhe seiner Zeit und
kannte alle wesentlichen psychologischen Untersuchungen zur Aussage und
ihre Probleme, besonders auch bei Kindern und hier besonders die Gefahr
der Suggestion (S. 51):
"Bei der Kinderaussage ist von Wichtigkeit, daß das Kind der Suggestion außerordentlich unterliegt."
(S. 62) "Ein Kind, das Objekt eines Verbrechens wurde, ist von dem
Augenblicke an, da es hiervon anderen Mitteilung
macht, überhaupt nicht mehr ganz unbeeinflußt. Die Suggestion
kann Macht über seine Aussagen gewinnen. Zunächst schon die Selbstsuggestion,
die die Aussage unbewußt und allmählich verfälscht. Weiter
beeinflussen die Vorhalte der Eltern und Lehrer, die Fragen der Mitschülerinnen
das Kind zweifellos. Kommt also der vernehmende Beamte zu spät, so
kann das Kind längst zur Unwahrheit bestimmt worden sein. Ganz unbeeinflußt
trifft er es sowieso nicht mehr."
Wulffen wies auch auch frühzeitig auf die massen-suggestiven Phänomene bei Kindern hin (S. 52):
"Die außerordentlich starke Wirkung suggestiver Ansteckung unter Kindern zeigt sich in den sogenannten Schulepidemien. Im Januar 1906 trat in der Bürgerschule in Meißen die Zitterkrankheit epidemisch auf. Ende Februar waren 134, Ende März 237 Krankheitsfälle an Knaben und Mädchen zu verzeichnen. Die Anfälle stellten sich gewöhnlich in der Schule ein. Eine der Hauptursachen der Ansteckung war der Anblick einer zitternden Mitschülerin. Ähnliche Schulepidemien zeigten sich 1892 und 1894 in Basel, 1898 in Braunschweig, 1892 in Stuttgart. In erster Linie wirkt natürlich ursächlich das geschwächte oder geschädigte Nervensystem der Kinder zufolge erblicher Belastung, Blutarmut und schlechter Ernährung. Die unmittelbare Gelegenheitsursache liegt in der kindlichen Suggestibilität. Wesentlich verstärkend wirkt natürlich immer das Zusammensein der Kinder in Schulklassen."
Zur Vernehmung von Kindern äußert er sich vielfach, u.a. (S. 63):
" ... Zu solchen Vernehmungen sind nur erfahrene, tunlichst verheiratete Kriminalbeamte zu bestellen, denen die Hauptgesichtspunkte in der Psychologie der Kinderaussagen - ruhiges angemessenes vertrauenerweckendes Auftreten, Vermeidung aller Einschüchterung und Suggestivfragen, Unvoreingenommenheit gegen den Beschuldigten, Schonung des kindlichen Schamgefühls - in den Instruktionsstunden immer wieder vor Augen zu halten sind."
Landgerichtsdirektor Hellwig (2. A. 1951, S. 270) sagt vom Standpunkt des juristischen Praktikums ausgehend: „Suggestivfragen, die möglicherweise zu einer Verfälschung der Aussage und damit auch des Beweisergebnisses führen können, sind unzulässig." Hellwig hält aber Suggestivfragen gegenüber Beschuldigten für zulässig. Nicht wenige JuristInnen teilen diesen Standpunkt, indem sie scharf unterscheiden zwischen der Vernehmung von ZeugInnen und Beschuldigten. Einhellig wird aber eine Suggestivbefragung von ZeugInnen, erst recht bei Kindern, abgelehnt.
Heft. 1 des 9. Jahrgangs der Praxis
der Rechtspsychologie beschäftigt sich mit dem Themenschwerpunkt
Polizeipsychologie und hierbei natürlich auch mit der Vernehmung.
Speziell zu dem uns hier interessierenden Thema führt Professorin
Kraheck-Brägelmann (1999, S. 20) u.a. aus:
Jura-Prof. Döhring schreibt in seinem Buch Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß (1964, S. 54-58) zum Thema Suggestivfrage:
„Als suggestiv bezeichnet man Fragen, die, statt in neutraler Weise
zu weiteren Angaben aufzufordern, eine bestimmte Antwort nahelegen. Man
kann auch von "lenkenden Fragen" sprechen, weil sie mehr oder minder deutlich
erkennen lassen, welche Antwort der Vernehmende erwartet. ... [<54]
...
Wahl der richtigen Formulierung. Meist gibt es,
wenn eine Suggestivfrage angebracht erscheint, eine ganze Stufenleiter
von Frageformen, zwischen denen der Vernehmende zu wählen hat; angefangen
von solchen mit sehr geringer Beeinflussungskraft bis zu solchen von stärkster
Suggestivwirkung. Wenn beim Verdacht unzüchtiger Handlungen an Kindern
ein sechsjähriges Mädchen vernommen wird, kann man z. B. fragen:
Suggestivfragen beim Psychopathologen Mönkemöller (1930, S. 122, Psychologie und Psychopathologie der Aussage):
„Daß Suggestivfragen das Ergebnis der Aussage
in eine ganz falsche Bahn zu drängen vermögen, bedarf ebenso
wenig eines Beweises wie die Tatsache, daß die meisten vernehmenden
Persönlichkeiten, die solche Fragen stellen, sich gar nicht bewußt
sind, daß sie das tun. Derartige Fragen, die früher zu den gesetzlich
geregelten Bestandteilen einer gerichtlichen Vernehmung gehörten,
werden jetzt im allgemeinen nicht für zulässig gehalten.
Maßgebend für die suggestive Wirkung
einer Frage ist ihre Formulierung, ihr Inhalt, die Person des Fragenden,
die Veranlagung des Gefragten. Daß aus dem Befragten eine Antwort
herausgeholt wird, die nicht dem entspricht, was er wirklich weiß,
wird am ersten dadurch erreicht, daß man ihn so fragt, daß
er nur mit "Ja" oder "Nein" zu antworten braucht. ... (> S. 123) ...
„Hinzuzufügen ist als dritter Grund die Suggestion seitens des
Vernehmenden, mit der wir uns an anderer Stelle beschäftigt haben.
Wenn sie auch gutgläubig oder unbewußt erfolgen mag, um das
Gedächtnis des Zeugen zu unterstützen, so führt sie doch
zur Ausfüllung von Erinnerungslücken, zur Ersetzung nicht wahrgenommener
oder vergessener Elemente durch völlige Phantasiebildungen, die oft
vom Vernehmenden selbst einsuggeriert sind. [S. 210] .........
Man hat darauf hingewiesen, daß auch Fragen,
auf die man mit "Ja" oder "Nein" zu antworten hat, leicht suggestiv wirken,
und zwar nicht so sehr, weil es, wie Metelli meint [FN33], leichter ist,
mit "Ja" zu antworten, sondern weil eine nicht substantiierte Antwort leichter
der Suggestion der Erwartung unterliegt, die der Gefragte sehr leicht erkennen
kann. Will man wissen, ob eine Person rot oder grün gekleidet war,
so kann man durch die bloße Frage seine eigene Überzeugung nicht
zu erkennen geben, aber es läßt sich leicht erfühlen, ob
der Fragende eine bejahende oder eine verneinende Antwort erwartet, und
das beeinflußt den Gefragten." [S. 211]
Varendonck [FN34] hat daher durchaus recht, wenn
er bei Vernehmungsprotokollen die genaue Angabe der gestellten Fragen verlangt.
Dadurch besteht die Möglichkeit, eine etwaige Suggestion aufzuspüren
und Fangfragen zu erkennen, die vielleicht ganz gutgläubig gestellt
wurden, um die Aufrichtigkeit des Zeugen zu überprüfen, aber
sehr leicht zu Falschangaben führen können, so daß der
Richter, der den Zeugen deswegen zur Verantwortung ziehen will, in Wahrheit
selbst für diese Falschaussage verantwortlich ist.
Die Frage muß nach allem ein Reiz sein,
der die Erinnerung des Zeugen anregt, aber darf nicht zu einer Suggestion
werden, durch die man dem Gefragten die eigene Überzeugung aufdrängt.
Zu bemerken ist, daß sich gerade bei der
Aussage eines Zeugen der Einfluß der Suggestion des Vernehmenden
am stärksten auswirkt. Der Beschuldigte und der Tatverletzte unterliegen
häufig dem entstellenden Einfluß der eigenen Interessiertheit;
das Interesse kann aber auch ein starker Wahrheitsfaktor sein, da es jeder
Erinnerungsveränderung durch Zeitablauf einen Widerstand entgegensetzt
und die Wahrheit gegenüber allen prozessualen Entstellungseinflüssen
verteidigt, also auch gegen die Suggestion durch den Vernehmenden feit.
Anders beim Zeugen. Er ist im allgemeinen an der unversehrten Bewahrung
seiner Erinnerungen nicht interessiert; das instinktive egoistische Motiv,
jeder Unbequemlichkeit aus dem Wege zu gehen, treibt ihn im Gegenteil dazu,
sich dem Denken des Vernehmenden schnell anzupassen. Und das macht den
Zeugen zum Sklaven seiner ersten Aussage, wenn sie dem Untersuchenden mehr
zusagt, so daß er sie nicht durch Angaben berichtigt, die er bei
einer aufmerksameren Überprüfung der eigenen Erinnerungen hätte
machen können.
In der Tat hat der Zeuge bei einer zweiten Aussage
häufig die Befürchtung, daß er bei Abweichung vom früher
Ausgesagten als unwahrhaft erscheinen könnte. Daher bezieht sich der
zur Hauptverhandlung geladene Zeuge oft zunächst auf seine frühere
Aussage ... [<211]
"Suggestibilität im Kontext der aussagepsychologischen Konstrukte
[S.193 ]
Die forensische Fragestellung bei der aussagepsychologischen Begutachtung
bezieht sich auf den Realitätsgehalt der Aussage. Im Idealfall besteht
ein Verhältnis der Kongruenz zwischen den Inhalten der Aussage und
dem Ereignis, das durch diese repräsentiert wird (Annon 1988). Zu
Inkongruenzen kann es kommen, wenn entweder Informationen weggelassen oder
falsch wiedergegeben werden oder wenn zusätzliche Details berichtet
werden, die nicht im ursprünglichen Erlebnis präsent waren. Das
Hinzufügen, Weglassen, oder Verändern kann absichtlich oder unabsichtlich
geschehen. Im ersten Fall spricht man von Lüge, Leugnen oder Verdrehung,
im zweiten Fall von Konfabulieren, Vergessen oder Erinnerungsfehlern. Daraus
ergeben sich die beiden üblicherweise unterschiedenen Aufgabenstellungen
der Aussagepsychologie. Die Prüfung der Glaubhaftigkeit einer Aussage
betrifft die Unterscheidung zwischen realitätsgetreuen Aussagen und
Lügen, die Prüfung der Aussagegenauigkeit die Unterscheidung
zwischen wahrheitsgemäßer Darstellung und Irrtum. Im ersten
Fall ist die Abweichung von der Wahrheit durch motivationale Prozesse,
im zweiten Fall durch kognitive Prozesse [>194] bedingt. Aussagegenauigkeit
und Glaubhaftigkeit (bzw. "spezielle Glaubwürdigkeit") sind situationsbezogene
Merkmale, die eine spezifische Aussage betreffen. Ihnen zugeordnet sind
die Zeugentüchtigkeit und die allgemeine Glaubwürdigkeit als
situationsübergreifende personale Merkmale (Steller, Volbert &
Wellershaus 1993).
Die suggestive Beeinflussung bildet, was häufig nicht gesehen wird, eine eigenständige dritte Fehlerquelle, die zu einer realitätsabweichenden Aussage führen kann. Analog der oben vorgenommenen Differenzierung bietet es sich an, hier zwischen Suggestibilität als Merkmal der aussagenden Person und Suggestivität als Merkmal der Befragungssituation zu unterscheiden. Die Mechanismen, die zur suggestiven Verfälschung einer Aussage führen können, umfassen möglicherweise sowohl kognitive als auch motivationale Faktoren, die nur im Rahmen einer sozialpsychologischen Betrachtung angemessen zu integrieren sind (siehe Tabelle 1).
Eine Taxonomie von Suggestivfragen
Wenn, wie eingangs ausgeführt, jede Frage Information transportiert und den Befragten "beeinflußt", wie lassen sich dann suggestive von nichtsuggestiven Fragen unterscheiden? Und auf welche Weise kann sprachlich suggestiver Einfluß auf das Aussageverhalten genommen werden?
Als suggestiv bezeichnen wir im folgenden Fragen, in denen dem Befragten ein bestimmter Aussageinhalt nahegelegt wird. Unter Anlehnung an entsprechende Aufstellungen bei Stern (1904), Lipmann (1908), Arntzen (1978), Gudjonsson (1992) sowie Bender und Nack (1995) lassen sich bezogen auf Vernehmungssituationen folgende Frageformen unterscheiden, die annäherungsweise in der Rangfolge der ihnen zugeschriebenen suggestiven Stärke angeordnet sind (siehe Tabelle 2):"
Quelle Endres et al. Seite S. 195
Geerds, Juraprofessor in Frankfurt, sagt in seinem Buch Vernehmungstechnik
(1976, S. 165):
„Hieraus folgt ohne weiteres, daß es bei jeder Kindervernehmung unerläßlich
ist, die Vorgeschichte der Aussage zu klären. In jedem Falle müssen
wir also herausfinden, wann, wem, in welcher Form das Kind zum ersten Mal
seine angeblichen Wahrnehmungen mitgeteilt hat."
S. 168: „Suggestivfragen sind - wie oben schon
ausgeführt - bei Kindervernehmungen durchweg unzulässig."
S. 169: „Grundsätzlich soll eine mehrmalige
Vernehmung im Vorverfahren gerade bei Kindern möglichst vermieden
werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Nicht nur in Sittlichkeitssachen
ist die Gefährdung der Kinder durch dieses fortgesetzte Aufwecken
ihrer Erinnerung an die Vorgänge, die sie in ihrem Interesse lieber
schnellstens wieder vergessen sollten, beinahe größer als die
Gefährdung durch die strafbare Handlung selbst, die den Gegenstand
ihrer Vernehmung bildet. Überdies aber wird bei mehrmaliger Vernehmung
die Gefahr größer, daß dadurch gerade nicht die erstrebte
erschöpfende und wahrheitsgetreue Wiedergabe des kriminellen Vorgangs
erzielt wird, sondern im Gegenteil in die Kinder Tatsachen hineingefragt
werden, die diese schließlich selbst für wahr halten und in
durchaus glaubwürdiger Weise vortragen, obwohl sie der Wirklichkeit
nicht entsprechen."
Suggestivfragen bei dem bedeutenden Aussagepsychologen Arntzen (Vernehmungspsychologie 1978, 23-29; 36; 74), hier: S. 26: „Dadurch, daß man dem Zeugen die erwartete Antwort in der Frage schon mitliefert, erreicht man in vielen Fällen keine selbständige Aussage mehr. Ein "Ja" oder "Nein", wie es diese Fragen nur erfordern, wird - wie schon gesagt - leicht aus Verlegenheit oder Bequemlichkeit geäußert. Der Zeuge gibt aus Trägheit die kurze Antwort, wodurch er einer längeren Erörterung zu entgehen hofft; er scheut die Mühe, genauer über den Sachverhalt nachzudenken. Der Falschzeuge, der sich mit seinen Aussagen auf unsicherem Boden befindet, ist seinerseits nur zu froh über die Hilfe, die ihm mit einem solchen Vorhalt geboten wird."
Peters stellt in seinem bekannten Werk Fehlerquellen im Strafprozeß im 2. Bd. fest:
"Der Einfluß Dritter auf die Gestaltung der Aussage (Überredung,
Druck, Suggestion, Anpassung) ist ein allgemein aussagepsychologisches
Problem. Ihm kommt aber, namentlich bei Kindern und Jugendlichen infolge
ihrer Abhängigkeit, Unfertigkeit, bestehender Bindungsverhältnisse,
mangelnder Sachübersicht und ihres fehlenden Bewußtseins der
Tragweite, aber auch infolge des Spieltriebs, der Freude an der Bedeutung
der Rolle, der geneigtheit zur Störung der Erwachsenenwelt und des
kameradschaftlichen Vertrauens eine erhöhte Bedeutung zu."
a) Unzulängliche Vernehmungen können
in eine Erwartungs-, Ablenkungs- und Zwangssituation führen. (1972,
S.151) ...
b) Unrichtige Aussagen, namentlich von Kindern,
können auch durch unrichtige suggestive Befragung durch Angehörige
entstehen, gerade auch dann, wenn sie sich Sorgen um das Wohl des Kindes
machen. (1972, S. 152) ...
c) Die Gefahr von Beeinflussungen liegt nahe,
wenn die Anzeige Familienstreitigkeiten entspringt. ..." (1972, S. 152)
Im ersten Band seiner „Modernen Verbrechensbekämpfung" führt
Bauer im Kapitel Aussage und Vernehmung, Abschnitt Kinder und Jugendliche
im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf S. 349 aus: „Die Fragen müssen
der Vorstellungswelt der Kinder oder Jugendlichen angepaßt sein.
Ausdrücke, mit denen der junge Mensch keine bestimmten Vorstellungen
verbinden kann, sind zu vermeiden. Suggestivfragen, d. h. Fragen, bei denen
sich eine bestimmte Antwort zwangsläufig aufdrängt, dürfen
grundsätzlich nicht gestellt werden. Werden sie in Ausnahmefällen
angewandt, so sind sie als solche zu kennzeichnen. Auch Einschüchterungsversuche
oder Versprechungen haben zu unterbleiben."
Im allgemeinen Abschnitt führt Bauer zu
„Suggestivfragen" (S. 356) aus: „Im allgemeinen wird man bei der Vernehmung
von Zeugen auf die Anwendung von Suggestivfragen verzichten. Mitunter ergibt
sich jedoch die Notwendigkeit, auch dem Zeugen ‘auf die Sprünge zu
helfen’, so daß Suggestivfragen nicht vermieden werden können.
..." Eine zweifelhafte, ja falsche These, die, ob ihrer Bedeutung, sehr
ausführlich mit Beispielen von „auf die Sprünge helfen" unterlegt
werden müßte, um zu prüfen, ob diese These im Einzelfall
zu tolerieren oder zu verwerfen ist. In dieser nebulösen Allgemeinheit
ist sie sicher falsch.
"Frageinhalte greifen leicht in die Erinnerungsinhalte des Kindes ein und gestalten sie um. Besonders bei ungewollter Suggestion durch ungeschulte erwachsene Befrager kann es zu Erinnerungsverfälschungen kommen." (1977).
Statistik (1967-1995) zuverlässiger Aussagen durch kleine Kinder
(1997, S.
206):
Vierjährige: um 35%
Fünfjährige: um 40-44%
Sechsjährige: ca. 46-50%
Die Suggestionsexperimente von Loftus
Kann man Menschen schwerwiegende, aber nie stattgefundene Erfahrungen
einreden? Psychologie Heute berichtete in 12, 1992, S. 25 über ein
eindrucksvolles Experiment von E.F. Loftus:
Obwohl eigentlich nicht nur jede PsychologIn und JuristIn, sondern
im Grunde jeder halbwegs kritische Mensch weiß, daß unsere
Wahrnehmung, Informationsverarbeitung, Erinnerung und sprachliche Wiedergabe
("Aussage") vielfach unzuverlässig und fehlerbehaftet ist, hat sich
seltsamerweise ein merkwürdiger Streit (Streit um das sog. "False
Memory Syndrom") in den USA darüber entwickelt, ob dies auch auf sexuellen
Mißbrauch, der von TherapeutInnen eingeredet würde, zutreffen
könnte.
Spezielle Literaturhinweise zum sog. "False Memory Syndrom"
Im Band
3/2 "Kriminaltaktik, Planung, Vernehmung, weitere Untersuchung" der
"Sozialistischen Kriminalistik" ("Nur für den Dienstgebrauch") gibt
es einige Abschnitte zum Problem Kindervernehmung und Suggestivfragen.
Im Abschnitt "Die Vernehmung von Kindern als Zeugen" wird auf S. 155 ausgeführt:
"Unbedingt zu vermeiden ist eine suggestive Fragestellung. Vor allem dürfen
keine konkreten Fragen in der Weise gestellt werden, daß das Kind
nur noch mit 'Ja' oder 'Nein' antwortet, um dann eventuell noch das Protokoll
in fortlaufender Darstellung anzufertigen. Das wäre eine gröbliche
Verfälschung der Aussagewirklichkeit, die auch eine Überprüfung
der Glaubwürdigkeit erheblich erschweren würde."
Diese klare Absage an Suggestivfragen jedweder
Art wird im Abschnitt für die 4-5-jährigen (S. 149) teilweise
zurückgenommen: "... Die größte Gefahr für eine wahrheitsgemäße
Aussage von Kindern liegt in deren Suggestibilität. Diese Quelle der
Wahrheitsverfälschung ist umso bedeutsamer, als in diesem Alter die
Fähigkeit zu einer zusammenhängen Erzählung grundsätzlich
noch nicht gegeben ist. Fast jede einzelne Aussage setzt eine bestimmte
Frage voraus. Da abstrakte Fragen aber oft nicht zum Ziel führen,
muß konkret und anschaulich gefragt werden. Damit steigt aber die
Gefahr der suggestiven Beeinflussung.
Die bei jüngeren Kindern auftretende Hauptschwierigkeit
besteht darin, sie zu einem selbständigen Nachdenken zu bringen. Nur
so kann erreicht werden, daß sie aus sich heraus etwas über
den betreffenden Vorfall berichten. Dabei ist zu beachten, daß in
vielen Fällen der Vernehmung des Kindes schon unsachgemäße
Befragungen durch Familienangehörige oder andere Beziehungspersonen
vorausgegangen sind, durch die es auch Suggestionen und anderen Beeinflussungen
ausgesetzt war. Aus der Erfahrung des Kindes erweist sich der Erwachsene
immer wieder als der geistig Überlegene. Zumindest bei jüngeren
Kindern stellt sich demzufolge leicht der Glaube an dessen Unfehlbarkeit
ein. Sie unterliegen dem Einfluß Erwachsener auch dann, wenn diese
einer erlebten Begebenheit einen bestimmten Sinn unterlegen; es bedarf
dazu nicht einmal einer bewußten Einwirkung auf das Kind; unter Umständen
genügt es bereits, wenn das Kind der Unterhaltung über das fragliche
Ereignis zugehört hat.
Im Bestreben nach Wahrheitskontrolle ist es auch
meistens schon so oft gehört worden, daß die Schilderung der
maßgebenden Erlebnisse unter Umständen nur mehr oder minder
aus einer stereotypen Wiederholung der nunmehr eingelernten Aussage besteht.
Aussagen in dieser Altersstufe sind sicher am
schwierigsten zu beurteilen. Sie können jedoch durchaus den Rang von
Beweismitteln haben, wenn sie auch in vielen Fällen nur informative
Daten enthalten, deren Verfolgung dann zur Feststellung weiterer Beweise
führt."
Suggestivfragen bei Bender (Jura Professor und Oberlandesrichter ) & Nack (Richter am Bundesgerichtshof; Vernehmungslehre, RNr 606, S. 78).
b) Die Ja/Nein-Frage
606 Sie ist die extremste aller geschlossenen Fragen, weil sie nur
drei Antwortmöglichkeiten zuläßt: "Ja" oder "Nein" und
- unter Umständen - "Ich weiß nicht".
Die Ja/ Nein-Frage ist entweder der letzte Ausweg, um extrem unklare oder extrem unwillige Auskunftspersonen überhaupt zu einer (klaren) Antwort zu bringen; oder sie ist eine Kontrollfrage am Schluß des Verhörs, um zusammenfassend festzustellen, ob man die Auskunftsperson im Kernpunkt richtig verstanden hat. ...
Waren alle anderen Möglichkeiten zunächst ergebnislos und hat man schließlich mittels der Ja/ Nein-Frage erstmals eine (klare) Antwort erhalten, so ist damit noch wenig erreicht. We-gen des hohen suggestiven Gehalts der Frage hat die Antwort kaum einen Erkenntniswert. Anders allerdings, wenn die Auskunftsperson aus den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ausbricht und von einer ganz anderen Möglichkeit berichtet."
Aus: Volbert, R. (1997). Suggestibilität kindlicher Zeugen. In: Steller, M. & Volbert, R. (1997, Hg.), 40-62, hier Seiten 56-57.
„6. Schlußfolgerungen
Die vorhandenen Befunde zeigen, daß sich die Frage, ob Kinder
besonders suggestibel sind oder nicht, in dieser globalen Form nicht sinnvoll
beantworten läßt. Das Auftreten und das Ausmaß von Suggestionseffekten
sind abhängig von einer Reihe von Faktoren, wobei dem Interviewerverhalten
ebenso wie der Erinnerungsgüte des Kindes an das relevante Ereignis
besondere Bedeutung zukommt. Zur Prüfung, ob die Aussage eines Kindes
durch frühere suggestive Maßnahmen beeinflußt sein könnte,
ist eine genaue Rekonstruktion der Aussagegeschichte notwendig.
Um Suggestionseffekte möglichst von vornherein
zu vermeiden, sollten die Anzahl von Interviews sowie die Anzahl direkter
Fragen pro Interview so gering wie möglich gehalten und das erste
Interview zum frühestmöglichen Zeitpunkt geführt [<56]
werden. Zur späteren Prüfung von Suggestionseinflüssen gerade
zu Beginn eines Befragungsprozesses ist eine wortgetreue Dokumentation
unumgänglich, was nur durch eine Tonband- oder Videoaufnahme sicherzustellen
ist. Ziel jeder Befragung sollte es sein, die Kinder zu ermutigen, möglichst
viele Informationen über ein fragliches Geschehen in ihren eigenen
Worten mitzuteilen. Zunächst sollte deswegen versucht werden, durch
verschiedene Erzählanstöße einen freien Bericht des Kindes
zu evozieren. Bei einer anschließenden Befragung sollte einer "Trichtertechnik"
gefolgt werden, d.h., Fragen sollten so offen wie möglich formuliert
sein und erst allmählich spezifischer werden, direkte Fragen auf das
Notwendigste beschränkt bleiben (vgl. Arntzen, 1989; Bull, 1995; Lamb,
Esplin & Sternberg, 1995; Steller & Boychuk, 1992; vgl. auch Steller
& Volbert, in diesem Band). Verschiedene neuere Arbeiten lassen annehmen,
daß durch bestimmte Techniken wie ein dem eigentlichen Interview
vorausgehendes Training zum Umgang mit Suggestiv- oder nicht verstandenen
Fragen die Resistenz gegenüber suggestiven Einflußnahmen erhöht
werden kann (Endres et al., 1996; Moston, 1990; Saywitz & Moan-Hardie,
1994; Saywitz & Snyder, 1993; Warren et al., 1991; Wright, 1993; zum
Verhältnis von kommunikativen Fähigkeiten von Kindern und dem
Umgang mit Fehlinformationen vgl. auch Newcombe & Siegal, 1996; Siegal
& Peterson, 1995). Ferner konnte durch unterschiedliche, offene Erzählaufforderungen
ein erhebliches Maß an zusätzlicher Information auch von jungen
Kindern erreicht werden, ohne daß auf spezifische Fragen zurückgegriffen
werden mußte (Poole & Lindsay, 1995).
Da es viele eindrucksvolle Belege dafür gibt, daß auch
junge Kinder kompetent tatsächliche Erlebnisse beschreiben können,
ist die Annahme abwegig, junge Kinder könnten ausschließlich
indirekt - durch Zeichnungen, Verhaltensäußerungen usw. Hinweise
auf ein solches Erlebnis geben. Ebensowenig ist aufgrund der vorliegenden
Untersuchungsergebnisse die Auffassung haltbar, Suggestionseffekte seien
bei persönlich bedeutsamen Erfahrungen nicht zu erwarten, und deswegen
sei jede Äußerung eines Kindes über einen sexuellen Mißbrauch
ungeachtet der Entstehungsgeschichte der Beleg einer solchen Erfahrung.
Es zeugt von daher nicht von besonderer Kindzentriertheit, mögliche
Außeneinflüsse nicht zu prüfen, vielmehr kann gerade dieses
nachteilige Folgen für das Kind haben. Hilft man einem Kind nicht
bei der Unterscheidung zwischen tatsächlichen Ereignissen und Phantasie,
kann dies zur Konsequenz haben, daß auch Phantasien im Laufe der
Zeit sehr real und beängstigend werden.
Siehe auch: Volbert, Renate (1999). Determinanten der
Aussagesuggestibilität bei Kindern. Experimentelle und klinische Hypnose,
15 (1), 55-78.
"8.4.2 Formen suggestiver Beeinflussung
Welche Verhaltensweisen können zu suggestiven Verfälschungen von Aussagen führen? Bereits seit längerem ist bekannt, daß bestimmte Frageformulierungen und sogar die in Fragen verwendeten Begriffe ein mehr oder weniger großes Suggestionspotential besitzen. So haben z. B. Loftus und Zanni (1975) gezeigt, daß bereits bei der Verwendung des bestimmten Artikels gegenüber dem unbestimmten Artikel in einer Frage („Haben Sie den ... gesehen" statt „Haben Sie einen ... gesehen") signifikant häufiger angegeben wird, man habe das genannte (tatsächlich nicht existente) Objekt gesehen. In einem anderen Experiment (Loftus u. Palmer 1974) wurden die Probanden unter Verwendung verschiedener Verben nach der Geschwindigkeit von Fahrzeugen gefragt. Dabei zeigte sich, daß die geschätzte Geschwindigkeit mit dem in der Frage verwendeten Verb („Wie schnell fuhren die Fahrzeuge, als sie sich berührten ... kollidierten ...zusammenkrachten") variierte: Bei Verwendung des Verbs „zusammenkrachten" wurde die Geschwindigkeit signifikant höher eingeschätzt als bei dem Verb „berührten".
Eine suggestive Beeinflussung kann nicht nur von der Verwendung bestimmter Begriffe, sondern auch von der Formulierung einer Frage ausgehen. Eine Übersicht über suggestive Frageformen gibt die Tabelle 8.2 von Endres, Scholz und Summa (1997).
Neben diesen verschiedenen Varianten von Suggestivfragen lassen sich
aufgrund der bisher vorliegenden Forschungsergebnisse sechs Hauptformen
suggestiver Verhaltensweisen in Befragungen unterscheiden, die sich z.
T. mit den in Tabelle 8.2 aufgeführten Kategorien überschneiden:"
Köhnken weist auf die gravierenden Folgen suggestiver Beeinflussung
hin:
"8.4.3 Folgen suggestiver Beeinflussung
Aufgrund der bisher vorliegenden empirischen Befunde zu den Folgen suggestiver Beeinflussungen der oben beschriebenen Art muß mit der dramatisch erhöhten Gefahr gerechnet werden, daß die so behandelten Personen Ereignisse beschreiben, die gar nicht oder zumindest nicht in der von ihnen geschilderten Form stattgefunden haben (Ceci u. Bruck 1993, 1995, Volbert 1997, Volbert u. Pieters 1996). Antworten, die zunächst vielleicht nur gegeben werden, um dem unerträglichen Befragungsdruck zu entrinnen, können sich verfestigen und zu vermeintlichen Erinnerungen an fiktive Ereignisse werden. Mit jeder weiteren Befragung erhöht sich die subjektive Sicherheit, daß das Geschilderte tatsächlich stattgefunden hat (Roediger et al. 1993). Dabei ist zu berücksichtigen, daß in den erwähnten experimentellen Untersuchungen nur einzelne Suggestionsformen und diese zudem in relativ milder Form eingesetzt wurden. In der Praxis lassen sich jedoch häufig Mehrfachkombinationen der beschriebenen Suggestionsformen finden, die sich, z. T. in erheblich stärkerer Intensität, manchmal über Wochen und Monate erstrecken. Angesichts eines derartigen Suggestionsdrucks kann es nicht verwundern, daß Kinder schließlich die suggerierten Inhalte aufnehmen. Erstaunlich ist vielmehr, wie lange manche Kinder diesem Druck standhalten.
Suggestive Befragungen können gravierende Konsequenzen für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit Hilfe der kriterienorientierten Aussageanalyse (siehe Kap. 8.3) haben. Durch suggestive Befragungen im Vorfeld einer Begutachtung wird den Realkennzeichen oder Glaubwürdigkeitskriterien der Boden entzogen. Wenn Kinder subjektiv von der Richtigkeit der suggerierten Inhalte überzeugt sind, entfällt eine der zentralen Grundlagen der sogenannte „Undeutsch-Hypothese" (Steller 1989): Erlebnisbegründete und suggerierte Aussagen unterscheiden sich eben nicht mehr in den gleichen Merkmalen wie erlebnisbegründete und erfundene (gelogene) Aussagen. Damit erhält die Analyse der Entstehungsgeschichte einer Aussage eine entscheidende Bedeutung im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbegutachtung."
Von Hinckeldey & Fischer (Psychotraumatologie
der Gedächtnisleistung, 2002, S. 168f) schreiben: "Generell steht
die Untersucherin (nicht nur) bei der Befragung von kindlichen Zeugen vor
dem Problem, einerseits möglichst viele Informationen erfragen zu
wollen, andererseits suggestive Vorgaben zu vermeiden. Um diese Anforderungen
auszubalancieren, schlagen Yuille et al. (1993) ein stufenweises Interview
vor, das in seinen Grundzügen von der freien Erzählung über
offene Fragen hin zu spezifischeren Fragen verläuft. Dieses Vorgehen
zielt darauf ab, möglichst viele Informationen zu dem in Frage stehenden
Ereignis zu erhalten, kontaminierende [RS: Verschmelzung] Einflüsse
der Interviewführung auf die Erinnerung so gering wie möglich
zu halten und Irrtümer, die durch Fragen provoziert werden können,
nach Möglichkeit zu vermeiden. Darüber hinaus sollte die Wahrscheinlichkeit
einer Retraumatisierung des Kindes durch die Befragung so gering wie möglich
gehalten werden. Hierzu sind zunächst einmal die entsprechenden Rahmenbedingungen
herzustellen. Ein spezieller Raum mit Video- und Audioausstattung sollte
für die Befragung zur Verfügung stehen, damit das Interview aufgezeichnet
werden kann und Mehrfachbefragungen vermieden werden.
"Bei Kindern, bei denen der Verdacht besteht, dass sie über längere Zeit missbraucht wurden, kann zunächst nach dem generellen Muster des Geschehens gefragt werden, bevor einzelne Episoden im Detail erfragt werden. Die Untersucherin sollte darauf hinwirken, möglichst konkrete Beschreibungen einzelner Ereignisse zu erhalten. Wenn das Kind ein Muster wiederholten Missbrauchs beschreibt, kann die Untersucherin die Aufmerksamkeit des Kindes auf ein bestimmtes Ereignis lenken und es darin unterstützen, verschiedene Vorfälle durch bestimmte Bezeichnungen voneinander zu unterscheiden. Die weiteren Fragen der Interviewerin sollen dem Kind ermöglichen, mehr Details über die Dinge zu berichten, die es schon erwähnt hat.
Die Fragen werden möglichst offen formuliert, Suggestivfragen, in denen durch die Formulierung eine Alternative hervorgehoben wird ("Dann ist doch sicher auch dies und das passiert!") sind strikt zu vermeiden.
Auch muss dem Kind immer die Möglichkeit gelassen werden zu sagen, dass es etwas nicht weiß ("Kannst du dich daran erinnern, ob das Fenster offen stand oder geschlossen war?" ist besser als "War das Fenster offen oder geschlossen?").
Es ist sehr wichtig, die Befragung des Kindes einfühlsam und sensibel zu gestalten: Wenn ein Thema sehr belastend für das Kind ist, können zunächst weniger belastende Aspekte besprochen werden." (S. 168-169)
Zeichen und Indizien für eine problematische Aussagen-Genese Greuel, Luise (1997, S. 213) und Zeichen und Indizien für eine problematische Aussageentwicklung Greuel, Luise (1997, S. 213):
Tabelle 1. Auswahl "problematischer" Bedingungsgrößen
in der Aussageentwicklung
Aussagegenese
|
|
Aussageentwicklung
|
|
Greuel, Luise (1997, S. 214, 4. Abs.) schließt nicht aus, daß eine Aussage eine hohe Erlebnisqualität ausweist, aber aufgrund massiver Suggestionseinflüsse nicht mehr zuverlässig ist. Greuel, Luise (1997, S. 215, 2. Abs.): „Ein einzelfallspezifisch ausgerichtetes Vorgehen muß demzufolge sowohl die Qualität der zu begutachtenden Aussage als auch die internen und externen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung gleichermaßen berücksichtigen."
Aus dem Urteil des Bundesgerichtshof vom 30.7.1999 betreffend StPO § 244 Abs. 4 Satz 2 "Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsbegutachtungen)", hier ein Auszug zur Bedeutung von Suggestionen auf die Realkennzeichen:
„Darüber hinaus ist stets zu beachten, daß die Realkennzeichen ungeeignet sind, zur Unterscheidung zwischen einer wahren und einer suggerierten Aussage beizutragen. Denn bei durch Suggestion verursachten Angaben bestehen die bereits dargelegten Gründe nicht, die eine unterschiedliche Qualität zwischen wahren und bewußt unwahren Aussagen verursachen können, da die aussagende Person sich weder als besonders glaubwürdig darstellen noch sich auf von ihr erdachte Umstände konzentrieren muß. Beispielsweise wird ein Kind seine Angaben, die objektiv nicht zutreffen, weil es sie unbewußt auf die Erwartungen des vernehmenden Erwachsenen ausgerichtet hat, subjektiv für wahr halten. Dementsprechend gibt es keine empirischen Belege dafür, daß sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen in ihrer Qualität unterscheiden."
Ergebnis:
Aus der Existenz und Güte von Realkennzeichen
kann nicht abgeleitet werden, ob diese durch suggestive Beeinflussung oder
tatsächliche Erlebnisse zustande gekommen sind. Die Bedeutung von
Realkennzeichen -
falls überhaupt genügend vorliegen -
ist also durch weitere Methoden, durch das sog. hypothesengeleitete Vorgehen
zu ermitteln und zu begründen.
Der aktuelle und m.E. verbindliche Stand der aussagepsychologischen und vernehmungstechnischen Vernehmungskunst, wird von Prof. Max Steller - der das Gutachten für den Bundesgerichtshof zur Aussagepsychologie gemacht hat - und seiner Mitarbeiterin Renate Volbert 1997 wie folgt beschrieben:
„Die beschriebene Methodik impliziert, daß beim diagnostischen
Vorgehen Wert darauf gelegt wird, vom Kind selbst möglichst viele
Informationen zu erhalten. Zunächst sollte deswegen versucht werden,
durch einen entsprechenden Erzählanstoß einen freien Bericht
des Kindes zu evozieren [RS: hervorrufen]. Bei der anschließenden
Befragung des Kindes sollte einer „Trichtertechnik" gefolgt werden, d.h.
die Fragen sollten anfangs so offen wie möglich sein und erst allmählich
spezifischer werden. Berücksichtigt werden muß dabei der jeweilige
kognitive [RS: geistige] Entwicklungsstand; junge Kinder werden zum Beispiel
auf offene Fragen weniger Informationen produzieren als ältere Kinder
etc. (vgl. Arntzen, 1978, Bull, 1995; Steller & Boychuk, 1992; Wellershaus,
1992). Ein solches Vorgehen bei der Befragung ist aus verschiedenen Gründen
von Bedeutung:
b) Die beschriebene Interviewstrategie führt zu einer Reduzierung unbeabsichtigter Aussagefehler. In der Gedächtnispsychologie ist nämlich gut belegt, daß in einem freien Bericht insgesamt sehr viel weniger unbeabsichtigte Erinnerungsfehler auftreten als in Antworten auf geschlossene Fragen (vgl. z.B. Cassel & Bjorklund, 1995).
c) Von besonderer Bedeutung ist die möglichst weitgehende Vermeidung suggestiver Einflüsse bei der Befragung von Kindern, um induzierte Falschaussagen zu verhindern.
Vorliegende Untersuchungen zu Suggestionen in Kinderaussagen
lassen sich dahin gehend zusammenfassen, daß suggestive Fehlinformationen
auch ohne Effekte bleiben können; wenn sie wirksam werden, können
sie Aussagen aber erheblich verändern. Aussageveränderungen durch
suggestive Einflußnahmen finden sich sowohl für Teilaspekte
eines tatsächlich erlebten Ereignisses sowie für überhaupt
nicht erlebte Geschehnisse. Die Verfälschung muß sich nicht
nur auf Aspekte beziehen, zu denen explizite inhaltliche Vorgaben gemacht
werden. Es kann auch durch die Aktivierung bestimmter Verhaltens- oder
Personenstereotype eine Aussageverfälschung stimuliert werden, welche
mit eigenem Material des aussagenden Kindes angereichert wird."
Das einfachste und wichtigste Kriterium für eine Suggestivfrage ist, ob man sie mit Ja oder mit Nein beantworten kann. Hier kann grundsätzlich gesagt werden, daß es niemals, ich betone, niemals notwendig ist, eine Frage so zu formulieren, daß man sie mit Ja oder mit Nein beantworten kann. D.h. eine Suggestivfrage ist immer und grundsätzlich ein aussagepsychologischer Kunstfehler mit einer einzigen Ausnahme: wenn man die Anfälligkeit für Suggestibilität über das Stellen von Suggestivfragen testen und feststellen möchte. Als Beweis kann ich anbieten, jede Ja/Nein-Suggestivfrage so umzuformulieren, daß sie nicht mehr mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Das ergibt zwar schlechtes Deutsch und schlechten Stil, aber die Note 1 in aussagepsychologisch- und vernehmungstechnisch richtiges Fragen.
Nur zwei Beispiele
[ausführlicher
hier]:
(1) Eine Kripobeamtin fragt in ihrer Vernehmung: „Hast du mal gesehen,
ob aus dem Geschlechtsteil von dem Mann etwas herausgekommen ist?" Hier
hätte mindestens ein ‘Oder’ hinzugefügt werden müssen: „Hast
du mal gesehen, ob aus dem Geschlechtsteil von dem Mann etwas herausgekommen
ist oder hast Du so etwas nicht gesehen?"
(2) Eine Gutachterin fragt in ihrer aussagepsychologischen Exploration:
„Ist er denn auch reingekommen in deine Scheide?" Nicht suggestiv: „Ist
er denn auch reingekommen in deine Scheide oder ist das nicht gegangen?"
Ergebnis der Suggestivfragenbewertung 1834 bis 2002:
Eine Suggestivfrage ist immer ein vermeidbarer aussagepsychologischer und vernehmungstechnischer Kunstfehler. Wann er besonders fatal sein kann, haben Steller & Volbert oben dargelegt und Greuel, wann ganz besonders aufgepaßt werden muß.
Abstract
Memory researchers long have speculated that certain
tactics may lead people to recall crimes that never occurred, and thus
could potentially lead to false confessions. This is the first study to
provide evidence suggesting that full episodic false memories of committing
crime can be generated in a controlled experimental setting. With suggestive
memory-retrieval techniques, participants were induced to generate criminal
and noncriminal emotional false memories, and we compared these false memories
with true memories of emotional events. After three interviews, 70% of
participants were classified as having false memories of committing a crime
(theft, assault, or assault with a weapon) that led to police contact in
early adolescence and volunteered a detailed false account. These reported
false memories of crime were similar to false memories of noncriminal events
and to true memory accounts, having the same kinds of complex descriptive
and multisensory components. It appears that in the context of a highly
suggestive interview, people can quite readily generate rich false memories
of committing crime.
Konzeptionstechnik fasst zusammen (Abruf 9.1.16): "Nach drei Stunden bereit, nie begangene Straftaten zu gestehen Gedächtnis-Forscher haben lange Zeit darüber spekuliert, ob es mit Hilfe bestimmter Interventionen möglich ist, Menschen dazu zu bringen, Straftaten zu erinnern, die nie begannen wurden und dennoch vermeintliche Geständnisse bewirken, die zu rechtsgültigen Verurteilungen führen."
Literatur mit Ausführungen zur Suggestion (Auswahl)
Erich Wulffen (1862-1936)
Erst Staatsanwalt, 1919 Landgerichtsdirektor in Dresden, 1920 Vortragender
Rat und 1923-1928 Ministerialdirektor im sächsischen Innenministerium.
Jurist, Kriminologe und Kriminalpsychologe und Schriftsteller. Verfaßte
auch Romane (Der Mann mit den sieben Masken), Bühnenstücke und
Gedichte.
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