Potentielle Fehler in forensisch psychopathologischen Gutachten, Beschlüssen und Urteilen der Maßregeljustiz
Eine methodenkritische Untersuchung
illustriert an einigen Fällen
u. a. am Fall Gustl F. Mollath
mit einem Katalog
der potentiellen forensischen Gutachtenfehler
sowie einiger RichterInnen-Fehler.
von Rudolf
Sponsel, Erlangen
_
Zum Geleit:
". . . Je weniger sich der Richter auf die bloße Autorität des Sachverständigen verläßt, je mehr er den Sachverständigen nötigt, ihn - den Richter - über allgemeine Erfahrungen zu belehren und mit möglichst gemeinverständlichen Gründen zu überzeugen, desto vollkommener erfüllen beide ihre verfahrensrechtliche Aufgabe . . . " BGHStS, 113, (118)
"Das Gesamt der Gerichten überreichten psychiatrischen Gutachten
weist nicht nur ein erhebliches Qualitätsgefälle auf sondern
ist zu einem nicht geringen Prozentsatz wegen grundsätzlich vermeidbarer
sachlicher Fehler oder Irrtümer im Bereich von Diagnostik und Befundauswertung
unbrauchbar."
Venzlaff: Fehler und Irrtümer in psychiatrischen
Gutachten NStZ 1983, 199
Psychologische und psychiatrische Untersuchung
sind eine hohe Kunst, die einige Erfahrung und Geschick verlangen.
Sie fällt niemandem in die Wiege, sondern sie muss gelernt, geübt
und gepflegt werden,. Was einer kann, sieht man ziemlich schnell und klar
an seiner Exploration. Sie ist das Herz- und Kernstück,
die Königsdisziplin der psychopathologischen Quellenforschung des
Erlebens. Das wird nicht nur von den forensischen Fachkundigen (Mindestanforderungen),
sondern auch von der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft (Veröffentlichungen
und Kommentare) erkannt und gewertet. Umso erstaunlicher ist es, wie viele
forensische-psychiatrische Sachverständige sich den meist kardinalen
Kunstfehler leisten, nicht persönlich zu explorieren und zu untersuchen.
Rechnet man z.B. die Daten - repräsentative Statistiken werden vom
Rechtssystem wohlweislich nicht durchgeführt - die Dinger & Koch
(1992) mitteilten, hoch, so ergibt sich, dass offenbar 72% der Sachverständigen
auf eine persönliche Exploration verzichtet haben - was ihnen, und
das ist das eigentlich schlimme - die RichterInnen vermutlich nicht nur
einfach durchgehen ließen, sondern für ihre "Recht"sprechung
ganz praktisch fanden. Angesichts der unglaublichen Missstände möchte
man fordern, dass sämtliche Schuldfähigkeits- und Unterbringungsgutachten
überprüft werden.
PsychiaterInnen wurden und werden von allen Herrschaftssystemen
nicht nur missbraucht, sondern
es fanden sich immer und überall PsychiaterInnen, die in willfähriger
Kollaboration aktiv mitmachten und weiterhin mitmachen. Dieser Missbrauch
ist vor allem aus totalitären Systemen, rechts- oder links- faschistischen
(z.B. unter Stalin, Hitler, Pinochet, DDR) allgemein bekannt. Weniger bekannt
und meist verleugnet oder bagatellisiert wird, dass auch bürgerliche,
scheinbar rechtsstaatliche, westliche Systeme wie z.B. die USA, die Bundesrepublik
Deutschland oder Österreich einen beträchtlichen Missbrauch
mit Hilfe psychiatrischer Sachverständiger betreiben. Ständig
wird Recht missachtet und gebrochen, der gesunde Menschenverstand mit Füßen
getreten, elementare wissenschaftliche Prinzipien und Regeln, Gründlichkeit
und Sorgfalt sowie die Berufsethik grob missachtet, so dass man sagen muss:
die Bundesrepublik Deutschland ist in Sachen Forensischer Psychiatrie teilweise
kein Rechtsstaat mehr, sondern gemahnt streckenweise an ein übel anmutendes
Gulagsystem, in dem Politik, Gesetzgeber, Justiz und Psychiatrie auf unheilvolle
und fatale Weise zusammenwirken, wie z.B. in extremer Weise der Steuerfahnderskandal
in Hessen und der Fall G. F. Mollath ebenso eindrucksvoll wie abschreckend
belegen.
Hier wird nur die Spitze des Eisbergs behandelt.
Insgesamt wurden aufgrund von realen psychiatrischen Gutachten, Gerichtsbeschlüssen
und Gerichtsurteilen unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen
Fachveröffentlichungen zum Sachverständigenwesen - insbesondere
zu Standards und Mindeststandards - für diese Basisversion 18 potentielle
Fehlerkategorien unterschieden: Absolute Fehler
(AbsF), 6; Allgemeine Fehler (AllgF),
7; Allgemeiner Anamnese-Fehler (AnamF),
7; Forensische Anamnese-Fehler
(Devianz) (AFADF), 9; Annahme-
/ Voraussetzungs-Fehler (AnVoF), 6; Befundfehler
(BefF), 15; Beweisfragen-Fehler(BewF),
8;
Darstellungs-Fehler (DarsF), 10;
Daten-Fehler
(DatF), 5; Diagnosen-Fehler (DiagF), 10;
Dokumentations-Fehler
(DokF), 19;
Evaluations-Fehler
(EvaF), 4; Explorations-Fehler ("Vernehmungsfehler")
(ExpF), 22; Kontroll-Fehler
(KonF), 4; Methoden-Fehler (MethF), 15;
Planungs-Fehler
(PlanF), 4; Untersuchungs-Fehler
(UntF), 12; Validitäts-Fehler
(ValF), 4;
Sonstiger
bislang nicht klassifizierter Fehler (SonF) 1, also:
6 + 7 + 7 + 9 + 6 + 15 + 9 + 10 + 5 + 10 + 22 + 4 + 19 + 4 + 15 + 4
+ 12 + 4 = 167 potentielle Fehler ohne die jeweiligen
Rest- und Auffangkategorien. Die Zählung kann sich mit weiteren Bearbeitungen
ändern.
Zudem wurden bislang 14 potentielle RichterInnen-Fehler
im Hinblick auf forensisch-psychiatrische Gutachten und 13 potentielle
allgemeine Beweismethodikfehler der RichterInnen erfasst. (Stand 13.12.14).
Sämtliche potentiellen Fehler werden mit echten
realen Beispielen aus psychiatrischen Gutachten belegt, verständlich
gemacht und illustriert, so dass sich jede LeserIn selbst ein klares und
nachvollziehbares kritisches Bild von den Fehlersachverhalten machen kann.
Ergänzend wird eine spezielle Seite zu den vielen und kaum glaublichen
Richter-Fehlern
(> Rechtsfehler) in Bezug auf psychiatrische
oder Psycho-Gutachten und zu allgemein Beweismethodik-Fehlern beigegeben.
Anmerkung: die vorliegende Arbeit knüpft an
meine vorangehenden Arbeiten zu potentiellen Kunstfehlern in der Psychotherapie
(1998, 2002,
), Fehler in MPU-Gutachten (2007)
an, aber auch an meine ständige Arbeit zum Thema Beweis und beweisen
in Wissenschaft und Leben (2003)
und an meine aussagepsychologischen Arbeiten (2002;
Aussagepsychologische
Wahrheitstheorie2005), zu Suggestivfragen
(2002) wie allgemein zur forensischen
Psychologie und Psychopathologie an (> Überblick).
Nach intensiver Auseinandersetzung
mit forensisch-psychiatrischen Gutachten, nicht nur im Fall Mollath, gelang
es mir nach gut eineinhalb Jahren, das Grundproblem forensisch-psychiatrischen
Gutachten zu erfassen, zu verstehen und, wie ich hoffe, auch zu nachvollziehbar
beschreiben: Meinungsachten.
Die gröbsten und fatalen Fehler, die ein Gutachten oft wertlos machen:
Vorbemerkung: Das Einzelfallprinzip
gebietet sicherheitshalber nur von potentiellen Fehlern zu sprechen. Der
Katalog enthält also überwiegend nur potentielle Fehler. Ob ein
potentieller
Fehler im spezifischen Einzelfall wirklich ein Gutachten-Fehler ist, sollte
nicht absolut-allgemein, sondern im Realitätsrahmen und Situationskontext
des Einzelfalles untersucht und entschieden werden. Und natürlich
hängt die Fehler-Diagnose und das Gewicht, das ihr zukommt, auch sehr
davon ab, aus welcher wissenschaftlichen Perspektive oder Basis die Betrachtung
erfolgt. PsychoanalytikerInnen haben z.B. ein sehr lockeres Verhältnis
zu Phantasie und Vermutungen und verwechseln diese oft mit Wissenschaft,
Empirie oder Objektivität.
Wichtig ist vielleicht auch, dass man sich eingesteht:
fehlerlose Gutachten gibt es nicht. Aber: die Problemlösung beginnt
bekanntlich mit der Problemwahrnehmung. Deshalb ist es sinnvoll, sich seinen
möglichen Fehlern grundsätzlich zu öffnen. Manche Fehler
mögen auch keine ernste Bedeutung haben, andere aber im jeweiligen
Einzelfall vielleicht schon. Und es gibt fatale Fehler, die ein Gutachten
nicht verwertbar machen (z.B. Oder-Diagnosen, Verfassung und Befinden zu
den Tatzeiten nicht exploriert oder, bei keinem Ergebnis hierzu (non liquet),
die Beweisfrage als nicht beantwortbar erklärt, nicht persönlich
untersucht, unzulängliche Mittel und Methoden angewendet, ... ...
...)
Kleine Fehlertaxonomie: (1) Fatale, nicht mehr reparierbare
Fehler (> Vorgabefehler). (2) Fatale Fehler
ohne nähere Spezifikation. (3) Fatale, aber grundsätzlich noch
reparierbare Fehler ("Nachbesserung", weiteres Ergänzungsgutachten).
(4) Fehler ohne bedeutsame Auswirkung auf die Beantwortung der Beweisfrage.
(5) Sonstiger in seiner Bedeutsamkeit nicht richtig oder zuverlässig
einschätzbarer Fehler.
Sonderfall: Fehlerhaftes Gutachten, aber im Ergebnis
nachvollziehbar und - wenn auch mit anderem Vorgehen - zum gleichen Ergebnis
gelangend.
Absolute Fehler
(AbsF)
Mit dieser Seite wurden die potentiellen Fehler erstmals gekennzeichnet:
AbsFZZr
(rechtliche Beurteilungen), AbsFZZf
(fachliche Beurteilungen) und AbsFZZb
(Beispiele aus Gutachten). Das erleichtert in langen Seiten die Orientierung.
Allgemeiner Anamnese Fehler
(AnamF)
Befundfehler
(BefF)
Der Befund bildet die Grundlage oder
Basis (> Punkt
9) für die Ableitung und Beantwortung der Beweisfragen.
Daten-Fehler
(DatF) > Zur Theorie und Praxis psychologischer und psychopathologischer
Daten.
Diagnosen-Fehler
(DiagF) > Das
Fehler- Paradigma in der Diagnostik.
Dokumentations-Fehler (DokF)
MASFGA
:= Mindestanforderungen
an Schuldfähigkeitsgutachten.
o.n.S. := ohne nähere Spezifikation. Die Kennzeichnung 1-16 entsprechen
sind den Kriterien MASFGA entnommen 1.5= DokF05, abcd bis DokF09.
Explorations-Fehler
("Vernehmungsfehler") (ExpF)
Vorgabefehler besonders im forensischen Bereich Zu den schlimmsten fatalen, weil grundsätzlich nicht mehr wieder gut zu machenden Fehlern gehört, dass in der Exploration oder Vernehmung Vorgaben - die immer suggestiv sind - gemacht werden, die vom Exploranden oder zu Vernehmenden selbst nicht aufgebracht worden sind. In strenger Analogie kann man sie mit einem chirurgischen Implantateingriff kognitiver Art vergleichen. Hier wird im Bewusstsein und Gedächtnis des Vernommenen womöglich etwas eingeführt, erzeugt oder hergestellt, was originär und ursprünglich vielleicht nicht da war. Wir wissen es dann nicht und wir werden es niemals mehr wissen können, weil mit der Vorgabe ein für alle Mal die Möglichkeit verloren ist, herauszufinden, ob es den vorgegebenen Sachverhalt oder das vorgegebene Thema ursprünglich und originär im Gedächtnis des Vernommenen gab. Und das ist ein fataler oder verheerender, weil nicht mehr gut zu machender Fehler. Im Grunde genommen sind alle Aussagen zu Vorgaben aussagepsychologisch nicht verwertbar. [Quelle] |
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Untersuchungs-Fehler
(UntF)
Hier geht um die Güte und Sicherheit, mit der Beweisfragen
beantwortet werden können. Hier ist das Kern- und Herzstück eines
wissenschaftlichen
Gutachtens betroffen, also kein Meinungs-, Fantasie-, Akten-, Spekulations-
oder Null- und Nichtigachtens mangels elementarer materialer Substanz.
"Wonach strebt die Forensische Psychiatrie? Nach Erkenntnis, nach gesicherten Aussagen, nach einer vernünftigen Grundlage für einen humanen Umgang mit psychisch Kranken, die sich im sozialen Regelwerk verirren, und nach einem vernünftigen und humanen Umgang mit Rechtsbrechern. Diese Ziele sind nie endgültig erreicht, aber es gilt, das jeweils Erreichbare auch zu leisten. Dies beginnt mit der Sorgfalt und handwerklichen Qualität jedes einzelnen Gutachtens. Wenn vor Gericht seitens des Sachverständigen eine psychologische „Erklärung“ zum Verhalten des Angeklagten abgegeben wird, dann muss sie nicht nur stimmen können, dann muss sie mit hinreichender Evidenz wirklich stimmen." H. L. Kröber "1.3 Ethische Aspekte forensischer Tätigkeit", HBdFP Bd,.1, 2007. (fett-kursiv RS) [PDF] RS-Kommentar: Alles gut und richtig, aber ohne Bedeutung, wenn man sich, besonders auch der Autor, nicht daran hält. |
Sonstiger bislang nicht klassifizierter Fehler (SonF)
RichterInnen-Fehler bezüglich forensischer Gutachten > Rechtsfehler bei Unterbringung ...
Persönliche
Untersuchung zwingend - nach einem Kammergerichtsbeschluss aus 1988
zur Geschäftsfähigkeit
Primärquelle: KG, Beschluß v. 8.3.1988 - 1
W 880/88. Sekundär-Quelle NJW-RR 1988, anläßlich zur Frage
Rechtsgarantien bei vormundschaftsgerichtlicher Unterbringungsgenehmigung
BGB §§ 104, 1631b, 1800, 1915; FGG §§ 19, 27, 64a.
Hieraus (fett-kursiv RS): "Ärztliche Gutachten
dürfen sich schon insoweit nicht darauf beschränken, dem Gericht
nur Untersuchungsergebnisse mitzuteilen und damit pauschale Wertungen zu
verbinden; vielmehr muß das Gutachten ausreichende Tatsachen enthalten,
die dem Gericht eine eigene Prüfung des Ergebnisses der Untersuchungen
ermöglicht (vgl. OLG Celle, NdsRpfl 1970, 180 (181); Saage-Göppinger,
Freiheitsentziehung, 2. Aufl. (1975), III, Rdnr. 391). Das somit erforderliche,
erkennbar von einem Arzt mit psychiatrischer Vorbildung und Erfahrung erstattete
Gutachten muß ein ausführliches und überzeugendes Bild
vom Geisteszustand des Betroffenen vermitteln (BayObLG, Rpfleger 1987,
20; Saage-Göppinger, Freiheitsentziehung, III, Rdnrn. 260, 389).
Dazu gehört auch, daß sich der betreffende Arzt ein möglichst
deutliches Bild von der derzeitigen Verfassung des Betroffenen verschafft
(Saage-Göppinger, III, Rdnr. 263). Deshalb muß sich aus
dem Gutachten regelmäßig ergeben, daß die Feststellungen
des das Gutachten erstattenden Arztes auf einer persönlichen Untersuchung
des Betroffenen beruhen, die eine möglichst kurze Zeit zurückliegt
(vgl. Saage-Göppinger, III, Rdnrn. 261, 381)."
Hypothesengeleitete
Untersuchung zwingend erforderlich (1999)
Anlässlich einer Überprüfung aussagepsychologischer
Glaubhaftigkeitsbegutachtungen hat der BGH mit Urt. vom 30. Juli 1999 -
I StR 618/98 - LG Ansbach (StPO § 244 Abs. 4 Satz 2) ganz allgemein
seine Auffassung zur hypothesengeleiteten Untersuchungsmethodik verkündet
und begründet. Er hat damit grundsätzlich die wissenschaftliche
Methodik für untersuchungsleitend und verbindlich erklärt. Das
gilt natürlich für alle wissenschaftlichen Gutachten, die Beweisfragen
stellen.
Im einzelnen führt der BGH aus:
Und der 2. Senat des BVerfG
bekräftigte am 5 Februar 2004 (2 BvR 2029/01) noch einmal in der Interpretation
von Boetticher (NStZ 2005, 417) unter 2. Die Anforderungen an die Prognoseentscheidungen:
"... Eingang in die Prognosebeurteilung können allerdings die beiden
wichtigsten methodischen Prinzipien aus dieser Entscheidung finden, die
als generalisierbare Maßstäbe für alle forensischen Gutachten
gelten sollten: (1) Bei jeder forensischen Begutachtung müssen vor
Beginn der diagnostischen Untersuchungen zunächst Hypothesen über
die zu prüfenden Sachverhalte aufgestellt werden. Auf der Grundlage
dieser Hypothesen sind diagnostische Methoden auszuwählen und anzuwenden,
welche geeignet sind, zwischen den Hypothesen zu entscheiden."
Im aller einfachsten und primitivsten Fall gibt es immer drei Möglichkeiten, z.B. im Strafprozess: (+) Er war es. (-) Er war es nicht. (?) Nicht feststellbar. Ermittlungsbehörden, die ihre Aufgabe wohlverstanden ausführen, müssen daher immer auch alternativ ermitteln, sonst begehen sie einen schweren, mitunter nicht mehr gutzumachenden Hypothesenfehler einseitiger (parteilicher) Ermittlung und setzen sich dem Vorwurf der Befangenheit aus. Im Falle G. F. Mollath ist die Kardinalfehler mehrfach und nachhaltig gemacht worden.
Unterbringungsanordnung
zur Beobachtung setzt Mitwirkungsbereitschaft des Beschuldigten voraus
(2001)
BVerG
- 2 BvR 1523/01. Zitierung: BVerfG, 2 BvR 1523/01 vom 9.10.2001, Absatz-Nr.
(1 - 28), "… Eine Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus zur Beobachtung kann danach nicht erfolgen, wenn der Beschuldigte
sich weigert, sie zuzulassen bzw. bei ihr mitzuwirken, soweit die Untersuchung
nach ihrer Art die freiwillige Mitwirkung des Beschuldigten voraussetzt
(vgl. BGH, StV 1994, S. 231 f.). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn
eine Exploration erforderlich wäre, diese aber vom Beschuldigten verweigert
wird und ein Erkenntnisgewinn deshalb nur bei Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden
(§ 136 a StPO) oder einer sonstigen Einflussnahme auf die Aussagefreiheit
des Beschuldigten zu erwarten ist (vgl. OLG Celle, StV 1985, S. 224; StV
1991, S. 248). ...."
Siehe bitte auch: KG
Beschluss zum § 81 StPO.
Verbot Diagnosen Ver-Oderung
bei Schuldfähigkeitsgutachten. (2004) > Vorläufer
dieser Rechtsidee (1992).
Hierzu der BGH
Beschluß vom 12. 11. 2004 - 2 StR 367/04 (LG Koblenz), in: BGH: Anforderungen
an ein psychiatrisches Sachverständigengutachten NStZ 2005, 205. Randnummer
2 a) Aus den Gründen des BGH-Beschlusses: “Nach der ständigen
Rechtsprechung des BGH kann für die Anwendung der §§ STGB
§ 20, STGB § 21 StGB regelmäßig nicht offen bleiben,
welche der Eingangsvoraussetzungen des § STGB § 20 StGB vorliegt."
Der Beschluss wird allgemein auch wie folgt zitiert:
Eisenbergs häufige
Fehler 2011
Vierter Teil. Sachverständiger Eisenberg, StPO 7. Auflage 2011
Rn 1811-1813a [Abruf Beck Online UB 12.11.12] Kursiv-fette Hervorhebungen
von RS.
Die Psychiatrie, insbesondere die forensische, steht seit jeher in der
Kritik, die allerdings auch, was ihr hoch anzurechnen ist, aus den
eigenen Reihen kommt. Betroffen sind natürlich auch nicht nur die
forensische Psychiatrie, sondern genauso die forensische Psychologie, die
inzwischen aber sehr hohe Qualitätsstandards und einen eigenen langjährigen
Ausbildungsgang vorweisen kann. Es dürfte z.B. kaum noch ein aussagepsychologisches
Gutachten geben, dass die BGH-Kriterien nicht erfüllt. Das kann leider
von den forensich-psychiatrischen Gutachten so nicht gesagt werden. Die
folgenden Fehler- und Mängelausführungen sind absteigend chronologisch
geordnet, also aktuellere oben, ältere unten.
"48.10 Fehlerquellen psychiatrischer Gutachten
Wie bei Begutachtungsvorgängen im Rahmen der übrigen medizinischen
Disziplinen beruht auch die Erstattung von psychiatrischen Expertisen auf
Materialauswahl, Befunderhebung und wertender Stellungnahme, welche Ermessensentscheidungen
einen breiten Raum lässt. Auch bei gründlicher und kunstgerechter
Durchführung der Begutachtung können Unterschiede in der Beurteilung
auftreten, dies umso mehr, da die Psychiatrie nicht über jene naturwissenschaftlich
exakte Methodologie verfügt, wie sie etwa bei der Feststellung von
Blutgruppenmerkmalen oder bei der Abwicklung von DNA-Analysen zur Anwendung
kommt. Dies liegt nicht nur an Mängeln in der psychiatrischen Diagnostik,
sondern in der methodologisch schwierigen Fassbarkeit psychischer Tatbestände.
In mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen, die
sich mit dem Gesichtspunkt der Zuverlässigkeit und den Fehlerquellen
psychiatrischer Gutachten befassten, zeigten sich große methodologische
und formale Mängel. An Fehlerquellen von Seiten des Gutachters standen
oberflächliche Anamnese, schlechte Untersuchungstechnik, mangelnde
differenzialdiagnostische Kenntnisse, Festhalten an früheren Diagnosen,
Verwechslung von Befunden und Deutungen, voreilige Schlüsse („Blickdiagnosen“)
sowie Voreingenommenheit durch ideologische, emotionelle und technikgläubige
Daten im Vordergrund. Rasch (1967) beschreibt als ganz spezielle Fehlerquelle
das sog. gutachterliche „Verdammungsurteil“.
Es werde dadurch ein von allen humanen Qualitäten
entkleidetes Bild der Persönlichkeit entworfen, sodass der Eindruck
entstehe, der Gutachter habe seinen Auftrag dahingehend missverstanden,
möglichst viele negative Attribute auf den Probanden häufen zu
müssen. In manchen Fällen spielen Gefühle der Sympathie
oder Antipathie des Gutachters gegenüber dem Untersuchten eine nicht
zu unterschätzende Rolle. Mancherorts wird die Gefahr einer Verschiebung
der Rollenidentität des Sachverständigen [Einschub Tav. 48.6
Fehler bei psychiatrischen Gutachten (nach Nedopil, 2008)] zugunsten einer
Justizidentität befürchtet. Die Hauptfehlerquellen forensisch-psychiatrischer
Gutachten lassen sich nach Anamnese, Befund, Abwehrhaltung und Übernahme
von Prozessrollen unterteilen. ... ..."
"Fehlermöglichkeiten und Fallstricke gibt es in allen Stadien der
psychiatrischen Begutachtung. Der Sachverständige muss diese Fehlerquellen
kennen, um sie zu vermeiden. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas
ist selten. Systematische Arbeiten liegen nur aus früheren Jahren
vor (Böttger et al. 1988, Heinz 1982, Konrad 1996, Pfäfflin 1978,
Venzlaff 1983).
Fehler bei der Gutachtenerstattung können erhebliche
Auswirkungen auf das Schicksal der Probanden haben. Sofern es sich um vermeidbare
Fehler handelt, kann der Sachverständige in zivilrechtliche Haftung
genommen werden (s. Kap. 6), so dass es auch in seinem eigenen Interesse
ist, potenzielle Fehlerquellen zu erkennen. Auch dies gehört zur Verantwortung
des psychiatrischen Sachverständigen (Foerster 2004). Das Vermeiden
von Fehlern dient auch der Qualitätssicherung in der psychiatrischen
Begutachtung, um auch dadurch Angriffe auf psychiatrische Sachverständige
wegen tatsächlicher oder - sehr viel häufiger - vermeintlicher
Fehler durch die Medien und die Öffentlichkeit zu vermeiden (Foerster
2002). Dabei kann es gerade bei zivilrechtlichen Gutachten durchaus vorkommen,
dass der Sachverständige durch die Rechtsvertreter einer Seite angegriffen,
auch unsachlich angegriffen wird. Der Sachverständige sollte sich
hierdurch keinesfalls selbst zu unsachlichen Äußerungen verleiten
lassen (Widder 2007).
Prinzipiell können Fehler auf folgenden Ebenen
auftreten (Maisch 1985):
5.2 Fehlermöglichkeiten bei Auftragserteilung und Auftragsannahme
56
5.3 Fehlermöglichkeiten bei der Aktendarstellung
57
5.4 Fehlermöglichkeiten bei der Interaktion zwischen Proband
und Sachverständigem. 57
5.5 Fehlermöglichkeiten bei Exploration und Anamneseerhebung
57
5.6 Fehlermöglichkeiten im Befund 58
5.7 Fehlermöglichkeiten bei der Diagnose
58
5.8 Fehlermöglichkeiten bei der forensisch-psychiatrischen
Beurteilung. 59
5.9 Fehlermöglichkeiten im schriftlichen Gutachten.
59
5.10 Fehlermöglichkeiten im mündlichen Gutachten..
60
5.11 Fehlermöglichkeiten in unterschiedlichen Rechtsgebieten.
60
5.11.1 Fehlermöglichkeiten bei der strafrechtlichen
Begutachtung. 60
5.11.2 Fehlermöglichkeiten bei der Prognose-Begutachtung.
60
5.11.3 Fehlermöglichkeiten bei der zivilrechtlichen
Begutachtung. 61
5.11.4 Fehlermöglichkeiten bei der sozialrechtlichen
Begutachtung. 61
5.12 Verbesserungsmöglichkeiten 61"
Erstellung/Fortschreibung
der Mindestanforderungen für Prognosegutachten
Boetticher, A.
"Ist es Zeit, die bereits 10 Jahre alten, von einer interdisziplinären
Arbeitsgruppe erarbeiteten Mindestanforderungen für Prognosegutachten
zu überarbeiten? Wir meinen: ja. Der aktuelle Stand der Prognoseforschung,
neue Erkenntnisse in der Kriminalprognose, der Beitrag der Sexualmedizin
zur Kriminalprognose, Kriminalprognose als Teil des Risikomanagements oder
die Fragen, ist Kriminalprognose eine Kernkompetenz der Kriminologie und
wie können mehr sachverständige Gutachter ausgebildet und Juristen
verpflichtend fortgebildet werden? Dies alles sind Themenkreise, die auf
dem Hintergrund geänderter juristischer Rahmenbedingungen für
eine Fortschreibung
von Mindestanforderungen für Prognosegutachten diskutiert werden
müssen.
Die bisherigen Mitglieder der Arbeitsgruppe müssen zusammengerufen
werden und neue, jüngere Kolleginnen und Kollegen müssen für
das Mitwirken gewonnen werden. Wir wollen auch Sie als Anwenderinnen und
Anwender in die Diskussion einbeziehen."
Quelle S. 360: 31. Münchner Herbsttagung der
Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Forensischen
Psychiatrie (AGFP) vom 06.10. – 07.10.2016 – Abstracts –. Forensische Psychiatrie
und Psychotherapie, Volume 23, 2016 (3), 360-392,
Zum
richtigen Umgang mit Prognoseinstrumenten durch psychiatrische und psychologische
Sachverständige und Gerichte (2009)
Boetticher, Dittmann, Nedopil, Nowara, Wolf: (2009). Zum richtigen
Umgang mit Prognoseinstrumenten durch psychiatrische und psychologische
Sachverständige und Gerichte. NStZ 2009, 478.
"Ein Beschluss des 3. Strafsents des BGH vom 6. 12. 2007 (3 StR 355/07)
und ein Urteil des SchweizBG vom 9. 4. 2008 zur Fussnote 1 zur Anwendung
von statistischen Prognoseinstrumenten im Erkenntnis- und im Vollstreckungsverfahren
geben Anlass, einige weitere allgemeine Erläuterungen über die
von der interdisziplinären Arbeitsgruppe beim BGH im Jahr 2006 erstellten
Mindestanforderungen für Prognosegutachten zur Fussnote 2 hinaus zu
machen.
... ...
2. Um Prognoseinstrumente richtig anwenden zu können, bedarf es
nicht nur der Auswahl des richtigen Instrumentes, der Ausbildung in der
Anwendung des Instrumentes, der genauen Kenntnis der aktuellen Literatur
zu diesem Instrument, sondern auch der Fähigkeit empirische Daten
zu interpretieren und des Wissens um die Grenzen des jeweiligen Instrumentes.
In den Mindestanforderungen für Prognosegutachten zur Fussnote 12
wurde dies folgendermaßen formuliert: „Der Sachverständige muss
darin ausgebildet und im Stande sein, dieses Verfahren kompetent anzuwenden.
Er muss ein korrektes, den Operationalisierungen entsprechendes Verständnis
der Items und der Skalierung haben. Prognoseinstrumente ersetzen die hermeneutische
oder hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches
Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und die internationalen
Prognosestandards einzuhalten.” Eine unkritische Übernahme gruppenstatistischer
Erkenntnisse auf den Einzelfall oder gar mechanistische Übertragung
von empirischen Prognosekriterien ohne Bezugnahme auf die individuellen
Risiken, Fähigkeiten und Lebenssituationen wird nicht nur den Anforderungen
an Risikoeinschätzungen nicht gerecht, sondern führt auch zu
Fehlern bei der prognostischen Beurteilung. Mittlerweile hat eine Reihe
von Untersuchungen gezeigt, dass die Werte, die sich bei den einzelnen
Instrumenten errechnen lassen, nur eine sehr begrenzte und häufig
auch eine falsche prognostische Einschätzung erlauben zur Fussnote
13 zur Fussnote 14. Es ist somit in keinem Fall gerechtfertigt, Prognoseentscheidungen
auf Grund irgendeines Punktewertes zu treffen oder Prognoseentscheidungen
mit einem Punktewert zu begründen. Wer das tut, hat die Umsetzung
empirischer Daten in Einzelfallentscheidungen nicht verstanden. Er hat
grundsätzliche Fehler dahingehend gemacht, dass er gruppenstatistische
Ergebnisse in einem multikonditionalen Bedingungsgefüge auf den Einzelfall
übertragen hat, ohne zu prüfen, ob die anderen Konditionen mit
jener der Gruppe vergleichbar sind, in der die Daten gewonnen wurden. Er
hat die Streubreite des Verfahrens nicht berücksichtigt.
3. Dass die Punktewerte in operationalisierten Prognoseinstrumenten nicht für die Individualprognose anwendbar sind, bedeutet jedoch nicht, dass Prognoseinstrumente für die Einzelfallbetrachtung wertlos sind. Sie liefern, wenn sie richtig ausgewählt wurden, wichtige Hinweise dafür, welche Risikofaktoren empirisch häufig sind und deshalb nicht übersehen werden sollten. Sie sind, wie es im Manual des HCR-20 formuliert ist zur Fussnote 15, „ein aide- memoire”, also eine Gedächtnisstütze, damit wichtige Beurteilungsaspekte nicht vergessen werden. Sie erlauben möglicherweise auch den Untersuchten einer empirisch untersuchten Gruppe zuzuordnen. Der Vergleich mit den Ergebnissen empirischer Untersuchungen erlaubt eine gewisse Verankerung mit Vergleichspopulationen deren Rückfallrate bekannt ist, besagt aber noch nicht viel über den Einzelfall. Hierauf haben nahezu alle Prognoseforscher hingewiesen und verschiedene Vorgehensweisen genannt, wie der Einzelfall vor dem Hintergrund des empirischen Wissens zu beurteilen ist. Webster zur Fussnote 16 nennt es „professional judgement”, Dahle zur Fussnote 17 bezeichnet es als klinisches Verfahren und einer der Autoren zur Fussnote 18 spricht von einem [>480] hypothesengeleiteten Konzept. Diesen Ansätzen – ebenso wie der Anwendung des Basler Konstruktes zur Fussnote 19 – gemeinsam ist, dass individuell überprüft wird, welche Bedingungsfaktoren im Einzelfall für die bisherige Delinquenz und insbesondere für die zur Unterbringung führende Tat bedeutsam waren (und welche nicht), wie stabil diese Bedingungsfaktoren sich im Leben des Betroffenen erwiesen haben, ob sie sich durch Therapie oder andere Umstände verändert haben oder durch protektive Faktoren kompensiert wurden. Darüber hinaus ist nach diesen Konzepten zu klären, welches Gewicht diese Bedingungsfaktoren in zukünftigen Risikosituationen haben werden, wie wahrscheinlich solche Risikosituationen sein werden und welches Risikomanagement dann zur Verfügung steht.
4. Diese individuelle Analyse wurde in den Mindestanforderungen zur
Fussnote 20 durch einen relativ eindeutigen Fragenkatalog klar gestellt,
der lautet:
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die zu begutachtende
Person erneut Straftaten begehen wird?
Welcher Art werden diese Straftaten sein, welche Häufigkeit und
welchen Schweregrad werden sie haben?
Mit welchen Maßnahmen kann das Risiko zukünftiger Straftaten
beherrscht oder verringert werden?
Welche Umstände können das Risiko von Straftaten steigern?
Darin wird eben nicht nur die empirisch zu begründende Rückfallwahrscheinlichkeit
erfragt sondern eine individuelle Analyse der Vergangenheit und deren denkbare
Extension in die Zukunft unter Zugrundelegung unterschiedlicher Risikoszenarien.
Wenn diese individuelle Analyse nicht erfolgt, greift ein Prognosegutachten
zu kurz und ebenso das Urteil oder der Beschluss, der auf diesem Gutachten
aufbaut.
...
III. Die häufigsten Anwendungsfehler
1. Nach den grundsätzlichen Ausführungen zu den Prognoseinstrumenten ist es fehlerhaft, dass die Prognoseinstrumente wie in der Rechtspsychologie verwendete psychometrische Testverfahren benutzt werden. Nicht selten werden diese Instrumente fälschlicherweise als „Prognose-TRests” bezeichnet. Unter einem psychologischen Test ist jedoch ein wissenschaftliches Routineverfahren zu verstehen, das eines oder mehrere Merkmale untersucht zur Fussnote 21. Wissenschaftlich anerkannte Tests müssen sog. Testgütekriterien genügen. Dies sind Objektivität, Zuverlässigkeit (oder Reliabilität) und Gültigkeit (Validität). Objektivität bedeutet, dass Durchführung, Anwendung und Interpretation unabhängig vom Testanwender sein müssen, also unterschiedliche Personen zum demselben Ergebnis kommen bzw. das Ergebnis unabhängig ist von der Person des Untersuchers. Unter Zuverlässigkeit eines Tests wird verstanden, dass der Test ein Merkmal genau misst, und unter Validität, dass der Test tatsächlich das betreffende Merkmal misst. Entsprechend diesen Anforderungen werden psychologische Tests entwickelt.
2. Tatsächlich sind Prognoseinstrumente nicht wie Tests konstruiert. Sie gehen zurück auf Erfahrungen über die Rückfälligkeit von Straftätern, um diese für prognostische Zwecke nutzbar zu machen zur Fussnote 22. In ihrer weiteren Entwicklung wurden neben statistischen Daten, also unveränderlichen Merkmalen, auch klinische, d.h. dynamische, potenziell veränderbare Faktoren einbezogen, so dass auch die Entwicklung einer Person durch die Behandlung abgebildet werden kann. Die theoretischen Konzepte, die diesen Instrumenten zu Grunde liegen, sind unterschiedlich, ebenso wie die Methodik, mit der die in den Instrumenten enthaltenen Merkmale gefunden wurden zur Fussnote 23. Deshalb ist es unabdingbar, dass die Anwender der Instrumente neben ihrer allgemeinen beruflichen Erfahrung auch in der Anwendung der Instrumente ausgebildet sind. Während man beispielsweise den Intelligenzquotienten, den man über ein bestimmtes Testverfahren ermittelt hat, unter Angabe der Messgenauigkeit des benutzten Verfahrens zu einer statistischen Norm in Beziehung setzten kann, die aus einer Eichstichprobe gewonnen wurde, ist dies bei einem durch ein Prognoseinstrument ermittelten Score nicht möglich. Dem Kundigen gibt der Score Anhaltspunkte für die Verortung, für den Unkundigen ist dieser Score nicht mehr als eine Zahl. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die einzelnen Merkmale der Prognoseinstrumente nicht validiert sind, weder für bestimmte Delikte noch für bestimmte Tätergruppen. Vor allem muss eine prognostische Aussage beinhalten, von welchen Kontextvariablen ein mögliches Risiko abhängig ist. Darüber ist jedoch mit Hilfe eines Prognoseinstrumentes keine Aussage möglich. Genauso wenig kann die Art einer Lockerung oder die Art der Gefährlichkeit auf diese Weise bestimmt werden.
3. Die Annahme, dass die Anwendung möglichst vieler oder mehrerer Instrumente in einer prognostischen Beurteilung die Sicherheit der Prognose erhöhe, ist unzutreffend. Dies erinnert an die (nicht zutreffende) Regel: „Viel hilft viel”, die man auch immer wieder bei der Anwendung von psychologischen Tests findet zur Fussnote 24. Es kommt nicht darauf an, möglichst verschiedene Verfahren anzuwenden, sondern diejenigen, die für den Einzelfall am besten geeignet sind. Ähnlich wie man die psychologischen Testergebnisse in einem Gutachten nicht einfach auflistet, sollte man dies auch nicht mit den Angaben der Werte der einzelnen Merkmale bzw. des Gesamtscores eines Prognoseinstrumentes tun. Derartige Werte sind Befunde und können der Transparenz halber in dem Abschnitt „Befunde” des Gutachtens erwähnt werden. Die Arbeit des Gutachters besteht dann aber darin, diese Befunde in der Beurteilung auszuwerten, sie zu erläutern und den Bezug zur Gutachtenfragestellung herzustellen.
4. Für Gutachten im Bereich der Strafvollstreckung und des Strafvollzuges
ergeben sich keine grundsätzlichen Abweichungen von dem bisher Gesagten.
Da solche Gutachten in besonderer Weise die künftige Entwicklung des
Probanden in den Blick nehmen, sollen einige Gesichtspunkte dazu ergänzt
und vertieft werden:
Auch für die Entscheidungen der Strafvollstreckungsgerichte gilt,
dass das Gericht das Gesetz anzuwenden hat: Der zu beurteilende Lebenssachverhalt
ist in dem üblichen Vorgang unter die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes
zu subsumieren. Es wäre deshalb rechtsfehlerhaft, den Lebenssachverhalt
unter die Merkmale eines psychologischen Tests oder eines forensisch-psychiatrischen
Prognoseinstrumentes oder hier gar unter einen dort gefundenen Summenwert,
eine Punktezahl oder einen „Score” zu subsumieren. Das wäre nicht
nur gegen das Gesetz, sondern die Richter würden sich in ein Gebiet
begeben, das sie nicht erlernt haben. Sie träten von den studierten
Grundlagen der Rechtswissenschaft über in die (im besten Fall) nur
nachvollzogenen Tiefen der Psychologie [>481] und Psychiatrie als Erfahrungswissenschaften.
Der gesetzliche Auftrag des StGB, der StPO oder des StVollzG würde
deshalb verfehlt, wenn die Gerichtsentscheidung, etwa über die Verantwortbarkeit
einer Aussetzung, lediglich die Ausführungen des Sachverständigen
zu einem Prognoseinstrument übernähme und anhand eines „Score”
entschiede, dass die Aussetzung normativ verantwortbar sei oder nicht.
IV. Zusammenfassung
Für beide oben dargestellten Fallkonstellationen gilt, was das
SchweizerBG exemplarisch zum standardisierten Dokumentationssystem FOTRES
ausgeführt hat: Prognoseinstrumente sollen dem Gutachter im Sinne
einer Beurteilungshilfe dazu dienen, möglichst umfassende und damit
auch treffsichere Prognosebeurteilungen im Einzelfall vorzunehmen. Zur
individuellen Prognose bedarf es über die Anwendung derartiger Instrumente
hinaus zusätzlich einer differenzierten Einzelfallanalyse durch den
Sachverständigen. Denn jedes Instrument kann nur ein Hilfsmittel sein,
eines von mehreren Werkzeugen, mit denen sich der Gutachter die Prognosebeurteilung
erarbeitet. Der Sachverständige hat dann die Ergebnisse in einen individuellen
Kontext zu stellen und transparent und nachvollziehbar den Entscheidungsgang
für den Einzelfall darzustellen. Somit hängt die Qualität
der Risikoeinschätzung auch bei Anwendung von Prognoseinstrumenten
letztlich von Wissen, von Erfahrung und Kompetenz des Sachverständigen,
aber auch von seiner Kommunikationsfähigkeit ab.
Stützt sich die Beurteilung der Gefährlichkeit
ausschließlich auf die Resultate eines Prognoseinstruments und fehlt
eine individuelle Analyse der Risikoeinschätzung durch einen Sachverständigen,
erschöpfen sich die standardisierten Aussagen allein auf ein gruppenspezifisches
Rückfallrisiko, ohne dass dabei nachvollzieh- und damit überprüfbar
aufgezeigt wurde, auf Grund welcher Informationsgrundlagen und Datenselektion
die Bewertung der Einzelmerkmale und letztlich die prognostische Beurteilung
des individuellen Täters erfolgt ist. Dieses individuelle Ergebnis
hat der Richter selbstständig zu überprüfen und im Urteil
darzulegen, warum er dem Sachverständigen folgt oder auch nicht folgt.
Dies hat er vorzunehmen, ohne dass er selbst versucht, die „Scores” der
Prognoseinstrumente zu interpretieren und dies in den Urteilsgründen
als seine Überzeugung darzustellen."
Zur leichteren Zitierweise werden für die hier erarbeiteten Kriterien von mir (RS) Kürzel in [eckigen Klammern] eingefügt.
"C. Katalog der formellen und inhaltlichen Mindestanforderungen für kriminalprognostische Gutachten
I. Formelle Mindestanforderungen an ein Prognosegutachten [MAPG-I-Formell]
Für ein fachgerechtes kriminalprognostisches Gutachten gelten die Prinzipien, die generell für die wissenschaftlich fundierte Begutachtung im Einzelfall zu berücksichtigen sind. Die unter I. genannten Mindestanforderungen für ein handwerklich ordentliches Gutachten sind daher weitestgehend identisch mit den Kriterien, die in den Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten FN12 genannt wurden. Sie werden hier nochmals genannt, um die Übereinstimmung zu betonen und zugleich Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Gesamtkatalogs zu sichern. Zudem werden nachfolgend einige Kriterien im Hinblick auf die kriminalprognostische Begutachtungssituation erläutert.
Kriminalprognostische Gutachten setzen eine einschlägige Erfahrung in der Exploration von Straffälligen, Kompetenz im eigenen psychiatrischen, psychologischen oder sexualmedizinischen Fachgebiet sowie gediegene kriminologische Kenntnisse voraus.
1.1 Nennung
von Auftraggeber und Fragestellung, ggf. Präzisierung [MAPG-I-1.1
Auftraggeber, Fragestellung]
Die Präzisierung ist dann erforderlich, wenn aus Sicht des Sachverständigen
der Auftrag für das Gutachten nicht eindeutig ist. Zur weiteren Abklärung
der Beweisfrage ist beim Auftraggeber rückzufragen.
1.2 Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung [MAPG-I-1.2 Ort, Zeit, Umfang]
1.3 Dokumentation der Aufklärung [MAPG-I-1.3 Aufklärung]
1.4 Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungs- und Dokumentationsmethoden (z.B. Videoaufzeichnung, Tonbandaufzeichnung, Beobachtung durch anderes Personal, Einschaltung von Dolmetschern) [MAPG-I-1.4 Doku]
1.5 Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen. [MAPG-I-1.5 Quellen]
Der Sachverständige hat zu begründen, wenn die Erschließung
weiterer Informationsquellen notwendig ist. Zusätzlich zu medizinischen
und psychologischen Untersuchungsverfahren können z.B. die Einholung
fremdanamnestischer Angaben von signifikanten Dritten (z.B. Partnerinnen)
zur Gewinnung von Informationen über den sozialen Empfangsraum oder
das Sexualleben des Probanden erforderlich werden. Während medizinische
und psychologische Untersuchungsverfahren von ihm selbst durchgeführt
oder veranlasst werden können, sind Zeugenvernehmungen (sog. Fremdanamnese)
durch den Sachverständigen nicht unproblematisch; es ist hier allemal
in enger Absprache mit dem Auftraggeber vorzugehen (vgl. zu den Einzelheiten
B.II.4).
1.6 Kenntlichmachen der interpretierenden und kommentierenden Äußerungen und deren Trennung von der Wiedergabe der Informationen und Befunde [MAPG-I-1.6 DiffDarlInterprKommInformBef]
1.7 Trennung von gesichertem medizinischem (psychiatrischem, psychopathologischem) sowie psychologischem und kriminologischem Wissen und subjektiver Meinung oder Vermutungen des Gutachters [MAPG-I-1.7 TrennSicherMeinVermutg]
1.8 Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Konsequenzen, ggf. rechtzeitige Mitteilung an den Auftraggeber über weiteren Aufklärungsbedarf [MAPG-I-1.8 OffUnklarhProbleme]
1.9 Kenntlichmachen der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der beteiligten Gutachter und Mitarbeiter [MAPG-I-1.9 GetrAusweisBeteil]
1.10
Bei Verwendung wissenschaftlicher Literatur Beachtung der üblichen
Zitierpraxis [MAPG-I-1.10 Zitat]
Unnötig ist das Auflisten von gängigen Lehrbüchern oder
Diagnosemanualen am Schluss eines Gutachtens. Mit Fundstelle belegt werden
sollte spezielle Literatur, aus der im Gutachten zitiert wird, um bestimmte
wissenschaftliche Sachverhalte zu verdeutlichen.
1.11 Klare und
übersichtliche Gliederung [MAPG-I-1.11 KlarÜbersichtlGliederung]
II.1 Mindestanforderungen bei der Informationsgewinnung [MAPG-II-InformatGewinnung]
Abschnitt II beleuchtet die Notwendigkeiten bei der Durchführung der Begutachtung, der Erschließung der schriftlich dokumentierten Informationen und der Untersuchung des Probanden selbst. Ziel dieser Informationserschließung ist es, ein möglichst exaktes, durch Fakten gut begründetes Bild der Person des Probanden, seiner Lebens- und Delinquenzgeschichte, der in seinen Taten zutage getretenen Gefährlichkeit und seiner seitherigen Entwicklung zu gewinnen. Ohne die Rekonstruktion der Persönlichkeitsproblematik, der Lebens- und Delinquenzgeschichte fehlt einer in die Zukunft gerichteten Risikoeinschätzung das entscheidende Fundament.
Es ist nicht ausreichend, sich allein auf die Angaben des Probanden oder das Vollstreckungsheft zu stützen, zumal sich das Gutachten aus dem Erkenntnisverfahren nicht darin befindet; in der Regel ist also die Einsichtnahme in die Verfahrensakten erforderlich, zudem sind Vorstrafakten, Krankenakten oder Gefangenen-Personalakten bedeutsam. Für eine problemorientierte Exploration des Probanden ist es unerlässlich, dass der Sachverständige über ein sicheres Faktenwissen über die Ereignisse in der Vergangenheit verfügt, aber auch über Zeugenaussagen und frühere Einlassungen des Probanden. Der Sachverständige hat ggf. eigenständig die relevanten Akten anzufordern.
II.1.1 Umfassendes
Aktenstudium (Sachakten, Vorstrafakten, Gefangenenpersonalakten, Maßregelvollzugsakten)
[MAPG-II-1.1 UmfassAktenstudium]
Zur Rekonstruktion der Ausgangsproblematik sind die Sachakten des zu
Grunde liegenden Verfahrens und ggf. die Akten zu früheren relevanten
Strafverfahren wichtig. Für die Rekonstruktion des Verlaufs seit der
Verurteilung sind die Stellungnahmen der Haftanstalten und Maßregeleinrichtungen
(im Vollstreckungsheft) sowie die Anstaltsakten grundlegend. Zur Einsichtnahme
in diese Akten vgl. B.II.4).
Die wesentlichen, beurteilungsrelevanten Ergebnisse
der Aktenauswertung sind im Gutachten schriftlich darzustellen, so dass
das Gutachten aus sich heraus verständlich [>543] und auch in seinen
Schlussfolgerungen nachvollziehbar wird.
II.1.2 Adäquate
Untersuchungsbedingungen [MAPG-II-1.2 AdäqUntBeding]
Die Exploration sollte unter fachlich akzeptablen Bedingungen durchgeführt
werden, bei denen ein diskretes, ungestörtes und konzentriertes Arbeiten
möglich ist.
II.1.3 Angemessene
Untersuchungsdauer [MAPG-II-1.3 AngUntDauer] unter Berücksichtigung
des Schwierigkeitsgrads, ggf. an mehreren Tagen
Die Exploration ist für den Probanden möglicherweise für
Jahre die letzte Chance, seine Person und seine Sicht der Dinge darzustellen.
Dafür sollte ihm angemessen Raum gegeben werden. Bei begrenzten Fragestellungen
oder bei ausführlichen vorangegangenen Begutachtungen kann ein einziger
Untersuchungstermin ausreichend sein. Bei komplexen Fragestellungen und
einem bislang unbekannten Probanden wird der Sachverständige schon
wegen der Fülle der zu besprechenden Themen (siehe II.1.5) meist mehrere
Termine wahrnehmen müssen.
II.1.4 Mehrdimensionale
Untersuchung [MAPG-II-1.4 MehrdimUnt]
- Entwicklung und gegenwärtiges Bild der Persönlichkeit
- Krankheits- und Störungsanamnese
- Analyse der Delinquenzgeschichte und des Tatbildes
Unter „mehrdimensionaler Untersuchung" ist zu verstehen, dass themenbezogene 3 elementare Bereiche exploriert werden: Person - Krankheit - Delinquenz. Eine Reduktion auf nur 2 oder eines dieser Themen macht das Gutachten insuffizient. Die 3 Bereiche sind im individuellen Lebensverlauf zeitlich und sachlich verzahnt, was im Gespräch oft ein chronologisches Vorgehen nahe legt. Wenn die Prognosebegutachtung die erste forensische Begutachtung des Probanden ist, sollte man sich hinsichtlich der zu erhebenden Informationen an den „Mindestanforderungen für die Schuldfähigkeitsbegutachtung" orientieren. Dies betrifft insbesondere die delikt- und diagnosespezifische Exploration.
II.1.5
Umfassende Erhebung der dafür relevanten Informationen [MAPG-II-1.5
UmfErheb]
Hierzu gehören insbesondere: Herkunftsfamilie, Ersatzfamilie,
Kindheit (Kindergartenalter, Grundschulalter), Schule/Ausbildung/Beruf,
finanzielle Situation, Erkrankungen (allgemein/psychiatrisch), Suchtmittel,
Sexualität, Partnerschaften, Freizeitgestaltung, Lebenszeit-Delinquenz
(evtl. Benennung spezifischer Tatphänomene sowie Progredienz, Gewaltbereitschaft,
Tatmotive etc.), ggf. Vollzugs- und Therapieverlauf, soziale Bezüge,
Lebenseinstellungen, Selbsteinschätzung, Umgang mit Konflikten, Zukunftsperspektive.
Ausführliche Exploration insbesondere in Bezug auf die Lebenszeitdelinquenz
(Delikteinsicht, Opferempathie, Veränderungsprozesse seit letztem
Delikt, Einschätzung von zukünftigen Risiken und deren Management)
Wenn der Proband rechtskräftig abgeurteilt ist, kann und muss
der Sachverständige von den Urteilsfeststellungen ausgehen (vgl. oben
unter B. IV) und darf den Probanden mit den zu Grunde liegenden Sachverhalten
konfrontieren, ohne dass er sich damit dem Vorwurf der Befangenheit aussetzt.
Einzelne Sachverhalte, insbesondere zur Delinquenzgeschichte, müssen
gezielt erfragt werden, was Aktenkenntnis des Sachverständigen voraussetzt.
Wenn der Proband Angaben macht, die deutlich von früheren Einlassungen
oder von relevanten Akteninformationen abweichen, so sind diese Diskrepanzen
anzusprechen. Wie die Probanden darauf reagieren, ist ein weiterer wichtiger
Teil der Informationsgewinnung.
Informativ ist eine Wiedergabe der Äußerungen
im Gutachten, aus der die Gesprächs- und Argumentationshaltung des
Probanden deutlich wird. Die möglichst getreue Dokumentation von Kernaussagen
erleichtert es, sie einem späteren Vergleich zugänglich zu machen.
II.1.6
Beobachtung des Verhaltens während der Exploration, psychischer Befund,
ausführliche Persönlichkeitsbeschreibung [MAPG-II-1.6 BeobBeschr]
Unverzichtbar im Gutachten ist eine ausführliche und anschauliche
Beschreibung des psychischen Ist-Zustandes des Probanden. Der Sachverständige
soll das Interaktionsverhalten, die Selbstdarstellungsweisen, die emotionalen
Reaktionsweisen, den Denkstil des Probanden in der Untersuchungssituation
wahrnehmen, beschreiben und (persönlichkeits-)diagnostisch zuordnen.
Es ist also wichtig, sich bald nach den Gesprächen nochmals alle Wahrnehmungen
zu vergegenwärtigen und sie sprachlich zu fassen. Bei einem zweiten
Untersuchungsgespräch können erste Eindrücke überprüft
und eventuell korrigiert werden. Der „Psychische Befund" ist durch die
Wiedergabe testpsychologischer Ergebnisse nicht ersetzbar (s. II.1.8).
II.1.7
Überprüfung des Vorhandenseins empirisch gesicherter, kriminologischer
und psychiatrischer Risikovariablen, ggf. unter Anwendung geeigneter standardisierter
Prognoseinstrumente [MAPG-II-1.7 PrüfRisiko]
Die Informationen aus Aktenstudium und Exploration
können mit erfahrungswissenschaftlich fundierten, standardisierten
Instrumenten zur Risikoeinschätzung erfasst und partiell bewertet
werden. Diese Instrumente sind zunächst hilfreiche Checklisten, um
zu prüfen, ob die Exploration all jene Bereiche erfasst hat, die in
vielen Fällen kriminologisch relevant sind. Sie erfassen besonders
wichtige und besonders häufige Risikofaktoren. Ein Ende der Entwicklung
neuer standardisierter Verfahren ist nicht abzusehen. Insofern ist die
Festlegung auf ein bestimmtes Verfahren weder sinnvoll noch notwendig.
Das benutzte Verfahren hat aber bereits aus ethischen Gründen vier
methodische Mindestanforderungen zu erfüllen: Es muss standardisiert
sein, es muss ein Manual zur Erläuterung von Vorgehen, Items und Auswertung
existieren, es müssen Daten zur Reliabilität und Validität
des Instruments vorliegen. Der Sachverständige muss darin ausgebildet
und imstande sein, dieses Verfahren kompetent anzuwenden. Er muss ein korrektes,
den Operationalisierungen entsprechendes Verständnis der Items und
der Skalierung haben. Prognoseinstrumente ersetzen die hermeneutische oder
hypothesengeleitete Individualprognose nicht, helfen aber, empirisches
Wissen für die Prognose nutzbar zu machen und die internationalen
Prognosestandards einzuhalten.
II.1.8 -
Indikationsgeleitete Durchführung testpsychologischer Diagnostik
unter Beachtung der Validitätsprobleme, die sich aus der forensischen
Situation ergeben [MAPG-II-1.8 IndikatTestPsyDiag]
- Indikationsgeleitete Durchführung geeigneter anderer Zusatzuntersuchungen
Testpsychologische Untersuchungen können, wenn sie Antworten auf
nachvollziehbare Fragen liefern, nützlich sein, ebenso die Zweitsicht
des Probanden durch einen Psychologen. Für Prognosegutachten sind
die Eignung und die Validität psychologischer Tests von besonderer
Bedeutung und müssen im Gutachten dargelegt werden. Entscheidende,
gar objektive Hinweise zur Prognose sind aus testpsychologischen Aktualbefunden
nicht ableitbar, insbesondere nicht durch den Abgleich mit testpsychologischen
Befunddaten aus dem Erkenntnisverfahren, bei dem sich der Proband in einer
ganz anderen psychischen Situation befand. [>542]
Andere Zusatzuntersuchungen, z.B. mit bildgebenden Verfahren, sind sehr selten erforderlich und am ehesten angebracht, wenn es eine zwischenzeitlich eingetretene Erkrankung weiter abzuklären gilt (Alkoholfolgeschäden, Unfallschäden). Allein Forschungsinteresse kann solche Zusatzuntersuchungen im Rahmen der Begutachtung nicht begründen.
II.2 Diagnose
und Differentialdiagnose [MAPG-II-2 DiagDiffDiag]
Die Erhebung der Informationen wird abgeschlossen mit der Benennung
einer möglichst genauen Diagnose (orientiert gegenwärtig an ICD-10
oder DSM-IV-TR), sofern ein forensisch-psychiatrisch zu beschreibender
Sachverhalt vorliegt. An dieser Stelle sind auch differentialdiagnostische
Optionen zu benennen. Die eingehende Diskussion der Diagnose und der ihr
in diesem Fall zu Grunde liegenden Sachverhalte sowie der Differentialdiagnose
erfolgt dann hier oder im Rahmen der Beurteilung.
II.3 Mindestanforderungen
bei Abfassung des Gutachtens [MAPG-II-3 MA-AbfassgGA]
Bei diesen von der interdisziplinären Arbeitsgruppe erstellten
Mindestanforderungen handelt es sich um Prüfschritte, nach denen der
forensische Prognosegutachter gedanklich arbeitet. Für die Verfahrensbeteiligten
muss überprüfbar sein, auf welchem Weg und auf welcher wissenschaftlichen
Grundlage der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen
gelangt ist. Die vom Sachverständigen im Einzelfall gewählte
Vorgehensweise ist abhängig von der speziellen Beurteilungsproblematik,
dem Gewicht des zu beurteilenden Delikts, der Gefahr weiterer erheblicher
Straftaten und der sich daraus ableitenden Intensität der Begutachtung.
Bei Mehrfachbegutachtungen ist zu beachten, dass es keine schlichte Fortschreibung
bisheriger Stellungnahmen geben sollte.
II.3.1 Konkretisierung
der Gutachtenfrage aus sachverständiger Sicht, z.B. Rückfall
nach Entlassung, Missbrauch einer Lockerung [MAPG-II-3.1 KonkretGAfrage]
Zu Beginn der gutachterlichen Schlussfolgerungen ist es sinnvoll, den
Kern des Begutachtungsauftrags nochmals zu benennen und die dafür
wichtigen Gesichtspunkte zu konkretisieren. Sicherlich macht es einen Unterschied,
ob es um Entlassung oder aber Lockerungen geht, ob um die Begehung neuer
Straftaten oder Flucht. Es gibt je nach Fragestellung und Fallgestaltung
(Deliktsart, psychische Krankheit, Alter etc.) mehr oder weniger umfangreiche
erfahrungswissenschaftliche Kriterien. Allemal aber geht es dann im ersten
Schritt darum, aus der Rekonstruktion der Vorgeschichte die basale Problematik
des Probanden zu analysieren.
II.3.2
Analyse der individuellen Delinquenz, ihrer Hintergründe und Ursachen
(Verhaltensmuster, Einstellungen, Werthaltungen, Motivationen) [MAPG-II-3.2
AnalIndivDelinq]
Anhand der gewonnenen Erkenntnisse ist als erste Teilaufgabe die Frage
zu klären, worin bei dieser Person ihre „in den Taten zutage getretene
Gefährlichkeit" besteht, was bei dieser Person die allgemeinen und
besonderen Gründe ihrer Straffälligkeit sind. Es geht dabei um
die Erfassung der verhaltenswirksamen Einstellungen, Werthaltungen, Motive,
Intentionen, emotional-affektiver Reaktionsweisen sowie eingeschliffener
Verhaltensmuster. Ausgangspunkt jeder Prognose ist es, die bisherige delinquente
Entwicklung dieses Menschen nachzuzeichnen und aufzuklären. Dies umfasst
die Rekonstruktion von Biographie und Delinquenzgeschichte und ggf. Krankheitsgeschichte,
von Tatablauf und Tathintergründen des Anlassdelikts sowie weiterer
bedeutsamer Taten. Auf diese Weise soll eine ganz individuelle Theorie
generiert werden, aus welchen Gründen gerade diese Person bislang
straffällig geworden ist, was ggf. ihre Straffälligkeit aufrechterhalten
und ausgeweitet hat.
II.3.3 Mehrdimensionale biografisch fundierte Analyse unter Berücksichtigung
der individuellen Risikofaktoren
[MAPG-II-3.3 MehrdimBiogrAnal]
a) deliktspezifisch [MAPG-II-3.3a MehrdimBiogrAnal]
Hierher gehört die möglichst genaue Rekonstruktion von Tatablauf und Tathintergründen beim Anlassdelikt sowie bei weiteren bedeutsamen Taten. Die Analyse der Dynamik, die den Anlasstaten zu Grunde lag, ergibt sich aus der speziellen Delinquenzanamnese.
b) krankheits- oder störungsspezifisch [MAPG-II-3.3b MehrdimBiogrAnal]
Hier ist zu erläutern, ob und in welcher Ausprägung psychische Störungen, sexuelle Paraphilien oder sonstige Krankheiten aufgetreten sind und wie sie sich auf delinquentes Verhalten ausgewirkt haben.
c) persönlichkeitsspezifisch [MAPG-II-3.3c MehrdimBiogrAnal]
Ebenso sind die Persönlichkeitsentwicklung und ihre Bedeutung für kriminelles Verhalten (oder ggf. deren protektive Wirkung) zu überprüfen.
Auf Grund der Analyse dieser 3 Dimensionen soll vor dem Hintergrund empirischen Wissens eine individuelle Theorie generiert werden, wodurch die Straffälligkeit dieser Person bislang gefördert wurde. Es geht um die persönlichen und situativen Bedingungsfaktoren der Straftaten und ihre zeitliche Stabilität. Dabei können die situativen Faktoren hochspezifisch und unwiederholbar oder aber überdauernd oder allgegenwärtig sein. Es ist also nicht nur zu erörtern, worin die in den bisherigen Taten zutage getretene Gefährlichkeit dieser Persönlichkeit bestanden hat, sondern auch, wie stabil und dauerhaft die der Rückfallgefahr zu Grunde liegenden Faktoren sind. Hierzu bedarf es der Darlegung der empirischen Erkenntnis über die jeweiligen Risikofaktoren.
Anhaltspunkte und grobe Risikoeinschätzungen können dazu die standardisierten Instrumente liefern (vgl. oben II.1.7). Unter Bezugnahme auf deren Ergebnisse oder auch das kriminologische und forensisch-psychiatrische Erfahrungswissen ist eine grobe Zuordnung des Falles zu Risikogruppen möglich (in der Regel in Form einer Dreiteilung: hohes - mittleres - niedriges Risiko). Auf dieser Ebene klärbar sind am ehesten Fälle mit gruppenstatistisch belegtem sehr hohem oder sehr niedrigem Risiko. Entscheidend ist aber die Rekonstruktion der Gefährlichkeit und des Rückfallrisikos im Einzelfall, das von dem der Bezugsgruppe erheblich abweichen kann.
II.3.4
Abgleich mit dem empirischen Wissen über das Rückfallrisiko
möglichst vergleichbarer Tätergruppen (Aufzeigen von Überstimmungen
und Unterschieden) [MAPG-II-3.4 AbglEmpWisRückfallRisiko]
Der sorgfältig abgeklärte Einzelfall sollte sodann darauf
hin geprüft werden, ob er als typisch in eine bekannte Tätergruppe
passt, zu der man die wesentlichen Rückfalldaten kennt („Basisraten").
Es gibt einige Tätergruppen (z.B. bei Sexualdelikten, Raubdelikten,
Verkehrsdelikten, Drogendelikten), bei denen es bekannte Rückfallquoten
gibt, zumindest unspezifische Daten über erneute Bestrafung, manchmal
auch Daten zu spezifischer Rückfälligkeit (mit dem gleichen Delikt).
In der Regel interessiert den Sachverständigen nicht nur ein Rückfall
mit dem gleichen Delikt, sondern mit jedem schweren Delikt. Die gruppenstatistischen
Rückfallquoten in sehr vielen Deliktsbereichen liegen im Spektrum
von 20 bis 50%. Je mehr Variablen gleichzeitig berücksichtigt werden
sollen (z.B. Deliktart, Intelligenz, kultureller Hintergrund, psychische
Krankheit oder Substanzmissbrauch), desto seltener gibt es eine passende
Vergleichsgruppe mit bekannter [> 545] Basisrate der Rückfälligkeit.
Es geht also hier noch nicht um die Entscheidung im Einzelfall, sondern
wie im vorangehenden Punkt um eine Verortung des Einzelfalls im kriminologischen
Erfahrungsraum. Einen Probanden mit einem gruppenstatistisch niedrigen
Rückfallrisiko (z.B. sozial gut eingebundener, sonst nicht straffälliger
Ersttäter, nicht gewaltsamer sexueller Missbrauch der 13jährigen
Tochter der Partnerin, nicht pädophil, Basisrate unter 10% Rückfallrisiko)
wird man vor diesem kriminologischen Erfahrungshintergrund anders diskutieren
als einen Probanden, dessen Merkmale gruppenstatistisch auf eine sehr hohe
Rückfallwahrscheinlichkeit verweisen.
II.3.5
Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung des Probanden seit
der Anlasstat unter besonderer Berücksichtigung der Risikofaktoren,
der protektiven Faktoren, des Behandlungsverlaufs und der Angemessenheit
(Geeignetheit) der angewandten therapeutischen Verfahren [MAPG-II-5 DarstPersEntw]
Die 2. Teilaufgabe besteht in der Klärung der Frage, wie der Verlauf
seit der Anlasstat aussieht und zu bewerten ist. Die Prüfung der relevanten
Entwicklungen in der Zeit seit der Tat erlaubt weitere Aussagen über
die Persönlichkeit des Probanden, über mögliche Veränderungsprozesse
und sein Veränderungspotential. Sie dient zugleich in gewissem Umfang
einer Überprüfung der Theorie über die Persönlichkeitsentwicklung
und die Handlungsbereitschaften bis zur Tat. Besondere Aufmerksamkeit gilt
den Risikopotentialen dieser Person und ihrer Veränderbarkeit sowie
der Verstärkung protektiver Faktoren. Zu diskutieren ist, wodurch
Änderungen bedingt sein mögen, und welche Ressourcen und Möglichkeiten,
aber auch Grenzen dabei sichtbar werden.
In vielen Fällen ist dies verknüpft mit einer sachkundigen Therapieverlaufs-Beurteilung. Dabei ist nicht nur zu betrachten, was der Proband geleistet hat, sondern auch, ob die angebotenen oder durchgeführten Therapien überhaupt geeignet waren, ihn zu fördern und Delinquenzrisiken zu mindern. Entscheidend ist, ob in der Exploration und im Vollzugsverlauf sichtbar wird, dass die Behandlung gewirkt hat. Es geht nicht um irgendwelche Veränderungen oder sozial erwünschte Fortschritte, sondern um die Abklärung, welche Risikofaktoren deutlich abgeschwächt und welche unverändert sind, ob und welche protektiven Faktoren aufgebaut wurden. Das Gutachten soll aufzeigen, woran man dies konkret erkennen kann.
II.3.6 Auseinandersetzung
mit Vorgutachten [MAPG-II-3.6 AuseinVorGA]
Vorgutachter können zur gleichen Schlussfolgerung gekommen sein
wie das gegenwärtige Gutachten, sie können aber auch davon abweichen.
Mit beidem muss sich der Sachverständige auseinandersetzen. Auch die
von den Vorgutachten erhobenen Informationen sind ggf. erneut zu gewichten
und ggf. auf ihre Validität zu überprüfen. Abweichende Einschätzungen
müssen argumentativ begründet, tatsächliche oder scheinbare
Widersprüche geklärt werden.
II.3.7 Prognostische Einschätzung des künftigen Verhaltens und des Rückfallrisikos bzw. des Lockerungsmissbrauchs unter besonderer Berücksichtigung des sozialen Empfangsraums, der Steuerungsmöglichkeiten in der Nachsorge und der zu erwartenden belastenden und stabilisierenden Faktoren (z.B. Arbeit, Partnerschaft) [MAPG-II-3.7 ProgRückfallRisiko]
Die Abklärung der künftigen Lebensperspektiven eines Probanden und des „sozialen Empfangsraums" sind ein weiterer entscheidender Aspekt der Prognosebeurteilung: Dies betrifft nicht nur die subjektiven Zukunftsperspektiven, wie individuelle Wünsche hinsichtlich Arbeit, Partnerschaft, Sexualität, Sport, Freizeit, Kontakte zur Verwandtschaft, zu früheren Freunden und Bekannten, sondern mehr noch die objektiven: Welche Möglichkeiten wird er im Fall einer Entlassung haben hinsichtlich Wohnen, Arbeiten, finanzieller Absicherung, persönlichen Beziehungen, Freizeitaktivitäten, gesundheitlicher Betreuung etc.?
Aus der Zusammenführung von individueller Analyse der ursprünglichen Gefährlichkeit, der seitherigen Entwicklung gerade der Risikofaktoren, des erreichten Standes und der objektiven wie subjektiven Zukunftsperspektiven ergibt sich dann die Rückfallprognose, also die Beantwortung der Frage, ob die Gefahr besteht, dass die ursprüngliche Gefährlichkeit in relevantem Umfang fortbesteht. Es ist dies aber eine graduierende Einschätzung der fortbestehenden Risiken. Die Methode besteht darin, die bisherigen Entwicklungslinien, deren Bedeutsamkeit, Stabilität und Bewegungsrichtung sorgsam geprüft wurden, entsprechend ihren analysierten individuellen Gesetzmäßigkeiten in die Zukunft fortzuschreiben.
II.3.8 Eingrenzung
der Umstände, für welche die Prognose gelten soll, und Aufzeigen
der Maßnahmen, durch welche die Prognose abgesichert oder verbessert
werden kann (Risikomanagement) [MAPG-II-3.8 ProgGrenzenRiskManag]
Im Fall von Lockerungen läuft die abschließende Antwort
auf eine gestufte Risikobewertung hinaus: Wie hoch ist unter welchen Rahmenbedingungen
das Risiko eines Lockerungsmissbrauchs, und welche Verstöße
sind dann schlimmstenfalls zu erwarten? Im Falle der sog. bedingten Entlassung
geht es im Prinzip um eine Ja-Nein-Entscheidung, die das Gericht zu treffen
hat und für die das Gutachten erstellt wird: Ist die Gefährlichkeit
hinreichend gemindert, so dass im Falle einer Entlassung ein vertretbar
niedriges Rückfallrisiko besteht, oder nicht?
Das individuelle Rückfallrisiko ist aber modifizierbar durch stützende und kontrollierende Rahmenbedingungen. Eine wesentliche Aufgabe eines Prognosegutachtens ist also die Prüfung und Erörterung der Rahmenbedingungen, unter denen Tendenzen zu einem Rückfall rechtzeitig erkannt, erste Schritte auf diesem Weg verhindert werden können und weitergehende Kriseninterventionen möglich sind. Der Gutachter muss prüfen, ob solche institutionellen Möglichkeiten existieren und ob der Proband für ein solches Setting geeignet ist. Der soziale Empfangsraum - betreute Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, tagesstrukturierende und psychagogische Maßnahmen, kontrollierte Pharmakotherapie, forensische Fachambulanzen, psychiatrische und psychotherapeutische Weiterbehandlung, gesetzliche Betreuung und die Leistungsfähigkeit des familiären Umfeldes - muss realistisch beurteilt und auf einen zeitlichen Rahmen bezogen werden. Es ist aber auch zu überlegen, welche Situation nach dem Ablauf befristeter Maßnahmen für den Probanden zu erwarten ist."
I. Formelle Mindestanforderungen
MASFGA-F
1.1. Nennung von Auftraggeber und Fragestellung MASFGA-1.1
1.2. Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung MASFGA-1.2
1.3. Dokumentation der Aufklärung MASFGA-1.3
1.4. Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungs- und Dokumentationsmethoden
(z.B. Videoaufzeichnung, Tonbandaufzeichnung, Beobachtung durch anderes
Personal, Einschaltung von Dolmetschern) MASFGA-1.4
1.5. Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen MASFGA-1.5
II. Inhaltliche
Mindestanforderungen
1.13. Vollständigkeit der Exploration,
insbesondere zu den delikt- und diagnosenspezifischen Bereichen (z.B. ausführliche
Sexualanamnese bei sexueller Devianz und Sexualdelikten, detaillierte Darlegung
der Tatbegehung) MASFGA-1.13
1.14. Benennung der Untersuchungsmethoden. Darstellung der Erkenntnisse,
die mit den jeweiligen Methoden gewonnen wurden. Bei nicht allgemein üblichen
Methoden oder Instrumenten: Erläute[Forens Psychiatr Psychol Kriminol
1 2007 Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten >7]
rung der Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen MASFGA-1.14
1.15. Diagnosen unter Bezug des zugrunde liegenden Diagnosesystems
(i. d. R. ICD-10 oder DSM–IV-TR). Bei Abweichung von diesen Diagnosesystemen:
Erläuterung, warum welches andere System verwendet wurde MASFGA-1.15
1.16. Darlegung der differentialdiagnostischen Überlegungen
MASFGA-1.16
1.17. Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen, die im
Allgemeinen durch die diagnostizierte Störung bedingt werden, soweit
diese für die Gutachtenfrage relevant werden könnten MASFGA-1.17
1.18. Überprüfung, ob und in welchem Ausmaß diese
Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Untersuchten bei Begehung der
Tat vorlagen MASFGA-1.17
1.19. Korrekte Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu den
gesetzlichen Eingangsmerkmalen MASFGA-1.19
1.20. Transparente Darstellung der Bewertung des Schweregrades
der Störung MASFGA-1.20
1.21. Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung
zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten MASFGA-1.21
1.22. Darstellung von alternativen Beurteilungsmöglichkeiten."
MASFGA-1.22
Rasch & Konrad: Mängel
in psychologisch-psychiatrischen Gutachten. (2004)
Rasch, Wilfried & Konrad, Norbert
(2004, 3.A.). Forensische Psychiatrie. Stuttgart: Kohlhammer. (S.
329-331).
In [eckigen Klammern von RS] ein Kennzeichnungskürzel zum schnellen Zitieren bzw. Signieren.
"Mängel in psychologisch-psychiatrischen Gutachten
Durch Einstellung des Gutachters [RK-E]
In der Form des Gutachtens
[RK-F]
Bei der Erhebung
der Vorgeschichte [RK-V]
Bei der Erhebung der
Befunde
[RK-B]
In den Schlussfolgerungen
[RK-S]
"17.5 Fehlermöglichkeiten bei der Begutachtung
Fehlerquellen gibt es bei Begutachtungen bei jedem Schritt des Verfahrens,
von der Beauftragung des Sachverständigen bis zur Integration eines
Gutachtens in die rechtliche Entscheidung. Die Kenntnis dieser Fehlerquellen
und der wesentlichen Literatur zu diesem Thema ist für den Psychiater
deswegen entscheidend, zumal er für vermeidbare Fehler haftbar gemacht
werden kann. Außerdem hilft die Kenntnis der Fehlerquellen, die Ursachen
für unterschiedliche gutachterliche Schlußfolgerungen besser
zu analysieren.
Fehler, die Sachverständige nur indirekt mitverantworten
müssen, betreffen die Auswahl der Gutachter und die an sie gerichtete
Fragestellungen. Sollten Sachverständige erkennen, daß sie für
die Beantwortung der an sie gerichteten Fragen nicht kompetent sind, oder
sollte eine prinzipiell unbeantwortbare Frage an sie gerichtet werden,
so sollten sie dies dem Auftraggeber mitteilen. Andernfalls haben sie nicht
unerheblichen Anteil an den Folgen, die durch eine unzureichende Beantwortung
der Frage oder auch nur durch die Verzögerung des Verfahrens entstehen.
Die wesentlichen Fehler entstehen zumeist im eigentlichen
Begutachtungsprozeß. Heinz
(1982) ... ... ...
Der wertende Teil des Gutachtens enthält die meisten Fehlermöglichkeiten,
die jedoch nicht so eindeutig zu definieren sind wie die Fehler bei Anamneseerhebung
und Befunddarstellung. Am häufigsten wird in der Literatur kritisiert,
daß Psychiater die ihnen zustehende Rolle als „Helfer bei der Wahrheitsfindung"
oder den Kompetenzbereich ihres Fachgebietes verlassen. Dies ist der Fall,
wenn sie anfangen, deliktspezifisch zu ermitteln oder sich in die Rolle
des Anklägers oder Verteidigers zu begeben, aber auch, wenn sie sich
allzu sehr mit dem auftraggebenden Gericht identifizieren. - In allen Fällen
ergeben sich eine Vielzahl von Fehlerquellen.
Je stärker sich ein Gutachter „seinem" Gericht
verpflichtet fühlt oder gar finanziell von ihm abhängig ist,
desto eher besteht die Gefahr, richterliche Wertungen vorzunehmen oder
„den Fingerzeigen und verschlüsselten Ratschlägen des Gerichts"
zu erliegen (Staak u. Schewe 1971, Mende u. Bürke 1986).
Folgende Gutachtensfehler lassen sich aus den Untersuchungen zusammenfassen: [N96]
1. Auftragsannahme trotz mangelnder Kompetenz in Bezug auf die Gutachtenfrage [N96_1]
2. Unkritische Durchsicht der Akten [N96_2]
3. Fehler bei der Erhebung der Vorgeschichte: [N96_3]
4. Fehler
bei der Befunderhebung: [N96_4]
6. Fehler
bei der Darstellung: [N96_6]
7. Interaktionsfehler:
[N96_7]
S. 111: "Ein psychiatrisches Gutachten soll Materialauswahl, Befunderhebung und wertende Stellungnahme in der angegebenen Reihenfolge und ohne Vermischung der „Tatsachenfeststellung" und der „Interpretation" darstellen. [>112]
Im Aufbau eines Gutachtens sollte nach Ansicht verschiedener Autoren auf folgende Punkte eingegangen werden:
Die Praxis der psychiatrischen Begutachtung wurde vielfach kritisiert.
Neben formalen Fehlern im Aufbau weisen verschiedene Autoren auf die häufig
anzutreffende Unverständlichkeit in Argumentation und Sprache, Parteilichkeit
des Gutachters und die Problematik, die vertretene Entscheidung theoretisch
und wissenschaftlich zu begründen, hin."
S. 113: "3. Ergebnisse
a) Rahmenbedingungen der Begutachtungen und formale Aspekte
Anlässe, die zur Begutachtung führen, sind in zwei Drittel
der Fälle solche Situationen, für die eine Sachverständigenbeurteilung
zwingend ist bzw. solche nahelegen: Prozeß- bzw. Geschäftsfähigkeit
(4 Fälle), Pflegschaft (l Fall), psychiatrische Unterbringung (2 Fälle),
Fahrtüchtigkeit (2 Fälle), Zurechnungsfähigkeit (3 Fälle).
Der Auftraggeber des Gutachtens ist ebenfalls in
zwei Drittel der Fälle erkennbar. Am häufigsten (5 Fälle)
geht der Auftrag von der Staatsanwaltschaft aus. In 4 Fällen ist es
das Gericht, m 2 Fällen gibt der Querulant das Gutachten selbst in
Auftrag. In einem Fall wird das Gutachten vom Amt für öffentliche
Ordnung (zur Feststellung der Fahrtüchtigkeit) in Auftrag gegeben.
15 der 18 Gutachten werden von einem Facharzt für Psychiatrie bzw.
Neurologie verfaßt, in 2 Fällen ist es der Amtsarzt, in einem
Falle ein Psychologe.
In 14 der 18 Fälle hat der Gutachter den Probanden
persönlich gesehen. Nach den Empfehlungen zur Gutachtengestaltung
sollten neben vorliegendem Aktenmaterial und eventuell früheren Gutachten
zur Tatsachen feststel-lung in der Regel eigene Erhebungen des Sachverständigen
vorgenommen werden. In mehr als der Hälfte der Fälle beruht die
Begutachtung auf Beobachtungen während eines stationären Aufenthaltes.
Bei diesen Probanden ging es in jedem Falle um die Frage Geisteskrankheit.
Vorliegende Gerichtsakten werden in der Hälfte der Fälle, frühere
Gutachten in einem Drittel der Fälle herangezogen. Eine Exploration
- nach gutachtentechnischen Empfehlungen ein unabdingbarer Bestandteil
jeder Begutachtung - wurde nur in 5 Fällen durchgeführt. Zwei
Gutachten scheinen ausschließlich auf der Basis von Aktenmaterialien
und früheren Gutachten erstellt worden zu sein.
Die zum Teil deutlichen Diskrepanzen zwischen den
Vorgaben zum Gutachtenaufbau {siehe Kap. B VI) und der Gutachterpraxis
zeigen sich auch bei der formalen Gestaltung des Gutachtens. Während
sich regelmäßig Angaben zur Vorgeschichte und Beurteilungen
in den schriftlichen Formulierungen [>114] finden, werden körperlicher,
neurologischer oder psychologischer Befund jeweils nur in etwa einem Drittel
der Falle explizit erwähnt.
Zwar enthalten nahezu alle Gutachten eine Beurteilung
des Probanden. Da aber nur in etwa der Hälfte der Fälle eine
Darstellung der Tatsachenfeststellung gegeben wird, kann nur in diesen
Fällen von einer ordnungsgemäßen Beurteilung gesprochen
werden. In der anderen Hälfte handelt es sich eher um gutachterliche
Interpretationen. Dies schränkt die Verwendbarkeit für gerichtliche
Zwecke stark ein, da dem Gericht die vorgeschriebene Nachvollziehbarkeit
der gutachterlichen Stellungnahme nicht möglich ist."
"Das Gesamt der Gerichten überreichten psychiatrischen Gutachten weist nicht nur ein erhebliches Qualitätsgefälle auf sondern ist zu einem nicht geringen Prozentsatz wegen grundsätzlich vermeidbarer sachlicher Fehler oder Irrtümer im Bereich von Diagnostik und Befundauswertung unbrauchbar." |
"Die Praxis zeigt, daß Sachverständigen die meisten Fehler im Bereich der Diagnostik unterlaufen, die meisten Irrtümer aufgrund falscher Bewertung bestimmter Feststellungen und damit Nichtberücksichtigung anderer, und daß schließlich die Gefahr von diagnostischen oder Bewertungsfehlern besonders groß wird, wenn der Gutachter seine Rolle nicht richtig erfaßt, indem er sich z.B. mit der Ankläger- oder Verteidigerrolle identifiziert. (Aus 2. Grundlagen)
Zu den Diagnostik rechnet Venzlaff insbesondere die unvollständige Anamneseerhebung und die unterlassene Diagnostik.
"Untersuchungsfehler unterlaufen in der überwiegenden Zahl der Fälle durch unterlassene Diagnostik. Dies kann sich sowohl auf die Nichtanwendung bestimmter körperlicher Untersuchungsverfahren als auch psychologischer Tests beziehen, nicht selten leider aber auch auf zu kurze und oberflächliche Exploration etwa in der Haftanstalt." (Aus 2. Grundlagen, S. 200).
Venzlaff erörtert sodann "III. Bewertungsfehler
Neben der Unterlassung anamnestischer Erhebungen oder diagnostischer
Maßnahmen ist eine weitere Fehler- bzw. Irrtumsquelle in psychiatrischen
Gutachten die falsche Bewertung ärztlicher Feststellungen. Die häufigsten
Bewertungsfehler entstehen erfahrungsgemäß erstens durch Fehlinterpretation
körperlicher, speziell neurologischer und technischer Befunde, zweitens
durch die Überbewertung vordergründiger psychologischer oder
biographischer Konstellationen und drittens die Überbewertung des
aktuellen Eindrucks in der Untersuchungssituation."
Anschließend äußert er sich zu: "IV. Falsches Rollenverständnis des Gutachters und bespricht zunächst "1. Positive Gegenübertragung" und dann die "2. Negative Gegenübertragung. Auch dort, wo der Gutachter scheinbar strenge Neutralität wahrt, sprechen für seine Einstellung wiederum semantische Indizien. Gemeint sind z.B. die sog. “Etikettengutachten”, in denen sich die Persönlichkeitsbeschreibung und die Diagnose durch eine Überfrachtung mit pseudowissenschaftlichen Negativetiketten auszeichnet (z.B.: “Es handelt sich um eine haltlose, gemütsarme, ungesteuerte, bindungs- und kontaktgestörte, willensschwache psychopathische Persönlichkeit mit sadistischen Zügen.")." Schließlich äußert sich kritisch zum Thema "3. “Herrschende” Lehrmeinung. Eine weitere, an Gedankenführung und Argumentation im Gutachten erkennbare Auswirkung einer negativen Gegenübertragung ist der apodiktische Rückzug auf eine angeblich unumstößliche Lehrmeinung, die pikanterweise meist als “herrschend” apostrophiert wird."
In seiner "V. Schlußbemerkung" fasst Venzlaff zusammen:
"Wahrscheinlich gibt es aufgrund fehlerhafter Gutachten wesentlich
mehr Freisprüche, Haftverschonungen oder Gnadenerweise als Verurteilungen.
Ob dies nun aber gerade zur Ehrenrettung der Sachverständigentätigkeit
gereichen kann, bleibe dahingestellt. Wahrscheinlich wird es für den
Richter immer außerordentlich schwer, wenn nicht sogar in vielen
Fällen unmöglich sein, sachliche Fehler im Gutachten, die also
auf einer ganz anderen Ebene liegen, als divergierende Auffassungen in
Grenzfällen oder die nie auszuräumenden Ermessensspielräume,
zu erkennen. Er kann weiter durch das Auftreten des Gutachters vor Gericht
verunsichert werden, wenn etwa ein junger, mit den Spielregeln der Gerichtsverhandlung
und dem juristischen Vokabular noch nicht vertrauter Sachverständiger
und ein Routinier mit durch langjährige Erfahrung geschulter Formulierungskunst
unterschiedliche Standpunkte vertreten. Dabei ist der “Aufhörer” mit
seinem brillanten Vokabular und seiner all-round-Routine, der als pflegeleichter
und wartungsfreier Sachverständiger in einer Verhandlung besonders
angenehm ist, mitunter weit gefährlicher, als der bereits klinisch
gut ausgebildete “Anfänger” im Gerichtssaal, der aus lauter Angst,
etwas falsch zu machen, doppelt so viel Zeit aufwendet und doppelt so viel
Untersuchungen durchführt, als erforderlich sind. Auch der erfahrenste
Gutachter ist ja irgendwann einmal bangen Herzens zum Gericht gegangen,
um sein “Opus 1” vorzutragen."
Ich gebe zuerst die Zusammenfassung S. 253 wieder, die Grundsätzliches auch heute noch gültig auf den Punkt bringt:
"Zusammenfassung
Die Trennung von sachverständigem Wissen und rechtlichem Werten
ist ein Zentralproblem der Gutachten über die strafrechtliche Schuldfähigkeit.
Unter Berücksichtigung der juristischen Fragestellungen lassen sieh
für den psychiatrisch-psychologischen Sachverständigen drei Aufgabenbereiche
unterscheiden:
1. Wie auch immer man die strafrechtliche Schuldfähigkeit definiert,
die wissenschaftlich begründete Negation der allgemeinen Schuldfähigkeit
ist im Einzelfalle dadurch möglich, daß der Sachverständige
mit den Mitteln der Psychopathologie die ansonsten unterstellten Voraussetzungen
der menschlichen Verantwortungsfähigkeit ausschließt. 2. Stützt
sich der Richter - der höchstrichterlichen Rechtsprechung folgend
-auf den an der Willensfreiheit orientierten sittlich begründeten
Schuldbegriff, dann kann die Entscheidung über die Schuldfähigkeit
und ihre Einschränkungen nur durch eine rechtlich wertende Schuldzuweisung
erfolgen. Der Sachverständige kann dem Richter als »Gehilfe«
mit Persönlichkeitsdiagnostik und Motivationsanalyse lediglich »Material«
für diese Wertung liefern. 3. Stützt sich der Richter auf einen
präventiv begründeten Schuldbegriff, dann kann ihm der psychologisch-psychiatrische
Sachverständige durch Darlegung von Prognose und Behandlungsmöglichkeiten
eine Grundlage für eine Beurteilung der Schuldfähigkeit geben,
die die Zweckmäßigkeit der Sanktionsentscheidung berücksichtigt."
Sodann erläutert der Autor (S. 253):
"Der obengenannte Aufsatz von Rasch läßt
zwei Zielsetzungen erkennen: Einmal werden grundsätzliche Probleme
der Begutachtung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit erörtert,
die in einer Monatsschrift, die das Thema Strafrechtsreform in ihrem Titel
führt, immer wieder eingebend diskutiert werden sollten. Zum zweiten
wird dieses wichtige und interessante Thema in einer recht willkürlich
erscheinenden Weise als Aufhänger benutzt, um die Angriffe gegen den
Gerichtsärztlichen Ausschuß (GA) des Landes Nordrhein-Westfalen,
die von einem bestimmten Interessentenkreis seit vielen Jahren in wenig
wechselnden Variationen vorgetragen werden, zu wiederholen.
Zum ersten Thema sehe ich mich auf weite Teilstrecken
in völliger Übereinstimmung mit Rasch, meine aber, daß
er die erörterten Probleme zu sehr an der Oberfläche behandelt
hat und dadurch in wesentlichen Aspekten zu nur noch teilweise richtigen
Ergebnissen gekommen ist, die mit ihrer Verallgemeinerung stellenweise
sogar zu falschen Schlußfolgerungen geführt haben. Auch meine
ich, daß Rasch das zentrale Problem, welches speziell bei der Beurteilung
der Schuldfähigkeit im Strafrecht die Unterscheidung »richtiger«
und »falscher« Gutachten aufwirft, noch nicht genügend
herausgearbeitet hat. ... "
Im Teil Zum Thema : Richtige oder falsche Gutachten weist Witter auf einige sehr wichtigen Sachverhalte hin, u.a. (fett-kursiv RS; S. 255):
"Wer ein Gutachten über die strafrechtliche Schuldfähigkeit
eines Erwachsenen erstattet, sollte eigentlich wissen, was unter strafrechtlicher
Schuldfähigkeit zu verstehen ist. Darüber besteht aber nicht
nur bei fast allen psychologisch-psychiatrischen Sachverständigen,
sondern manchmal auch bei den in der Praxis tätigen Strafjuristen
eine erstaunliche Unklarheit. Die hier gefragte Schuldfähigkeit
ist kein psychologischer oder psychiatrischer, sondern ein Rechtsbegriff.
Im StGB ist die Schuldfähigkeit nur negativ geregelt, § 20 StGB
sagt: »Ohne Schuld handelt . . .«. Der Umkehrschluß von
der Schuldunfähigkeit auf die Schuldfähigkeit vermag keine ausreichende
Definition zu liefern und man wird sich in Rechtslehre und Rechtsprechung
umsehen müssen, um eine positiv-rechtliche Umschreibung von Schuldfähigkeit
zu finden.
In der Rechtslehre sucht man vergeblich nach einer übereinstimmenden
Definition des Begriffs der Schuldfähigkeit. Beschränkt
man sich in einer systematischen Vereinfachung auf die zwei wichtigsten
Grundtendenzen der Schuldauffassung in der Strafrechtslehre der Gegenwart,
dann findet man auf der einen Seite die Meinung, daß bei der Verwendung
der Kategorien Schuld und Verantwortlichkeit kein Weg an der Unterstellung
der Willensfreiheit vorbeifuhrt (z. B. bei Lenckner, Rudolph, Mangakis).
Demgegenüber wird auf der anderen Seite die Auffassung vertreten,
daß Schuld lediglich ein Zweckbegriff des Rechts ist, der durch die
Bedürfnisse der Spezial- und Generalprävention bestimmt wird
(z. B. bei Noll, Roxin, Jakobs). Während die erstgenannte an der Willensfreiheit
orientierte Beurteilung der Schuldfähigkeit unvermeidlich einen personal-sittlichen
Vorwurf gegen den Täter impliziert, - er »verdient« Strafe
-, bemüht sich die zweitgenannte an der Prävention orientierte
Auffassung, Schuld mehr als eine wertneutrale, haftungsrechtliche Notwendigkeit
darzustellen, - der Täter »braucht« Strafe oder Maßregel,
damit die Rechtsordnung gewährleistet werden kann. [>256]
Es ist verständlich, wenn sich der. Jurist
die Legitimation für die personal-sittliche Verurteilung des Straf
täters bei der Wissenschaft holen möchte. In weit zurückgreifender
kulturgeschichtlicher und rechtshistorischer Untersuchung läßt
sich erkennen, daß er diese zunächst beim Theologen, dann beim
Philosophen und schließlich beim Psychiater gefunden hat. Die
Unterstützung des Schuldvorwurfes durch den Psychiater mußte
dem Juristen besonders willkommen sein, weil nunmehr die vom Juristen
unterstellte Willens freiheit durch naturwissenschaftliche Erkenntnis bestätigt
schien. Tatsächlich hat aber der Psychiater, - wohl vielfach
ohne es selbst zu bemerken -, die Grenzen seines Fachwissens bereitwillig
überschritten und die Rolle der moralischen Autorität
übernommen. Nicht ganz zu Unrecht ist in jüngster Zeit von Vertretern
der Psychoanalyse den Vertretern der traditionellen Psychiatrie vorgeworfen
worden, daß sie dem Richter mit einem Konzept biologistischer
Vereinfachungen die Notwendigkeit eigener sittlicher Entscheidungen und
damit eine essentielle richterliche Verantwortung abgenommen haben.
Allerdings wollen diese Kritiker nun ihrerseits die Rolle der moralischen
Autorität übernehmen und bieten dazu psychologistische Theorien
an, die vielfach zu metapsychologischen Glaubenslehren ausgeweitet werden
und noch viel frag würdiger sind als alle aus der traditionellen Psychiatrie
kommenden Versuche, die Beurteilung von Einschränkungen der Willensfreiheit
als wissenschaftliche Aufgabe zu lösen. Die Anmaßung, moralische
Autorität für die rechtliche Beurteilung der Schuldfähigkeit
zu sein, ist jedenfalls bei den sogenannten progressiven Vertretern der
Psycho-Wissenschaften noch weit größer als bei den sogenannten
Konservativen.
Wenn die inkulpative Einmischung in die Schuldfähigkeitsbeurteilung,
die sogenannten konservativen Sachverständigen vorgeworfen wird, durch
eine rechtsunverständige ex- oder dekulpative Einmischung von sogenannten
progressiven Sachverständigen ersetzt wird, dann kann dadurch keine
sinnvolle Reform, sondern allenfalls eine Destruktion der sozialen Funktion
des Schuldstrafrechts bewirkt werden. Insbesondere, wenn einige Psycho-Wissenschaftler
mit Persönlichkeitstheorien, die zu Glaubenslehren, Ersatzreligionen
und Weltanschauungen ausgeweitet wurden, als Gutachter ihre höchstpersönlichen
Wertvorstellungen im Einzelfall der Strafrechtspraxis durchsetzen wollen,
- und mancherorts dafür journalistischen Beifall erhalten -, entsteht
eine Situation, die mit Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit nicht vereinbar
ist Der psychologisch-psychiatrische, wissenschaftlich begründete
Anspruch auf Reformen des Strafrechts sollte mit empirisch abgesichertem
kriminologischem Wissen und nicht mit neuen Ideologien vorgetragen werden.
Es ist natürlich das Recht eines jeden Bürgers, bestehende Rechts-
und Ordnungssysteme auf Grund einer Ideologie ändern zu wollen, aber
dieses Thema liegt außerhalb des hier erörterten Problems »richtiger
oder falscher Gutachten« und wirft ganz andere grundsätzlichere
Fragen auf.
Im Gegensatz zu vielen Vertretern der Psycho-Wissenschaften
ist in der Strafrechtslehre mittlerweile klar erkannt worden, daß
die Willensfreiheit als Kriterium der strafrechtlichen Schuldfähigkeit
kein Gegenstand einer psychologisch-psychiatrischen wissenschaftlichen
Entscheidung sein kann. (Siehe z.B. Sarstedt, Jescheck, Lenckner, Krümpelmann,
Stratenwerth, Roxin). Bockelmann [FN1] nennt es »baren
Unsinn, an den Psychiater die Zumutung zu richten«, daß er
die Willensfreiheit eines bestimmten Menschen unter Bezug auf ein konkretes
Ereignis wissenschaftlich ermitteln soll. Es kann heute in Rechtslehre
und Rechtsprechung als absolut herrschende Auffassung bezeichnet werden,
daß die Schuldfähigkeit und ihre Einschränkungen durch
einen wertenden Akt richterlicher Zuschreibung festzulegen sind, der sich
nicht als vermeintlich wissenschaftliche Aufgabe an den Sachverständigen
abschieben läßt."
Anschließend rückt Witter zu den zentralen
Kernfragen vor (S. 257):
"Wenn nun Willensfreiheit die Schuldunfähigkeit begründet,
Willensfreiheit als ein »Anders-Wollen-Können« aber lediglich
unterstellt und wissenschaftlich weder nachgewiesen noch ausgeschlossen
werden kann, was kann die Psychiatrie als Wissenschaft dem Recht überhaupt
noch bieten? Drei systematisch abgrenzbare Aussagenbereiche lassen sich
bei der Fragestellung an den psychologisch-psychiatrischen Sachverständigen
unterscheiden:
"Zu (1):
Die Unterstellung des »Anders-Wollen-Könnens« und
des dadurch bestimmten »Anders-Handeln-Könnens«, von der
das Strafrecht ausgeht, ist nicht voraussetzungslos. Anders-Handeln-Können
als freie sinnvolle Selbstbestimmung ist an die geistigen Fähigkeiten
zur Teilhabe an der sinngesetzlichen Ordnung unserer sozialen Welt gebunden.
Lassen sich diese Fähigkeiten bei einem Täter ausschließen,
und dies ist mit den Mitteln der wissenschaftlichen Psychopathologie durchaus
möglich, dann fehlen die Voraussetzungen der Willensfreiheit, - wie
auch immer man Willensfreiheit genauer definieren will. Wenn Willensfreiheit
also nur unterstellt und nicht positiv nachgewiesen werden kann, so ist
es doch möglich, das Fehlen von Vorausset Zungen der Willensfreiheit
nachzuweisen und damit Willensfreiheit mittelbar auszuschließen.
Jedermann ist einsichtig, daß die Fähigkeiten,
die Voraussetzung der Willensfreiheit sind, dem Tier, dem kleinen Kind,
bei hochgradiger Geistesschwäche und bei akuter Geisteskrankheit fehlen.
Bei Geistesschwäche (Schwachsinn, Demenz) ist es fehlende und bei
Geisteskrankheit (krankhafte seelische Störung, Psychose und psychoseähnliche
seelische Störungen) eine falsche Erkenntnis, die die Erfassung der
Realität unserer Welt unmöglich macht.
Beispielsweise kann der hochgradig Schwachsinnige
oder Demente die Bedeutung der roten Verkehrs ampel und ihren Zusammenhang
mit der Verkehrsregelung nicht erfassen, und er kann deshalb auch nicht
»verantwortlich« am Straßenverkehr teilnehmen, - es fehlt
an der notwendigen Realitätserkenntnis. Der Wahnkranke, der die rote
Verkehrsampel für eine an ihn gerichtete verschlüsselte Botschaft
aus dem Jenseiits hält oder überzeugt ist, daß er als Messias
den Vorschriften des irdischen Straßenverkehrs enthoben ist, hat
eine »falsche Erkenntnis«, die an der Wirklichkeit vorbeifuhrt.
Auch er kann wegen fehlender Realitätserkenntnis am Straßenverkehr
nicht »verantwortlich« teilnehmen."
S. 260: "Zu (2):
Während die vorgenannte formale Falsifikationsmethode sich auf
den wissenschaftlichen Nachweis der Schuldunfähigkeit richtet, muß
die inhaltsdynamische Interpretation individueller Verhaltensweisen, die
oft »Psychodynamik« genannt wird - also insoweit auch die Persönlichkeitsdiagnostik
und die Untersuchung der Motivationen eines Täters - unter ganz anderer
Zielsetzung gesehen werden. Sie richtet sich nicht auf die Fähigkeit
zur Schuld, sondern auf die Schuld selbst und deren Bewertung. Schuld wiederum
kann nur untersucht und bewertet werden, wenn vorweg die Fähigkeit
zur Schuld unterstellt wird. Wollte man aus der psychologischen Untersuchung
des Täters und seiner Tatmotive nicht nur eine Bewertung der Schuld,
sondern auch einen positiven oder negativen Nachweis der Fähigkeit
zur Schuld ableiten, dann würde man sich nicht mehr darauf beschränken,
nur die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit ins Auge zu fassen, man
würde vielmehr damit den Nachweis der Schuldfähigkeit selbst
beanspruchen -also das tun, was Bockelmann »baren Unsinn« nennt.
Wenn der Sachverständige Schuldfähigkeit
nicht ausschließen kann, dann beginnt eine andere, neue Aufgabe:
Bei einem grundsätzlich schuldfähigen Täter muß durch
eine rechtlich Wertung des psychologischen Sachverhaltes über die
Zuweisung der Schuld für ein bestimmtes Verhalten befunden werden.
Die auf dem Wege rechtlicher Wertung zuerkannte
Verminderung der Schuld wird unter bestimmten Umständen auch »verminderte
Schuldfähigkeit« und der mit rechtlicher Wertung begründete
Verzicht auf Schuldzuweisung wird auch »Schuldunfähigkeit«
genannt. Wenn nämlich der Schwerpunkt der schuldmindernden Gesichtspunkte
in den Besonderheiten der Persönlichkeit des Täters zu suchen
ist und wenn diese Besonderheiten der Täterpersönlichkeit sich
den Merkmalen der §§ 20, 21 StGB - krankhafte seelische Störung,
Schwachsinn, schwere seelische Abartigkeit, tiefgreifende Bewußtseinsstörung
- zuordnen lassen, dann wird die Verminderung der Schuld als Verminderung
der Schuldfähigkeit angesehen. - Es muß aber klar gesehen werden,
daß die wissenschaftlich nachweisbare Schuldunfähigkeit etwas
ganz anderes ist als die rechtlich zuerkannte »verminderte Schuldfähigkeit«,
die quantitative Abstufungen bis hin zu einer »Schuldunfähigkeit«
kennt.
Der Richter muß also vor der Zuerkennung einer
Einschränkung der Schuldfahigkeit zwei normative Rechtsentscheidungen
treffen. Er muß als erstes prüfen und entscheiden, ob
die psychische Verfassung des Täters zur Tatzeit einem der vorgenannten
Merkmale der §§ 20, 21 StGB subsumiert werden kann (Merkmalssubsumtion)
und - nur im Falle der Bejahung (!) -als zweites prüfen und entscheiden,
ob und inwieweit durch diese psychische Verfassung des Täters die
Zumutung des noch »Anders-Wollen-Könnens« eingeschränkt
werden soll (Einschätzung der sogenannten Steuerungsfähigkeit).
Bei beiden Entscheidungen kann der Richter auf die Hilfe des psychologisch-psychiatrischen
Sachverständigen angewiesen sein.
Ich beschränke mich hier auf die Frage der »Fähigkeit
zum einsichtsgemäßen Handeln«, die üblicher weise
Steuerungsfähigkeit genannt wird. Die Frage nach der Einsichtsfähigkeit,
die rechtssystematisch vor ausgeht, lasse ich ausgeklammert, weil sie in
der Praxis nur selten problematisch wird." [Kritik
RS]
Witter erörtert sodann wichtige Probleme im Bereich der Merkmalssubsumtion (S.261):
"Besteht von Seiten des Sachverständigen und des Richters eine
ausreichende Kenntnis der Inhalte der Rechtsbegriffe der §§ 20,
21 StGB, dann erweist sich die Zuordnung der psychologisch-psychiatrisch
feststellbaren Sachverhalte zu diesen Rechtsbegriffen meist als wenig problematisch.
Leider
fehlt diese Voraussetzung oft. Der Richter verläßt sich
auf die Kenntnis des Sachverständigen und dieser behandelt die Merkmalssubsumtion
wie eine psychologisch-psychiatrische terminologische Frage, die er mit
den ihm geläufigen diagnostischen Etikettierungen allein von seinem
Fachgebiet aus glaubt beantworten zu können. Die gesamte Problematik
genetischer und nosologischer Zweifelsfragen der Psychiatrie, die sich
- trotz ICD - in unterschiedlichem Gebrauch und unterschiedlicher Terminologie
psychologisch-psychiatrischer Diagnosen niederschlagen kann, wird auf diese
Weise in die forensische Begutachtung hineingetragen. Viele Sachverständige
kämpfen sogar für die Durchsetzung ihrer höchstpersönlichen
Definition der Rechtsbegriffe und sind beleidigt, wenn dies vom Gericht
nicht akzeptiert wird. Dies ist nicht nur überflüssig und vermeidbar,
sondern ein schwerwiegender gutachtlicher Fehler, der Verwirrung erzeugt
und zu Fehlentscheidungen führt.
Aber nicht nur mangelnde Kenntnis der Rechtsbegriffe
und der verfehlte Anspruch des Sachverständigen, daß er nach
seinen Vorstellungen über die Merkmalssubsumtion zu entscheiden habe,
sind ein häufiger gutachterlicher Fehler. Manche Gutachter lassen
den Richter bei der Merkmalssubsumtion völlig im Stich, sie befassen
sich in ihrem schriftlichen Gutachten allein mit der sogenannten
Steuerungsfähigkeit, weil sie glauben, allein darauf komme
es an.
Psychologisch-psychiatrische Krankheits- und Persönlichkeitsdiagnosen
können dem normativ denkenden Richter nur dann die Grundlage zur Merkmalssubsumtion
geben, wenn die sozialen Auswirkungen des diagnostizierten »Geisteszustandes«
erläutert werden. Die an den Diagnosen anknüpfenden erfahrungswissenschaftlichen
Erkenntnisse über Einschränkungen der Fähigkeit zur eigenständigen
Lebensgestaltung und Sozialanpassung im allgemeinen und über Einschränkungen
des Realitätsbezuges im besonderen müssen zunächst abstrakt
dargelegt und dann mit konkreten Tatsachen aus der Verhaltensanalyse,
insbesondere der Biographie des Täters, belegt werden."
S. 265: "Zu (3):
Im sozial sinnvollen Strafrecht kann die Festlegung der Schuldfähigkeit
nicht allein aus der sittlich begründeten Vorwerfbarkeit der Tat,
sondern nur im Zusammenhang mit den Aufgaben der Spezial- und Generalprävention
festgelegt werden. In diesem Rahmen kann der Sachverständige mit Aussagen
über die Beeinflußbarkeit, die Konstanz oder die Wandelbarkeit
der schweren seelischen Abartigkeit dem Juristen wissenschaftlich abgestützte
Hilfe bieten. Auch wenn die Aussagen des Sachverständigen zur Behandelbarkeit
und zur sozialen und kriminologischen Prognose eines Täters nicht
die Eindeutigkeit naturwissenschaftlicher Feststellungen haben können,
so stützen sie sich doch auf ein Erfahrungswissen und genügen
insoweit dem Anspruch, daß sich der Sachverständige auf die
Vermittlung von Wissen beschränken soll.
Wenn Rasch schreibt: »Die Prognose-Beurteilung
läßt sich - im Gegensatz zur Schuldfähigkeitsbeurteilung
- als ureigenster Bereich der psychologisch-psychiatrischen Wissenschaft
ansehen«, dann sehe ich mich auch hier in voller Übereinstimmung
mit ihm. Ohne jeden sittlich oder rechtlich wertenden Eingriff kann der
psychologisch-psychiatrische Sachverständige den Juristen bezüglich
der Präventionsfragen dadurch beraten, daß er aus seinen Untersuchungsergebnissen
prognostische Gesichtspunkte entwickelt sowie die Möglichkeiten und
Grenzen der Behandlung eines Täters erörtert. Alles, was der
Sachverständige auf Grund seines Fachwissens dem Richter dazu vermittelt,
hat mit der Rechtsfrage nach der Willensfreiheit für vergangenes Handeln
nichts zu tun. Allerdings kann der Richter diese Informationen des Sachverständigen
in die Beurteilung der Schuldfähigkeit einbringen, indem er der präventiven
Begründung des Schuldbegriffs folgt - so wie dies beispielsweise wiederholt
von Haddenbrock [F13] und mir vorgeschlagen worden ist. Aber es ist dem
Richter überlassen, inwieweit er die präventive Begründbarkeit
der Schuldfähigkeit nutzen will, es ist seine Sache, ob er einer Schuldstrafe
oder einer Maßregel, und im Falle der Maßregel der Behandlung
oder der Sicherung den Vorzug geben will. Jedenfalls verfügt der Sachverständige
über wissenschaftliche Mittel, um den Richter bei der Zielsetzung
zu unterstützen, dem Täter diejenige Sanktion zu verordnen, die
er »braucht«, damit Rechtsgüterschutz, Resozialisierungsanliegen
und Schutz der Gesellschaft abgewogen miteinander verbunden werden können.
Auf diesem Gebiet liegen m.E. auch für Psychologen
und Psychiater die empirisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten, auf
eine weitere das Strafrecht humanisierende Reform hinzuwirken, die über
die Schuldfähigkeitsbeurteilung hinaus in den Sanktionsvollzug hineinreicht
und die Humanisierungsbestrebungen mit der Notwendigkeit des Rechtsgüterschutzes
in Einklang bringt. Nur außerhalb des sittlich begründeten Rechtsbegriffs
der Schuldfähigkeit kann Rasch's Appell an die »therapeutische
Verantwortung der Psychiatrie« {FN14] ansetzen. Auch bei prinzipieller
Bejahung dieses Appells sollte man nicht den Eindruck erwecken, daß
Psychiater und Psychologen alle kriminogenetischen Dispositionen und psychosozialen
Probleme gestörter Persönlichkeiten beseitigen könnten,
wenn sie nur therapiewillig wären. Die weit überzogene Kritik
von Rasch an allen bestehenden Regelungssystemen ist erfahrungsgemäß
geeignet, Widerstand und Gegenkritik hervorzurufen, sie wird der Durchsetzung
realistischer Verbesserungsmöglichkeiten wenig dienen."
Die grundsätzlichen
Bedenken von Rasch. (1982)
Rasch, (1982). Richtige und falsche psychiatrische Gutachten,
MschrKrim 65, 257-269 (1982).
"Rasch [FN1] hat unlängst unter der Frage “Richtige und falsche psychiatrische Gutachten” die These vertreten, daß es für die Richtigkeit der meisten bei einer psychiatrischen Begutachtung tatsächlich vorkommenden Ergebnisse keine objektiven Kriterien gäbe. Sie würden wesentlich bestimmt durch Selbstverständnis, Weltanschauung, Erfahrung, theoretischen Ansatz und Schule des Gutachters. Dieser Relativierung psychiatrischer Aussagemöglichkeiten kann nicht vorbehaltlos beigepflichtet werden, da auch die Psychiatrie von jeher einen bestimmten Standard der Befunderhebung und -auswertung aufweisen konnte und kann, aus dem sich Basisanforderungen für die Gutachtenerstattung, aber auch Möglichkeiten der Überprüfung unterhalb der von Rasch im Prinzip sehr richtig aufgezeigten Ermessensspielräume herleiten lassen. Das Gesamt der Gerichten überreichten psychiatrischen Gutachten weist nicht nur ein erhebliches Qualitätsgefälle auf sondern ist zu einem nicht geringen Prozentsatz wegen grundsätzlich vermeidbarer sachlicher Fehler oder Irrtümer im Bereich von Diagnostik und Befundauswertung unbrauchbar." [zitiert nach Venzlaff, 1983, S. 199]
"2. Eigene Untersuchungen
Bei der eigenen Untersuchung und der Interpretation
der Untersuchungsergebnisse ist die der Persönlichkeit des Probanden
gemäße psychische Dynamik mitzuberücksichtigen. Bei der
kriminologischen Betrachtung sind bei einem Täter drei Phasen zu unterscheiden:
Bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit
fällt die Untersuchung meist in die 2. Phase, gelegentlich aber auch
in die 3. Phase. [<24]
In jedem Fall aber wird der Gutachter mit
einer Persönlichkeit konfrontiert, welche ganz andere Züge darbietet,
als sie zum Zeitpunkt der Tat, auf welche sich die Beurteilung ja beziehen
muß, vorgelegen haben.
Die Tatangemessenheit der gutachterlichen »Momentaufnahme«
verliert also mit dem Zeitabstand zur Tat an konkreter Verläßlichkeit.
Für die Befunddarstellung erscheint somit die Beachtung der Phase,
in welcher die Untersuchung erfolgte, wesentlich.
Der Stellenwert der eigenen Untersuchungen richtet
sich nach dem bereits gegebenen Erkenntnisstand über den betreffenden
Fall.
Zweit- und Drittgutachten können sich souverän
auf Vorgutachten abstützen, aber auch korrigierend bzw. abweichend
auswerten und neu interpretieren. Wesentlich bleibt immer die Basisarbeit
der Befunderhebung, weil ein dortiges Ungenügen oft unerkannt
bleibt und durch spätere Auswertungen zu einer permanenten Quelle
von Verzerrungen, Fehlinterpretationen oder Mängeln wird.
Die eigenen Untersuchungen dürfen sich daher
nicht auf Akten und Fremdinformationen verlassen, sondern müssen bestrebt
sein, nach einem selbständigen Befunderhebungssystem nicht nur Eigenerkenntnisse
zu verarbeiten, sondern eine kritische Würdigung der Vorerkenntnisse
ins eigene Urteilssystem einzubauen. Daraus entsteht eine gewisse Zensur-
und Integrationswirkung innerhalb der Untersuchung.
Die Fragen lauten daher: [GPR-F]
III.
Die Beurteilung
(Vgl. dazu Abschnitt C, Interdisziplinäre Grundlagen)
Die richtige Beschreibung und Erklärung der Befunde ist Voraussetzung
der Verstehbarkeit.
Gesunder Menschenverstand und Erfahrung schaffen ein allgemeines »gesundes«
Vorurteil, welches überwiegend unbewußt, aber bereits urteilend
in der Welt steht. Es begründet Befangenheit, die wiederum meist unbewußt
bleibt. Sie kann aber Beteiligten, Außenstehenden oder dem Befangenen
selbst bewußt werden. Wird ein solcher Vorgang ersichtlich? Diesen
selbstverständlichen, immer vorhandenen Irrationalismen in der Beurteilung
ist größte Beachtung zu schenken.
Die Fragen lauten daher:
Die Fragen des Lesers an das Gutachten lauten daher:
Zitiert nach Venzlaff: "G. Heinz [FN4] hat 1977 aus dem Material von
Peters [FN5] alle 67 Wiederaufnahmeverfahren bearbeitet, bei denen psychiatrische
Gutachten im Grundverfahren und im Zweitverfahren erstattet wurden. Fehler
in der Anamnesenerhebung fanden sich in 48 % der Erstgutachten und 4 %
der Zweitgutachten, Fehler in der Befunderhebung in 60 % der Erstgutachten
und 24 % der Wiederaufnahmegutachten. In 50 % der Erstgutachten fand sich
eine “probandenbezogene Abwehrhaltung" des Gutachters, also Vorwürfe
oder Verdächtigungen gegenüber dem Untersuchten, einseitige Auswahl
von Tatsachenmaterial sowie “Verdammungsurteile”."
"Ohne auf Einzelheiten einzugehen, sollen einige allgemeine Ergebnisse
zusammengefaßt werden:
1. Etwa ein Drittel aller Sexualstraftäter wird psychiatrisch
begutachtet. Gegenüber nur mündlicher Begutachtung dominiert
das schriftlich und mündlich vertretene Gutachten. Die relative Begutachtungshäufigkeit
war zwischen 1964 und 1971 rückläufig.
2. Die schriftlichen Gutachten weisen erhebliche methodische
Mängel auf. Zum Teil werden Probanden überhaupt nicht untersucht
oder Vorgutachten unbesehen übernommen. Die Änamnesenerhebung
ist lückenhaft, die körperliche Untersuchung, sofern sie überhaupt
durchgeführt wird, fragmentarisch. Psychologische Diagnostik kommt
nur in jedem dritten Gutachten zur Anwendung, 2/5 der Gutachten betreiben
das, was man nur als Pseudodiagnostik bezeichnen kann.
3. Die Sexualanamnese fehlt so gut wie ganz in 55% der Gutachten
(über Sexualstraftäter!). Die vorhandenen Sexualanamnesen registrieren
eher grobe Verhaltensweisen als Verarbeitung sexueller Erfahrungen. Manifeste
Vorurteile und falsche Vorstellungen bezüglich Sexualität sind
relativ selten, finden sich aber häufiger, je häufiger Einzelthemen
aus der Sexualanamnese überhaupt erwähnt werden.
4. Bei hoher Übereinstimmung unabhängiger Rater wird
knapp die Hälfte der Gutachten als ausgeprägt sexual feindlich
eingestuft.
5. Statt auf wissenschaftlicher Erkenntnis fußt ein Großteil
der Argumente in den Gutachten auf Vorurteilen zu ungunsten der Probanden.
Diese werden moralisch abqualifiziert; ohne aus ihrem Verhalten erkennbare
Gründe mit psychopathologischen Klischees etikettiert; für unglaubwürdig
erklärt oder es werden für sie ungünstige Dinge einfach
unterstellt.
6. Mehr als die Hälfte der Gutachten läßt eine
deutliche Identifikation des Sachverständigen mit der Sanktionsgewalt
der staatlichen Strafverfolgungsinstrumente erkennen, die weit über
die Kompetenz eines Sachverständigen hinausgreift. Noch vor dem Urteil
fordern Gutachter gelegentlich Strafen zum Zweck der Therapie.
7. 78% der Gutachten sind einem engen kriminalbiologischen Konzept
verpflichtet, das wenig zu der vom Gesetz verlangten besseren Wertung der
Individualschuld beitragen kann. Bei der Globaleinschätzung wurden
58% der Gutachten als mangelhaft oder ungenügend bezeichnet und nur
8% als gut oder sehr gut.
8. Die vorhandenen Unterlagen lassen vermuten, daß nur
mündliche Gutachten bei entsprechender Einschätzung noch schlechter
abschneiden würden.
9. Je nach begutachtender Institution unterscheidet sich die
Qualität der Gutachten erheblich. Die Gutachten des Gerichtsärztlichen
Dienstes zeichnen sich dadurch aus, daß sie zu 80% als mangelhaft
oder schlechter eingestuft werden. Gutachten aus dem Allgemeinen Krankenhaus
Ochsenzoll und Universitätskrankenhaus Eppendorf heben sich davon
positiv ab. Die Gutachten des AKO zeigen größere Nähe zu
denen des GD als zu denen des UKE. Ein Vergleich vom Gutachten unabhängiger
Daten läßt nicht erkennen, daß die drei Institutionen
wesentlich unterschiedlich zu charakterisierende Teilstichproben von Probanden
begutachtet haben.
10. Die Teilstichproben der begutachteten und nicht begutachteten Sexualstraftäter
unterscheiden sich in zahlreichen Merkmalen statistisch hochsignifikant.
Somatische Krankheiten und langes Vorstrafenregister geht parallel mit
häufiger Begutachtung, diese mit höheren Strafen. Verbindliche,
in der Persönlichkeit des Probanden begründete Kriterien, nach
denen das Gericht die Entscheidung für oder gegen die Begutachtung
fällt, konnten wir im übrigen nicht finden."
Aus den Schlußfolgerungen Pfäfflins (S.88, fett-kursiv RS)
"b) Die Gutachten des Gerichtsärztlichen Dienstes
halten zu 80% einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Ergebnisse
der vorliegenden Untersuchung machen die Forderung unausweichlich, daß
dem Gerichtsärztlichen Dienst sein Mandat für die Begutachtung
von Straftätern entzogen wird. Obwohl in unserer Untersuchung nur
Gutachten über Sexual st ra ft äter ausgewertet wurden, erscheint
die Ausweitung auf Straftäter überhaupt geboten, da nichts dafür
spricht, daß Gutachten des GD über andere als Sexualdelinquenten
in irgendeiner Weise qualitativ besser sein sollten."
"Bei einer Zusammenstellung der forensisch-psychiatrischen Gutachten
der Heidelberger psychiatrischen und neurologischen Klinik aus den Jahren
1934—1947 ergaben sich einige bemerkenswerte Tatsachen zur Frage der Zuverlässigkeit
psychiatrischer Gutachten. Unter den 198 durchgesehenen Gutachten befanden
sich zahlreiche Obergutachten über Kriminelle, die vorher schon ein-
oder mehrmals von anderer Seite auf ihren Geisteszustand untersucht worden
waren. Dabei sammelte sich ein Material von 70 einander gegenüberstehenden
Vor- und Obergutachten. Aus den Akten dieser mehrmals Begutachteten geht
nun hervor, daß die Ansichten der einzelnen Untersucher häufiger
(54,3 %) auseinandergingen als übereinstimmten (45,7%). Diese
Differenzen hatten in zwei Drittel der Fälle ihren Grund in einer
unterschiedlichen Diagnosestellung und bei dem restlichen Drittel in einer
andersartigen Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit trotz übereinstimmender
psychiatrischer Diagnose.
Bei näherem Studium der Fälle mit abweichender
Diagnosestellung zeigte sich, daß die meisten Differenzen bei der
Differentialdiagnose Psychopathie — Schizophrenie entstanden waren. Interessanterweise
wurde von den Nichtpsychiatern (Amtsärzten und Gefängnisärzten)
die Diagnose „Schizophrenie" zu häufig gestellt. Irgendwie ungewöhnliches,
zum Teil bloß demonstratives Benehmen von Psychopathen wurde mehrfach
als schizophren verkannt,- was zur Annahme des § 51 Abs. 1 führte.
Ferner wurde keine der 4 von der hiesigen Klinik diagnostizierten Manien
von einem Vorgutachter festgestellt, sondern teils Psychopathie, teils
Schizophrenie angenommen. Cyclothyme Depressionen fand man bezeichnenderweise
bei den Kriminellen nicht.
In unserem Gutachtenmaterial spielt differentialdiagnostisch
nur selten die Frage: ,,gehirnkrank oder nicht?" eine besondere Rolle.
Die neurologische Diagnostik fiel dabei fast immer übereinstimmend
aus, d. h. eine Hirnverletzung, eine Paralyse oder eine Hirnarteriosklerose
usw. wurden jedesmal von allen Gutachtern in gleicher Weise anerkannt.
Die
Meinungsverschiedenheiten setzten regelmäßig erst beim psychischen
Befund ein, vor allem bei der Beurteilung, ob eine die Zurechnungsfähigkeit
vermindernde oder ausschließende „Störung der Geistestätigkeit"
anzunehmen sei. [RS: grundsätzlicher Fehler, Zurechnungsfähigkeit
ein Rechts- und kein psychiatrischer Begriff ist und damit in die Kompetenz
des Gerichts fällt] Sobald rein psycho(patho)logische Diagnosen
gestellt wurden, trennten sich die Ansichten: Beinahe jeder zweite Gutachter
kam zu einem anderen Ergebnis. Es handelt sich natürlich vor
allem um die Erkennung der endogenen Psychosen. Unter den während
der Berichtszeit zur Begutachtung nach § 81 in die Klinik eingewiesenen
Kriminellen befanden sich 15% endogen Psychotische und 46% Psychopathen.
In der allgemeinen Praxis mag es noch verhältnismäßig belanglos
sein, wenn die Diagnostiker geteilter Meinung sind bei der Frage, ob jemand
schizophren oder ,,nur" psychopathisch bzw. normal sei. Aber im Strafverfahren
ist nach unseren heutigen Gepflogenheiten diese Differentialdiagnose von
zentraler Bedeutung für die richterliche Entscheidung über die
Zurechnungs- bzw. Schuldfähigkeit. Und da ist es doch bedenklich,
wenn aus unserem Gutachtenmaterial hervorgeht, daß praktisch die
Differentialdiagnose zwischen Psychose und Psychopathie ganz verschieden
gehandhabt, ja anscheinend oft willkürlich vorgenommen wird.
Fragt man sich, wie diese Unzuverlässigkeit
zu erklären sei, so sind 2 Gründe denkbar. Erstens könnte
der Unterschied zwischen normalem und psychotischem Seelenleben tatsächlich
bloß ein „quantitativer" sein. Dann könnte man mit gutem Recht
sogar bei ein und demselben Kriminellen einmal noch „Psychopathie", zu
einem andern Zeitpunkt schon „Psychose" diagnostizieren. Zweitens könnte
aber die Unzuverlässigkeit der Diagnosen, irgendwie auf der Unzulänglichkeit
der diagnostischen Mittel oder sonst der diagnostischen Fähigkeiten
oder Anschauungen der Gutachter beruhen. Gegen die erste Deutung und für
die zweite spricht neben der allgemeinen klinischen Erfahrung hier besonders
die Tatsache, daß den Vorgutachten, deren Diagnose mit der abschließend
hiesigen Klinik übereinstimmte, die Mehrzahl (65%) ebenfalls aus einer
psychiatrischen Klinik oder Anstalt kam. Die anders lautenden Diagnosen
wurden dagegen meistens (71,5% Amtsärzten oder Gefängnisärzten,
also mindestens größten Teil Nichtpsychiatern, gestellt. Wie
schon gesagt, wurden von letzteren eher zuviel Schizophrenien diagnostiziert.
Dabei fällt vor allem die Überwertung gewisser subjektiver Eindrücke
auf, wie z.B.: „affektiv starr", „farblos" „steif", „uneinfühlbar",
„verschroben", „sonderbar", "lahm", „autistisch", „nicht kontaktfähig"
usw. Nirgends war in diesen Gutachten etwa der Versuch erkennbar,
eine wahnähnliche Reaktion von einem (primären) Wahneinfall odei
Wahnwahrnehmung zu unterscheiden, oder fragliche psychische Erlebnisse
wie Sinnestäuschungen auf ihr diagnostisches Gewicht zu prüfen.
Unter unseren Obergutachten fanden sich 10,
bei die verschiedenen Gutachter trotz gleicher Diagnose hi lieh ihrer Beurteilung
der strafrechtlichen Zurechnungsfä dieser Angeklagten nicht übereinstimmten.
Auch hier wiederum wichen die Ansichten von Amts- und Gefängnisärzten
viel häufiger (in 8 Fällen) von den Obergutachten der Klinik
ab, als die Beurteilungen vorbegutachtender Kliniken oder Anstalten. Dabei
ist zu bedenken, daß unter den Vorgutachten diese von uns hier getrennten
Gruppen zahlenmäßig gleich stark vertreten sind. Die Mehrzahl
der Kriminellen, bei denen die Gutachter trotz gleicher Diagnose sich über
den Grad der Zurechnungsfähigkeit nicht einig waren, sind Psychopathen.
Aus dem Gutachtenmaterial geht übrigens hervor, daß sich in
den letzten Jahren immer mehr die Tendenz durchsetzte, Psychopathen nicht
zu exkulpieren. Insgesamt wurden von den in der Klinik begutachteten kriminellen
Psychopathen 58% für voll zurechnungsfähig, 40,5 vermindert zurechnungsfähig
und 1,5% für unzurechnungsfähig erklärt. In einem Teil der
Fälle war eine noch gleichzeitig vorhandene Debilität der Grund,
weshalb kein Zurechnungsfähigkeit angenommen wurde. Aber es wurden
teilweise auch reine Psychopathen exkulpiert.
Vereinzelte Differenzen entstanden schließlich
auch bei der strafrechtlichen Beurteilung von leicht Hirngeschädigten
(Hirntraumatikern, Arteriosklerotikern, geheilten Paralytikern usw.) und
von mäßig Schwachsinnigen. Es handelt sich hier wieder
um die Unsicherheit der psychischen Befunde. Die körperlichen,
neurologischen Veränderungen wurden übereinstimmend erkannt.
Aber neurologische Zeichen sagen immer noch wenig über den psychischen
Zustand und die Zurechnungsfähigkeit aus, wenn man auch oft bei gewiesenen
Hirnveränderungen wenigstens eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
annehmen wird. [RS: Wissenschaft soll nicht anehmen, sondern begründet
erweisen; im übrigen ist dies der Kompetenzbereich der Richter]
Der psychische Befund ist hier wenigstens nicht so allein und bedeutungsvoll
wie bei einer fraglichen endogenen Psychose, aber die Gutachten zeigen
doch, daß über den Grad eines organischen Abbaues von
Persönlichkeit und Intelligenz die Ansichten der Untersucher ziemlich
weit auseinande können. Man darf vielleicht annehmen, daß
durch die Einführung besserer Intelligenz-Testmethoden sich grobe
bei der Beurteilung eines Schwachsinns oder einer Demenz werden vermeiden
lassen. Wieweit sich aber ein Persönlichkeitskeitsabbau durch messende
oder projektive Testmethoden einmal objektivieren lassen wird, ist nicht
abzusehen. Heute sind wir noch fast ausschließlich auf die psychiatrische
Erfahrung, gewissermaßen den „klinischen Blick" des Gutachters angewiesen."
Historische Werke zu psychiatrischen
Gutachten (Auswahl: bis 1970)
Weitere
Literaturquellen (Auswahl) siehe bitte
hier
und da.
. | einheitswissenschaftliche
Sicht. Ich vertrete neben den Ideen des Operationalismus, der Logischen
Propädeutik und einem gemäßigten
Konstruktivismus
auch die ursprüngliche einheitswissenschaftliche Idee des Wiener
Kreises, auch wenn sein Projekt als vorläufig gescheitert angesehen
wird und ich mich selbst nicht als 'Jünger' betrachte. Ich meine dennoch
und diesbezüglich im Ein- klang mit dem Wiener
Kreis, daß es letztlich und im Grunde nur eine
Wis- senschaftlichkeit gibt, gleichgültig, welcher spezifischen
Fachwissenschaft man angehört. Wissenschaftliches Arbeiten folgt einer
einheitlichen und für alle Wissenschaften typischen Struktur, angelehnt
an die allgemeine
formale Beweisstruktur.
Schulte, Joachim & McGuinness, Brian (1992, Hrsg.). Einheitswissenschaft - Das positive Paradigma des Logischen Empirismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Geier, Manfred (1992). Der Wiener Kreis. Reinbek: Rowohlt (romono). Kamlah, W. & Lorenzen, P. (1967). Logische Propädeutik. Mannheim: BI. |
Wissenschaft [IL] schafft Wissen und dieses hat sie zu beweisen, damit es ein wissenschaftliches Wissen ist, wozu ich aber auch den Alltag und alle Lebensvorgänge rechne. Wissenschaft in diesem Sinne ist nichts Abgehobenes, Fernes, Unverständliches. Wirkliches Wissen sollte einem Laien vermittelbar sein (PUK - "Putzfrauenkriterium"). Siehe hierzu bitte das Hilbertsche gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann verständlichen Sprache wiedergeben." |
Allgemeine
wissenschaftliche
Beweisstruktur
und beweisartige Begründungsregel
Sie ist einfach - wenn auch nicht einfach durchzuführen - und lautet: Wähle einen Anfang und begründe Schritt für Schritt, wie man vom Anfang (Ende) zur nächsten Stelle bis zum Ende (Anfang) gelangt. Ein Beweis oder eine beweisartige Begründung ist eine Folge von Schritten: A0 => A1 => A2 => .... => Ai .... => An, Zwischen Vorgänger und Nachfolger darf es keine Lücken geben. Es kommt nicht auf die Formalisierung an, sie ist nur eine Erleichterung für die Prüfung. Entscheidend ist, dass jeder Schritt prüfbar nachvollzogen werden kann und dass es keine Lücken gibt. |
Historische
Anmerkung Aus dem „Entwurf eines Strafgesetzbuches für den
Norddeutschen Bund" nebst Motiven und Anlagen. Berlin 1870, S. 56.) [GB]
„Das Recht des Staates, gegen den Verbrecher
nicht bloß Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen, sondern ihn zu
strafen, beruht auf dem allgemein menschlichen Urteile, daß der gereifte
und geistig gesunde Mensch ausreichende Willenskraft habe, um die Antriebe
zu strafbaren Handlungen niederzuhalten und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein
gemäß zu handeln. Es kann daher nicht bedenklich sein, diesem
allgemeinen Urteile, in welchem die strafrechtliche wie die sittliche Zurechnung
ihren Grund hat, in dem Strafgesetzbuch Ausdruck zu geben, wenn es sich
darum handelt, die Zurechnungsfähigkeit oder ihre Ausschließung
näher zu normieren. Es darf namentlich nicht befürchtet werden,
daß dadurch die verschiedenen metaphysischen Auffassungen über
die Freiheit des Willens im philosophischen Sinne in die Kriminalverhandlungen
gezogen werden, denn es ist damit klar ausgesprochen, daß im einzelnen
Falle nur untersucht werden soll, ob derjenige normale Zustand geistiger
Gesundheit vorhanden sei, dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche
Verantwortlichkeit tatsächlich zuschreibt, während diese
letztere Tatsache selbst durch das Gesetz festgestellt und jeder weiteren
Erörterung im einzelnen Falle entzogen ist. ..."
(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn
(3) Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.
(4) Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.
(5) Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.
(6) Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die dem Verfall unterliegen oder nur deshalb nicht unterliegen, weil der verletzten Person aus der Tat ein Anspruch der in § 73 Abs. 1 Satz 2 bezeichneten Art erwachsen ist.
(7) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag der verurteilten Person, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.
Liegen die Voraussetzungen vor, so ist die
Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zwingend,
sie liegt nicht im Ermessen des Gerichtes (NJW 92, S 1570; Tröndle
§ 63 Rn 13). Die Anordnung hat im Urteilstenor zu erfolgen. Hier ist
noch zu beachten, dass im Fall der Schuldunfähigkeit die Anordnung
im subjektiven Verfahren neben den Freispruch oder im Sicherungsverfahren
(§§ 413 StPO) selbstständig tritt, im Fall der verminderten
Schuldfähigkeit tritt sie neben die Strafe." [Quelle justiz.nrw Abruf
01.10.14]
Anmerkung 67d (Prof. Müller, beck-blog, #35): "Zitat aus OLG Frankfurt a. M. vom 14.10.2010 3 Ws 970/10 (openjur-Link): "Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze dienten dazu, dem Verurteilten bei Fehleinweisungen aus tatsächlichen Gründen das schwerfällige Wiederaufnahmeverfahren zu ersparen (vgl. Senat. Beschluss vom 26.11.2001, NStZ-RR 2002, 58f; Berg/Wiedner, Die Erledigterklärung nach § 67 d Abs. 6 StGB…., StV 2007, 434, 439, Fußnote 40). Wird nämlich eine im Erkenntnisverfahren angeordnete Maßregel für erledigt erklärt, weil sich aufgrund einer Begutachtung im Vollstreckungsverfahren ergeben hat, dass eine zwingende Voraussetzung für die Anordnung der Maßregel nicht vorgelegen hat, so ist diese Erledigungserklärung einem Wegfall der Maßregel im Wiederaufnahmeverfahren (§ 359 Nr. 5 StPO) vergleichbar (vgl. Senat, NStZ 1993, 252 f.)" (Hervorhebung von mir)."
§
160 StPO - Ermittlungen der Staatsanwaltschaft
___
Operationalisierung,
operationalisieren.
Vieles, was wir Seele und Geist zurechnen, ist nicht direkt beobachtbar.
Die Merkmale von Seele
und Geist sind Konstruktionen. Daher sind Aussagen über Seele
und Geist (befinden, fühlen, denken, wünschen, wollen, eingestellt
sein, ...) besonders anfällig für Fehler. Damit man sich nicht
in rein geistigen Sphären bewegt, ist es daher in vielen Fällen
sinnvoll, ja notwendig, unsere Konstruktionen seelischer Merkmale und Funktionsbereiche
an Konkretes, Sinnlich-Wahrnehmbares, Zählbares
zu knüpfen. Damit haben wir die wichtigsten praktisches Kriterien
für Operationalisiertes benannt (in Anlehnung an das test-theoretische
Paradigma; Stichwort Operationalisierung
bei Einsicht und Einsichtsfähigkeit)
Rasch (1986, S. 16), Rasch & Konrad (2004,
S. 23).
1986, S. 16: "Jeder Angeklagte sollte das Recht haben — zumindest auch
— von einem Sachverständigen seines Vertrauens untersucht zu werden."
2004, S. 23: "Jeder Angeklagte sollte das Recht haben - zumindest auch
— von einem Sachverständigen seines Vertrauens untersucht zu werden."
__
Wahn.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Forensische Psychologie site: www.sgipt.org. |