Einsicht und Einsichtsfähigkeit
in Recht, Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie
Originalarbeit von Rudolf Sponsel,
Erlangen
_
StGB §
20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung
der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden
Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen
oder nach dieser Einsicht zu handeln.
§ 21 Verminderte
Schuldfähigkeit
Ist die Fähigkeit des Täters,
das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus
einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich
vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
(3) Was Juristen begrifflich meinen, wenn sie ein Wort aus der Alltags-
oder Bildungssprache als Rechtsbegriff verwenden, weiß in aller Regel
die einfache BürgerIn, oft auch der Gebildete und manchmal sogar der
Sachverständige nicht. Das rührt in erster Linie daher, dass
viele Worte aus dem Recht genau so klingen, lauten oder geschrieben werden
wie die Alltags- oder Bildungsbegriffe. Das tiefere wissenschaftliche Problem
des naiven Universaliengebrauchs
in den Rechtswissenschaften ist damit noch gar nicht angesprochen.
(4) Im Münchener Kommentar (Streng) heißt es zum §
20 StGB, Rn. 66: "Die für Schuldfähigkeit weiter geforderte
Fähigkeit, einer vorhandenen Unrechtseinsicht gemäß zu
handeln, wird auch als Steuerungsfähigkeit oder Hemmungsvermögen
umschrieben. Ob sie bei der Begehung der Tat besteht, nicht besteht (§
20 StGB) oder erheblich vermindert war (§ 21 StGB), ist eine Rechtsfrage
(BGH NStZ-RR 2010, 202; Kröber in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass
Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd 2, 158), die das Gericht zu beantworten
hat, nicht ein Sachverständiger."
Schauen wir genauer bei Kröber
et al. (2010, S. 58) nach, so wird dort ausgeführt: "Gerade deshalb
ist der zweite Schritt der fallbezogenen konkreten Umsetzung des erhobenen
Befundes auf die Beurteilung der jeweils fraglichen „Fähigkeit“ eine
eigenständige und ebenso wichtige Aufgabe des Gutachters wie die Befunderhebung
und Diagnosestellung. Dazu muss der Sachverständige ein korrektes
Verständnis der juristischen Bedeutung der jeweils nachgefragten „Fähigkeit“
erworben haben; dies geschieht in der Ausbildung, durch Studium der Lehr-
und Handbücher oder auch durch Nachfrage beim Auftraggeber. Diese
„Fähigkeit“ (z. B. Schuldfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit)
ist im Gesetz in aller Regel nicht positiv definiert, sondern als gegeben
unterstellt im für alle Erwachsenen anzunehmenden Normalfall. Dass
von einer „Fähigkeit“ im konkreten Fall kein Gebrauch gemacht wurde,
beweist nicht bereits deren Fehlen. Die Einschränkung oder Aufhebung
der jeweiligen Fähigkeit ist zumeist durch einen knappen Gesetzestext
definiert und in höchstrichterlichen Urteilen, die sich in der Kommentarliteratur
finden, ausführlicher erläutert. Gerade weil der Sachverständige
gleichsam als Dolmetscher zwischen der Sprache der Erfahrungswissenschaften
wie Medizin und Psychologie einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits
vermitteln soll, obliegt es ihm, sich darüber klar zu werden, wie
die in seinem Bereich wichtigen Rechtsbegriffe gemeint sind und angewendet
werden. (Nicht minder wünschenswert ist es, dass auch die Strafrichter
sich in dieser Mittlerrolle zwischen Erfahrungswissen(schaft) und Strafrecht
sehen und sich entsprechend hinsichtlich psychiatrischer und psychologischer
Begrifflichkeit eine angemessene Kennerschaft erwerben.) Gestützt
auf eine gezielte Exploration und die Anwendung klinischen Wissens über
typische Beeinträchtigungen beim jeweiligen Störungsbild sind
also im zweiten Schritt Art und Ausmaß der Beeinträchtigungen
im Hinblick auf die fragliche „Fähigkeit“ im Gutachten plastisch darzulegen."
(5) Der entscheidende Satz ist: "Dazu muss der Sachverständige ein korrektes Verständnis der juristischen Bedeutung der jeweils nachgefragten „Fähigkeit“ erworben haben; dies geschieht in der Ausbildung, durch Studium der Lehr- und Handbücher oder auch durch Nachfrage beim Auftraggeber." Genau das leisten Gesetzgeber, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung eben nicht. Und deshalb ist so vieles auf Sumpf und Nebel in der forensischen Begutachtung gebaut, weil Gesetzgeber, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung meist nur sumpfige und nebulöse vielfältig homonyme Worte und damit ebenso vielfältig homonym gemeinte Begriffe anbieten. Viele juristische Begriffe sind nebulöse Universalien und bei auch nur halbwegs genauer Betrachtung weitgehend unklar, wodurch eine operational-praktische Erfassung meist weitgehend ausgeschlossen ist. |
(6) Die Beweisfrage, die Staatsanwaltschaften oder Gerichte stellen, lautet im Regelfall, nach der Schuldfähigkeit, Deliktfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Einwilligungsfähigkeit. Das aber sind alles juristische Begriffe, also Rechtsbegriffe. Woher weiß der forensische Sachverständige nun, was der Auftraggeber psychologisch, psychopathologisch oder psychiatrisch feststellen lassen will? Der Sachverständige muss deuten und interpretieren, was gemeint sein könnte. Das erscheint hochgradig unsicher und macht den Sachverständigenbeweis im Bereich Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie zu einer - eigentlich unerträglichen - Lotterie.
(6) Zum
weiteren Verständnis aus Streng, F., Münchener Kommentar
zum Strafgesetzbuch, § 20
Rn11: "Das biologisch-psychologische Stockwerk,
also die medizinisch-psychiatrisch erfassbare Ursache der Störung,
die nach § 20 StGB die Schuldfähigkeit
aufheben kann, umschreibt das Gesetz mit vier verschiedenen, unsystematisch
aufgezählten (NK/Schild StGB § 20 Rn 59 ff) und als Rechtsbegriffe
im Sinne juristischer Krankheitsbegriffe (MünchKommStGB/Streng StGB
§ 20 Rn 13, 18), nicht als Begriffe der forensischen Psychiatrie aufzufassenden
(Kröber in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass Handbuch der forensischen
Psychiatrie Bd 2, 162). ... Immer ist zu prüfen, ob sich eine Störung
bei der Begehung der Tat ausgewirkt hat."
Rn63: "Ist im „biologischen Stockwerk“ ein Befund
festgestellt worden, der einem der vier Eingangsmerkmale zugeordnet werden
kann, dann muss weiter geprüft werden, ob der Täter deswegen
bei der Begehung der Tat unfähig war, das Unrecht der Tat einzusehen
oder nach dieser Einsicht zu handeln. Die jeweilige Fähigkeit ist
ein Rechtsbegriff, kein Begriff der forensischen Psychiatrie (Kröber
in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass Handbuch der forensischen Psychiatrie
Bd 2, 158)."
Rn65: "Eine verminderte Einsichtsfähigkeit
ist erst dann von Belang, wenn sie im konkreten Fall das Fehlen der Einsicht
zur Folge hat (§ 21 StGB Rn 2).
Die Schuld des Angeklagten wird dagegen nicht gemindert oder aufgehoben,
wenn er ungeachtet einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit
das Unrecht seines Handelns zum Tatzeitpunkt tatsächlich eingesehen
hat. Erkannte er hingegen infolge des biologischen Defekts das Unrecht
nicht, dann kann § 20 StGB wiederum allenfalls ausgeschlossen werden,
wenn dem Täter das Fehlen der Unrechtseinsicht vorzuwerfen ist, etwa
weil er sich in Kenntnis der Risiken berauscht oder in einen Affekt hineingesteigert
hatte. Kann ein solcher Vorwurf nicht erhoben werden, dann greift §
20 StGB ein. Die fehlende Fähigkeit des Täters, das Unrecht seines
Handelns zu erkennen, lässt die Steuerungsfähigkeit generell
entfallen. Wenn also Unrechtseinsichtsfähigkeit gefehlt hat, stellt
sich die Frage der Steuerungsfähigkeit nicht mehr (BGH NStZ-RR 2006,
167 f; Fischer StGB § 20 Rn 44b). Die Einsicht in die Erfüllung
eines Straftatbestands schließt es auch nicht aus, dass etwa bei
der wahnhaften Annahme des Vorliegens einer Notwehr- oder Notstandslage
dennoch die Unrechtseinsicht fehlt. Nimmt der unter paranoider Schizophrenie
leidende Täter an, er werde von imaginären Verfolgern bedroht
und begeht er deshalb vorgetäuschte Banküberfälle, um ins
Gefängnis zu kommen, wo er sich vor den vermeintlichen Verfolgern
alleine sicher fühlen könne, dann kann bei der Begehung der „Überfälle“
die Einsicht in das Unrecht gefehlt haben (BGH NStZ 2011, 336, 337)."
§ 21, StGB, Rn. 2: "Unrechtseinsicht
bei der Begehung der konkreten Tat (BGH NStZ 2009, 258, 259) ist vorhanden
oder nicht vorhanden. Eine reduzierte Einsichtsfähigkeit ist für
sich genommen ohne Belang (BGH NStZ-RR 2007, 73; Lackner/Kühl StGB
§ 21 Rn 1; Reineke, 99; Satzger/Schmitt/Widmaier/Schöch StGB
§ 21 Rn 6). Sie ist erst dann von Bedeutung, wenn sie das Fehlen der
Einsicht zur Folge hat (BGH NStZ 2011, 336, 337; Beschl v 24.2.2011 – Az
2 StR 461/10; Beschl v 1.3.2011 – Az 3 StR 22/11; Beschl v 10.8.2011 –
Az 2 StR 203/11); dann ist die Schuld vorbehaltlich einer abweichenden
rechtlichen Bewertung (Rn 4) jedoch aufgehoben und nicht nur vermindert.
Insoweit ist § 21 StGB unglücklich gefasst."
Rn67: Das völlige Fehlen der Steuerungsfähigkeit
im Sinne von § 20 StGB ist ausnahmsweise nur dann anzunehmen, wenn
der Täter im Vergleich mit einem Durchschnittsmenschen bei der Begehung
der Tat auch bei Anspannung aller Willenskräfte endgültig nicht
mehr in der Lage war, der - vorhandenen - Unrechtseinsicht zu folgen (Schöch
in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass Handbuch der Forensischen Psychiatrie
Bd 1, 133 f). Diese innere Tatsache fehlender Willensfreiheit ist praktisch
kaum jemals direkt feststellbar. Sie wird regelmäßig aus Indizien
geschlossen (BGH NJW 2004, 1810 ff) und enthält naturgemäß
auch normative Kriterien (MünchKommStGB/Streng StGB § 20 Rn 60),
weil das Fehlen der individuellen Motivierbarkeit durch Normen in der Tatsituation
unter dem Einfluss des Eingangsmerkmals streng genommen gar nicht nachprüfbar
ist.
Rn67.1: "Zu den wichtigsten Bereichen für
die Beweiswürdigung anhand von Indizien gehören (MünchKommStGB/Streng
StGB § 20 Rn 67):
Ein Beispiel für eindeutige Klarheit liefert Rn68: "Nach §
20 StGB muss die Schuldfähigkeit bei der Begehung der Tat vorliegen;
es kommt also auf den Zeitpunkt der Handlung, nicht denjenigen des Erfolgseintritts
an (NK/Schild StGB § 20 Rn 104 ff; Schöch in Kröber/Dölling/Leygraf/Sass
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd 1, 148)."
Was Gesetzgeber
oder Rechtsprechung unter Einsichtsfähigkeit verstehen bleibt offen
(7) Das ist eine der Eigenarten des juristischen
Denkens, dass die Begriffe, die material-inhaltlichen Körper der
Worte, also der "Kleider" der Begriffe, unbestimmt bleiben und damit erheblicher
willkürlicher und zufälliger Auslegung anheimfallen. Ein Heer
von Sachverständigen, Wissenschaftlern, Gerichten und Verfahrensbeteiligten
ist nur damit beschäftigt, zu ergründen, was Gesetz und Recht
denn jeweils mit ihren Worten begrifflich meinen könnten. Das kostet
eine Unmenge an Geld, Zeit und Rechtssicherheit.
8.1.
Terminologische Kennzeichnungs-Grundregel: Indizierung von Bereichen
oder Kontexten.
Bei allen problematischen, zu untersuchenden oder zu erörternden
Begriffen wird durch einen Index deutlich gemacht, welchem Bedeutungskontext
er angehört, um Missverständnisse, Unklarheiten oder Verständnisprobleme
zu minimieren. Beispiele:
Einsichtsfähigkeitj§20, Einsichtsfähigkeitj§21,
Einsichtsfähigkeita (alltagssprachlich), Einsichtsfähigkeitb(bildungssprachlich),
Einsichtsfähigkeitfpsy (forensisch-psychologisch), Einsichtsfähigkeitpsychiat
(psychiatrisch),
(Einsichtsfähigkeitpfl (Pflegebereich), Einsichtsfähigkeitstat
(statistisch),
...
8.2.
Terminologische Kennzeichnungs-Grundregel: Indizierung außerhalb
liegender Bereiche oder Kontexte.
Soll ausdrücklich nicht über einen bestimmen Bedeutungskontext
gesprochen werden, ohne sich genau festlegen zu wollen, wird dies durch
den Index " >Kontextkürzel<" kenntlich gemacht.
Die Kennzeichnung ">j§20<" in Einsichtsfähigkeit>j§20<"
besagt also ausdrücklich, dass man nicht über die Einsichtsfähigkeit
als Rechtsbegriff kommunizieren möchte..
8.3.
Terminologische Kennzeichnungs-Grundregel: Gemeinsamkeiten, Vereinigungen,
Unterschiede.
Soll über die gemeinsamen Merkmale mehrerer Bedeutungskontexte
gesprochen werden, so kann dies durch entsprechende Aneinanderreihung der
jeweiligen bedeutungskontextuellen Indizes zum Ausdruck gebracht werden.
"Einsichtsfähigkeit>a,b,psy<", bedeutet also, dass über
die Merkmale aus Alltag, Bildungsbereich und Psychologie geredet werden
soll. So gehört z.B. das "Aha-Erlebnis" nicht zu "Einsichtsfähigkeita,b",
weil im Alltag oder in der Bildungssprache das Erlebnis von Einsicht keine
nennenswerte Rolle spielt, sondern mehr die kognitive Komponenten von Wissen
und Verstehen. Über solche Interpretationen kann man natürlich
geteilter Meinung sein, aber man kann sich bedeutungsfördernd auseinandersetzen
(>Aristoteles),
wenn man klar und deutlich zum Ausdruck bringt, worüber man Aussagen
machen möchte.
3a) Sprechen über das Gemeinsame, den "Durchschnitt" der Merkmale
in den Bereichen
3b) Sprechen über das Gemeinsame, die "Vereinigung" der Merkmale
in den Bereichen
3c) Sprechen über die Unterschiede in den Bereichen (paarweise
vergleichen).
8.4. Lösung
des Sprachproblemes durch Korrespondenz-, Zuweisungs- und Übersetzungsregeln
Das sprachliche Grundproblem ist einfach erklärt: Worte und die
mit ihnen gemeinten Begriffe haben vielfältige Bedeutungen, z.B. eine
alltags- und bildungssprachliche, eine fachwissenschaftliche, fachsprachliche,
kontextspezifische und eine juristische. Den Worten sieht man es aber nicht
an, für welchen Begriff und welche Bedeutung sie gerade stehen. Nun,
dieses Grundproblem kann technisch einfach gelöst werden, indem man
den Worten einen Bedeutungsindex gibt, z.B. einen alltags- (Index a) oder
bildungssprachlichen (Index b), einen fachwissenschaftlichen (Index xw,
mit x für die jeweilige Fachwissenschaft, u.U. sogar spezifiziert
nach Fachrichtungen, z.B. x=psy:= Psychologie, fpsy:=forensische Psychologie,
dpsy:= Denkpsychologie), fs:= fachsprachliche, ks:= kontextspezifische
und eine juristische Bedeutung (Index j).
|
Alltags- oder Bildungssprache M1.j§20 M1.a,b
M1.fpsy
Rudolf Sponsel IP-GIPT 2012
|
|
Sei M1 die Ausprägung des Merkmals Einsichtsfähigkeit, so gilt für Einsichtsfähigkeitj§20 Kategorialität oder Nominalskalenniveau mit den drei Ausprägungen Ja (vorhanden), Nein (nicht vorhanden), Nicht feststellbar. Das heißt, die juristische Konstruktion der Einsichtsfähigkeitj§20 negiert die juristische Relevanz einer mehr oder weniger gegebenen Einsichtsfähigkeit?, Einsichtsfähigkeita, Einsichtsfähigkeitb, Einsichtsfähigkeitfpsy, Einsichtsfähigkeitpsychiat, Einsichtsfähigkeitpfl, Einsichtsfähigkeitstat. u.a., also einer ordinalen oder unscharfen metrischen Ausprägung.
Außerhalb des juristischen Denkens (indiziert ">j§20<") wird Einsichtsfähigkeit>j§20< abgestuft, als ein mehr oder weniger konzipiert (Unscharfe Metrikskala). Damit gibt es ein bislang nicht gelöstes Problem, nämlich, mathematisch ausgedrückt, unter welchen Bedingungen und wie kann die Einsichtsfähigkeit>j§20< oder die Einsichtsfähigkeitfpsy auf die Einsichtsfähigkeitj§20 abgebildet werden, und zwar begründet und nachvollziehbar?
8.5.1 Exkurs:
Einsichtsdogma. Bei genauer Betrachtung ist die juristische Konstruktion
der verminderten Einsichtsfähigkeitj§21, wie sie der
BGH in seinem Beschluss vom 4.9.1987, NStZ 1988, S. 24f) ausführt,
hier zitiert nach Schüler-Springorum,
S. 930, in sich widersprüchlich und widersinnig: "Verminderte Einsichtsfähigkeit
allein genügt nicht zur Anwendung des § 21 StGB. Es kommt darauf
an, ob der Täter trotz verminderter Einsichtsfähigkeit das Unrecht
seines Tuns erkannt hat oder nicht. ... Denn die Schuld desjenigen, der
ungeachtet seiner geistigen Verfassung das Unrecht tatsächlich eingesehen
hat, wird nicht gemindert."
Es ist begriffslogisch nicht möglich, verminderte
Unrechtseinsicht und zugleich (volle) Unrechtseinsicht zu
haben Man kann auf ein und derselben Skala, nämlich der Unrechtseinsicht,
nicht gleichzeitig zwei unterschiedliche und womöglich auch noch weit
auseinanderliegende Werte haben. Der BGH muss also, um dem Vorwurf des
Widersinns zu entgehen, unterschiedliche Einsichtsbegriffe gemeint haben.
Dann soll er es aber auch klar sagen und nicht erneute Verwirrung und Rechtsunsicherheit
stiften.
Sei M2 der Bewusstseinsinhalt der Unrechtsfrage, so kann ein solcher Bewusstseinsinhalt ganz unterschiedliche inhaltliche Variationen annehmen: M2.1 Ich bin dabei, Unrecht zu tun. M2.2 Ich habe ein dumpfes Gefühl von nicht richtig handeln. M2.3 Ich weiß nicht, wie alt sie ist, also weiß ich auch nicht, ob der Staatsanwalt seinen Daumen drauf hat. M2.4 Ungedacht liegt die Überzeugung im Nichtbewussten, nicht gegen Recht zu verstoßen. Rechtsbewusstsein zeigt sich hier in der Abwesenheit von Unrechtsbewusstsein. M2.5 Hier liegt kein aktuelles, momentanes Unrechtsbewusstsein vor, aber die Hypothese, dass der Täter bei richtiger Prüfung hätte erkennen können, dass er Unrecht begeht. M2.6 Hier wird es noch komplizierter, wenn angenommen wird, dass der Täter bei entsprechend vorausschauendem Denken hätte erkennen können, dass es zu einer solchen Tat kommt (Varianten der sog. actio libera in causa).
8.5.2 Im nächsten Abschnitt
werden aus psychologischer Sicht 7 Merkmalsbereiche zum Einsichtsbegriff
unterschieden und vorgeschlagen, so dass man hier fragen könnte, welche
Beziehungen zur juristischen Bedeutung bzw. Wertung besteht oder gelten
soll:
M3.1psy := Kognition-1psy |
|
M3.1j§20 := Kognition-1j§20
|
M3.2psy := Erlebenpsy |
|
M3.2j§20 := Erlebenj§20
|
M3.3psy := Kognition-2psy |
|
M3.3j§20 := Kognition-2j§20
|
M3.4psy := Affektpsy |
|
M3.4j§20 := Affektj§20
|
M3.5psy := Empathiepsy |
|
M3.5j§20 := Empathiej§20
|
M3.6psy := Akzeptanzpsy |
|
M3.6j§20 := Akzeptanzj§20
|
M3.7psy := Verhaltens- oder Handlungswirksamkeitpsy |
|
M3.7j§20 := Verhaltens- oder Handlungswirksamkeitj§20
|
Die erste methodologisch-terminologische Aufgabe besteht nun darin,
die Merkmalsbereiche in einzelne "atomare Merkmale" zu differenzen möglichst
unter Berücksichtigung von klaren und überprüfbaren Operationalisierungen
(konkret-praktisch explorierbare Sachverhalte). Juristisches, psychologisches
und psychopathologisch-psychiatrischen Denken ist stets höchst gefährdet,
sich in akademisch virtuellen Universalien
zu verlieren.
Kennt man die juristische Relevanz der Merkmale,
so kann man sie in eine entsprechende forensisch-psychologische Merkmalsliste
einordnen.
Einsicht und Einsichtsfähigkeit
in der Psychologie und forensischen Psychologie
(9) Der Einsichtsbegriff in der Psychologie ist ein vieldeutiges Homonym,
wie ein kleiner Streifzug durch das Begriffsspektrum
der Einsichtspsychologie zeigt.
(9.1) Einsehen ist psychologisch unter Normalbedingungen
eine Funktion von Erkennen (Bewusstheit, Aufmerksamkeit,
Wahrnehmung, Gedächtnis),
Verstehen (Intelligenz, Wissen,
Erfahrung), Erfahrung (Erlebnisse, Erfahrungen, Wissen, Gedächtnis),
Motivation
(Affekte, Antrieb, Bedürfnis, Wille, Interesse) und der Einstellung
(Affekte, Annahmen und Vorurteile, Normen und Werte).
Störende, nicht normale Bedingungen
kommen nun im Strafrecht durch die Eingangsmerkmale krankhafte seelische
Störungj§20, tiefgreifende Bewusstseinsstörungj§20,
Schwachsinnj§20
oder schwere andere seelische Abartigkeitj§20
des § 20 StGB ins Spiel. Mit den Indizes kennzeichen wir, in welchem
Sinne der Begriff eines Wortes gemeint ist. Der Index "j" bedeutet,
dass ein Wort als Rechtsbegriff zu verstehen ist. Das kann
auch noch näher spezifiziert werden "j§20StGB". Ist
der Bereich Strafrecht aus dem Kontext klar, kann "....StGB"
auch entfallen, "for" bezeichne forensisch, psychologisch oder
psychopathologisch, psychiatrisch.
(9.2) Zur Verankerung der Einsichtsgegenstände im Seelisch-Geistigen gehören hierbei auch Einflüsse der umgebenden Kultur, des Milieus und der Erziehung wie auch der Gewöhnung (Verhaltensgewohnheiten), Übung, Erfahrung (> Handlungsmodell). Oft sind die Einflüsse und die Verankerung im Seelisch-Geistigen gar nicht oder nur vage bewusst. Aus dem Sachverhalt, dass jemand bestimmte Normen, Gebote und Verbote nicht bewusst artikulieren oder erinnern kann, lässt sich nicht zwingend folgern, dass die nicht artikulierbaren oder erinnerten Normen, Gebote und Verbote nicht verankert und wirksam waren. Das macht die Sache allerdings noch komplizierter und zu einem zu Recht gefürchteten Sumpfgebiet in der Forensik.
(9.3) Und so ist die Einsichtsfähigkeit ein Stiefkind der forensischen Psychologie (Ausnahme Wegener) und Psychopathologie (Ausnahme Janzarik, aber), obwohl die - erfreulicherweise vor Jahren um den BGH eingerichteten - Arbeitsgruppen ausgiebige Mindeststandards (Leitlinien) erarbeitet haben. Die Literatur ist dennoch mehr als dünn, jedenfalls dann, wenn es um Inhalte und darum geht, eine differenzierte Systematik oder gar eine operationale Differential-Diagnostik vorzulegen. Das hat vermutlich damit zu tun, dass die PsychopathologInnen über keine hinreichende (Normal-) Psychologie verfügen - obgleich einige andererseits das Sachgebiet für sich reklamieren. So geistern nicht wenige Fehlbeurteilungen durch die reichhaltige forensische Literatur wie z.B. die des forensischen Psychiaters Nedopil: „Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit hat in der forensischen Praxis keine Relevanz und sollte bei Schuldfähigkeitsbeurteilungen nicht ernsthaft erwogen werden.“ In Wahrheit hat sie natürlich erhebliche und eigentlich kaum zu überschätzende Relevanz, weil die Steuerungsfähigkeit von ihr abhängig ist. Aber um diese Relevanz ausfüllen zu können, braucht man eine Psychologie und Psychopathologie der Einsichtsfähigkeitfpsy. bzw. Einsichtsfähigkeitfpsychiat sowie ihrer Korrespondenz- und Zuweisungsregeln zum Rechtsbegriff der Einsichtsfähigkeitj§20. Denn es ist natürlich ein erheblicher Unterschied, ob etwas keine Rolle spielt, weil es wirklich unwichtig ist oder ob etwas keine Rolle spielt, weil man es mangels etablierter Methoden nicht so gut kann oder nicht so recht weiß, wie es geht. Die überragende Bedeutung der Einsichtsfähigkeitj§20 ergibt sich schon allein aus dem Umstand, dass die Steuerungsfähigkeitsprüfungj§20nach herrschender juristischer Meinung (z.B. Streng, Münchener Kommentar StGB, § 20, Rn.65) entfallen muss, wenn die Einsichtsfähigkeitj§20 nicht gegeben ist, was auch nachvollziehbar und sinnvoll ist. Denn es kann nach allgemeiner Auffassung niemand nach einer Einsicht handeln (sich steuern), die gar nicht vorhanden ist. Eine andere für mich kaum nachvollziehbare Position nehmen Habermeyer & Hoff (2004) ein.
(9.4) Die juristische Logik
bei den §§ 20 und 21 StGB ist die, dass nach Prüfung der
vier Eingangsmerkmale die Frage ansteht, ob Einsichtsfähigkeitj§20
vorgelegen hat oder nicht. Hierbei wird zwar allgemein eine unterschiedlich
ausgeprägte Einsichtsfähigkeit gedacht, im konkreten Einzelfall
aber wird in der juristischen Interpretation der Einsichtsfähigkeitj§20
keine quantitative Differenzierung, ein mehr oder minder akzeptiert, sondern
eine Entweder-Oder, Ja- oder Nein-Entscheidung, genauer eine kategoriale
(nominale), nicht ordinale (mehr oder weniger) verlangt. Meist übersieht
die Rechtswissenschaft den wahrscheinlich häufigsten Fall "nicht
feststellbar". Liegt Einsichtsfähigkeitj§20 vor,
kann die Prüfung der Steuerungsfähigkeitj§20
erfolgen, sonst erübrigt sie sich. Der § 21 StGB ist daher falsch
benannt. Er müsste korrekt heißen: Verminderte Steuerungsfähigkeitj§21.
Die Formulierung verminderte Schuldfähigkeitj§21 kann
von Nichtjuristen dahingehend missverstanden werden, dass auch die Einsichtsfähigkeitj§21
vermindert
sein könnte. Das gilt zwar für Einsichtsfähigkeita
(alltagssprachlich), Einsichtsfähigkeitb(bildungssprachlich),
Einsichtsfähigkeitfpsy (forensisch-psychologisch), Einsichtsfähigkeitpsychiat
(psychiatrisch),
(Einsichtsfähigkeitpfl (Pflegebereich), Einsichtsfähigkeitstat
(statistisch)
und andere, aber nicht für die juristische Konstruktion
der Einsichtsfähigkeitj§21. Diese verlangt eine kategoriale
(nominalskalische) Entscheidung, nämlich ob zum Zeitpunkt
der Tat Einsichtsfähigkeitj§21
gegeben war
oder nicht bzw., dass dies nicht feststellbar
ist. Das wichtige Ergebnis
nicht feststellbar wird in der
juristischen Literatur vielfach verleugnet oder als Problem gar nicht erkannt,
so z.B. auch nicht von Schüler-Springorum.
Ein mehr oder weniger hat für die Rechtsprechung derzeit keine Relevanz
(ähnlich der
relativen
Geschäfts-un-fähigkeit)..
Allgemeines
psychologisches und forensisches Handlungsmodellpsy:
(9.5) Dieses Modell ergibt sich im Prinzip aus Erweiterungen unter
Berücksichtigung psychotherapeutischer und forensischer Praxis der
Willenspsychologie, u.a. aus Dükers
Forschungen zur Ausbildung des Wollens; Crafort
et al. Freiheit des Entscheidens und Handelns und Heckhausen et
al. Jenseits des Rubikon: Der Wille in den Humanwissenschaften,
Kuhl
& Heckhausen Motivation, Volition und Handlung, darin Beckmanns
Entschlussbildung
(Kritik) und Gollwitzer Das
Rubikonmodell der Handlungsphasen, differenzierter bereits 1987
von Heckhausen ("Fünf Grundvoraussetzungen
intentionsgeleiteten Handelns") entwickelt..
Querverweise: Kausalitätsmodell
und biopsychosoziales
Krankheitsmodell.
Beispiel: X fällt eine Person Y auf, von der er positiv berührt (Auslöserpsy bei entsprechender Bedürfnislagepsy) ist. Im Laufe mehrerer Begegnungen entsteht der Wunsch (Entscheidungsreifungpsy) und schließlich die Entscheidungpsy (Wille), zu dieser Person einen Kontakt aufzunehmen, indem er sie bei nächster günstig erscheinender Gelegenheit ansprechen will. Er begegnet dieser Person und fasst den Entschlusspsy, jetzt spreche ich sie an, geht auf sie zu und spricht sie an (Ausführungpsy). Es liegt auf der Hand, dass mit Zeitpunkt der Tat die Phase zwischen Entschluss und Ausführung gemeint sein sollte. Das Entscheidende für jede Handlung ist der Entschluss, der ihr im allgemeinen kurze Zeit vorausgeht. Daraus ergibt sich unmittelbar ein Leitfaden für die Erforschungslogik bei der Sachverhaltsaufklärung der Tat. Nicht jede Phase muss bewusst sein, schon gar nicht in allen ihren Determinanten und Einzelheiten. Und manchmal kann es auch sehr schnell gehen, so dass zwischen Entstehung und Ausführung nur Sekunden oder Bruchteile davon liegen. So kann die Phase der Entscheidungsreifung auch übersprungen werden. Der Abschnitt Entstehung und Entscheidungsreifung findet bereits in der Verhaltenstherapie unter dem Stichwort "Bedingungsanalyse" ein erprobtes und nützliches Modell. Bei genauer psychologischer Betrachtung und Analyse, können auch einfache Handlungen vielschichtige und komplizierte Prozesse mit vielen Determinanten und Verbindungen beinhalten. Hier wären im Laufe der Zeit "Handlungskataloge" wünschenswert, um in die Vielfalt mehr Ordnung und Klarheit zu bringen.
(9.6)
Allgemeines
psychologisches und forensisches Einsichtsmodellpsy
Die folgende Grafik kann als Spezifikation der Entschlussphase im allgemeinen
und forensischen Handlungsmodell betrachtet werden. Es orientiert sich
an Wegeners grundlegender Skizze zur Einsichtsfähigkeit.
Einsichten können im Kontext Täter-Forensik auf normative
Einsichten beschränkt werden. Ungeachtet dessen ist auch hier die
juristisch entscheidende Frage, ob eine Einsichtj§20 in
der Entschlussphase unmittelbar vor der Handlung vorhanden war oder nicht
bzw. nicht feststellbar ist. Verminderte
Einsichtj§21 wird derzeit juristisch nicht anerkannt, obwohl
es sie außerhalb rechtsbegrifflichen Denkens natürlich ebenso
gibt wie die relative
Geschäftsunfähigkeit>§104<.
Oben wurden bereits drei Einsichtsbegriffepsy
unterschieden: Einsicht als bloßes Wissen ohne Verständnis
mit geringer Handlungsrelevanz; Einsichtpsy als bloßes
Wissen mit Verständnis der Sinnzusammenhänge mit mehr Handlungsrelevanz
und Einsichtpsy mit Akzeptanz, also mit persönlicher innerer
Annahme, d.h. höchster Handlungsrelevanz. Hier wird nun ein realistisches
Modell der gesamten dynamischen Vernetzung im biographischen Längsschnitt
vorgeschlagen. Dynamisch heißt hier, dass die Entwicklung im Fluß
und in stetiger Veränderung gesehen wird und die Gedächtnisinhalte
nicht statisch und absolut (1:1 "Abbildung") gedacht werden.
Ob Einsicht sich in Handeln umsetzt hängt aber
nicht nur von der Einsichtsfähigkeit sondern auch von anderen Faktoren
ab, die die Einsichtsfähigkeit behindern, mindern oder sogar weitgehend
ausschalten können.
Ganz allgemein kann man sagen, dass Normalbedingungen
(NB) auf die Einsichtsfähigkeit wie ein neutrales Element wirken.
Liegt Einsichtpsy-wis, Einsichtpsy-ver oder Einsichtpsy-akz
vor, so ändert sich die Einsichtslage unter Normalbedingungen so wenig
wie eine Gleichung sich nicht ändert, wenn man auf eine Seite die
Null, das neutrale Element der Addition und Subtraktion, hinzuzählt
(2 + 4 - 0 = 2 + 4 + 0).
Formal also z.B.: Einsichtpsy-wis | NB,
mit " | " als Zeichen für eine Bedingung, wobei rechts vom Bedingungsstrich
die Bedingung, hier NB := Normalbedingungen und links das Bedingte, hier
die Einsichtpsy-wis steht. Zur einfacheren textuellen Gestaltung
sei terminologisch vereinbart, dass fehlende Kennzeichnung von Bedingungen
immer Normalbedingung bedeuten soll.
Aber auch Störungsbedingungen können zwar,
aber müssen keine Veränderung der Einsichtslage bewirken. So
konstruiert es auch das Recht. Die Eingangsmerkmale im § 20 StGB können,
aber müssen natürlich nicht die Einsichtsfähigkeitfpsy
im konkreten Fall aufheben oder beeinflussen.
Einsicht als normatives Wissen zur Rechtmäßigkeit
von Tun und Lassen hat eine lange Geschichte im Leben des Einzelnen. Wie
sich dieses Wissen in der Entschlussphase zur Tat nun auswirkt, hängt
noch zusätzlich von einer Reihe anderer Faktoren ab, wie sie im allgemeinen
und forensischen Handlungsmodell berücksichtigt und dargestellt wurden.
(10) Die Einsichtsfähigkeit kann als Stiefkind der forensischen Psychologie und Psychiatrie betrachtet werden. Inhaltlich informative oder gar praktisch-konkrete Ausführungen findet man bis auf wenige Ausnahmen (Wegener 1981, Janzarik 1991, 1995; Habermeyer & Hoff 2004) kaum.
(11) Im Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie von Peters (1984) wird ausgeführt: "Einsichtsfähigkeit (f). Von geistiger Gesundheit und Bewußtseinsklarheit abhängige, im einzelnen durch affektiv-dynamische Vorgänge beeinflußte Fähigkeit, gegebene Sinnzusammenhänge zu erfassen. Psychiatrisch besonders für die Unterscheidung von Recht und Unrecht durch seelisch Gestörte in Zusammenhang mit den §§20 und 21 2. StrRG verwendet. Danach handelt ohne Schuld, "wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln«. Wenn die Einsichtsfähigkeit nur erheblich vermindert ist, so kann die Strafe gemildert werden (§21). fr: capacité de discernement; e: discerning ability."
(12) Die Arbeiten von Janzarik (1991, 1995).
(12.1) Im Nervenarzt
62, 1991, 423 - 427.
"Zusammenfassung. Auf der vorrechtlichen Ebene sind Einsicht
und Steuerung miteinander verschränkt. Neben der Abbildung, der Verarbeitung
und der Autopraxis von Informationen ist Einsichtsfähigkeit auf Steuerung
und steuernde Entscheidungen angewiesen. Der Handlungssteuerung ist Einsichtssteuerung
zur Seite zu stellen.
Schlüsselwörter: Einsicht - Einsichtssteuerung
- Fehlsteuerung- Entscheidung."
Nachdem inhaltliche Überlegungen zur Einsichtsfähigkeit äußerst dünn gesät sind, sei im Folgenden ausgiebig aus Janzarik zitiert. S. 424f führt Janzarik aus:
"III.
Bei der Prüfung der Einsichtsfähigkeit ist von der Verfügbarkeit
einsichtsrelevanter Informationen auszugehen. Wenn es bereits an den Informationen
fehlt, die die Welt abbilden und die die zu erwartenden Risiken als Voraussetzung
eines die Gefahrenlagen beachtenden normgemäßen Verhaltens erfassen
und sichtbar machen könnten, ist Einsicht von vornherein nicht möglich.
Das Versagen der intellektuellen Abbildung bei fehlenden oder untauglich
gewordenen Mitteln ist eine basale Störung vor anderen Schwächen
des Einsichtsvermögens mit einer besonderen Affinität zu höhergradigen
Schwachsinnsformen und den als „krankhafte seelische Störung" zu führenden
Abbauprozessen, hier mit der Besonderheit, daß eine mnestisch betonte
intellektuelle Demenz höheren Grades durch differenzierte emotionale
Reaktionen und geordnetes Verhalten verdeckt werden kann. Auch die Fragmentation
des psychischen Feldes in akut psychotischen Verfassungen oder die Auswirkungen
einer höhergradigen Trübung des Feldes, etwa toxischer Genese,
würden hierher gehören. Auf einem etwas höheren Leistungsniveau
und nicht nur bei psychopathologischen Störungsbildern wäre das
auch von den Anforderungen der speziellen Aufgabe abhängige und damit
relative Unvermögen, verfügbare Informationen intellektuell zu
verwerten, als Versagen der intellektuellen Verarbeitung anzusprechen.
Beide Varianten, auf die näher einzugehen darum entbehrlich ist, entsprechen
dem auf die intellektuelle Funktion beschränkten herkömmlichen
Verständnis von Einsicht.
Sobald jenseits von Abbildung und Verarbeitung die
den intellektuellen Aspekt komplizierende Autopraxis der aus eigenen Wissensbeständen
stammenden Informationen in Rechnung gestellt wird, genügt die ohne
[>425] ausdrückliche Beachtung der unterschiedlichen Wertigkeit auf
die Erfassung und Verarbeitung von Informationen gerichtete herkömmliche
Sicht nicht mehr. Die Materialien der Einsicht haben ihre Eigendynamik.
Der auf ihnen lastende und über ihre Durchsetzungsfähigkeit im
psychischen Feld entscheidende Aktualisierungsdruck entspricht der Wertigkeit,
die ihnen die Befrachtung mit Dynamik mitgegeben hat. Je nach ihrem Gewicht
aktualisieren sich das spezielle Wissen und die zugehörigen Handlungsbereitschaften
im psychischen Feld und werden damit „bewußt", wenn sie aus der aktuellen
Situation heraus durch thematische Affinitäten angesprochen werden.
Neben den subjektiven Wertigkeiten gibt es überindividuell vorauszusetzende
Gewichtungen. Dazu gehören in besonderem Maße, weil sehr früh
geprägt und in das Grundgerüst der seelischen Struktur aufgenommen,
die in der mitmenschlichen Kommunikation gebildeten und das Verhalten bestimmenden
sozialen Regeln und Erwartungen, auf denen der Grundbestand rechtlicher
Normen fußt. Hinzu kommt, ebenfalls früh entwickelt und in seiner
Präsenz von den charakterologischen Rahmenbedingungen abhängig,
im späteren Leben etwa auf wichtige Entscheidungen zurückgenommen
oder, beim Anankasten, das Verhalten durchgehend beherrschend und einengend,
ein an der Grenze von Imagination und Planung zum nicht mehr rückholbaren
konkreten Handeln angesiedeltes Risikobewußtsein [2]. Mit
seinem Auftauchen sind ein Innehalten und eine reflexive Stellungnahme
nach der Formel "darf ich das" verbunden. Daß Einsicht als „Unrechtsbewusstsein"
in dem als selbstverständlich vorausgesetzten Ausmaß überhaupt
möglich ist, ist der Autopraxis seelischer Bestände zuzuschreiben.
Die selbsttätige Aktualisierung von Informationen,
die sich mit den an sie gebundenen Intentionen „querlegen", wenn im psychischen
Feld als Risiken erlebte Situationen auftauchen, erlaubt es der Rechtsprechung,
Unrechtsbewußtsein im Regelfall vorauszusetzen und nur nachzufragen,
wenn sich wegen besonderer subjektiver Bedingungen, etwa auch psychopathologischer
Art, oder wegen eines Informationsmangels, der im Kernbereich des Strafrechts
kaum zu erwarten und jedenfalls leichter vermeidbar ist als im Nebenstrafrecht
und bei Ordnungswidrigkeiten, Unrechtsbewußtsein nicht von selbst
versteht. Auch die Strafrechtswissenschaft kann sich unter diesen Umständen
mit einem nur randständigen, aber jederzeit aktualisierbaren Wissen
begnügen. Sie hat dazu, worüber Rudolphi [6] informiert, Begriffe
wie „Mitbewußtsein", „dauerndes Begleitwissen" [5], „sachgedankliches"
Unrechtsbewußtsein [9], „Orientiert-Sein" [8] entwickelt. Bereitwilliger
wird von juristischer Seite ein affektbedingter Verlust des Unrechtsbewußtseins
anerkannt, wozu sich psychiatrische Autoren [7] in jüngster Zeit kritisch
geäußert haben. So erinnert Kröber [4] an das affektiv
stark besetzte und früh erworbene Wissen um eine letzte, selbst in
akuten Psychosen beachtete Grenze, die bei einer Tötungshandlung überschritten
werde. Es sei nicht einzusehen, warum ein Affekttäter im Tatzeitpunkt
kein aktuelles Unrechtsbewußtsein haben sollte, nur weil die „aktuelle
Gefühlswarnung" vom aggressiven Affekt beiseite geschoben und das
bis zum Tatentschluß dominierende Tötungsverbot nach einer letzten
Provokation suspendiert werde. Schon Schewe [8] hatte, nicht unwidersprochen,
aus dem Erleben einer bis zuletzt respektierten psychischen Barriere auch
bei hochgradigem Affekt auf ein Orientiert-Sein des Täters über
die Rechtswidrigkeit des eigenen Verhaltens geschlossen.
IV.
Die „voluntative" Komponente der Einsicht wird gefordert, wenn Kenntnis
erst erlangt werden muß, wie es die Erkundigungspflicht zur Vermeidung
des Verbotsirrtums gebietet. Wo Einsicht nicht mit der natürlichen
Evidenz der Grundregeln menschlichen Zusammenlebens gegeben ist, müssen
die für die Gewinnung von Einsicht erforderlichen Erkundigungen und
Überlegungen gesteuert werden; neben die Antriebssteuerung und die
Handlungssteuerung, die Welzel [10] unterschieden hat, tritt, grundlegend
für die darauf aufbauenden weiteren Steuerungsschritte, die Einsichtssteuerung.
Auch für sie gelten die an anderer Stelle [2] erörterten und
auf Steuerungsvorgänge generell anzuwendenden Prinzipien. Grundlage
ist die Autopraxis seelischer Bestände, an denen Aktivierung und Desaktualisierung,
als die beiden Grundfunktionen unwillkürlicher und willkürlicher
Einflußnahme auf das Verhalten wie auf die innenweltlichen Abläufe,
ansetzen. Die von jedem Lebewesen für natürliche Ziele wie Angriff
oder Flucht eingesetzte Aktivierung ist auf der Ebene menschlichen
Verhaltens als Anstrengung der Initiierung, der Anspannung und des Durchhaltens
von Intentionen gefordert. Da die Lebensbewegung vorgegeben und ihre Autopraxis
nur intermittierend auf Verstärkung und eine das natürliche Absinken
überbrückende Bekräftigung angewiesen ist, steht im Mittelpunkt
menschlicher Leistungen nicht Aktivierung, sondern Desaktualisierung. Bevor
sich mit der Strafrechtsreform der Begriff „Steuerungsfähigkeit" durchsetzte,
wurde bezeichnenderweise der Begriff „Hemmungsvermögen" bevorzugt.
Die kontrollierende Zügelung und nötigenfalls Unterdrückung
von Triebbedürfnissen, Impulsen, motorischen Reaktionen ist so wenig
wie der Einsatz von Aktivierung auf den Menschen beschränkt, erfährt
aber in der menschlichen Entwicklung mit der Ausdehnung der Desaktualisierung
auf innenweltliche Bestände mit ihren Gerichtetheiten parallel zur
Ausbildung der seelischen Struktur eine außerordentliche Ausweitung
und Differenzierung, Aktivierung und Desaktualisierung als die vorgegebenen
beiden Möglichkeiten, steuernd in die Autopraxis der Lebensbewegung
einzugreifen, sind von Anfang an in die Strukturierungsprozesse menschlicher
Entwicklung einbezogen. Über ihren Einsatz, und so auch über
die Steuerung der für die Gewinnung von Einsicht erforderlichen Schritte,
entscheidet der strukturelle Gesamtzusammenhang.
„Einsichtsfähigkeit", die im Regelfall vorausgesetzt
wird, meint, daß bei Begehung der Tat „Unrechtsbewußtsein"
mit den an das Unrechtswissen gebundenen Bereitschaften zu imaginativ-gedanklicher
oder handelnder Stellungnahme verfügbar war. Darüber, ob, wie
und mit welchen Ergebnissen die für die Gewinnung von Einsicht zuhandenen
Werkzeuge eingesetzt wurden, ist keine verläßliche Kenntnis
zu erwarten, da auch bei Aus- [>426] kunftswilligkeit die imaginativ-gedanklichen
Prozesse so komplex und zugleich flüchtig und die sie steuernden Eingriffe
so wenig profiliert sind, daß die nicht gezielte Aufmerksamkeit darüber
hinwegsieht. Wenn von antizipierten oder konkret erlebten risikoträchtigen
Situationen Verbots- oder Gebotsnormen mit ihren Konsequenzen evoziert
werden, stehen die warnenden Vergegenwärtigungen und Gerichtetheiten
im Wechselspiel mit anderen Aktualisierungen, in denen auch gegenläufige
Tendenzen, etwa Beschwichtigungen oder die von unerlaubten Risiken versprochenen
Chancen, sich vordrängen. Hier nun greift, abhängig von übergeordneten
Gerichtetheiten der seelischen Struktur und den durch sie vorgegebenen
Wertungen, aktivierend und desaktualisierend Steuerung ein. Möglichkeiten
werden abgewogen und zugelassen, Denkschritte eingeleitet, nötigenfalls
auch Handlungsschritte eingeschoben, Ergebnisse überprüft, Konsequenzen
vorweggenommen. An anderer Stelle wird abgewiesen, unterdrückt, gegenläufigen
Gerichtetheiten Raum gegeben. Einsichtsfähigkeit setzt, dem Handeln
vorgelagert, steuerbare imaginativ-gedankliche Abläufe voraus, gleich
ob daraus Ergebnisse für, gegen oder unbekümmert um Rechtsnormen
hervorgehen. Sie sind als prozessuale Geflechte von Gerichtetheiten zu
denken, die gelegentlich auf das Entweder-Oder eines Augenblicks gerafft
werden müssen, üblicherweise aber in einer vielfach unterbrochenen
und unabgeschlossenen Wenn-dann-Folge mit Nebenwegen, Vorentscheidungen
und offenen Lösungen stehen. Trotz der zeitlichen Dehnung kann Unrechtsbewußtsein
„bei Begehung der Tat" vorausgesetzt werden, weil es auf den Zeitpunkt
der Entscheidung zur Tat ankommt und bei verzögerter Freigabe des
aus der Entscheidung hervorgegangenen Entschlusses an die Motorik im Übergang
zur Tathandlung noch einmal eine generelle Aktivierung des psychischen
Feldes erfolgt, die die Aktualisierungsbereitschaften verstärkt und
bis dahin latentes und von der Situation angesprochenes Wissen nachdrücklich
hervortreten läßt und verfügbar macht.
Auch wenn Informationen verfügbar sind und
ihre intellektuelle Verarbeitung gelingt, kann eine Fehlsteuerung
der imaginativ-gedanklichen Prozesse, die Einsicht begründen, Einsichtsfähigkeit
in Frage stellen. Es gibt Verformungen der seelischen Struktur, die das
für die Gewinnung von Einsicht benötigte intellektuelle Werkzeug
ungestört funktionieren lassen, dem Werkzeuggebrauch aber abwegige
Einschätzungen und Ziele vorgeben, weil fundamentale Gerichtetheiten
deviant geworden sind und die Wertorientierung in eine mit den Grundnormen
menschlichen Zusammenlebens inkompatibele Richtung gelenkt haben. Beispiel
wäre ein geordneter Beeinträchtigungswahn, der den schizophrenen
Täter trotz der „verrückten" Motivation ein Attentat sorgfältig
und realitätsgerecht planen und durchführen läßt.
Auf die Schizophreniediagnose allein kommt es dabei nicht an. Sie schließt
nach der inzwischen, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, überwiegenden
Meinung forensischer Psychiater Schuldfähigkeit nicht von vornherein
aus. Bei schwerwiegenden und überdies ungewöhnlichen Straftaten
läßt die Diagnose allerdings erwarten, daß die fachkundige
Analyse trotz gut funktionierender Intelligenz und zielgerichteter Handlungssteuerung
eine in alle wichtigen Lebensbereiche ausstrahlende Fehlsteuerung der Einsicht
wird nachweisen können, für die das wahnhaft motivierte Delikt
nur symptomatisch war. Schwieriger sind unter Mitberücksichtigung
der Deliktart und der Tatsituation die Abstufung verminderter Einsichtsfähigkeit
aufgrund einer Fehlsteuerung zu beurteilen, etwa bei manchen Querulanten.
Nach eigener Auffassung, die den Glauben an die seit psychotischen Ausbrüchen
überlegene blinde Macht von Affekten nicht teilt und Möglichkeiten
der Privilegierung an anderer Stelle sieht, gehört hierher wegen der
in langer Fehlentwicklung eingetretenen devianten Strukturierung auch ein
gut Teil jener affektiv akzentuierten Delikte, die als „typische" Affekttaten
zur Privilegierung tendieren [3]. Das der Rechtsordnung widerstreitende
Verhalten des Überzeugungstäters rechtfertigt nach herrschender
Meinung nicht die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums, was bei
einer sonst deutlichen Devianz eine Fehlsteuerung der Einsicht aufgrund
einer „schweren anderen seelischen Abartigkeit" nicht ausschließen
würde."
(12.2) In seinem
Buch Grundlagen der Schuldfähigkeit, widmet Janzarik das 7.
Kapitel (46 - 51) dem Thema "Grundlagen der Einsicht". Inhaltlich scheint
es gegenüber dem Nervenarztartikel von 1991 nicht viel Neues zu geben,
daher beschränke ich mich hier auf zwei Zitate.
Gleich zu Beginn leitet Janzarik S. 46 ein: "Bei
der Prüfung der Schuldfähigkeit unter menschenkundlichen Gesichtspunkten
ist alternativ nach dem Versagen von Einsicht oder Steuerung zu fragen.
Die tatsächliche Verflechtung kognitiver und voluntativer Anteile
wird zwar gesehen. Wie aber Einsicht und Steuerung ineinandergreifen, ist
ungeklärt geblieben. ..."
Janzarik schließt das Kapitel wie folgt (S.
51): "Trotz der Ubiquität steuernder Eingriffe bleibt die tradierte
Unterscheidung zwischen dem kognitiven (intellektuellen) und dem voluntativen
Aspekt der Schuld(un)fähigkeit. Auf den ersten Blick überzeugt
ein kategorialer Unterschied zwischen der Handlung und den die Handlung
vorbereitenden Innenvorgängen. Die als Handlung zusammengefaßten
motorischen Abläufe, die eine objektiv feststellbare Veränderung
in der allen gemeinsamen Welt bewirken, sind unbestreitbar etwas anderes
als die auf Handlung gerichteten, objektiv nicht erfahrbaren und nur zu
erschließenden Prozesse der Informationsverarbeitung, die schwerelos
erscheinen, aber folgeträchtig sind. Die voluntativen Momente, auf
die es beim Handeln ankommt, sind indessen weniger in der die Aufmerksamkeit
beanspruchenden motorischen Aktion, als in den unauffälligen innenweltlichen
Steuerungsabläufen zu suchen, auf die bereits bei der Erläuterung
von "Einsicht" zu achten war. So würde die Beschäftigung mit
dem Steuerungsgeschehen für die Schuldfähigkeitsprüfung
genügen, sofern sie ergänzt wird durch die Berücksichtigung
von Informationen, auf die sich Steuerung stützt, und von Entscheidungen,
in denen sie sich verdichtet. Die nur formal zu bestimmende Grenze zwischen
Einsicht und Steuerung könnte dort gesehen werden, wo der Versuch
(§ 22 StGB) beginnt, indem "eine Straftat versucht, wer nach seiner
Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar
ansetzt" Menschenkundlich gesehen läge diese Grenze schon im Bereich
von Steuerungsvorgängen, die allerdings im Sinne der Tatbestandsverwirklichung
noch nicht handlungsrelevant sind."
(13) Die Arbeit von Habermeyer, Elmar & Hoff, P. (2004):
"Zusammenfassung Der folgende Artikel wird nach Erörterung juristischer und forensisch-psychiatrischer Grundlagen die Schwierigkeiten, aber auch die Bedeutung von Aussagen zur Einsichtsfähigkeit darstellen. Abschließend wird ein psychopathologischer Lösungsansatz vorgestellt, der gutachterliche Äußerungen zur Einsichtsfähigkeit an die Frage der freien Willensbestimmung koppelt: Beide Begriffe berühren prädezisionale Grundlagen späterer Handlungen. Dabei ist die Einsichtsfähigkeit auf das engste mit der Fähigkeit verknüpft, den eigenen Willen frei zu bilden. Krankheitssymptome und Störungen, durch die kognitive und motivationale Voraussetzungen der Willensbildung beeinträchtigt werden, lassen sich psychopathologisch erfassen. Auf dieser Basis getroffene Anmerkungen zur Einsichtsfähigkeit sind insbesondere für Minderbegabungen, demenzielle Abbauprozesse, organische Persönlichkeitsveränderungen, Störungen mit begleitenden Wahnsymptomen und Residuen schizophrener Psychosen von Bedeutung." (S. 615)
"Voraussetzungen der Einsichtsfähigkeit
Im vorigen Abschnitt wurden Gemeinsamkeiten zwischen der strafrechtlich
relevanten Einsichtsfähigkeit, der Einwilligungsfähigkeit und
der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung des Zivilrechts herausgearbeitet.
Dabei wurde deutlich, dass eine forensische Umschreibung der Einsichtsfähigkeit
Stellung zu intellektuellen, kognitiven und wertgebundenen Handlungsgrundlagen
nehmen muss. Vor kurzem wurde an dieser Stelle „ein am Willensbegriff ausgerichteter,
symptomorientierter Ansatz zur Prüfung der Geschäftsfähigkeit"
[28] vorgestellt, auf den zurückgegriffen werden kann. Die Fähigkeit
zur freien Willensbestimmung wurde an intakte kognitive Fähigkeiten
gekoppelt, die auf der Grundlage von Werten, getragen von affektiven, dynamischen
Elementen, über Reflexion, Planung und Wahl zu zielgerichteten Entscheidungen
und nachfolgend zu deren Realisierung (oder im Sinne der oben referierten
experimentellen Ergebnisse zur Desaktualisierung, sprich Nicht-Realisierung
von Handlungsplänen) führen.
Dieser Definitionsversuch betrifft, soweit kognitive
Fähigkeiten, Werte, affektive bzw. dynamische Elemente, Reflexion,
Planung und Wahl angesprochen sind, vorwiegend den Bereich der Willensbildung.
Es soll jedoch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass hier
- wie schon bei Heckhausen [21 ] - eine modellhafte Grenzziehung vorgenommen
wird. Im Interesse der von Janzarik [15] als erforderlich angesehenen Anpassung
an den juristischen Standpunkt und gemäß der Zielsetzung dieser
Arbeit werden die im Begriff der Einsichtssteuerung prägnant verdichteten
komplexen Wechselwirkungen von Einsichts- und Steuerungsfunktionen im Folgenden
vernachlässigt. Es soll hier nämlich - auch um den Preis einer
modellhaften Vereinfachung komplexer Abläufe - vordringlich darum
gehen, die bislang wenig beachtete Frage der Einsichtsfähigkeit einer
forensischen Anwendung zugänglich zu machen." (S. 618).
"Schlussfolgerungen
Um dem Gericht die Auswirkungen eines Krankheitsbildes auf die Willens-
und Entscheidungsbildung in voller Konsequenz deutlich zu machen, ist der
Begriff der Einsichtsfähigkeit - trotz der von Schüler-Springorum
[9] prägnant beschriebenen Schwierigkeiten - wichtig. Dies betrifft
neben Minderbegabungen und demenziellen Abbauprozessen insbesondere den
Bereich krankhafter seelischer Störungen mit begleitenden Wahnsymptomen.
Die Aufhebung der freien Willensbestimmung bei Wahnsymptomen gilt bei der
zivilrechtlichen Beurteilung der Geschäftsfähigkeit - zumindest
wenn das Wahnthema betroffen ist - als unstrittig [18,28]. Eine strikte
Trennung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung des Zivilrechts
und der Einsichtsfähigkeit des Strafrechts kann nur willkürlich
bleiben: Beide Begriffe berühren nämlich prädezisionale
Grundlagen späterer Handlungen. Dabei ist die Einsichtsfähigkeit
auf das engste mit der Fähigkeit verknüpft, den eigenen Willen
frei zu bilden. Krankheitssymptome, die die zur Willensbildung erforderlichen
kognitiven und motivationalen Voraussetzungen beeinträchtigen, lassen
sich psychopathologisch erfassen und einer forensischen Anwendung zugänglich
machen." (S. 620).
(14) Die wichtigste derzeitige Quelle zum Stand der forensischen Psychiatrie ist das fünfbändige Handbuch der Forensischen Psychiatrie, das zwischen 2006 und 2010 erschienen ist. Ein großes und vielfach anregendes Werk, aber psychologisch-psychopathologisch inhaltlich ausgesprochen dünn, was die inhaltlichen Ausführungen zur Einsichtsfähigkeit betrifft, wie die folgenden Belegstellenbeispiele zeigen.
Sachregistereinträge
Einsicht, Einsichtsfähigkeit im Handbuch der Forensischen Psychiatrie:
Bd. 1: [erwähnt in Bd. 1, im SR aber nicht erfasst: 98,
110, 111, 145, 153,
184,]
(14.1) Einsichtsfähigkeit 60–61, "§ 21 StGB sieht in Fällen erheblich verminderter Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit auf der biologischen Basis des § 20 StGB die Möglichkeit einer Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB vor. Erheblich ist, was nicht mehr in den „Normalbereich“ fällt. Der Schwerpunkt des Anwendungsbereichs von § 21 StGB liegt im Bereich alkoholbedingter Rauschzustände (Lackner u. Kühl 2004, § 21 Rn 2 mwN). Über den Wortlaut von § 21 StGB hinaus hält die herrschende Meinung § 21 StGB dann für nicht anwendbar, wenn der Täter trotz verminderter Einsichtsfähigkeit das Unrecht der Tat eingesehen hat (Lackner u. Kühl 2004, § 21 Rn 1; kritisch Gropp 2005, S. 275)."
(14.2) Einsichtsfähigkeit 130: "2.3.3 Die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Das Vorliegen einer oder mehrerer Störungen führt nur dann zur Exkulpation oder Dekulpation, wenn dadurch die Fähigkeit aufgehoben oder erheblich beeinträchtigt war, „das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (intellektuelle bzw. voluntative Komponente der Schuldfähigkeit). Der psychopathologische Zustand muss sich ursächlich auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt haben (BGH NStZ 1991, 527 f.; StV 1986, 14). Es reicht aus, wenn eine der beiden Fähigkeiten beeinträchtigt ist, weshalb die Rechtsfolge der §§ 20, 21 StGB nicht gleichzeitig auf mangelnde Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gestützt werden kann. Nur wenn sich bei der Prüfung ergibt, dass der Täter trotz einer auf der „biologischen“ Ebene vorhandenen Störung einsichtsfähig war, ist zu fragen, ob seine Steuerungsfähigkeit aufgehoben oder reduziert war (BGH NStZ 1991, 528, 529). Die Unterscheidung kann im Einzelfall schwierig sein, darf aber regelmäßig nicht offen bleiben (BGH NStZ 2005, 205 ff.; Tröndle u. Fischer 2006, § 20 Rn 44). Allerdings kommt der Ausschluss der Einsichtsfähigkeit nur selten vor, z. B. bei schwerwiegenden intellektuellen Einbußen oder bei psychotischen Realitätsverkennungen (Rasch u. Konrad 2004, S. 73; Nedopil 2000, S. 22), während die anderen Störungen bei vorhandener Unrechtseinsicht zum Ausschluss oder zur Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit führen können. Allerdings geht es bei dieser zentralen Problematik der §§ 20, 21 StGB nicht nur um wissenschaftlich nachweisbare intellektuelle oder voluntative Komponenten der Handlung, sondern um eine normative Bewertung nach den Maßstäben der Strafrechtsordnung. Es ist also zu prüfen, welche Anforderungen zu normgemäßem Verhalten an den Einzelnen legitimerweise gestellt werden dürfen und müssen (vgl. Lenckner u. Perron 2006, § 20 Rn 26; Jähnke 1993, § 20 Rn 16; Streng 2003, § 20 Rn 14 f.).
(14.3) Einsichtsfähigkeit 132–133, "2.3.3.1
Einsichtsfähigkeit Einsichtsfähigkeit ist die Fähigkeit
des Täters, das Unrecht der begangenen Tat einzusehen. Diese intellektuelle
Komponente des zweiten Stockwerks fehlt, wenn der Täter nicht zum
Unrechtsbewusstsein durchdringen kann (Lackner u. Kühl 2004, §
20 Rn 12). Die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, ist gleichbedeutend
mit einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 StGB.
Nach einer verbreiteten Ansicht soll daher § 20 StGB insoweit für
die Exkulpation des Täters keine selbstständige Bedeutung haben,
da er bezüglich der Einsichtsfähigkeit nur einen besonderen Anwendungsfall
des umfassenderen Verbotsirrtums darstelle (BGH MDR 1968, 854; Lenckner
u. Perron 2006, § 20 Rn 27). Diese Auffassung ist zwar bezüglich
der Schuldunfähigkeit richtig, jedoch sind die weitreichenden Maßregeln
gemäß §§ 63, 64 und 69 Abs. 1 nur möglich, wenn
auch die biologisch-psychologischen Voraussetzungen der §§ 20,
21 StGB vorliegen, nicht aber bei bloßer Verbotsunkenntnis (Schreiber
u. Rosenau 2004, S. 74). Des-[<132] halb kann auch bei Einsichtsunfähigkeit
die Zuordnung zu einem der Eingangsmerkmale des § 20 StGB nicht unterbleiben.
Die Einsichtsfähigkeit ist jeweils im Hinblick
auf die konkrete Tatbestandsverwirklichung festzustellen. So kann ein leicht
Schwachsinniger das Unrecht eines Raubes oder einer Körperverletzung
durchaus noch einsehen, während ihm diese Fähigkeit hinsichtlich
von Betrug oder Urkundenfälschung fehlen kann. Sogar bei tateinheitlich
begangenen Delikten kann die Unrechtseinsicht gespalten sein (BGHSt 14,
114, 116; BGH NStZ 1990, 231).
Selbst ein unauffälliges Verhalten vor der
Tat, teilweise differenzierte Reaktionen und Verhaltensweisen und eine
zur Tatzeit vorhandene Erkenntnis des Täters, dass seine Taten von
der Allgemeinheit als Unrecht angesehen werden, lassen noch nicht auf eine
intakte Einsichtsfähigkeit schließen, wenn gleichzeitig deutliche
Hinweise für eine akute Psychose (Wahnerkrankung) vorliegen (BGH NStZ-RR
2002, 202). Dagegen führt eine Persönlichkeitsstörung in
der Regel nicht zu einer relevanten Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit
(Boetticher et al. 2005, S. 61).
Nach Auffassung der Rechtsprechung ist die Einsichtsfähigkeit
nur im Rahmen des § 20 StGB relevant, weshalb § 21 StGB nicht
angewandt wird, wenn die Einsichtsfähigkeit des Täters erheblich
vermindert war, er jedoch das Unrecht seiner Tat erkannt hat (BGHSt 21,
27, 28; zu den Konsequenzen einer verminderten Einsicht gemäß
§ 17 StGB s. 2.3.4). BGH NStZ 1990, 333 f.: „Die 1. Alternative des
§ 21 StGB scheidet aus, wenn der Täter trotz erheblich verminderter
Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte seines Tuns erkennt. Fehlt dem Täter
hingegen die Einsicht wegen einer krankhaften seelischen Störung oder
aus einem anderen in § 20 StGB bezeichneten Grund, ohne dass ihm das
zum Vorwurf gemacht werden kann, so ist auch bei nur verminderter Einsichtsfähigkeit
nicht § 21 StGB, sondern § 20 StGB anwendbar. Die Voraussetzungen
des § 21 StGB liegen in den Fällen der verminderten Einsichtsfähigkeit
nur vor, wenn die Unrechtseinsicht gefehlt hat, dies aber dem Täter
vorzuwerfen ist“ (vgl. auch BGHSt 21, 28; kritisch dazu Rasch u. Konrad
2004, S 73 f., der aus psychologischer Sicht auch eine verminderte Einsichtsfähigkeit
bei eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten für möglich
hält, zugleich aber auf die geringe praktische Bedeutung dieses Problems
hinweist, da es auch in solchen Fällen meist um die Beeinträchtigung
der Steuerungsfähigkeit gehe, während die Einsichtsfähigkeit
zur Tatzeit unberührt bleibe)."
(14.4) Einsichtsfähigkeit 135, "Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sind jeweils im Hinblick auf die konkrete Tat zu prüfen. Schuldunfähigkeit ist keine Dauereigenschaft; sie bewirkt nur den Ausschluss der Schuld im Hinblick auf eine konkrete Tat (BGHSt 14, 116; BGH NStZ 1990, 231). Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage überprüft der Tatrichter die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und deren innere Beziehung zur Tat (Böttcher et al. 2005, S. 58). Sowohl die Einsichtsfähigkeit als auch die Steuerungsfähigkeit können bezüglich einer Tat bejaht, bezüglich einer anderen verneint werden, selbst bei tateinheitlichem Zusammenwirken mehrerer Delikte (BGHSt 14, 116; StV 1984, 419)."
(14.5) Einsichtsfähigkeit 137 iSv § 3 JGG 437–438, "Im Falle der verminderten Einsichtsfähigkeit steht die Regelung des § 21 StGB in einem Widerspruch zum vermeidbaren Verbotsirrtum gemäß § 17 Abs. 2 StGB, der ohne weitere Einschränkungen zu einer fakultativen Strafmilderung gemäß § 49 Abs. 1 StGB führt. In § 21 StGB kann diese Strafmilderung nur gewährt werden, wenn der Verbotsirrtum auf einer erheblich verminderten Einsichtsfähigkeit beruht. Es erscheint nicht gerecht, den auf einem seelischen Defekt im Sinne des § 21 StGB beruhenden Einsichtsirrtum strenger zu behandeln als den normalen Verbotsirrtum eines geistig Gesunden. Die überwiegende Meinung in der Literatur gibt deshalb dem „täterfreundlicheren“ § 17 StGB den Vorrang mit der Folge, dass jeder Grad verminderter Einsichtsfähigkeit bereits zur Strafmilderung nach §§ 17 und 49 StGB führen kann (Roxin 2006, S. 905; Lenckner u. Perron, § 21 Rn 7). Im Verhältnis zu § 17 StGB behält § 21 StGB aber – ebenso wie § 20 StGB – insoweit eigenständige Bedeutung, als er die Möglichkeit zur Verhängung von Maßregeln gemäß §§ 63, 64, 69 StGB eröffnet (Schreiber u. Rosenau 2004, S. 79). Jähnke (1993, § 21 Rn 4) hält dies zutreffend für ein Scheinproblem, da die verminderte Einsichtsfähigkeit rechtlich bedeutungslos sei und nur zum Zug komme, wenn die Unrechtseinsicht tatsächlich ausgeschlossen sei. In solchen Fällen müsse aber stets von einer erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB gesprochen werden. Dieser Auffassung entspricht die oben zitierte Rechtsprechung (s. 2.3.3.1), nach der die verminderte Einsichtsfähigkeit nur dann zur Bejahung des § 21 StGB führen kann, wenn die Einsicht gefehlt hat, dies aber dem Täter vorzuwerfen ist (BGH NStZ 1990, 333)."
Querverweise
innerhalb der IP-GIPT zum Problemkomplex Forensische Psychologie, Psychologie
des Denkens, Psychologioe des Willens, das Willenfreiheitsproblem, Definition
und Termininologie, Diagnostik und Differentialdiagnostik u.a.m..
262—289 Kapitel Die Verantwortungsreife von Karl
Peters
Kapitel Psychologische Aspekte der Schuldfähigkeit
von Hans Thomae und Hans Dieter Schmidt
326, 328, 331, 332, 334, 339, 341, 342, 344, 345,
346, 348, 349, 351 359, 369, 374, 376, 378, 386—393
Unrecht(s)
Scholz, O. B. & Schmidt, A. F. (2003). Schuldfähigkeit
bei schwerer anderer seelischer Abartigkeit. Psychopathologie - gutachterliche
Entscheidungshilfen. Stuttgart: Kohlhammer.
Einsichtsfähigkeit 10, 12, 13, 29, 45, 46, 107
Dauer, Steffen (2011). Forensische Psychiatrie und Psychologie. (Wintersemester
2011/ 2012). Institut für Rechtspsychologie Halle/Saale [PDF]
Teil IV zur Lehrveranstaltung (S. 21):
11.1.2.3. Schuldausschließende oder schuldmindernde Bedingungen
zweiter Ordnung
___
Nedopil: Forensische Psychiatrie. In (S.
1344): Möller, H.-J.; Laux, G. & Kapfhammer, H.-P. (2008,
Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
___
Ontisierung. Das Universalienproblem
scheint in der Rechtswissenschaft namentlich nicht bekannt. Aber in der
Sache wird es von manchem erkannt, so von Rainer Wimmer in seinem Beitrag
"Weltansichten aus sprachlicher und rechtlicher Perspektive. Zur Ontisierung
von Konzepten des Rechts", in (81 - 95) Eichoff-Cyrus
& Antos (2008). Ich zitiere S. 82 und hebe fett-kursiv die universalienrelevante
Stelle hervor:
"Es geht in den rechtlichen Auseinandersetzungen
und Diskursen um eine Gegenstandskonstruktion und damit um eine Verdinglichung
von Vorstellungen, Begriffen und Konzepten, die aus rechtlicher Perspektive
entwickelt und begründet werden und die auf der Grundlage der Privilegierung
des rechtlichen Diskurses in unserer rechtsstaatlichen Gesellschaft in
die gemeinsprachlich konzipierte Vorstellungswelt der normalen Staatsbürger
hineingetragen wird. Der rechtliche Diskurs ist in unserer Gesellschaft
deshalb privilegiert, weil nach unserer Verfassung die Gerichte in relevanten
Situationen letztlich über die Bedeutungen von Ausdrücken zu
entscheiden haben. So hat das Verfassungsgericht verschiedentlich darüber
entschieden, was unter Gewalt zu verstehen ist. Ich spreche anstelle
von „Verdinglichung" auch von „Ontisierung". Es wird etwas als in der Wirklichkeit
seiend konzipiert und in diese hineingestellt, was in der gemeinsprachlich
bestimmten Wirklichkeitswelt der Normalbürger nicht fraglos seinen
Platz hat. Der Ausdruck Ontisierung hat gegenüber dem Ausdruck
Verdinglichung unter anderem den Vorteil, dass deutlich werden kann, dass
es nicht nur um (materielle) Gegenstände geht, sondern auch um Sachverhalte.
Sachverhalte haben auch mit der Relationierung von Gegenständen zu
tun. Ontisierung ist ein Teil dessen, was man seit Berger/Luckmann (1969)
die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" nennt."
___
Operationalisierung. Ein Begriff
kann als operationalisiert gelten, wenn sein Inhalt durch wahrnehm- oder
zählbare Merkmale bestimmt werden kann. Viele Begriffe in der Psychologie,
Psychopathologie, in Gesetzen und in der Rechtswissenschaft sind nicht
direkt beobachtbare Konstruktionen des menschliches Geistes und bedürften
daher der Operationalisierung. Welcher ontologischer
Status oder welche Form der Existenz ihnen zukommt, ist meist unklar.
Das Schema veranschaulicht zunächst, daß die Fälle vorhandener
respektive gänzlich fehlender Einsichtsfähigkeit vergleichsweise
unproblematisch sind. Konstellation Nr. 1 ist der strafrechtliche Regelfall
schlechthin, bei Nr. 2 und 3 hängen Ex- oder Dekulpation ersichtlich
von der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit ab. Die Konstellationen
Nr. 4, 5 und 6 folgen der Logik: „Sofern die Fähigkeit zur Einsicht
in das Strafbare des Handelns aufgehoben ist, stellt sich nicht mehr die
Frage nach der Steuerungsfähigkeit,"[Fn6] da sich „eine Person, die
das Unrecht eines Handelns nicht einsehen kann, nicht entsprechend einer
Rechtseinsicht steuern kann."[Fn7] Aber auch die Fälle der dritten
Gruppe erscheinen systematisch zwingend gelöst: Bei Nr. 7 und 8 schlägt
der jeweils „stärkere" Abstrich von der Schuld durch (bei Nr. 7 die
erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit, bei Nr. 8 die aufgehobene
Steuerungsfähigkeit), während Nr. 9 verdeutlicht, daß es,
abweichend vom obigen Zitat, bei (nur) erheblich verminderter Einsichtsfähigkeit
dennoch darauf ankommt, nach dem mit ihr einhergehenden „Schicksal" der
Steuerungsfähigkeit zu fragen - eben wegen Nr. 7 und 8."
Hier ist der wohl häufigste Sachverhalt gar
nicht vorgesehen, dass nämlich oft nicht
feststellbar (non liquet) ist, ob zum Tatzeitpunkt in der Entschlussphase
Einsichtsfähigkeitj§20 vorgelegen hat oder nicht.
Formallogisch wird offenbar nicht erkannt und problematisiert, dass der
indirekte Schluss einer zweiwertigen Logik nicht angewendet werden
darf (tertium
non datur gilt hier nicht). Aus dem Sachverhalt, Einsichtsfähigkeitj§20
nicht feststellbar, folgt nicht, Einsichtsfähigkeitj§20
gegeben oder nicht. Für diesen Fall fehlen rechtliche Regeln und in
der Sachverständigenpraxis wird häufig im Einklang mit dem Gericht
das Recht (Prüfung der Einsichtsfähigkeit) und die Realität
(Nichtfeststellbarkeit) missachtet.
Das Problem
hat auch Gunter Heinz
gesehen, wenn er schreibt (1990, S. 33; fett-kursif RS): "Eine übersteigerte
Perzeption der Gehilfenrolle stellt sich nach unserem Material dahingehend
dar, daß insbesondere auch unerfahrene Sachverständige bisweilen
die Verpflichtung fühlen, Entscheidungen konstruieren zu müssen
in Fäl-[>]len, die medizinisch unentscheidbar sind. Offenbar
gehört besonderer Mut dazu, einem Gericht zu erklären, daß
eine Frage nicht geklärt und ein Problem nicht gelöst werden
kann. Wissenschaftlich unhaltbare Konstrukte sollen es in diesem
Fall dem Gericht erleichtern, Tatablauf und Tatmotivation zu erkennen."
___
Stevens 1946.
___
Stiefkind.
Hierzu gibt es einige direkte Äußerungen: Habermeyer, Elmar
& Hoff, P. (2004) führen nach der Einleitung aus (616): "Der Strafrechtler
Schüler-Springorum hat eine die Frage der Einsichtsfähigkeit
betreffende Vermeidungshaltung der Psychiater skizziert, die sich im Ratschlag
erfahrener Gutachter niederschlage, von Erörterungen zur Einsichtsfähigkeit
besser die Finger zu lassen [9]." In [9] formulierte Schüler-Springorum
es in seiner Arbeit in der Festschrift für Joachim Schneider (1998)
so: „Von der Einsichtsfähigkeit lassen Sie am besten die Finger weg!"
Nedopil:
„Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit hat in der forensischen
Praxis keine Relevanz und sollte bei Schuldfähigkeitsbeurteilungen
nicht ernsthaft erwogen werden.“ Neben den direkten Äußerungen,
liefert die zahlreiche - aber hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit
ausgesprochen inhaltlose - Literatur den deutlicheren, wenn auch nicht
so leicht erkennbaren Beweis (der Abwesenheit von Inhalten).
Die Empfehlungen für Sachverständige,
die Finger von der Einsichtsfähigkeit zu lassen, kann man zwar verstehen,
wenn man bedenkt, wie schwierig die Handhabung dieses Konstruktes ist,
letztlich kommt diese Empfehlung einer Missachtung des Rechts gleich. Dann
wäre ein Rechtsstaat allerdings gut beraten, solche Konzepte einfach
zu streichen. Es würde ja genügen, die Bedingungen und die Verantwortlichkeit
und den Grad ihrer möglichen Beeinträchtigung für eine Handlung
gründlich zu untersuchen und darzulegen.
___
Unterschwelliges
Wollen. Ausdruck von Düker, H. (1983). Über unterschwelliges
Wollen. Göttingen: Hogrefe. Hieraus (S. 104):
"8.2. Folgerungen und Ausblick
Wenn wir den in unserer Untersuchung festgestellten
Wollenscharakter der hochgeübten Verrichtungen des praktischen Lebens
anerkennen, ist die Vermutung berechtigt, daß auch noch andere Vorgänge,
die man für wollensfrei hält, in Wirklichkeit vom unterschwelligen
Wollen gesteuert werden, also Handlungscharakter besitzen.
Das trifft für bestimmte Ausdrucksbewegungen
zu, also bei nichtsprachlichen Verhaltensmerkmalen, die der interpersonalen
Verständigung dienen. Im folgenden führen wir zur Verdeutlichung
einige Beispiele an: der Schlag mit der Faust auf den Tisch, um dem Ärger
besonderen Ausdruck zu verleihen; das Drohen mit erhobenem Arm und geballter
Faust, um Gegner einzuschüchtern; das Beifallklatschen nach einem
Konzert, das höfliche Verneigen bei einer Begrüßung. Diese
Beispiele, die sich beliebig vermehren lassen, besitzen alle das Merkmal
der Zielstrebigkeit, sie haben also Handlungscharakter."
___
Verbotsirrtum.
§ 17 StGB: "Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht,
Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht
vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die
Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden."
___
Vorsatz:
Aus: W. Gropp (2007). Die Straftat. In (31 - 92): Kröber, H.-L.;
Dölling, D.; Leygraf, N. & Saß, H. (2007, Hrsg.).
Handbuch der Forensischen Psychiatrie. 5 Bde. Berlin: Steinkopff (Springer).
Band 1 Strafrechtliche Grundlagen der Forensischen Psychiatrie.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Forensische Psychologie site: www.sgipt.org. |