Internet
Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=29.04.2002
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung:
22.07.24
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20
D-91052 Erlangen
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Willkommen
in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie,
Abteilung forensische Psychologie, Bereich
Aussagepsychologie
"Alle Menschen sind Lügner"
(Psalm
116,11)
"Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten,
mäßig entstellt."
Georg Christoph Lichtenberg, (1742 – 1799), Vermischte
Schriften I, 3
"Die durchgängige besonnene Scheidung zwischen
Gedächtnisvorstellung und Phantasievorstellung, zwischen Wahrheit
und Dichtung ist eine der höchsten und schwierigsten Aufgaben intellektueller
und ethischer Kultur."
(Jodl, Fr. (1903) Lehrb. d. Psychol., 2. Anfl. II, 162.)
„Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern
die Ausnahme."
William Stern 1902 in der Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft, S. 327
"Von den ersten Vernehmungen hängt also geradezu
die ganze Zukunft des Prozesses ab:
In ihnen wird eigentlich fast immer der Sachverhalt
endgültig geklärt oder endgültig verschleiert"
William Stern (1926,47).
„Der Irrtum ist der größte Feind der Wahrheitsfindung
vor Gericht."
Rolf Bender, 1982, Strafverteidiger 1982
"'Das habe ich getan', sagt mein Gedächtnis, 'das
kann ich nicht getan haben' -
sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich -
gibt das Gedächtnis nach."
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 68
Originalarbeit von Rudolf
Sponsel, Erlangen
Querverweise
Einfuehrung:
So wie der Bäcker
Mehl braucht, ein Tankwart Benzin, der Richter Gesetze, so braucht die
AussagepsychologIn für ihre Arbeit - wie der Name schon sagt - Aussagen,
sonst kann sie keine Prüfung vornehmen, ob die Gesamtaussage genügend
Realkennzeichen enthält, so daß wenigstens erst einmal auf einen
subjektiv wahren Erlebnisbericht geschlossen werden darf. Beachten Sie
bitte das Wörtchen subjektiv, es ist hier sehr wichtig. AussagepsychologInnen
ermitteln nämlich keine objektiven Wahrheitswertungen, das ist Sache
des Gerichts, sondern nur subjektive. Auch wenn ein Zeuge subjektiv die
Wahrheit sagen mag, so folgt daraus keineswegs, daß seine subjektiv
wahre Aussage gleichbedeutend mit den Tatsachen ist. Wenn jemand z.B. nach
dem Sternzeichen einer entfernten Verwandten gefragt wird, dann kann dieser
Jemand felsenfest überzeugt und subjektiv wahrhaftig aussagen, die
Verwandte sei im Zeichen des Stiers geboren und trotzdem kann dies natürlich
falsch sein, weil sich der Betreffende irrt.
Der Hauptfeind der Wahrheit, wenn man es nicht gerade
mit abgebrühten Ganoven zu tun hat, ist nicht die Lüge, sondern
der Irrtum. Bezeichnenderweise hat Prof. Rolf Bender, juristischer Vernehmungs-
und Aussageexperte, sein im Strafverteidiger 1982 veröffentlichtes
Wirklichkeitsexperiment mit folgendem trefflichen Titel versehen: „Der
Irrtum ist der größte Feind der Wahrheitsfindung vor Gericht."
Grundlegende Unterscheidung
zwischen Glaubhaftigkeit und Glaubwüdigkeit
Glaubwürdigkeit ist ein Persönlichkeitsmerkmal,
Glaubhaftigkeit ist ein Aussagemerkmal. Die "moderne" Aussagepsychologie
untersucht in erster Linie Glaubhaftigkeit und weniger Glaubwürdigkeit,
obwohl auch diese eine Rolle spielen kann (z.B. Zeugenaussagen von Bandenmitgliedern).
Im allgemeinen gelten Personen mit "gutem Ruf (Leumund)", z.B. Adelige,
Höher Gebildete, Reiche, Mächtige, Richter, Staats-/Anwälte,
Polizisten, Ärzte, Psychologen, Gutachter, Pfarrer, Beamte, Geschäftsleute,
Professoren und Doktoren, als glaubwürdig, Personen aus Milieus mit
weniger gutem Ruf, Kriminelle, Rotlichtmilieu, Unterschichtsangehörige,
Prekariatsangehörige, Außenseiter, "Spinner", psychisch Kranke,
Minderbemittelte und Minderbegabte, als weniger glaubwürdig. Diese
Unterschiede und Vorurteile kennt die moderne Aussagepsychologie nicht.
Für sie ist klar, dass Adelige, Höher Gebildete, Reiche, Mächtige,
Richter, Staats-/Anwälte, Polizisten, Ärzte, Psychologen, Gutachter,
Pfarrer, Beamte, Geschäftsleute, Professoren und Doktoren ebenso
lügen oder verleugnen können wie Kriminelle, Rotlichtmilieuangehörige,
Unterschichtsangehörige, Prekariatsangehörige, Obdachlose, Außenseiter,
"Spinner", psychisch Kranke, Minderbemittelte und Minderbegabte die Wahrheit
sagen können.
Das Grundproblem wie
William
Stern es schon 1903 formuliert hat
gesperrt hier fett, S. 47-49.
"A. Die Beurteilung der Aussagen und der Aussagenden.
Die erste Leistung, welche die Forschung hier zu vollziehen hat, ist
eine negative: Erschütterung gewisser einfacher Formeln, nach denen
der natürliche Menschenverstand die Aussagen logisch und ethisch zu
bewerten geneigt ist. Diese [>48] Formeln der naiven Beurteilung lauten
etwa: 1. Eine mit bestem Wissen und Gewissen gegebene Aussage ist im allgemeinen
als korrekte Wiedergabe der Wirklichkeit anzusehen. 2. Eine mit Überlegung
gegebene Aussage, die sieh als falsch erweist, ist als beabsichtigte Fälschung
(Lüge, Meineid) oder mindestens als strafbare Fahrlässigkeit
anzusehen.
Im ersten Falle mufs eine unberechtigte Vertrauensseligkeit
und Bequemlichkeit, im zweiten Falle ein unberechtigter Rigorismus bekämpft
werden;. dies tut die Forschung, indem sie folgende beide Sätze nachweist,
mit Beispielen belegt und eindringlichst denen, die über Aussagen
zu urteilen haben, zu Gemüte führt:
I. Es. gibt eine natürliche normale Aussagefälschung
ohne Wissen und Willen von breitem Umfang; deshalb ist einerseits auch
bei ethisch durchaus einwandfreien Aussagen, mit einem Fehlerprozentsatz
zu rechnen, andererseits bei nachweislich falschen Aussagen stets die Möglichkeit
völlig absichtsloser Selbsttäuschung in Betracht zu ziehen.
IL Es gibt pathologische Aussagefälschungen
ohne Wissen und Willen in noch viel weiterem Umfange; deshalb ist "bei
der logischen und ethischen Bewertung von Aussagen eine eventuelle pathologische
Beschaffenheit des Aussagenden gebührend zu berücksichtigen.
Dafs so die Aussagepsychologie mit einer wesentlich
destruktiven Leistung anhebt, ist fraglos; und viele, namentlich Praktiker,
welche wohl diese eine, zunächst sich aufdrängende Wirkung beachteten,
sehen daher in derartigen wissenschaftlichen Untersuchungen geradezu eine
verhängnisvolle Bedrohung praktisch-positiver Kulturbetätigung;
vor allem scheint die Anzweiflung des Objektivitätswertes der normalen
und gutgläubigen Zeugenaussage die forensische Wahrheitsfindung und
damit überhaupt eine fruchtbare Durchführung des Strafprozesses
illusorisch zu machen.
Aber wenn irgendwo, so dürfen wir gerade bei
der Aussageforschung der Hoffnung leben, dass das unserem ersten Aufsatz
vorgesetze Motto sich bewähre. So sehr die Forschung destruktiv zu
wirken scheint, während sie am Werke ist, so sicher werden
ihre schließlichen Ergebnisse zu neuem Aufgaben führen; sie
werden an Stelle der diaktischen Beurteilungs[>49] kriterien neue und zuverlässigere
setzen.1 Das kann z. B. die Geschichtswissenschaft lehren, welche schon
lange das hat; was die Kriminalistik braucht, eine wissenschaftlich fundierte
Quellenkritik — die aber durch diese Kritik nicht ein geringeres, sondern
ein reicheres, dabei gesicherteres, objektiveres Wissen erworben hat.
Um solche positiven Beurteilungskriterien der Aussagen
zu erarbeiten, hat sich die psychologische Forschung die Frage vorzulegen,
in
welchem Grade und welchem Sinne Richtigkeit und Fehlerhaftigkeit der Aussagen
abhängen von den verschiedenen Bedingungen, die an ihrem Zustandekommen
beteiligt sind. Solcher Bedingungen gibt es drei Gruppen; denn die Beschaffenheit
einer Aussage hängt ab FN1. von dem Gegenstande, auf welchen
sie sich bezieht, 2. von den formalen Bedingungen, unter denen die
Wahrnehmung und die Aussage selbst vor sich geht, 3. von den Personen,
die sie abgeben. Eine blofse Aufzählung der Einzelmomente, die unter
diese drei Gruppen fallen, zeigt, welche Fülle von Aufgaben hier der
Untersuchung harrt."
Geschichte der Aussagepsychologie
Nach Stern (1926), S.7
I. Übersicht über Entwicklung und gegenwärtigen Stand
des Problems
1. Von der experimentellen Aussagepsychologie zur praktischen Zeugen
Psychologie
Der Anstoß dazu, daß die Frage des nicht-erwachsenen
Zeugen gesonderte Beachtung, wissenschaftliche Erforschung und schließlich
praktische Auswirkung erfuhr, kam zweifellos von der Psychologie. Selbstverständlich
haben zu alten Zeiten Juristen, die sich mit strafprozessualen Dingen beschäftigten,
auch die Vernehmung von Jugendlichen erörtert; aber dies geschah doch
immer nur gelegentlich und ohne spezielle — wissenschaftliche und praktische
— Bemühung um das Thema. Erst als die psychologische Forschung
im Anfang des Jahrhunderts von experimentellen Untersuchungen über
Wahrnehmung, Erinnerung, Suggestion usw. zu einer „Psychologie der Aussage“
durchstieß, wurde alsbald die Erweiterung dieser Untersuchungen vom
Erwachsenen auf das Kind und die Anwendung auf forensische Tatbestände
und Bedürfnisse vorgenommen.
Binets Buch über die Suggestibilität ([61]
1900) und meine Abhandlung über „Die Aussage als geistige Leistung
und als Verhörsprodukt“ ([73] 1903) stehen am Anfang einer langen
Reihe von Experimentaluntersuchungen, die dem Unerwachsenen verschiedener
Altersstufen, verschiedener Schichten, beider Geschlechter galten, die
die Aussagen über Bilder, Örtlichkeiten, Zeitdauern, Vorgänge,
Gegenstände prüften, die Erinnerungstreue und -Untreue in ihrer
Abhängigkeit von äußeren und inneren Bedingungen studierten,
den Einfluß der Aufmerksamkeit, des Interesses, der Suggestion usw.
untersuchten.
Von dieser umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit
eines Vierteljahrhunderts soll auf den folgenden Seiten nicht im ein¬zelnen
die Rede sein. Sie ist an manchen anderen Stellen zu-sammenfassend behandelt;
gute Übersichten gewähren die Bücher von Stöhr ([17]
1911), Schrenk ([11] 1922) und Gorphe ([2] 1924). ..."
Nach Undeutsch (1967)
Erste Phase 26-42, 1834 mit Mittermaier bis Stern 1926.
Zweite Phase 42-43, 1930 bis Ende 2. Weltkrieg.
Dritte Phase 43-48, ab 1945 breiter Durchbruch der psychologischen
Kompetenz. Undeutsch S.44f:
"Die dritte Phase kann ihrem sachlichen Ertrag nach gekennzeichnet
werden als der Durchbruch der Erfahrung auf breiter Front.
Nicht ohne Bedeutung dafür war ein Artikel des bekannten Kölner
Krimi-nalwissenschaftlers Bohne, der im Januar 1949 in der Süddeutschen
Juristen-Zeitung erschienen war. Er vertrat mit eindrucksvollen Argumenten
die Forderung:
„Solange nun allerdings ein wenigstens weitgehender Ersatz
des Zeugenbeweises durch den materiellen Spurenbeweis in der Praxis nicht
erwartet werden kann, muß ein anderer Weg gesucht werden, die im
Zeugenbeweis liegenden Fehlermöglidi- keiten und tatsächlichen
Mängel dadurch zu eliminieren, daß auch er in weitem Umfang
unter die Begutachtung Sachverständiger gestellt wird“ (9).
Zugleich plädierte er dafür, daß
diese Begutachtung den Psychologen über-tragen werde:
„Sofern es sich um eine Aussageperson handelt, die nicht
im Verdacht psycho-pathologischer Regelwidrigkeit steht, ... kann es keinem
Zweifel unterhegen, daß dieser ,normale' Ablauf psychischer Funktionen
... in das Fachgebiet des Psychologen und nicht des Psychiaters gehört,
mag der Psychiater auch, um die Grenzen seines Gebietes erfassen zu können,
vom ,Normalen' seinen Ausgang genommen haben, wie der Pathologe als Grundlage
seines Forschungsgebiets von der ,normalen' Anatomie und Histologie auszugehen
hat. Aber wie in diesem letzteren Fall niemand den [>] Pathologen als Sachverständigen
in rein anatomischen, histologischen und entwicklungsgeschichtlichen Fragen
proklamieren wird, so wenig kann dies hinsichtlich der Bewertung einer
Zeugenaussage durch den Psychiater zulässig sein“ (13)."
_
Nach Arntzen
(1993), S.3-8
"2. Neuere Geschichte der forensischen Aussagepsychologie
In geschichtlicher Hinsicht hat die ältere
Aussagcpsychologic, die vor allem durch Binet (1900), W. Stern (1902, 1904,
1926), O. Lipmann (1905), Marbe (1913), ?. Döring (1923) und P. Plaut
(1929) vertreten wurde, eine treffende Darstellung in mehreren Veröffentlichungen
von Undeutsch (1954, 1965, 1967) gefunden. Nur wenige Lehrmeinungen dieser
Epoche der Aussagepsychologie haben Bestand gehabt. Der Grund dafür
liegt eindeutig darin, daß die Autoren sich nur selten mit dem Zeugen
selbst befaßt haben. Sie beschränkten sich durchweg auf bloßes
Aktenstudium in einzelnen Strafsachen sowie auf Laborexperi¬mente und
hatten deshalb geringen Kontakt mit der forensischen Wirklichkeit. ...
[S.3]
Die eigentliche empirische
Fundierung und damit die entscheidende Ausweitung der Aussagcpsychologic
begann etwa 1948. Sie war eng verknüpft mit umfangreicher Gutachtertätigkeit
vor Gericht. ... [S.3]
Als 1950 vom Verfasser das erste Institut
für Gerichtspsychologie gegründet wurde, dessen Mitarbeiterstab
in den folgenden Jahrzehnten auf etwa 40 Gcrichtspsychologen anstieg, begann
man dort in weitem Umfang mit der systematischen Auswertung des Aussagematerials
aus Begutachtungsfällen und mit der Ausbildung von hauptberuflichen
Gerichtspsychologen. ... [S. 6]
S. 2 erwähnt, dass Arntzens
Material auf ca. 43000 Untersuchungen in 40 Jahren beruht.
_
Nach Steller (1988), S. 20f
"3. Ausblick in die vierte Phase der Aussagepsychologie
Undeutsch (1967) beschrieb drei Phasen aussagepsychologischer
Forschung und Praxis in Deutschland: experimentelle Untersuchungen zur
Aussagegenauigkeit von Kindern zu Beginn des Jahrhunderts (1. Phase) mit
dem Resultat einer allgemeinen Skepsis gegenüber Kinderaussagen in
der forensischen Praxis, gefolgt von einer Latenzphase [>22] mit dem Schwerpunkt
auf systematischer und hypothesengeleiteter empirischer und experimenteller
Forschung im Bereich der praxisrelevanten Glaubhaftigkeitsbeurteilung zu
stehen. In dem Bericht von Michaelis- Arntzen wurden dafür in Übereinstimmung
mit Köhnken und Wegener (1982, 1985) zwei grundsätzliche Strategien
verdeutlicht, die in weiteren Arbeiten eingesetzt werden sollten. Neben
dem globalen Validitätsnachweis für die Aussagenanalyse erscheinen
Arbeiten besonders wichtig, die den relativen Beitrag einzelner Realkennzeichen
für die Gesamtdiagnose sowie den Prozeß, der Bewertung und Verknüpfung
einzelner Aussageeigenarten zu Glaubwürdigkeitsmerkmalen (Michaelie-Arntzen
1987, S. 73) explizit machen. Dazu geeignete regressions- und diskriminanzanalytische
Bestimmungen setzen die exakte Definition und Operationalisierung der benutzten
Realkennzeichen voraus."
BGH
(1999)
Mit seinem bahnbrechenden Urteil zu wissenschaftlichen Anforderungen
an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) hat
der BGH neue Maßstäbe gesetzt und die 5. Phase der Aussagepsychologie
eingeläutet.
BGH, Urt. vom 30. Juli 1999 - I StR 618/98 - LG Ansbach (StPO §
244 Abs. 4 Satz 2).
__
Aktuell (2024)
Seit der Proklamation der vieren Phase der Aussagesychologie
durch Steller sind nun rund 36 Jahre vergangen und es wäre interessant
zu wissen, wie sich die vierte oder gar schon 5. oder 6. Phase der Aussagepsychologie
heute darstellt. So ist etwa die Ausgabe der Rechtspsychologie 1, 24, dem
Schwerpunkt Innovative Methoden (z.B. Conjoint Analysen oder Virtuelle
Szenarien in der Rechtspsychologie) gewidmet. Es fehlt allerdings immer
noch eine klare Theorie und Ausarbeitung des Kernanliegens, wie man realerlebnisbegründete
Aussagen beweisen kann. Das ist zwar schwierig und berührt auch das
grundlegende Beweisthema im Recht, aber notwendig.
__
Was
sind Aussagen ?
Nun, der Stoff für Anzeigen, Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen
in solchen Verfahren sind Aussagen. Was sind nun Aussagen? Eine Elementaraussage
ist z.B. „Da steht ein Tisch." Oder „Da lag ein Messer". Die Aussage „Der
runde Tisch stand in der Ecke" ist bereits zusammengesetzt und enthält
drei Elementaraussagen oder Details (Tisch, rund, in der Ecke). Ein wichtiges
Realkennzeichen
für eine Aussage, die auf subjektiv wahren Erlebnissen beruht, ist
daher ihr sog. Detailreichtum, Nr. 3 bei Steller in seinem
Gutachten für den Bundesgerichtshof und von diesem bestätigt
wie alle anderen 18 auch.
Der juristische Begriff der "Aussage" ist leider
ebenso unklar wie der allgemeine, der ebenfalls ein vielfältiges Homonym
ist. Aber in der inhaltlichen Kernbedeutung stimmen juristische, wissenschaftliche,
bildungssprachliche und alltägliche Bedeutung überein: Eine Aussage
ist potentiell wahr oder falsch. Anders gesagt: Eine Aussage hat einen
Wahrheitswert (Logik, Aussagenlogik), der aber nicht immer hinrfeichend
sicher ermittelt werden kann (non liquet).
Verschiedene Aussageumfaenge
Elementar- oder Atomare Aussage (AA), Molekulare Aussage (MA), Handlungseinheit
(HA), Erlebnisaussage (EA), Gesamtaussage (GA), erste Gesamtaussage (1GA),
zweite Gesamtaussage (2GA), x-te Gesamtaussage (xGA). Spricht also jemand
von Aussage, sollte man genau nachfragen, von welcher Aussage oder welchem
Aussageteil die Rede ist.
Die einfachste Aussage nennen wir Elementaraussage.
Sie hat die einfache Form P(X), molekulare haben mehrere Zuordnungen: P1,
P2, ...(X). Von X wird mehreres, nicht nur ein einziges ausgesagt. Mehrere
Aussagen nacheinander bezeichnen wir als Aussagesequenz. Als Gliederung
von Aussagesequenzen könnten Themen oder Handlungseinheiten dienen.
Typische Handlungseinheiten (Standardsituationen) des Alltagslebens sind
z.B.: Aufwachen, Toilette, Anziehen, Frühstrücken, Packen, Auf
den Weg machen, Ankunft am Zielort, Handlungsverlauf am Zielort, Mittagspause,
Nachmittagsgestaltung, Heimweg, Besorgung, Ankunft daheim, Dieses und jenes,
Abendessen, Abendgestaltung, fertig machen zur Nachtruhe, Schlafen. Eine
Gesamtaussage kann man zu einem Thema zusammenfassen, z.B. Erlebnisse mit
dem Onkel in der letzten Zeit.
Beispiel-01 Aussagezerlegung
in atomare Elementaraussagen
Vernehmer: Erzählen Sie mal ... [perfekt offene Frage ohne jede
suggestive Vorgabe]
Zeuge zu Protokoll: Nachts auf dem Nachhauseweg hörte ich ein
Klirren und versuchte, herauszufinden, woher das kam und was es zu bedeuten
hat. Ich schaute mich um, mehrfach, horchte in verschiedene Richtungen.
Ich konnte es aber nicht orten. Plötzlich war es wieder, und mir war,
als käme es von vorne, rechts. Ich ging in die Richtung und sah, als
ob gerade jemand durch ein Fenster bei Müllers eindrang. Es rumpelte
etwas, als ob jemand gegen etwas stieß. Was ist denn da los, fragte
ich mich, bricht da etwa jemand ein? Müssten die Müllers das
nicht merken? Ich ging näher, da wurde mir mulmig, so dass ich lieber
die Polizei anrief, die nach ca. 25 Minuten auch kam. Ich erzählte
noch mal, was ich beobachtete. Sie klingelten. Mehrmals. Keine Reaktionen.
Schließlich stieg einer der zwei Polizisten durch das Fenster. Er
leuchtete mit einer Taschenlampe, wie man von außern schemenhaft
sehen konnte. Der Polizist hörte zunehmend lautere Schnarchgeräusche
aus einem Raum in dem ein Mann auf der Couch lag, der schlief und lauthals
schnarchte. Es roch stark nach Alkohol. Er kehrte zurück und sie meinten,
das sei wohl der Herr Müller, der wahrscheinlich im betrunkeken Zustand
seinen Hausschlüssel nicht fand und daher das Fenster einschlug, um
rein zu kommen. Das bestätigte sich auch am nächsten Tag.
Zerlegt man diese Zeugenaussage in ihre elementaren
Bestandteile, ergeben sich 8 Handlungsequenzen mit 71 Elementaraussagen:
Handlungssequenz H1 wahrnehmen eine unklaren Vorganges
in der Nacht
H1.01 Ich hörte
H1.02 ein Klirren
H1.03 versuchte
H1.04 herauszufinden
H1.05 woher es kam
H1.06 und was es zu bedeuten hat
H1.07 Ich schaute mich um
H1.08 mehrfach
H1.09 horchte
H1.10 in verschiedene Richtungen
H1.11 Ich konnte es aber nicht orten.
H1.12 Plötzlich
H1.13 war es wieder,
H1.14 und mir war, als käme
H1.15 es von vorne,
H1.16 rechts.
H1.17 Ich ging
H1.18 in die Richtung
H1.19 und sah
H1.20 als ob jemand
H1.21 durch ein Fenster
H1.22 bei Müllers eindrang.
H1.23 Es rumpelte
H1.24 etwas,
H1.25 als ob jemand gegen etwas stieß.
H1.26 Was ist denn da los,
H1.27 fragte ich mich,
H1.28 bricht da etwa jemand ein?
H1.29 Müssten die Müllers
H1.30 das nicht merken?
H2 Zu mulmig für einen Alleingang - Polizeiruf
H2.01 Ich ging näher,
H2.02 da wurde mir mulmig,
H2.03 so dass ich lieber
H2.04 die Polizei anrief,
H2.05 die nach
H2.06 ca. 25 Minuten auch kam.
H3 Wiederholung der Beobachtungen für die
Polizei
H3.01 Ich erzählte noch mal,
H3.02 was ich beobachtete.
H4 Die Polizei klingelt
H4.01 Sie klingelten.
H4.02 Mehrmals.
H4.03 Keine Reaktionen.
H5 Ein Polizist steigt ein
H5.01 Schließlich stieg einer der zwei Polizisten
H5.02 durch das Fenster.
H5.03 Er leuchtete mit
H5.04 einer Taschenlampe,
H5.05 wie man von außen
H5.06 schemenhaft
H5.07 sehen konnte.
H6 Laut schnarchende nach Alkohol riechender
Mann
H6.01 Der Polizist hörte
H6.02 zunehmend
H6.03 lautere
H6.04 Schnarchgeräusche
H6.05 aus einem Raum
H6.06 in dem ein Mann auf der Couch lag,
H6.07 der schlief
H6.08 und lauthals
H6.09 schnarchte.
H6.10 Es roch
H6.11 stark
H6.12 nach Alkohol.
H7 Hypothese Schlüssel nicht gefunden
H7.01 Er kehrte zurück
H7.02 und sie meinten,
H7.03 das sei wohl der Herr Müller,
H7.04 der wahrscheinlich
H7.05 im betrunkenen Zustand
H7.06 seinen Hausschlüssel
H7.07 nicht fand
H7.08 und daher das Fenster einschlug,
H7.09 um rein zu kommen.
H8 Bestätigung am nächsten Tag
H8.01 Das bestätigte sich auch
H8.02 am nächsten Tag.
_
Darstellung von Aussagen zur Aussageanalyse
Zur Gliederung der Aussagen für die Aussageanalyse gibt es mehrere
Möglichkeiten:
(1) Die übliche und einfachste Methode ist die der natürlichen
Reihenfolge, so wie gefragt und geantwortet wurde. Diese kann man auch
mit Überschriften, zu welchen Handlungssequenzen sie gehören,
ausstatten. So werden Aussageprotokolle der Vernehmungen in den Akten auch
gewöhnlich dargestellt. Das ist sozusagen das Aussagerohmaterial für
den Sachverständigen.
(2) Will man speziell den Detaillierungsgrad etwas genauer - auch quantitativ
- bestimmen, kann man die Aussagen in Elementaraussagen
zerlegen. Diese kann man aber auch unter Handlungssequenzen einordnen,
weil das eine das andere nicht ausschließt.
(3) Geht es um die wesentlichen Inhalte von Aussagen, erscheint die
Methode nach sinnvollen Handlungssequenzen zu gliedern, empfehlenswert.
Dies erleichtert bei mehreren Aussagen auch die Konstanzprüfung. Am
besten zerlegt man die einzelnen Handlungssequenzen in ihre natürlichen
Handlungsabfolgen, etwa wie folgt: Erwägung (Einfall/ Idee) => Entscheidung
=> Entschluss => Handlung: => Weg => Ankunft => Anfang Gestaltung
=> Verlauf Gestaltung 1,2,3, ... => Ende Gestaltung => Weg zurück
=> Nachherverhalten. Die Gliederung von Handlungssequenzen nach dem natürlichen
Ablauf der Aussage erleichtert die Beurteilung sprunghafter Aussagen während
die systematische Gliederung der Handlungssequenzen die Beurteilung der
Handlungslogik und deliktspezifischer Verläufe erleichtert.
Selbstverständlich können in komplizierteren
Sachlagen auch mehrere Methoden angewendet werden. .
Vergleichende Aussagenanalyse
Man kann unterschiedliche Aussagen zu einem Sachverhalt von einer Person
oder von unterschiedlichen Personen (Beschuldigter, Opferzeugin, Zeugen)
betrachten.
Aussage Aussageperson Zeitpunkt
Sachverhalt Art
Elementaraussage EA1, ... An
P1, ... Pn t1,
...tn S1
, .... Sn
W F ?
Molekularaussage MA1, ... An
P1, ... Pn t1,
...tn S1
, .... Sn
W F ?
Handlungseinheit HA1, ... An
P1, ... Pn t1,
...tn S1
, .... Sn
W F ?
Kerngeschehen KA1, ...
An P1, ... Pn
t1, ...tn S1
,
.... Sn W F ?
Randgeschehen RA1, ...
An P1, ... Pn
t1, ...tn S1
,
.... Sn W F ?
Gesamtaussage GA1, ...
An P1, ... Pn
t1, ...tn S1
,
.... Sn W F ?
Formale Vergleichsmoeglichkeiten
von Aussagen, ihren Elementen und Varianten
Vergleicht man "Aussagen", so ist als erstes genauer anzugeben, welche
Aussagenvarianten miteinander verglichen werden sollen:
-
Elementar- oder Atomare Aussage (AA), kleinstmögliche Aussage der
Form P(X) (lies: P von X).
-
Molekulare Aussage (MA), aus atomaren Aussagen zusammengesetzt.
-
Handlungseinheit (HA), die aus gewöhnlich aus mehreren molekularen
oder atomaren Aussagen besteht.
-
Erlebnisaussage (EA), das meist aus mehreren Handlungseinheiten besteht,
aber auch nur eine Handlungseinheit beschreibt..
-
erste Gesamtaussage (1GA), die oft mehrere Erlebnisse einbezieht aber auch
nur aus einem bestehen kann..
-
zweite Gesamtaussage (2GA), zu einem späteren Zeitpunkt.
-
x-te Gesamtaussage (xGA), zu einem späteren Zeitpunkt.
Am sinnvollsten erscheinen - z.B. bei der Konstanzprüfung -
Vergleiche von Handlungseinheiten, z.B. bei der ersten und der zweiten
Gesamtaussage. Welche Handlungseinheiten kommen in der einen, aber nicht
in der anderen und umgekehrt vor? Und wie unterscheiden sich die thematisch
gleichen Handlungseinheiten von einander (molekular und atomar)? Welche
Gründe gibt es für die Unterschiede und was bedeuten sie für
die aussagepsychologische Beurteilung und Bewertung?
_
Strukturvergleiche (nach
Quelle)
Methode
|
Aussage
|
Phantasieaussage
|
Wahre Aussage
|
Falschaussage
|
Struktur der Aussage |
|
|
|
|
Merkmalsanalyse |
|
|
|
|
Handlungssequenz-Analyse |
|
|
|
|
Konstanzanalyse |
|
|
|
|
Anzahl Elementar-Sachverhalte |
|
|
|
|
... ... ... |
|
|
|
|
Der
Druck der ErmittlerInnen, Aussagen zu gewinnen
Fast alle ErmittlerInnen, VernehmerInnen und AussagepsychologInnen stehen
unter einem großen Aussageproduktionsdruck. Wenn nicht genügend
Aussagen aus dem Zeugen herausgeholt werden können, dann gibt es keine
Anzeige, keine Ermittlungen, keine Anklage, keine Verurteilung. Natürlich
kenne ich diesen Druck selbst, weil ich ihn selbst mehr als mir lieb war,
in meiner Sachverständigentätigkeit erlebt habe. Dieser Druck,
Aussagen hervorbringen zu müssen, ist eine vielfältige Fehlerquelle
von Vernehmungen.
Ein gutes Indiz für diesen Druck ist die Anzahl der Fragen,
die gestellt werden. Realerlebnis-begründete Aussagen zeichnen sich
nämlich dadurch aus, daß in der freien Erzählung viele
und detaillierte Aussagen in etwas sprunghafter und ungeordneter Reihenfolge
vom Zeugen hervorgebracht werden. Dieses wichtige Merkmal und Realkennzeichen
Nr. 2 fehlt in aller Regel in Aussagen, die durch fremde Einflüsse
und nicht wirklich erlebnisbegründet fundiert sind. Machen wir uns
als erstes klar:
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.
Und genauso ist es natürlich mit wirklichen Erlebnissen. Wenn einer
was erlebt hat, dann kann er was erzählen. Das hat schon der Landgerichtspräsident
Leonhardt 1934 - 100 Jahre nachdem
Mittermaier
die Grundzüge einer - auch heute noch weitgehend gültigen - kunstgerechten
Vernehmung darlegte - sehr klar und deutlich beschrieben (nach Undeutsch
1967,
S. 126):
„Ist ein Vorgang ... künstlich geschaffen, so ist
er auf einen bestimmten, durch den Prozeß gegebenen Zweck zugeschnitten
und weist in seinen Bestandteilen normalerweise nur das auf, was jenem
Zweck dient; er entbehrt allem Beiwerks und namentlich auch individuelle
Einzelheiten und Eigentümlichkeiten, wie sie mehr oder weniger jedem
erlebten Vorgang eigen sind; das von ihm gegebene Bild ist ohne Leben,
ein totes Schema von Vorgängen der betreffenden Art."
Wirkliche Erlebnisse können also im Prinzip detailreich berichtet
werden. Für die aussagepsychologische Glaubhaftigkeit ist daher der
frei produzierte Detailreichtum eines Erlebnisberichtes schon ein wichtiges
Kriterium. Liegen nicht genügend Aussagen vor, ist eine aussagepsychologische
Begutachtung nicht möglich, was häufig, vor allem bei kleineren
Kindern der Fall ist und von allen Aufklärungsinteressierten meist
sehr bedauert wird, weil dadurch möglicherweise eine KinderschänderIn
einer gerechten Verurteilung entgeht. Und genau das ist häufig der
Grund, weshalb die Vernehmerinnen so viele Fragen stellen. Doch wer viele
Fragen stellt, begibt sich aber auf gefährliches Gelände, nämlich
in die Gefahr, durch seine Fragen selbst herzustellen, was erst ermittelt
werden soll, vor allem dann, wenn viele Suggestivfragen
gestellt werden.
Die Bedeutung
der Erstaussage
Undeutsch zu Bedeutung einer richtigen Erstbefragung (1967,
S. 112):
„2. Erstbefragung
Der ersten Befragung wird von einigen Autoren eine außerordentlich
große Bedeutung für die Ausformung der Aussage beigemessen.
So schreibt Stern:
"Von den ersten Vernehmungen hängt also geradezu
die ganze Zukunft des Prozesses ab: In ihnen wird eigentlich fast immer
der Sachverhalt endgültig geklärt oder endgültig verschleiert"
(1926,47).
Es werden in einer fehlerhaften, insbesondere in einer suggestiven Befragung
große Gefahren für die Richtigkeit der auf diese Weise erzielten
Aussagen erblickt."
Zum Thema Statistik der kindlichen Zeugen und Opfer, Probleme der Aussagegewinnung
und Videotechnologie klicken Sie bitte hier.
Zur Problematik des manchmal jahrelangen Verfahrens klicken
Sie bitte hier.
Die
Aufgabe der AussagepsychologInnen nach dem BGH
Der Bundesgerichtshof hat uns mit seinem Urteil vom 30.7.1999 klipp
und klar gesagt, was wir AussagepsychologInnen zu tun haben:
Kurzversion
-
die Realkennzeichen erheben;
-
die Bedeutung der Realkennzeichen prüfen (hypothesengeleitetes
Vorgehen, z.B. fremde Einflüsse untersuchen und prüfen). Daraus
folgt natürlich
-
daß AussagepsychologInnen als Grundmaterial Aussagen
brauchen, sonst können sie nicht gutachten, also: Aussagen gewinnen
-
Es sollte sich von selbst verstehen, daß die Aussagen
korrekt und zuverlässig erhoben werden müssen. Leider hat der
Bundesgerichtshof noch nichts darüber gesagt, wie Aussagen zu gewinnen
sind und welche Methoden hierbei strittig, verboten (Suggestivfragen?)
oder nur unter besonderen Vorkehrungen und Kontrollen statthaft sind. Es
ist zu hoffen, ja eigentlich zu fordern, dass der Bundesgerichtshof
in absehbarer Zeit hierzu Richtlinien entwickeln wird.
_
BGH-Methodische Leitlinien
zum Vorgehen bei aussagepsychologischen Gutachten
Urteil des Bundesgerichtshofes
(1) Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen
(Glaubhaftigkeitsgutachten).
BGH, Urt. vom 30. Juli 1999 - I StR 618/98 - LG Ansbach (StPO §
244 Abs. 4 Satz 2 ). Hieraus:
"Begutachtung
...
a) Das methodische Grundprinzip besteht darin, einen zu überprüfenden
Sachverhalt (hier: Glaubhafligkeit der spezifischen Aussage) so lange zu
negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar
ist. Der Sachverständige nimmt daher bei der Begutachtung zunächst
an, die Aussage sei unwahr (sog. Nullhypothese). Zur Prüfung
dieser Annahme hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie,
daß die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Ubereinstimmung
stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese,
daß es sich um eine wahre Aussage handelt. Die Bildung relevanter.
Hypothesen ist daher von ausschlaggebender Bedeutung für Inhalt
und (methodischen) Ablauf einer Glaubhafligkeitsbegutachtung. Sie
stellt nach wissenschaftlichen Prinzipien einen wesentlichen, unerläßlichen
Teil des Begutachtungsprozesses dar (Gutachten Prof Dr. Fiedler und
Prof Dr. Steller; Eisenberg, Beweisrecht der StPO 3. Aufl.
Rdn. 1863; Greuel/Offe/Fabian/Wetzels/Fabian/Offe/Stadler, Glaubhaftigkeit
der Zeugenaussage S. 48 ff; StellerNolbert in Steller/Volbert, Psychologie
im Strafverfahren S. 12, 23; Deckers NJW 1999, 1365, 1370; Greuel
Praxis der Rechtspsychologie 1997, 154, 161; Köhnken MschrKrim 1997,
290, 293 ff; allgemein Westhoff/Kluck, Psychologische Gutachten schreiben
und beurteilen S. 39 ff)."
(2) Der BGH zu Suggestion und Realkennzeichen
Aus dem Urteil des Bundesgerichtshof vom 30.7.1999 betreffend StPO §
244 Abs. 4 Satz 2 "Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische
Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsbegutachtungen)", hier ein Auszug zur Bedeutung
von Suggestionen auf die Realkennzeichen:
"Darüber hinaus ist stets zu beachten, daß die Realkennzeichen
ungeeignet sind, zur Unterscheidung zwischen einer wahren und einer
suggerierten Aussage beizutragen. Denn bei durch Suggestion verursachten
Angaben bestehen die bereits dargelegten Gründe nicht, die eine unterschiedliche
Qualität zwischen wahren und bewußt unwahren Aussagen verursachen
können, da die aussagende Person sich weder als besonders glaubwürdig
darstellen noch sich auf von ihr erdachte Umstände konzentrieren muß.
Beispielsweise wird ein Kind seine Angaben, die objektiv nicht zutreffen,
weil es sie unbewußt auf die Erwartungen des vernehmenden Erwachsenen
ausgerichtet hat, subjektiv für wahr halten. Dementsprechend gibt
es keine empirischen Belege dafür, daß sich erlebnisbasierte
und suggerierte Aussagen in ihrer Qualität unterscheiden."
_
Ergebnis
Methodik nach dem BGH
Aus der Existenz und Güte von Realkennzeichen kann nicht abgeleitet
werden, ob diese durch suggestive oder andere (Selbst-) Beeinflussung oder
tatsächliche Erlebnisse zustande gekommen sind. Die Bedeutung von
Realkennzeichen - falls überhaupt genügend vorliegen - ist also
durch weitere Methoden, durch das sog. hypothesengeleitete Vorgehen zu
ermitteln und zu begründen. |
Probleme der Methodik
und der Hypothesenprüfung
Die Aussagepsychologie
Die großen Hypothesen
der Aussagepsychologie
-
William Sterns Grundlagen-Hypothese: Die Möglichkeit, die Bedingungen
für wahre und falsche Aussagen differenziert zu erforschen.
-
Undeutsch Hypothese: Erlebnisbegründete Aussagen unterscheiden
sich in ihren Merkmalen von erlogenen oder erfundenen Aussagen (von Steller
1989 eingeführt; > Spektrum-Lexikon Psychologie: Undeutsch-Hypothese)
-
Trankells Struktur Hypothese: Wahr und falsche Aussagen unterscheiden
sich durch ihre jweils gleich formale Struktur. Praktische Anwendung: Vergleichende
strukturelle Aussagenanalyse (wahr, falsch).
-
Trankells personenspezifische Hypothese: "Die Vorstellung, daß
jeder Zeuge durch eine konstante und von der Umwelt unabhängige Glaubwürdigkeit
gekennzeichnet sei, entbehrt somit in den allermeisten Fällen der
Realitätsgrundlage. Allgemeine Urteile über die Glaubwürdigkeit
einer Person können daher außerordentlich gefährlich sein,
wenn sie zur Grundlage genommen werden für Schlußfolgerungen
auf die Aussagen dieser Person in anderen Situationen als denjenigen, auf
denen diese Urteile basieren. Wie leicht einzusehen ist, fuhren diese Überlegungen
doch nicht zu dem Ergebnis, daß die individuelle Beschaffenheit des
Zeugen bei der psychologischen Untersuchung vernachlässigt werden
könnte. Jede Aussage ist in gewissem Sinne Ausdruck der persönlichen
Eigenart ihres Urhebers, und diese spielt in vielen Fällen eine entscheidende
Rolle sowohl für die Form als auch für den Inhalt der Aussage.
Jedes Individuum fungiert indessen in einem komplizierten Zusammenhang,
in welchem das Verhältnis zu anderen Menschen und zu den entstandenen
Situationen eine nicht minder bedeutsame Rolle für sein Verhalten
spielt. Unser Verhalten ist nämlich in jedem Augenblick ein Produkt
des Zusammenspiels zwischen den individuellen Verhaltensdispositionen und
deren RealisationsmöglichkeitenI." (1971, S. 98). Praktische Anwendung:
Vergleichende personenspezifische Aussagenanalyse (wahr, falsch).
-
BGH-Hypothese: Authentische und suggierte Aussagen unterscheiden
sich in ihren Merkmalen nicht, daher genügt die bloße Merkmalsanalyse
nicht. Vielmehr bedarf es eines systematischen methodischen Ausschlusverfahrens
der Hypothesen: "Die Bildung relevanter Hypothesen ist daher von ausschlaggebender
Bedeutung für Inhalt und (methodischen) Ablauf einer Glaubhafligkeitsbegutachtung."
(BGH 1999).
Voraussetzungen der Hypothesenprüfung
-
Zunächst muss eine genügend umfangreiche (komplexe, differenzierte)
Gesamtaussage vorliegen, damit überhaupt eine Merkmalsanalyse sog.
"subjektiver Realerlebnisfundierung" vorgenommen werden kann. Subjektive
Realerlebnisfundierung heißt hier nur, dass die ZeugIn glaubt, sie
habe erlebt, was sie schildert. Den objektiven Tatsachengehalt stellt hierbei
nicht die aussagepsychologische Sachverständige, sondern das Gericht
fest - das natürlich weitere Beweisquellen (Spuren, andere Aussagen)
einbezieht.
-
Falls eine genügend umfangreiche Aussage vorliegt, müssen aber
auch genügend subjektive Realerlebnismerkmale gefunden werden, damit
eine Hypothesenprüfung sinnvoll erscheint.
-
Wenn nicht genügend subjektive Realerlebnismerkmale vorliegen, ändert
sich die Fragestellung: wie kann erklärt werden, dass die Aussage
so wenige subjekte Realerlebnismerkmale zeigt? Hierbei ist auch wichtig
zu verstehen, dass mangelnde subjektive Realerlebnismerkmale nicht zwingend
auf Erfindung, Lüge oder Nichterleben hindeuten. Es kann auch z.B.
an fehlender Ausdrucksfähigkeit liegen, die wiederum unterschiedliche
und mehrere Gründe haben kann (kognitive Entwicklung, Unwissen, worauf
es ankommt, was wichtig ist). Darauf weist auch Volbert (2008) in einem
eigenen Abschnitt S. 15f hin:
"Eine geringe Aussagequalität belegt nicht einen fehlenden Erlebnisbezug.
Bei den Glaubhaftigkeitsmerkmalen handelt es sich um Positivmerkmale, deren
Vorhandensein unter geeigneten Voraussetzungen auf den Erlebnisgehalt einer
Schilderung hinweist. Demgegenüber indiziert das Fehlen von Realkennzeichen
keineswegs zwingend eine [>16] nicht erlebnisbasierte Darstellung. Auch
bei realem Erlebnishintergrund kann eine geringe Aussagequalität vorliegen,
wobei diese sowohl auf individuelle Kompetenzen und persönlichkeitsspezifische
Dispositionen, auf die Aussagemotivation, aber auch auf situative Faktoren
zurückzuführen sein kann. So kann trotz realen Erlebnishintergrunds
eine geringe Aussagequalität produziert werden, wenn beim Zeugen eine
reduzierte Aussagekompetenz vorliegt, wenn er besonders ängstlich
oder psychisch nicht in der Lage ist, über das prinzipiell Erinnerte
zu berichten oder wenn keine ausreichende Aussagemotivation vorhanden ist.
Ferner sind situative Einflüsse zu berücksichtigen."
Die Grundaufgabe der Hypothesenprüfung
-
Die Vielzahl möglicher Gründe und beeinflussende Faktoren für
Aussageinhalte werden meist unterschätzt.
-
Sie besteht darin, aus mehreren, mitunter gar vielen Möglichkeiten
nach und nach immer mehr auszuschließen, bis - im Idealfalle - nur
zwei übrig bleiben: die wahrscheinliche Hypothese und die Resthypothese
(etwas anderes, bislang nicht berücksichtigte). Den vollständigen
"Hypothesenraum", also alle Möglichkeiten, zu erfassen, ist im Allgemeinen
nicht einfach.
-
Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass sich die verschiedenen Faktoren und
Hypothesen auch gar nicht ausschließen müssen, sondern zusammen
auftreten oder sich überlappen können. So können realerlebnisfundierte,
Täuschungen und Irrtümer, Wunschphantasien und Erwartungen zusammenwirken.
In aller Regel geht es daher meist nicht um ein Entweder-Oder (wahr oder
falsch, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich), sondern viele Faktoren können
auf die einzelnen Aussagen einwirken und sie zu einem komplizierten Gebilde
aus teilweise Richtigem und teilweise Falschem machen.
Moeglichkeiten und Methoden der
Hypothesenprüfung
Der folgende Ansatz ist nicht zwingend. Man kann auch andere wählen,
man muss nur sagen, welchen Ansatz man im jeweiligen Fall - aus diesen
oder jenen Gründen - gewählt hat. Das folgende Konzept geht von
vier Hauptmöglichkeiten aus: vollständig richtig, überwiegend
richtig, teilweise richtig, vollständig falsch mit den manchmal sinnvollen
Unterscheidungen mit Wissen und Absicht (Lüge) bzw. ohne
Wissen und Absicht (Täuschungen, Irrtum, Suggestionen). Ginge
man "fundamentalistisch" vor, müsste man alle theoretischen und möglichen
Hypothesen überprüfen, was natürlich in den meisten Fällen
weder zu leisten noch notwendig ist. Der theoretische Hypothesenraum kann
grob wie folgt bestimmt werden:
1.1 Im Haupt- und Kerngesehen vollständige richtige Erinnerung
und Aussage (selten)
1.2 Im Haupt- und Kerngesehen überwiegend richtige Erinnerung
und Aussage
1.3 Im Haupt- und Kerngesehen teilweise richtige bzw. falsche Erinnerung
und Aussage
1.3.1 mit Wissen und Absicht (Lüge)
1.3.1.1 um es mit
dem eigenen Wissen und Erfahrungen in Einklang zu bringen
1.3.1.2 um das Selbstbild,
die eigene Rolle zu schonen (Peinlichkeiten, Scham)
1.3.1.3 um nach dem
eigenen Verständnis glaubhafter zu wirken (guten Eindruck machen wollen,
glätten, verdichten)
1.3.1.4 um Eindruck
zu machen (aufbauschen, übertreiben, Aufmerksamkeit, Mittelpunkt)
1.3.1.5 aus Nachlässigkeit,
Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit
1.3.1.6 aus Nachlässigkeit
und falscher Einschätzung der Bedeutung ("wird schon nicht so wichtig
sein")
1.3.1.7 aus aggressiv-destruktiven
Motiven
1.3.1.x aus sonstigen
bislang nicht aufgeführten Gründen
1.3.2 ohne Wissen und Absicht (Täuschungen, Irrtum, Suggestionen)
1.3.2.1 um es mit
dem eigenen Wissen und Erfahrungen in Einklang zu bringen
1.3.2.2 um das Selbstbild,
die eigene Rolle zu schonen (Peinlichkeiten, Scham)
1.3.2.3 um nach dem
eigenen Verständnis glaubhafter zu wirken (guten Eindruck machen wollen,
glätten, verdichten)
1.3.2.4 um Eindruck
zu machen (aufbauschen, übertreiben, Aufmerksamkeit, Mittelpunkt)
1.3.2.5 aus Nachlässigkeit,
Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit
1.3.2.6 aus Nachlässigkeit
und falscher Einschätzung der Bedeutung ("wird schon nicht so wichtig
sein")
1.3.2.7 aus aggressiv-destruktiven
Motiven
1.3.2.8 aus suggestibler
Empfänglichkeit
1.3.2.x aus sonstigen
bislang nicht aufgeführten Gründen
1.4 Im Haupt- und Kerngesehen verfälschte Erinnerung und Aussage:
1.4.1 mit Wissen und Absicht (Lüge)
1.4.1.1 um es mit
dem eigenen Wissen und Erfahrungen in Einklang zu bringen
1.4.1.2 um das Selbstbild,
die eigene Rolle zu schonen (Peinlichkeiten, Scham)
1.4.1.3 um nach dem
eigenen Verständnis glaubhafter zu wirken (guten Eindruck machen wollen,
glätten, verdichten)
1.4.1.4 um Eindruck
zu machen (aufbauschen, übertreiben, Aufmerksamkeit, Mittelpunkt)
1.4.1.5 aus Nachlässigkeit,
Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit
1.4.1.6 aus Nachlässigkeit
und falscher Einschätzung der Bedeutung ("wird schon nicht so wichtig
sein")
1.4.1.7 aus aggressiv-destruktiven
Motiven
1.4.1.x aus sonstigen
bislang nicht aufgeführten Gründen.
1.4.2 ohne Wissen und Absicht (Täuschungen, Irrtum, Suggestionen)
1.4.2.1 um es mit
dem eigenen Wissen und Erfahrungen in Einklang zu bringen
1.4.2.2 um das Selbstbild,
die eigene Rolle zu schonen (Peinlichkeiten, Scham)
1.4.2.3 um nach dem
eigenen Verständnis glaubhafter zu wirken (guten Eindruck machen wollen,
glätten, verdichten)
1.4.2.4 um besonderen
Eindruck zu machen (aufbauschen, übertreiben, Aufmerksamkeit, Mittelpunkt)
1.4.2.5 aus Nachlässigkeit,
Gedankenlosigkeit, Bequemlichkeit
1.4.2.6 aus Nachlässigkeit
und falscher Einschätzung der Bedeutung ("wird schon nicht so wichtig
sein")
1.4.2.7 aus aggressiv-destruktiven
Motiven
1.4.2.8 aus suggestibler
Empfänglichkeit
1.4.2.x aus sonstigen
bislang nicht aufgeführten Gründen
1.5 Im Haupt- und Kerngesehen vollständig falsche Erinnerung und Aussage
(vollständige Erfindung).
1.5.1 mit Wissen und Absicht (Lüge)
1.5.2 ohne Wissen und Absicht durch Suggestion (> z.B. Fall Piaget)
1.5.3 ohne Wissen und Absicht (psychische Störung, z.B.
Wahnerleben, Pseudologie)
-
Eine vollständige Hypothesenprüfung wäre extrem zeit- und
kostenaufwändig und manchmal mangels Methoden oder Daten im Einzelfall
gar nicht möglich. Man wird daher im Regelfall nach dem praktischen
juristischen Prinzip des "Anfangsverdachtes" vorgehen. Das heißt,
man wird nur die Hypothesen prüfen, für die es Gründe ("Anknüpfungstatsachen",
"Anfangsverdacht") gibt.
-
Dies führt zum praktisch-relevanten "Hypothesenraum", in dem nun für
und wider die einzelnen Hypothesen zu den einzelnen Aussagen argumentiert
und die Entscheidung begründet wird. Meist ergeben sich die praktisch
relevanten und sinnvollen Hypothesen aus den Aussagen, ihrer Entstehung
und Entwicklung.
_
Fachliche Ausfuehrungen zur
Hypothesenprüfung bei aussagepsychologischen Fragestellungen
Volbert führt 2009 in "Glaubhaftigkeitsbegutachtung:
Wie man die aussagepsychologische Methodik verstehen und missverstehen
kann", S. 52 aus:
"Zusammenfassung
Es wird auf in verschiedenen Beiträgen in diesem Heft geübte
Kritik eingegangen, die die aussagepsychologische Methodik auf die Merkmalsorientierte
Inhaltsanalyse reduziert. Der Gesamtprozess der aussagepsychologischen
Begutachtung besteht aber in der systematischen Generierung und Prüfung
von Voraussetzungen der Gegenhypothesen zur Wahrannahme.
In der Regel geht es um die Abklärung von zwei Gegenhypothesen
zur Wahrannahme:
-
absichtliche Falschdarstellung (Lügenhypothese)
-
eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen „Erinnerung"
basierende Darstellung, deren Inhalt aber tatsächlich keine Entsprechung
in einer vorausgegangenen Realität hat. Derartige Pseudoerinnerungen
entwickeln sich in der Regel auf der Basis fremd- und/oder autosuggestiver
Prozesse (Suggestionshypothese).
Es ist für den jeweiligen Fall zu prüfen, inwieweit die Voraussetzungen
für die unterschiedlichen Konstellationen erfüllt sind. Sind
diese gegeben, steht für die weitere Abklärung der Falschbezichtigungshypothese
die qualitätsimmanente und -übergreifende Aussageanalyse im Zentrum.
Liegen gravierende suggestive Bedingungen vor, kann der Erlebnisbezug einer
Aussage mit aussagepsychologischen Methoden nicht mehr substantiiert werden."
Volbert führt 2008 in "Glaubhaftigkeitsbegutachtung
– mehr als Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse" (S. 12) aus:
"Zusammenfassung
Der diagnostische Wert der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse für
die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist prinzipiell unbestritten,
theoretische Erklärungen und empirische Nachweise der Validität
der Merkmale erstrecken sich jedoch im Wesentlichen auf Differenzierungen
zwischen wahren und erfundenen Darstellungen. Unterschiede zwischen erlebnisbasierten
und suggerierten Aussagen sind demgegenüber theoretisch nicht anzunehmen
und sind auch empirisch nicht nachgewiesen worden. Wahre Aussagen weisen
zudem nicht immer eine hohe Aussagequalität auf. Es wird argumentiert,
dass die Merkmalsorientierte Inhaltsanalyse aus diesen Gründen weniger
eine Methode zur Substantiierung des Wahrheitsgehalts, sondern vor allem
eine Methode zur Falsifikation der Lügenhypothese darstellt. Der Gesamtprozess
der aussagepsychologischen Begutachtung besteht in der systematischen Generierung
und Prüfung von Voraussetzungen der Gegenhypothesen zur Wahrannahme.
Der Merkmalsorientierten Inhaltsanalysen kommt dabei nur in einem Teil
der Fälle eine zentrale Rolle zu."
Aussage-, Wahrnehmungs-,
Gedächtnis- und Kommunikationspsychologie
Das folgende Schema präsentiert eine Mikroanalyse einer Aussage.
Bei genauer Betrachtung lassen sich viele, hier 12, Stationen einer
Aussageentstehung benennen und nachvollziehen. Am Anfang steht die Wahrnehmung.
Was von ihr erfasst wird, regelt die 2. Station aus der die dritte Station,
die Repräsentation im Bewusstsein, bei Aufnahme hervorgeht. Hier können
bereits einige, mitunter wichtige Teile verloren gegangen sein, so dass
diese in der 4. Station, im Gedächtnis, gar nicht abgespeichert oder
gemerkt werden. Damit können die nicht abgespeicherten Teile später
auch nicht erinnert werden. Die 5. Station repräsentiert die Aufbewahrungsfunktion
im Gedächtnis. Hier ist unklar, ob es überhaupt eine 1:1 Speicherung,
also ein statisches, konservierendes Gedächtnis gibt oder ob die aufbewahrten
Inhalte nicht dynamisch verwaltet werden und sich je nach Einflüssen
verändern können. Jeder Aufruf des Gedächtnisinhaltes findet
in der Regel in einem neuen Kontext, in einer neuen Situation in einer
spezifischen Interessenlage statt. Es werden u.U. unterschiedliche Aspekte
aktiviert und zu anderen Gedächtnis- oder Bewusstseinsinhalten in
Beziehung gesetzt. Betrachtet man einen Gedächtnisinhalt als
Netz von Merkmalsknoten und Verbindungen, so können sowohl spezielle
Merkmalsknoten als auch spezielle Verbindungen durch Aufruf und Dauer der
Aufmerksamkeitszuwendung verstärkt oder geschwächt werden.
Graphisch kann dies als allgemeines und integratives
Gedächtnismodell auf mehrerlei Weise illustriert werden. Merkmalsknoten
oder Verbindungen, die an Wichtigkeit gewinnen, werden dunkler oder / und
dicker (größer), Merkmalsknoten oder Verbindungen, die an Wichtigkeit
verlieren, werden heller oder / und dünner (kleiner). Geschwächte
Verbindungen kann man als erschwerten Zugriff interpretieren. Es können
neue Merkmalsknoten (Verfälschungen) hinzukommen oder alte verschwinden
(Vergessen).
Die 6. Station beschreibt die Erinnerung, die in
der 7. Station im Bewusstsein repräsentiert wird, wobei hier durch
Abwehr- und Neutralisationsmechanismen Teile verloren gehen oder verfälscht
werden können. In der 8. Station wird beurteilt, ob die Erinnerung
so für wahr gehalten wird oder zu verändern (Entstellen) ist.
Die Verarbeitung der Erinnerung beschreibt die 9. Station mit Denken, Vorstellen,
Schlußfolgern, Fantasietätigkeit. Die 10. Station erfasst die
sprachliche Gestaltung der Erinnerung, wofür 11. Verstehen von Worten,
Sätzen und ihrer Bedeutungen erforderlich ist bevor es schließlich
12. zum sprachlichen Ausdruck kommt.
Sobald man sich die Mikroanalyse einer Aussage vergegenwärtigt,
wird klar, dass eine Aussage, genau betrachtet, ein kompliziertes und schwieriges
Gebilde ist, das an vielen Stellen problematisch sein kann. Dieses Wissen
der (Aussage-) PsychologInnen sollte vor leichtfertigen Beurteilungen und
Bewertungen schützen. Man kann aber auch in eine übertriebene
wissenschaftliche Skepsis verfallen und sich gar nichts mehr mit praktischer
Sicherheit beurteilen und bewerten trauen. Das ist das andere Extrem.
Erklaerungsmodelle
für Erinnerungsverluste
Im wesentlichen denken wir uns hier zwei Funktionen: die Codierung
und den Zugriff auf Gedächtnisinhalte. Für eine Codierung für
Gedächtnisinhalte stellt sich die - derzeit nicht beantwortbare -
Frage, wie sich dieser Code bildet, erhält, was er zu seiner Erhaltung
braucht, wie und auf welche Weise er sich verändern und (teilweise)
zerfallen oder sich auflösen kann. Gedächtnisinhalte können
daher im Wesentlichen auf zwei Weisen verlustig gedacht werden: (1) der
Code verblasst, lässt nach, zerfällt, verändert sich. (2)
Der Zugriff ist gestört, behindert, gelingt nicht oder nur unzulänglich
oder teilweise.
Motive oder Gruende für falsche
Erinnerungen
In der folgenden Liste gibt es Überlappungen und Mehrfachmöglichkeiten:
-
Fehlende oder nicht genügend entwickelte kognitive Strukturen für
die Erfassung der Sachverhalte
-
Das Bedürfnis nach Verständnis und Erklärungen fügt
den Sachverhalt in das vorhandene (unzulängliche) kognitive System
ein
-
Der Sachverhalt wurde gar nicht abgespeichert (gemerkt)
-
Der Sachverhalt wurde verfälscht abgespeichert (gemerkt)
-
Der Wunsch einen guten Eindruck zu machen
-
Der Wunsch einen bestimmten Eindruck zu machen
-
Der Zugriff zum Gedächtnisinhalt der Erinnerung ist gestört
-
Durch mehrfache und unterschiedliche Verarbeitung verändert
-
...
Grundlegende Gedaechtnismodelle
und Typen
In Ausarbeitung. Stichworte:
-
Grundmodell I: Statisches 1:1 Abspeicherungsmodell: Der Gedächtnisinhalt
wird als unverändert konserviert angenommen. Nichts geht verloren
(> Penfield)
-
Grundmodell II: Dynamisches Abspeicherungsmodell: der Gedächtnisinhalt
kann sich im Laufe der Zeit verändern (derzeit von den meisten GedächtnisforscherInnen
vertretene Hypothese)
-
Ultrakurzzeitgedächtnis
-
Kurzzeitgedächtnis
-
Langzeitgedächtnis
-
Semantisches Gedächtnis
-
Episodisches Gedächtnis
-
Prozedurales Gedächtnis
-
Autobiographisches Gedächtnis.
Entwicklungspsychologie
der Aussagetuechtigkeit
Im wesentlichen folgt die Aussagetüchtigkeit der Denk- und Sprachentwicklung.
Die Entwicklung von Aussagefähigkeiten nach Volbert (2005)
Die Fähigkeit Angaben zum Vergangen zu machen bilde sich zwischen
2 und 3 Jahren aus (S. 243). Mit 3 bis 3 1/2 Jahren seien Kinder meist
erstmals in der Lage, eine zusammenhängede Darstellung eines Ereignisses
zu geben (S.244). Mit zunehmendem Alter steige die Produktivität
der Informationen. Einfache Skripts alltäglicher Vorgänge Anfang
des 4. Lebensjahres (S. 244).
Zeitlichkeit und Zeitbezüge nach Reimann (2005)
Sie setzt auf der Wahrnehmungsseite den Objektbegriff voraus, der sich
nach Piaget nach 18 Monaten ausbildet. Objektkonstanz bedeutet: die Dinge
sind auch da, wenn ich nicht hinauschaue oder mit ihnen hantiere. Für
Befragungen muss die sprachliche Ausdrucksfähigkeit grundausgebildet
sein. Das ist etwa mit drei Jahren der Fall. Nach Fritzley & Lee (2003)
antworteten 2jährige auf (suggestive) Ja/Nein-Fragen meist mit ja,
Kinder zwischen 4 und 5 auf unverständliche Fragen mit Nein (S. 258f).
Zwischen 4;0 und 4;6 Jahren kann das Kind mit Sprechzeit (hier und jetzt),
Ereigniszeit und Referenzzeit Ab etwa 2,6 Jahren werden nach Weist (1989)
Temporaladverbien [W]
und Adverbialsätze [W]
verwendet (S., 261). Der Erzählstil der Hauptbezugsperson (Mütter
22.6 Stunden; Väter 2.4 Stunden pro Woche; S. 262). Viele Beispiele
S. 264-268 und Einordnung in Kategorien: Zeitbezug als Wiederbegegnung
mit einem Objekt, sponatne Erinnerung; Umgebungsgeräusche; Wiederkehr
einer Handlung; Assoziationen).
Die 12 'Verbote' (‘Hauptsünden’)
in der Vernehmung (Exploration > Explorationsfehler)
Siehe auch §
136a StPO: verbotene Vernehmungsmethoden. > Zur Vernehmung
von geistig Behinderten,
-
Aussagehemmende Faktoren zulassen (hemmende Anwesende, Störungen,
Unterbrechungen, Ablenkungen)
-
Sachverhalte, die erst ermittelt werden sollen, vorgeben
-
Suggestivfragen jeglicher Art stellen
-
Fragewiederholungen („insistieren"), die verunsichern, weil sie beim Zeugen
den Eindruck erwecken, man akzeptiere seine Einlassung nicht
-
Wertende sprachliche Kommentare (das gibt es doch gar nicht, das kann doch
nicht sein, in schärfster Form, das heftige Bestreiten), die dem Kind
den Weg weisen, was erwünscht und unerwünscht ist
-
Wertendes Ausdrucksverhalten (Kopfschütteln, nicken, grimassieren,
Augenbrauen hoch-ziehen, Augen verdrehen, entwertende Gesten wie z.B. wegwerfende
Handbewegung usw.)
-
Unkontrollierte Reaktionen (Hm, aha, soso, na so was, lachen, grimmig schauen,
...)
-
Einseitiges - nicht zu allen in Frage kommenden Hypothesen - vernehmen
(explorieren)
-
Wichtige Sachverhalte nicht gründlich genug erforschen.
-
Fremde Einflüsse nicht genügend erforschen und erheben
-
Unzureichende Dokumentation (an besten sachverständige Videovernehmung)
-
Gebrauch einer für die ZeugIn fremden oder gar unverständlichen
Sprache (Fremdworte, mißverständliche oder nicht zeugengemäße
Worte u. Beschreibungen).
Ergänzung: Anwendung der Reid-Methode
[KrimLEX;
bei Ulvi Kulac im Fall Peggy
angewendet]
Luegendetektion
"Forscher entwickeln Lügendetektor mit 70 Prozent Trefferquote.
Forscher haben einen neuen Lügen-Detektor entwickelt, der eine Erfolgsquote
von 70-80 Prozent erreicht. Damit übertrifft der Ganz-Körper-Detektor
die bisherigen Polygraphen, die lediglich in 55 Prozent der Fälle
richtig deuten, ob eine Person die Wahrheit sagt. Die neue Treffsicherheit
soll das Gerät auch im bisher skeptischen Europa etablieren. " ..."
[DWN
6.1.15]
Literatur
Beachten Sie bitte auch die Literatur in den Querverweisen.
_
Allgemeine
Methodologie und Wissenschaftstheorie
-
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Berlin: Duncker & Humblot.
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Kamlah, W., Lorenzen, P. (1967). Logische Propädeutik. Vorschule des
vernünftigen Redens. Mannheim: Bibliographisches Institut.
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Allgemeine
Kriminologie, Kriminalistik und Forensische Psychologie
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Dechene, H. C. (1975). Verwahrlosung und Delinquenz. Profil einer Kriminalpsychologie.
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Douglas, J. E.; Burgess, A. W.; Burgess, A. G. & Ressler, R. K. (1992,
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Füllgrabe, U. (1997). Kriminalpsychologie. Täter und Opfer im
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Hartmann, K. (1970). Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung.
Berlin: Springer.
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Kube, Edwin / Störzer, Hans Udo / Brugger, Siegfried (1983) Wissenschaftliche
Kriminalistik. BKA-Forschungsreihe Band 16-1
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Mittermaier, C.J.A. (1834). Die Lehre
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Quensel, S. (1964). Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie. Stuttgart:
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Schneider, H.-J. (1983, Hg.). Kriminalität und abweichendes Verhalten.
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Wegener, H. (1981). Einführung in die forensische Psychologie. Damrstadt:
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Witter, H. (1970). Grundriß der gerichtlichen Psychologie und Psychiatrie.
Berlin: Springer.
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Aussagepsychologie
und Glaubwuerdigkeit
> Literaturliste
Suggestion und Suggestibilität.
Juristische Perspektive - Kriminologie
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Stern, William (1904) Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt.
Experimentelle Schüleruntersuchungen. Erster Teil Beiträge
zur Psychologie der Aussage 1904, Heft 3, 1-148. Einen zweiten Teil habe
ich bislang (29.07.2017) nicht gefunden.
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Stern, William (1904 Das Aussageproblem auf dem Kongreß für
Experimentelle Psychologie in Gießen (17.-21. April 1904). Beiträge
zur Psychologie der Aussage, Folge I (3), 121.
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Stern, William (1904 Bericht über einen experimentellen Kurs zur Psychologie
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Stern, William (1904) Leitsätze über die Bedeutung der Aussagepsychologie
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55, 447-450, 457-458.
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Stern, William & Stern, Clara (1909) Erinnerung, Aussage und Lüge
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Stern, William (1905 Forderungen für das gerichtliche Verfahren, auf
Grund von Ergebnissen der Aussagepsychologie. Die Umschau 9 (25), 487-490.
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Stern, William (1905) Der Gefühlsablauf bei Bildbetrachtungen. Beiträge
zur Psychologie der Aussage, Folge II (3), 159-160.
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Stern, William (1905) Leitsätze über die Bedeutung der Aussagepsychologie
für das gerichtliche Verfahren. Beiträge zur Psychologie der
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Gerichtszeitung 55, 447-450,
457-458) (zugleich 1905 erschienen in: Zeitschrift für die gesamte
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Stern, William (1905) "Psychologische Tatbestandsdiagnostik". Beiträge
zur Psychologie der Aussage, Folge II (2), 145-147.
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Stern, William (1905) Selbstverrat durch Assoziation. Beiträge zur
Psychologie der Aussage, Folge II (3), 150-155.
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Stern, William & Kramer, F. (1905) Selbstverrat durch Assoziation.
Experimentelle Untersuchungen. Beiträge zur Psychologie der Aussage,
Folge II (4), 1-32.
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Stern, William (1906) Bemerkungen zu: GOTTSCHALK, A. "Zur Zeugenpsychologie".
Beiträge zur Psychologie der Aussage, Folge II (4), 104-110.
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Stern, William (1906) Kleine Bibliographie zum Aussageproblem. Beiträge
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Weinheim: Beltz.
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Delfs, Hans (2020) Sexueller Missbrauch: Falsche Erinnerungen durch Psychotherapie.
Skeptiker 3/2020, 112-120
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Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 71(1), 47-60
{Essential: differenzierte Berichterstattung über Schäden}
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Sexueller
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Glöeer, N. (1992). Sexueller Mißbrauch von Jungen. In: Walter,
J. (21992, Hg.), S. 55-67
__
Videos
Das getaeuschte Gedaechtnis
mit
geänderten Infotext und Bezugsrahmen, [Wiederholung vom 22.09.16]
Film von Klaus Neumann und Hendrik Löbbert
"Nicht alles, woran wir uns erinnern, ist wahr. Manche Erinnerungen
gaukeln uns Ereignisse vor, die anders oder gar nicht stattgefunden haben.
Und das kann gerade vor Gericht fatale Folgen haben.
Falsche Erinnerungen lassen Augenzeugen Verdächtige
identifizieren, die sie nie getroffen haben. Sie schaffen Opfer sexueller
Gewalt, wo es gar kein Verbrechen gab. Die Dokumentation ergründet,
unter welchen Bedingungen falsche Erinnerungen entstehen.
Am Beispiel realer Fälle zeigt der Film, wie
folgenschwer diese Scheinerinnerungen vor Gericht sein können - für
Angeklagte und Kläger.
Unser Rechtsystem kennt nur eine Wahrheit. Nur eine
Version der Realität bleibt nach dem Richterspruch bestehen. Welche
Version das ist, wird oft durch Erinnerungen bestimmt. Dabei stößt
das Gedächtnis auf eine ganze Reihe von Hindernissen, die einzelne
Erinnerungen verändern oder komplett neu entstehen lassen können.
Die Zeit, die zwischen Verbrechen und Verhandlung verstreicht, der Druck
der Ermittler auf einen Zeugen oder die Kraft des kollektiven Gedächtnisses
einer ganzen Gesellschaft - das alles entfaltet seine jeweils eigene Wirkung.
Diesen Einflüssen kann jeder ausgesetzt sein - auch jenseits des Gerichtssaals.
Wie aber können unsere Gerichte falsche Erinnerungen erkennen? Und
wie lässt sich die Entstehung von Scheinerinnerungen am besten vermeiden?
Der Zuschauer erfährt in mehreren Experimenten auch am eigenen Leib,
wie leicht falsche Erinnerungen entstehen können.
Zu Wort kommen führende Gedächtnisforscher,
Neurologen und Rechtspsychologen wie Elizabeth Loftus, Max Steller und
Julia Shaw. Elizabeth Loftus ist eine der bedeutendsten Psychologinnen
des 20. Jahrhunderts. Sie hat die Forschung zum menschlichen Gedächtnis
geprägt und war in über 250 Gerichtsverfahren Gutachterin zur
Glaubwürdigkeit von Zeugenerinnerungen. Max Steller gilt als einer
der einflussreichsten Rechtspsychologen Deutschlands. Vor allem sein Gutachten
bei den Wormser Prozessen in den 1990er Jahren sorgte für großen
Wirbel. Julia Shaw gilt als der Shootingstar der Erinnerungsforschung.
Sie hat es geschafft, Probanden die Erinnerung an Straftaten einzupflanzen,
die sie nie begangen haben.
Redaktionshinweis: In 3sat steht der Donnerstagabend
im Zeichen der Wissenschaft: Um jeweils 20.15 Uhr beleuchtet eine Dokumentation
relevante Fragen aus Natur- und Geisteswissenschaften, Kultur und Technik.
Im Anschluss, um 21.00 Uhr, diskutiert Gert Scobel über ein verwandtes
Thema."
Das
getaeuschte Gedaechtnis am Donnerstag, 22. September 2016 ab 20.15
Uhr in 3sat und in der Mediathek.
"Das getäuschte Gedächtnis
Falsche Erinnerungen vor Gericht
Erinnerungen können trügen. Psychologen
und Kriminologen wissen: Auf Augenzeugen ist wenig Verlass, auch wenn die
in bester Absicht handeln. Doch wovon viele Psychologen und Kriminologen
längst überzeugt sind, ist im Justizsystem, bei der Polizei und
im Alltag noch neu. Zeugenaussagen anzuzweifeln ist unbeliebt, einige Experten
werden als "Täterschützer" kritisiert. Die Befragungstechniken
von Ermittlern und die Arbeit von Therapeuten auf die neuen Erkenntnisse
einzustellen, ist ein langwieriger Prozess. Doch das Zweifeln am Gedächtnis
kann für Justiz und Gesellschaft einen positiven Effekt haben, ist
Psychologin Elizabeth Loftus überzeugt: weniger Uschuldige aufgrund
falscher Erinnerungen zu verurteilen.
Falsche Erinnerungen, vielleicht der falsche
Täter
"Die Erinnerung hinterlässt keinen Abdruck
im Gehirn, den man jederzeit wieder abrufen kann - tatsächlich ist
das Gedächtnis formbar", sagt Loftus. Vielleicht wurde nach dem Lockerbie-Attentat
ein Unschuldiger hinter Gitter gebracht: 1988 explodiert auf einem Flug
von London nach New York, direkt über der schottischen Kleinstadt
Lockerbie, eine Bombe. Alle 259 Insassen kommen ums Leben, 11 weitere Menschen
am Boden sterben. Für das Attentat wird Jahre später ein libyscher
Geheimdienstoffizier verurteilt. Die Anklage basierte primär auf den
Angaben eines Augenzeugen, der über Jahre hinweg von der Polizei befragt
wurde und Fotos von Verdächtigen sah. Schließlich identifizierte
er den später Verurteilten.
Doch Psychologen und Kriminologen
erklären, dass der Augenzeuge den Verdächtigen bei einer Gegenüberstellung
womöglich nur anhand der zuvor gesehenen Fotos wiedererkannte - und
diese mit den ursprünglichen Erinnerungen verknüpfte. Falsche
Zeugenaussagen haben der Organisation "Innocence Project" zufolge zu 242
der 343 Fehlurteile in den USA beigetragen, die bislang durch DNA-Tests
aufgehoben wurden.
Falsche Erinnerungen machen zum Opfer oder
zum Täter
Durch wohlgemeinte Beratungen und Therapien sind
seit den 1990er Jahren bei Menschen, die subjektiv überzeugt sind,
Opfer von Kindesmisshandlungen zu sein, falsche Erinnerungen entstanden.
Diese können einer Person suggeriert werden, denn das Gehirn füllt
Lücken, die im Gedächtnis existieren, mit plausibel erscheinenden
Erinnerungsstücken.Falsche Erinnerungen können nicht nur die
Taten anderer betreffen, wie die Kriminologin Julia Shaw zeigt. In einer
Studie konnte sie in mehreren Befragungen Testpersonen Kindheits- oder
Jugenderinnerungen an Straftaten einreden. Bei 70 Prozent der Personen
war sie erfolgreich."
Glossar,
Anmerkungen und Endnoten:
1) GIPT=
General
and Integrative
Psychotherapy, internationale Bezeichnung
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
__
Eigener wissenschaftlicher
Standort:
. |
einheitswissenschaftliche
Sicht. Ich vertrete neben den Ideen des Operationalismus, der Logischen
Propädeutik und einem gemäßigten
Konstruktivismus
auch die ursprüngliche einheitswissenschaftliche Idee des Wiener
Kreises, auch wenn sein Projekt als vorläufig gescheitert angesehen
wird und ich mich selbst nicht als 'Jünger' betrachte. Ich meine dennoch
und diesbezüglich im Ein- klang mit dem Wiener
Kreis, daß es letztlich und im Grunde nur eine
Wissenschaftlichkeit gibt, gleichgültig, welcher spezifischen
Fachwissenschaft man angehört. Wissenschaftliches Arbeiten folgt einer
einheitlichen und für alle Wissenschaften typischen Struktur, angelehnt
an die allgemeine
formale Beweisstruktur.
Schulte, Joachim &
McGuinness, Brian (1992, Hrsg.). Einheitswissenschaft - Das positive Paradigma
des Logischen Empirismus. Frankfurt aM: Suhrkamp.
Geier, Manfred (1992).
Der Wiener Kreis. Reinbek: Rowohlt (romono).
Kamlah, W. & Lorenzen, P. (1967).
Logische Propädeutik. Mannheim: BI. |
|
_
Wissenschaft
[IL] schafft Wissen
und dieses hat sie zu beweisen, damit es ein wissenschaftliches Wissen
ist, wozu ich aber auch den Alltag und alle Lebensvorgänge rechne.
Wissenschaft in diesem Sinne ist nichts Abgehobenes, Fernes, Unverständliches.
Wirkliches Wissen sollte einem Laien vermittelbar sein (PUK - "Putzfrauenkriterium").
Siehe
hierzu bitte das Hilbertsche
gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein
zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft
sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann
verständlichen Sprache wiedergegeben." |
Allgemeine
wissenschaftliche
Beweisstruktur
und beweisartige Begründungsregel
Sie ist einfach - wenn auch nicht einfach durchzuführen - und
lautet: Wähle einen Anfang und begründe Schritt für Schritt,
wie man vom Anfang (Ende) zur nächsten Stelle bis zum Ende (Anfang)
gelangt. Ein Beweis
oder eine beweisartige Begründung ist eine Folge von Schritten: A0
=> A1 => A2 => .... => Ai .... =>
An, Zwischen Vorgänger und Nachfolger darf es keine Lücken
geben. Es kommt nicht auf die Formalisierung an, sie ist nur eine Erleichterung
für die Prüfung. Entscheidend ist, dass jeder Schritt prüfbarnachvollzogen
werden kann und dass es keine Lücken gibt. |
__
LK. Laien-Kriterium. Wünschenswert
ist weiterhin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Laien erklärbar
sein sollten. Psychologisch steckt dahinter: wer einem Laien etwas erklären
kann, sollte es wohl selbst verstanden haben. Siehe
hierzu bitte auch das Hilbertsche
gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein
zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft
sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann
verständlichen Sprache wiedergegeben."
__
non liquet
"es ist nicht klar", nicht entscheidbar. Ein vielgehasster Sachverhalt
im Recht, von Sachverständigen - unter dem Druck der Erwartungen von
den Justizbehörden - vielfach nicht richtig erkannt oder missachtet.
Mehr z.B.:
http://www.rechtslexikon.net/d/non-liquet/non-liquet.htm.
__
Praxis-Info:
Aussagepsychologische Vernehmungs-
und Gutachtenanalysen. FAQ.
Querverweise
Standort: Aussagepsychologie.
*
*
Information zu Dienstleistungen.
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS). Aussagepsychologie.Erlangen
IP-GIPT: https://www.sgipt.org/forpsy/aussage0.htm
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Veränderungen:
23.07.24 Neu:
Indiz, Zeugenbeweis; BGH (1999). Ergänzung Aktuell: "Es
fehlt allerdings immer noch eine klare Theorie und Ausarbeitung des Kernanliegens,
wie man realerlebnisbegründete Aussagen beweisen kann. Das ist zwar
schwierig und berührt auch das grundlegende Beweisthema im Recht,
aber notwendig."
21.07.24 Geschichte:
Arntzen eingefügt. Aktuell ergänzt.
20.07.24 Geschichte
der Aussagepsychologie * Lit. Leonhardt neu nach Thomae (4 mehr und Bandinformationen)
erfasst.
05.11.20 LitErg
(Delfs)
22.11.17 Darstellung
von Aussagen zur Aussageanalyse.
20.11.17 Strukturvergleiche
neue und differenziert erfasst nach Quelle.
24.08.17 Aussgagepsychologie
und Phantasie. Erste Hypothesen. [externer Link]
02.08.17 Die
großen Hypothesen der Aussagepsychologie.
29.07.17 Das
Grundproblem wie William Stern es schon 1903 formuliert hat.
31.03.17 Video:
Das
getäuschte Gedächtsnis. Lit-Nachträge: Shaw: das
trügerische Gedächtnis * Sachsse: Trauma und Justiz. * Steller
Wahrheit.
27.09.16 Hinweis
3sat Video Das getäuschte Gedächtnis.
19.03.15 Lit
Erg.
04.02.15 Linkfehler geprüft und
entfernt. (u.a. Kroeb statt Kröb)
10.01.15 Neue Rubrik: Lügendetektion.
28,08.14 Ergänzung Fachliche
Ausführungen zur Hypothesenprüfung.
27.08.14 Aussage-,
Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Kommunikationspsychologie:, Gründe
für falsche Erinnerungen u.a.
25.08.14 Hypothesenprüfung.
* BGH-Leitlinien zur Methodik.
15.04.14 Hinweis zur Vernehmung
von geistige Behinderten.
14.04.14 Hinweis
und
Link zu § 136a StPO (verbotene Vernehmungsmethoden).
12.11.13 Ergänzungen:
11.11.13 LitErg.
10.04.12 LitErg.
17.03.12 LitErg.
26.10.09 Kleine
Berichtigungen bzw. Änderung.
26.06.05 Die
8 Hauptsünden in Die
12 Verbote ... erweitert.
11.08.03 Aufnahme
der Arbeiten Landgerichtsdirektor Leonhardts und Lipmanns ins Literaturverzeichnis
09.08.03 Leonhardt
Zitat belegt * Mittermaier Einschub und Literaturlink bei Leonhardt *
03.08.03 Acht
‘Hauptsünden’ in der Vernehmung (Exploration) von kindlichen Zeugen
eingebaut