Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPTDAS=23.02.2012
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 25.02.19
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20
D-91052 Erlangen
E-Mail: sekretariat@sgipt.org
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Denken
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Willkommen in unserer Internet-Publikation
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine
Psychologie, Bereich ..., und hier speziell zum Thema:
Juristisches Denken
Gibt es eine kognitive Eigenwelt der Rechtswissenschaft?
- Erörtert am Beispiel Betreuung und Geschäftsfähigkeit
-
von Rudolf Sponsel, Erlangen
_
Übersicht
Abstract - Zusammenfassung
- Summary.
Materialsammlung A: Betreuung,
Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsfähigkeit.
A01
Frage der Geschäftsfähigkeit im Rahmen einer Betreuung zu stellen
sei stigmatisierend...
A02
Geschäftsfähigkeit, Einwilligungsvorbehalt und Betreuung.
A03
Verhältnis Betreuung und Geschäftsfähigkeit.
A04
Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsfähigkeit.
A05
Geschäftsunfähigkeit, Entmündigung und Betreuung.
Exkurs zum juristisches
Denken und seinem naiv-unkritischen Universaliengebrauch.
Exkurszusatz Erklärung des
Kommunikationsparadoxes:
Weshalb funktioniert
der naiv-unkritische Universaliengebrauch so gut in der Praxis?
Exkurs
II: Das sprachliche Grundproblem zwischen Juristen und Nicht-Juristen und
seine Lösung.
Beispiele: Betreuung,
Geschäftsfähig,
Einsichtsfähig,
Geschäft,
Kindeswohl,
Tiefgreifende
Bewusstseinsstörung, Schuldfähigkeit.
Die
Lösung des sprachlichen und begrifflichen Grundproblems.
Formale Hilfsmittel der interdisziplinären
Begriffsanalyse, Korrespondenz- & Zuweisungsregeln.
Materialsammlung
B: Einwilligungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit.
B01
BGH: Einwilligungsfähig ist ...
B02
Kröbers (1997) Kriterien zur Einwilligungsfähigkeit.
B03
Maßnahmen der Personensorge bedürfen nicht der Geschäfts-
sondern der Einw...
B04
Voraussetzungen der Einwilligungsfähigkeit.
B05 "Einwilligungsunfähigkeit.
B06
Unscharfe Abgrenzung zwischen Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsunfähigkeit.
Literaturhinweise.
Glossar, Anmerkungen
und Endnoten.
Querverweise. |
"Juristisches Denken ist ein sonderbares Denken."
Peter Gauch (2004, PDF)
Abstract
- Zusammenfassung - Summary
In der Rechtswissenschaft gibt es im Umfeld des Betreuungsrechts Bestrebungen,
die darauf abzielen, den tatsächlichen Verlust der Geschäftsfähigkeit,
den es im Betreuungsrecht durch den Einwilligungsvorbehalt gibt, durch
"rechtsverdreherische"
euphemistische Sprachkapriolen, abzuspalten, auszublenden und zu negieren
(A01).
Offenbar soll ein neuer schöner Schein etabliert werden, wonach es
die stigmatisierenden und schädlichen Folgen der Geschäftsunfähigkeit
nicht mehr gäbe, nur weil man die Worte gewechselt habe.
Die Logik
andere Worte = andere Welt und Wirklichkeit weist
einerseits in das Reich kindlicher Naivität und andererseits über
den Bereich des kognitiven Eigensinns bis in das Reich der wissenschaftlichen
Wahnphänomene, wenn eigene geistige Konstruktionen unkritisch
für Wirklichkeit gehalten werden (> Exkurs
...).
Jeder mit gesundem Menschenverstand ausgestattete
Mensch wird ohne weiteres erkennen können, dass es letztlich einzig
und allein darauf ankommt, ob jemand selbstständig, also ohne einen
anderen um Zustimmung oder Erlaubnis bitten zu müssen, rechtswirksam
handeln kann und darf oder nicht. Das ist das Wesentliche bei der Selbstbestimmung
und der damit verbundenen Geschäftsfähigkeit. Ob das nun bezüglich
des Aufgabenkreises a,b,c, ... mit Einwilligungsvorbehalt betreut oder
- partiell - geschäftsunfähig heißt, ändert ja überhaupt
nichts am relevanten Sachverhalt, nämlich, ob jemand frei und selbstbestimmt
rechtswirksam handeln kann oder ob jemand fragen und um Erlaubnis bitten
muss. (> Materialsammlung A).
Völlig unübersichtlich bis wirr und widersprüchlich
zeigen sich auch die komplizierten Verhältnisse zwischen Einwilligungsfähigkeit
(Personensorge) und Geschäftsfähigkeit. Hier sind offenbar alle
vier Fälle nach geltendem und angewandtem Recht möglich: (1)
einwilligungsfähig und geschäftsfähig. (2) einwilligungsfähig
und nicht geschäftsfähig. (3) nicht einwilligungsfähig und
geschäftsfähig. (4) nicht einwilligungsfähig und nicht geschäftsfähig
(> Materialsammlung
B).
Zwei Exlurse gehen ins Grundsätzliche und in
die Tiefe: Exkurs
zum juristisches Denken und seinem naiv-unkritischen Universaliengebrauch.
Und: Exkurs
II: Das sprachliche Grundproblem zwischen Juristen und Nicht-Juristen
und seine Lösung.
Materialsammlung
A. Betreuung, Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsfähigkeit
A01
Frage der Geschäftsfähigkeit im Rahmen einer Betreuung zu stellen
sei stigmatisierend, schädlich und überflüssig
„Die Frage der Geschäftsfähigkeit hat für die Bestellung
eines Betreuers keine ausschlaggebende Bedeutung.35 Sie generell zu stellen
ist [>20] mithin überflüssig und wegen der stigmatisierenden
und diskriminierenden Folgen schädlich und unzulässig.36 Eine
Betreuerbestellung mit Einwilligung des Betroffenen ist sowohl bei einem
Geschäftsfähigen als auch bei einem Geschäftsunfähigen
möglich (§ 1896 Abs. l Satz 2 BGB). Eine Inzidentprüfung
der Geschäftsfähigkeit ist erforderlich, wenn ein Betroffener
bei der Wahrnehmung rechtlicher Angelegenheiten durch Vollmachterteilung
handeln könnte. Wenn man dem Betroffenen hier ein Wahlrecht einräumt,37
kommt es auf die Geschäftsfähigkeit nicht an, wohl aber, wenn
man auf eine objektive Erforderlichkeit abstellt,38 also eine Betreuerbestellung
ablehnt,- wenn der geschäftsfähige Betroffene eine Vollmacht
erteilen könnte.
35 Jürgens, Betreuungsrecht, § 1896, Rn 12.
36 Wie hier: Jürgens BtPrax 92, S. 47 ff.,
S. 48; Münchener Kommentar/Schwab
§1896 Rn21; a. A. wenn ohne Einwilligung: Schmidt
in Schmidt / Böcker Rnl6;
Damrau in Damrau / Zimmermann § 1896 Rn5; Coeppicus
FamRZ 1992 S. 741, S. 75;
vgl. OLG Düsseldorf BtPrax 1993, S. 175f.: Hinweise
zur Geschäftsunfähigkeit sind
rechtlich unverbindlich und gehören nicht in den
Tenor.
37 Schwab a.a.O.
38 So Bienwald §1896 Rnl62.“
Quelle: Jürgens, Andreas; Kroger, Detlef ; Marschner,
Rolf & Winterstein, Peter (2007, 6. A.). Betreuungsrecht
kompakt. Systematische Darstellung des gesamten Betreuungsrechts. München:
C. H. Beck.
A02
Geschäftsfähigkeit, Einwilligungsvorbehalt und Betreuung
"5. DIE GESCHÄFTSFÄHIGKEIT
Was bedeutet: Der Betroffene ist geschäftsfähig?
Mit Geschäftsfähigkeit wird in der Sprache der Juristen die
Fähigkeit beschrieben, Rechtsgeschäfte selbständig zu tätigen.
Wichtig: Es gibt nicht einen amtlich festgesetzten Zustand der Geschäftsunfähigkeit,
der dann auch nur wieder amtlich aufgehoben werden könnte. Vielmehr
bezeichnen die Begriffe Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit
lediglich den konkreten Zustand, in dem man sich gerade befindet, und zwar:
ob man geistig in der Lage ist, eine vernünftige Entscheidung über
ein Rechtsgeschäft zu treffen.
Der Einwilligungsvorbehalt
Eine Betreuung enthält zunächst einmal keinerlei Einschränkungen
der Selbstbestimmung des Betreuten, was Rechtsgeschäfte betrifft.
Nur dann, wenn zusätzlich zur Betreuung ein sogenannter Einwilligungsvorbehalt
angeordnet wird, unterliegt das rechtsgeschäftliche Handeln des Betroffenen
tatsächlich der Kontrolle des Betreuers. Das bedeutet: Für Rechtsgeschäfte
benötigt der Betroffene die Zustimmung des Betreuers.
Beispiel: Herr Z. ist altersverwirrt; er hat einen Betreuer für
den Aufgabenkreis Vermögenssorge. Zunächst gibt es keine Probleme:
Herr Z. ist froh, den Betreuer zu haben, weil er durch ihn von Aufgaben
entlastet wird, die er nicht mehr so recht überblickt, wie die Verwaltung
seiner Rente. Plötzlich aber fängt Herr Z. an, unsinnige Anschaffungen
zu machen, die ihn nahezu ruinieren; er lässt sich auch durch gutes
Zureden nicht davon abbringen. Der Betreuer wendet sich ans Gericht und
beantragt einen Einwilligungsvorbehalt für den Aufgabenkreis Vermögenssorge.
Nun kann Herr Z. keinerlei Ausgaben mehr ohne Zustimmung des Betreuers
tätigen."
Quelle: Wegweiser-Betreuung [Abruf
20.2.12]
A03
Verhältnis Betreuung und Geschäftsfähigkeit
"Durch die Betreuung wird grundsätzlich die Geschäftsfähigkeit
des Betreuten nicht beeinflusst.
Erklärungen des Betreuers innerhalb seines Aufgabenkreises sind
Dritten gegenüber rechtlich wirksam.
Die gesetzliche Vertretung des Betreuers verdrängt jedoch nicht
die Handlungsfähigkeit des Betreuten, der Betreute kann also auch
innerhalb des Aufgabenkreises des Betreuers selbst wirksam Rechtsgeschäfte
tätigen.
Besteht aber die Gefahr, dass der Betreute sich
oder sein Vermögen gefährdet, kann das Vormundschaftsgericht
den Betreuten im Aufgabenbereich des Betreuers unter dessen Einwilligungsvorbehalt
stellen. Dadurch sind die meisten Vorschriften der beschränkten Geschäftsfähigkeit
entsprechend anzuwenden."
Quelle (Abruf
20.2.12): https://www.rechtslexikon-online.de/Betreuung.html.
A04
Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsfähigkeit
"Das Vormundschaftsgericht hat die Möglichkeit, im Rahmen der
Betreuung einen Einwilligungsvorbehalt anzuordnen, wenn dies zur Abwendung
einer erheblichen Gefahr erforderlich ist. Diese Beschränkung der
Geschäftsfähigkeit bezieht sich nur auf die vom Vormundschaftsgericht
festgelegten Bereiche (z.B. Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge,
Aufenthaltsbestimmungsrecht).
Der Betreute bleibt zwar geschäftsfähig, braucht aber zur
Wirksamkeit von Rechtsgeschäften die Einwilligung des Betreuers, §
1903 BGB."
Quelle (Abruf
20.2.12): Autismus Deutschland e.V. : 7.8 Geschäftsfähigkeit,
Betreuung und Vollmachtserteilung
A05 Geschäftsunfähigkeit,
Entmündigung und Betreuung
"Kinder sind bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres geschäftsunfähig.
Das bedeutet, sie können keine wirksamen Verträge schließen.
Von ihnen abgegebene Willenserklärungen sind nichtig.
Außerdem sind solche Personen geschäftsunfähig,
die sich in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befinden, so dass eine freie Willensbildung ausgeschlossen ist. Man spricht
bei solchen Fällen von "natürlicher" oder auch "tatsächlicher"
Geschäftsunfähigkeit. Vor 1992 gab es noch die so genannte Entmündigung.
Dabei wurde einem Menschen die Geschäftsfähigkeit durch einen
staatlichen Akt aberkannt. Die Entmündigung wurde durch die Betreuung
abgelöst. Die Anordnung der Betreuung hat auf die Geschäftsfähigkeit
keinen Einfluss. Befindet sich jemand im Zustand der natürlichen Geschäftsunfähigkeit,
so kann für ihn aber nur der bestellte Betreuer wirksam handeln. Jeder
kann z. B. durch einen Unfall oder durch Krankheit in den Zustand tatsächlicher
Geschäftsunfähigkeit versetzt werden, weswegen es sich empfiehlt,
für diesen Fall Vorsorge zu treffen, z. B.: durch eine so genannte
Patientenverfügung oder eine Vorsorge- oder Betreuungsvollmacht.
Beschränkte Geschäftsfähigkeit
Eine Besonderheit besteht bei Minderjährigen,
die mindestens sieben, aber noch nicht achtzehn Jahre alt sind.
Für sie gelten die Vorschriften über die so genannte beschränkte
Geschäftsfähigkeit. Das Gesetz bestimmt, dass alle Verträge
(Ausnahmen siehe weiter unten), die ein Minderjähriger abschließt,
schwebend unwirksam sind. Nur wenn die Erziehungsberechtigten vorab dem
Vertrag zustimmen oder im Nachhinein das Geschäft genehmigen, wird
die Willenserklärung des Minderjährigen (und damit auch der Vertrag)
wirksam."
Quelle (Abruf
20.2.12): Bayerisches Staatsministerium der Justiz und für
Verbraucherschutz 2012.
Exkurs
zum juristisches Denken und seinem naiv-unkritischen Universaliengebrauch
Es gibt bei genauer Betrachtung nicht "das" Recht oder "das" juristische
Denken, aber Denken und Rechtsmeinungen von JuristInnen, also von Menschen,
Personen, die Rechtswissenschaft gelernt haben. Hierbei mögen unterschiedliche
rechtsphilosophische Hintergründe, Prägungen, Denk- und Sprachgewohnheiten
eine Rolle spielen. Ungeachtet ihrer rechtsphilosophischen
Herkunft und Prägung sprechen JuristInnen meist so, als gäbe
es ihre geistigen Konstruktionen
wirklich (> Ontisierung),
als existierten diese in der Welt wie Häuser, Bäume, Menschen,
Tiere, Gegenstände. Tatsächlich sind es meistens nur geistige
und sprachliche Konstruktionen (>Universalien),
also homonyme
Worthülsen, unter denen verschiedene JuristInnen und Laien Verschiedenes
verstehen (> fundamentale
Kritik bei Stirner). Worte sind nur die "Kleider" der "Begriffe" und
sie können vielerlei bedeuten je nach Kontext, Situation, Zielen und
Zwecken, die verfolgt werden. Darüber scheinen sich zumindest diejenigen
JuristInnen klar zu sein, die das Problem der Auslegung wahrnehmen und
als wesentlich anerkennen. Nichts ist sozusagen wirklich klar und eindeutig,
alles mehr oder weniger unscharf (Fuzzylogische
Strukturen), vieldeutig bis schwammig und nebulös. Hier gibt es
eine enge Verwandtschaft zur Soziologie, Psychologie, Medizin und
Psychopathologie - vielleicht das Los aller
idiographischen
Wissenschaften, in denen es keine zwei genau gleichen Fälle gibt.
Gleichheit ist eine Abstraktion. Sie bedeutet ein Absehen von Wirklichkeitsmerkmalen
und damit eine Konstruktion künstlicher geistiger Welten für
die keine klaren empirisch-operationalen Zuordnungen vorliegen. Gefährlich
wird das naiv-unkritische Universaliendenken, wenn man nicht mehr kritisch
erkennt, dass man etwas konstruiert hat, dessen Bedeutung mehr oder minder,
bisweilen völlig unklar oder eine bloße Konstruktion mit unsicherem
Realitätsgehalt ist (> Beispiele).
Das Juristische Handwerkszeug besteht in der Hauptsache
aus Rechtsnormen, Tatbeständen (Sachverhalten), Zuordnungen (Subsumtionen).
Logik und abwägenden Erörterungen. Am Ende steht ein Urteil oder
Beschluss, aus dem zu entnehmen ist, was sachliche Grundlage der darauf
aufbauenden juristischen Wertungen ist.
Exkurszusatz Erklärung
des Kommunikationsparadoxes: Weshalb funktioniert der naiv-unkritische
Universaliengebrauch
so gut in der Praxis ? Nachdem die meisten Menschen, die Worte gebrauchen,
ihre
Begriffe mit ihnen verbinden, kommen sie gar nicht auf die Idee,
dass ihr Gegenüber, das natürlich auch einen entsprechend
individuellen
Begriff mit dem Wort verbindet, nicht das Gleiche meinen könnte.
Gleiche Worte suggerieren gleiche Begriffe. Jeder projiziert in das Wort
seinen
aktuellen Begriff hinein und nimmt gewöhnlich selbstverständlich
an, dass sein Gegenüber den gleichen Begriff meint. Wir werden in
der Erziehung, in den Schulen und Ausbildungsstätten nicht trainiert,
Begriffsverständnisse zu untersuchen und abzustimmen. Bereits Aristoteles
hat zwar sehr klar und verständlich gefordert, seine Begriffe zu klären,
aber er hat keine operationalen Methoden angegeben, wie das zu machen ist.
Und daran leidet die Wissenschaft, wie die Kommunikation im Leben, bis
auf den heutigen Tag. Und so werden die meisten Kommunikationsprobleme
eine Zeitlang gar nicht bemerkt - erst im (Interessen-) Konfliktfall, wenn
jeder seine interessengeleitete subjektive Interpretation, was ER
meinte, hervorholt. |
Exkurs
II: Das sprachliche Grundproblem zwischen Juristen und Nicht-Juristen und
seine Lösung.
Die Worte sind die "Kleider" der Begriffe. Sowohl die "Kleider", also
die Worte als auch ihre Körper, die Begriffe sind vielfältige
Homonyme,
sogar bei ein und demselben Menschen im zeitlichen Verlauf. Es gibt daher
ein grundsätzliches, nicht nur ein sprachliches Verständigungsproblem.
Die Erschwernis, die Juristen ohne jede Not Nicht-Juristen, also hierzulande
dem deutschen Volk und den "Hilfswissenschaften" - praktisch insbesondere
den Sachverständigen - gegenüber an den Tag legen und damit ihren
Grundauftrag verkennen, Recht für alle verständlich zu konzipieren
und zu sprechen, ist ein ständiges Ärgernis für dessen Überwindung
sich inzwischen sogar der Duden zusammen mit der Gesellschaft
für die deutsche Sprache mit einer interessanten Veröffentlichung
(Verständlichkeit
als Bürgerrecht) 2008 engagierte. Oft ergibt sich zwar die Bedeutung
aus dem Kontext, oft aber auch nicht, und dann fangen die - besonders für
die Sachverständigenpraxis verheerenden - Konfusionen und Probleme
an.
Das sprachliche Grundproblem ist einfach erklärt:
Begriffe haben vielfältige, z.B. eine alltags- und bildungssprachliche,
eine fachwissenschaftliche und eine juristische Bedeutung. Den Worten sieht
man es aber nicht an, für welche Bedeutung sie gerade stehen. Nun,
dieses Grundproblem kann technisch einfach gelöst werden, indem man
den Worten einen Bedeutungsindex gibt, z.B. einen alltags- (Index a) oder
bildungssprachlichen (Index b), einen fachwissenschaftlichen (Index xw,
mit x für die jeweilige Fachwissenschaft, u.U. sogar spezifiziert
nach Fachrichtungen, z..B. x=psy:= Psychologie, fpsy:=forensische Psychologie,
dpsy:= Denkpsychologie), fs:= fachsprachliche, ks:= kontextspezifische
und eine juristische Bedeutung (Index j).
Indices-Beispiele :
Betreuung:
(1.1) Betreuung := Betreuung?. (1.2) Betreuunga,
(1.3) Betreuungb, (1.4) Betreuungjb, (1.5) Betreuungfpsy,
(1.6) Betreuungpsychiat, (1.7) Betreuungpfl, (1.8)
Betreuungstat.
1.1 (ohne Index oder Index ?) beschreibt die Verwendung,
wo man nicht genau weiß, welche Bedeutung zugrunde gelegt wird. (1.2,
Index a) gibt ausdrücklich an, dass das Wort Betreung in seiner alltagssprachlichen
Bedeutung verwendet wird. (1.3, Index b) bestimmt eine bildungssprachliche
Verwendung. (1.4 Index jb) verwendet die betreuungsrechtliche Bedeutung
(also Betreuung als rechtlich erteilte Vollmacht). (1.5, Index fpsy ) verwendet
Betreuung im familienrechtspsychologischen Sinne, etwa bei Kindeswohlerörterungen
z.B. bei der Frage, wer steht als Ersatzbetreuuer zur Verfügung, wenn
die HauptbetreuerIn z.B. durch Dienstreise, Kur oder Krankheit nicht zur
Verfügung steht. (1.6, Index psychiat) verwendet Betreuung im psychiatrischen
Sinne. (1.7, Index pfl) verwendet den Begriff im Umfeld einer Pflegesituation,
also den Sprachgebrauch von PflegerInnen. (1.8, Index stat) nimmt den Begriffsinhalt,
der z.B. vom statistischen Bundesamt bei seinen Zählungen und Hochrechnungen
angewendet wird.
Geschäftsfähig:
(1.1) Geschäftsfähig := Geschäftsfähig?.
(1.2) Geschäftsfähiga, (1.3) Geschäftsfähigb,
(1.4) Geschäftsfähigjbgb,
(1.5) Geschäftsfähigfpsy, (1.6) Geschäftsfähigpsychiat,
(1.7) Geschäftsfähigpfl, (1.8) Geschäftsfähigstat.
Gesellschaft, Alltags- und Geschäftswelt gehen
im Einklang mit Gesetz, Rechtsprechung und den Sozialwissenschaften davon
aus, dass Volljährige gewöhnlich geschäftsfähig sind.
Der Rechtsbegriff der Geschäftsfähigkeit wird in BGB § 104
behandelt. Das gilt auch für die relative Geschäftfähigkeit
zwischen 7. und 18. Lebensjahr, wie BGB § 106 bestimmt. Nicht so bekannt
dürfte außerhalb des Rechtswesens das Konzept der partiellen
Geschäftsfähigkeit sein. Nicht in Übereinstimmung mit dem
Recht ist das allgemeine Verständnis von geschäftsfähiga,b.
Während jeder vernünftige und lebenserfahrene Mensch anerkennt,
dass Unwissende und Minderbegabte de facto bei vielen Rechtsgeschäften
nicht geschäftsfähiga,b sind, anerkennt dies das Recht,
angeblich aus Rechtssicherheitsgründen, nicht. Das kommt natürlich
allen gerissenen Geschäftemachern, skrupellosen Gaunern und Lumpen
im Kapitalismus besonders entgegen.
Einsichtsfähig:
1.1) Einsichtsfähig := Einsichtsfähig?. (1.2)
Einsichtsfähiga, (1.3) Einsichtsfähigb,
(1.4) Einsichtsfähigj§20, (1.5) Einsichtsfähigfpsy,
(1.6) Einsichtsfähigpsychiat, (1.7) Einsichtsfähigpfl,
(1.8) Einsichtsfähigstat.
Einsichtpsy hat allein in der Psychologie
verschiedene Bedeutungen: Die psychologischen Bezüge der Einsichtpsy1
als rationales Wissen (ohne affektiven Bezug). Einsichtpsy2
als affektives Wissen (Wissen mit affektivem Bezug). Einsichtpsy3
als Erkenntniserleben (Aha-Effekt, Einsicht als Problemlösungsergebnis
und -erfahrung, der Vorgang des Erkennens und Problemlösens), eine
Bedeutung die auch heute noch aus der Gestaltpsychologie sehr nachwirkt.
Und Einsichtpsy4 als Verstehen von - speziellen - Handlungs-Wirkungszusammenhängen
und damit auch einfühlen, vorwegnehmen, vorhersehen, antizipieren
können.
Im Strafrecht ist einsichtsfähigj§20
ein Rechtsbegriff, der allerdings weitgehend in seinen Korrespondenzregeln
und forensischen Bedeutungszuweisungen unbestimmt und damit ein rechtlich
unhaltbarer Zustand ist. Im Betreuungsrecht spielt die Einsichtsfähigkeit
eine wichtige Rolle, besondern beim Rechtsbegriff der Einwilligungsfähigkeitj.
Hierzu führt der Wegweiser-Betreuung [Abruf
17.2.12] aus: "Einwilligungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit
des Betroffenen, die Vor- und Nachteile einer Maßnahme der Personensorge
abzuwägen und eine vernünftige Entscheidung darüber zu treffen."
Freie Willensbestimmung
1.1) Freie Willensbestimmung := Freie Willensbestimmung?.
(1.2) Freie Willensbestimmunga, (1.3) Freie Willensbestimmungb,
(1.4) Freie Willensbestimmungjbgb, (1.5) Freie Willensbestimmungfpsy,
(1.6) Freie Willensbestimmungpsychiat, (1.7) Freie Willensbestimmungpfl,
(1.8) Freie Willensbestimmungstat.
Anmerkung zum Rechtsbegriff: "... Der Betroffene muss Grund, Bedeutung
und Tragweite einer Betreuung intellektuell erfassen können, was denknotwendig
voraussetzt, dass der Betroffene seine Defizite im Wesentlichen zutreffend
einschätzt und auf der Grundlage dieser Einschätzung die für
oder gegen eine Betreuung sprechenden Gesichtspunkte gegeneinander abwägen
kann (BGH aaO) ... " Quelle: LG Frankenthal, 25.11.2015 - 1 T 309/15.
Geschäft:
1.1) Geschäft := Geschäft?. (1.2) Geschäfta,
(1.3) Geschäftb, (1.4) Geschäftjbgb, (1.5)
Geschäftfpsy, (1.6) Geschäftpsychiat, (1.7)
Geschäftpfl, (1.8) Geschäftstat.
Rechtsgeschäft ist ein wichtiger Grundbegriff
der JuristInnen, der im BGB Buch 1, Abschnitt III behandelt wird.
Kindeswohl.
1.1) Kindeswohl := Kindeswohl?. (1.2) Kindeswohla,
(1.3) Kindeswohlb, (1.4) Kindeswohljbgb, (1.5) Kindeswohlfpsy,
(1.6) Kindeswohlpsychiat, (1.7) Kindeswohlpfl, (1.8)
Kindeswohlstat.
Kindeswohljbgb ist ein Rechtsbegriff
("Generalklausel"), der eine grundlegende und wichtige Rolle im Familienrecht
spielt.
Natuerlicher Wille
1.1) Natürlicher Wille := Natürlicher Wille?.
(1.2) Natürlicher Willea, (1.3) Natürlicher Willeb,
(1.4) Natürlicher Willej§20, (1.5) Natürlicher
Willefpsy, (1.6) Natürlicher Willepsychiat,
(1.7) Natürlicher Willepfl, (1.8) Natürlicher Willestat.
Anmerkung zum Rechts-Begriff: "Die beiden entscheidenden Kriterien
sind dabei die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit,
nach dieser Einsicht zu handeln. Fehlt es an einem dieser beiden Elemente,
liegt kein freier, sondern nur ein natürlicher Wille vor. Einsichtsfähigkeit
setzt die Fähigkeit des Betroffenen voraus, im Grundsatz die für
und wider einer Betreuung sprechenden Gesichtspunkte zu erkennen und gegeneinander
abzuwägen." Quelle: LG Frankenthal, 25.11.2015 - 1 T 309/15.
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung:
1.1)Tiefgreifende Bewusstseinsstörung := Tiefgreifende Bewusstseinsstörung?.
(1.2) Tiefgreifende Bewusstseinsstörunga, (1.3) Tiefgreifende
Bewusstseinsstörungb, (1.4) Tiefgreifende Bewusstseinsstörungj§20,
(1.5) Tiefgreifende Bewusstseinsstörungfpsy, (1.6) Tiefgreifende
Bewusstseinsstörungpsychiat, (1.7) Tiefgreifende Bewusstseinsstörungpfl,
(1.8) Tiefgreifende Bewusstseinsstörungstat.
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung ist ein Rechtsbegriff
und das zweite Eingangsmerkmal im § 20 StGB. Im Münchener Kommentar
zum StGB (Ed. 17) wird u.a. in Rn. 38 - hier ohne Belegstellen - ausgeführt:
"Mit dem Eingangsmerkmal der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung werden
Störungen erfasst, die normalpsychologischer Natur und hinsichtlich
ihrer Ursache nicht krankhaft sind, also insbesondere nicht auf einem organischen
Prozess beruhen. Dazu gehören Bewusstseinsstörungen aufgrund
von Erschöpfung, Übermüdung, Schlaftrunkenheit, Unfallschock
oder Hypnose. Ein besonders praxisrelevanter Fall der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung
ist der auf normalpsychologischer Ursache beruhende Affekt, bei dem sich
weitere Wertungsfragen hinsichtlich der schuldhaften Herbeiführung
des Defektzustands stellen, die zum Teil als Sonderfall der actio
libera in causa angesehen werden."
Schuldfähigkeit:
(1.1) Schuldfähigkeit := Schuldfähigkeit ?. (1.2)
Schuldfähigkeit a, (1.3) Schuldfähigkeit b,
(1.4) Schuldfähigkeit j§20, (1.5) Schuldfähigkeitfpsy,
(1.6) Schuldfähigkeitpsychiat, (1.7) Schuldfähigkeitpfll,
(1.8) Schuldfähigkeitstat.
Schuldfähigkeit ist (auch) ein Rechtsbegriff.
Gibt die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht den Auftrag, ein Schuldfähigkeitsgutachten
zu erstellen, so ist ein solcher Beweisauftrag genau betrachtet methodologischer
Unsinn, da der Sachverständige für den Rechtsbegriff der Schuldfähigkeitj§20
das Gericht und nicht der forensische Sachverständige ist. An dieser
häufigen Praxis sieht man bereits, dass es den Juristen selbst nach
mehreren 1000 Jahren Rechtskultur immer noch nicht gelungen ist, allgemein
vernünftige Aufträge für Sachverständige zu erteilen.
Der Rechtsbegriff der Schuldfähigkeit wäre für den forensischen
Sachverständigen (Psychiater, Psychologe) durch fachspezifische Korrespondenzregeln
oder Bedeutungszuweisungen so zu erklären, dass dieser einen klaren
Begriff davon hat, also weiß, was er zu tun und zu lassen hat. Daszu
gehört eine genaue Erklärung von "Bewusstsein"
und "tiefgreifend". Solche Korrespondenzen und Zuweisungen werden oft erst
mit der Rechtssprechung entwickelt und sind damit überhaupt nicht
gerecht für alle, weil die Urteile vom Verlauf, Entwicklung und dem
Zufall der Rechtsprechung und berufenen Sachverständigen und ihren
subjektiven Interpretationen abhängig sind.
Die
Lösung des sprachlichen und begrifflichen Grundproblems
Vernünftig betrachtet setzt eine angemessene, d.h. auch praktikable
Lösung voraus, dass sich JuristInnen und FachwissenschaftlerInnen
interdisziplinär zusammenfinden und Leitlinien ("Standards") entwickeln.
Das ist erfreulicherweise inzwischen durch die um den BGH
eingerichteten Arbeitsgruppen auch schon geschehen - wenngleich das Stiefkind
der Forensik, die Einsichtsfähigkeit noch einer Lösung harrt.
Das hat vermutlich damit zu tun, dass die Psychopathologen über keine
hinreichende Psychologie verfügen. Das führt dann zu solch seltsamen
Einschätzungen, wie sie der forensische Psychiater Nedopil
äußert: „Eine erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit
hat in der forensischen Praxis keine Relevanz und sollte bei Schuldfähigkeitsbeurteilungen
nicht ernsthaft erwogen werden.“ In Wahrheit hat sie natürlich erhebliche
Relevanz. Aber um diese ausfüllen zu können braucht man eine
Psychologie und Psychopathologie der Einsichtsfähigkeitfpsy.
bzw. Einsichtsfähigkeitfpsychiat sowie ihrer Korrespondenz-
und Zuweisungsregeln zum Rechtsbegriff der Einsichtsfähigkeitj§20.
Denn es ist natürlich ein erheblicher Unterschied, ob etwas keine
Rolle spielt, weil es wirklich unwichtig ist oder ob etwas keine Rolle
spielt, weil man es nicht kann und nicht weiß wie es geht. Die überragende
Bedeutung der Einsichtsfähigkeitj§20 ergibt schon
allein aus dem Umstand, dass die Steuerungsfähigkeitsprüfungj§20
entfallen muss, wenn die Einsichtsfähigkeitj§20 nicht
gegeben ist, was auch sinnvoll ist. Denn es kann niemand nach einer Einsicht
handeln (sich steuern), die gar nicht vorhanden ist.
Formale
Hilfsmittel der interdisziplinären Begriffsanalyse, Korrespondenz-
und Zuweisungsregeln
Materialsammlung
B: Einwilligungsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit
B01
BGH: Einwilligungsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite
(Risiken) der ärztlichen Maßnahme erfassen kann. (BGH, Urteil
vom 28.11.1957, 4 Str 525/57; BGH NJW 1972, 335; OLG Hamm FGPrax 1997,
64).
B02
Kröbers
(1997) Kriterien zur Einwilligungsfähigkeit.
"Definition der Einwilligungsunfähigkeit
Die Arbeitsgruppe um Helmchen & Lauter [6] hat in Anlehnung an
eine Definition von Amelung und in gewollter Analogie zur Definition von
Schuldunfähigkeit die Einwilligungsunfähigkeit wie folgt definiert:
1. Einwilligungsunfähig ist, wer wegen Minderjährigkeit,
geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung nicht erfassen kann,
a) um welche Tatsachen es sich bei der Entscheidung handelt, oder
b) welche Folgen oder Risiken sich aus der Einwilligungsentscheidung
ergeben und welche Mittel es zur Erreichung der mit der Einwilligung verbundenen
Ziele gibt, die ihn weniger belasten, oder
c) welchen Wert oder welchen Rang die von der Einwilligungsentscheidung
berührten Güter und Interessen für ihn besitzen.
2. Das gleiche gilt, wenn der Minderjährige, geistig Behinderte
oder psychisch Erkrankte zwar die erforderliche Einsicht hat, aber nicht
in der Lage ist, sich nach ihr zu bestimmen.
Diese Definition ist klar und übersichtlich,
und ihr ist auch von juristischer Seite bislang nicht widersprochen worden.
Aus ihr wird deutlich, daß Minderjährigkeit, geistige Behinderung
oder psychische Erkrankung die Einwilligungsfähigkeit nicht a priori
aufheben, daß andererseits abgesehen vom leicht feststellbaren Alter
unter 18 Jahre nur geistige Behinderung und psychische Erkrankung als mögliche
Basis eingeschränkter Einwilligungsfähigkeit zur Diskussion stehen.
Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit anhand
psychiatrischer Diagnosen?
Es würde das Beurteilungsverfahren sehr vereinfachen, wenn man
Einwilligungsunfähigkeit eng bestimmten psychiatrischen Diagnosen
zuordnen könnte. Dies jedoch ist nicht möglich. Es gibt keine
psychiatrische Erkrankung, bei der die Einwilligungsfähigkeit a priori
ausgeschlossen wäre. Einzige Ausnahmen sind solche Störungen,
bei denen die Unmöglichkeit zur sinnhaften zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme
essentieller Bestandteil der diagnostischen Kriterien ist, also z. B. beim
katatonen Stupor oder bei der Idiotie. ...
Wann bestehen Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit
?
Helmchen und Lauter [6] geben eine unsystematische Auflistung von Merkmalen,
die Zweifel an der Einwilligungsfähigkeit des Patienten wecken:
1. Wenn der Patient keine wirkliche Einsicht in die Natur seiner Situation
und seiner Krankheit hat.
2. Wenn der Patient die gegebene Information nicht wirklich versteht.
3. Wenn der Patient sich so verhält, als könne er eine Wahlmöglichkeit
nicht nutzen.
4. Wenn der Patient die verstandene Information nicht für eine
realitätsbezogene, vernünftige und angemessene Entscheidung nutzen
kann.
5. Wenn der Patient sich nicht authentisch selbst entscheiden kann,
d. h. nicht mehr in Übereinstimmung mit seinen eigenen, ‘charaktergebundenen’
Werten, Zielen und Haltungen steht.
6. Wenn der Patient seine Entscheidung nicht zum Ausdruck bringen kann.
..."
Kritisch sei hier angemerkt, dass in diesen
Bestimmungen nur ein unklarer Begriff durch andere unklare Begriffe ersetzt
wird. Natürlich ist es hier entscheidend, praktisch-konkrete Operationalisierungen
zu entwickeln und über Alltagsbeispiele abzusichern
B03
Maßnahmen der Personensorge bedürfen nicht der Geschäfts-
sondern der Einwilligungsfähigkeit
"Bei Handlungen und Maßnahmen, die keine Rechtsgeschäfte
betreffen, sondern den Bereich der Personensorge, kommt es nicht auf die
Geschäftsfähigkeit an, sondern auf die Einwilligungsfähigkeit.
Einwilligungsfähigkeit bedeutet die Fähigkeit
des Betroffenen, die Vor- und Nachteile einer Maßnahme der Personensorge
abzuwägen und eine vernünftige Entscheidung darüber zu treffen.
(Nicht verwechseln: Die Einwilligungsfähigkeit hat nichts zu tun mit
dem oben behandelten Einwilligungsvorbehalt!)
Sehr wichtig: Wer einwilligungsfähig ist, darf
die Entscheidungen über seine Personensorge auf jeden Fall selbst
treffen. Anders ausgedrückt: Wenn jemand in der Lage ist, solche Entscheidungen
zu treffen, darf niemand anderer an seiner Stelle entscheiden – wirklich
niemand!
...
Der Maßstab für die Einwilligungsfähigkeit
ist ein anderer als der für die Geschäftsfähigkeit. Beispiel:
Es gibt viele geistig behinderte oder leicht verwirrte Menschen, denen
man z. B. Sinn und Zweck einer Operation klarmachen kann; ihnen muss man
dann auch die Entscheidung über diese Operation überlassen, weil
sie eben in bezug auf eine solche Maßnahme einwilligungsfähig
sind. Dieselben Menschen aber sind vielleicht nicht in der Lage, Rechtsgeschäfte
zu verstehen und zu beurteilen, und sind dann nicht geschäftsfähig.
Die Entscheidung, ob jemand einwilligungsfähig
ist oder nicht, muss also unabhängig von der Entscheidung über
die Geschäftsfähigkeit getroffen werden. Sie muss genau genommen
in jedem Einzelfall für jede Einzelmaßnahme aufs neue getroffen
werden: Jemand, der heute noch total verwirrt ist und daher nicht fähig,
vernünftig zu urteilen, kann morgen schon wieder sein Urteilsvermögen
wiedergewonnen haben, und dann muss man ihn auch selbst entscheiden lassen.
Der Begriff Einwilligungsfähigkeit bezeichnet
also genau wie der Begriff Geschäftsfähigkeit einen konkreten
Zustand, in dem man sich gerade befindet, und nicht einen amtlich festgesetzten
Zustand. Die Einwilligungsfähigkeit ist hauptsächlich in den
Bereichen Aufenthaltsbestimmung (z. B. bei Unterbringung in einer Einrichtung)
und Heilbehandlung (z. B. bei Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka) von
Bedeutung.“
Quelle: Wegweiser Betreuung (Abruf
23.2.12).
B04
Voraussetzungen der Einwilligungsfähigkeit
"Dabei kommt es freilich nicht im eigentlichen Sinne auf die Geschäftsfähigkeit
des Patienten an, sondern auf seine Fähigkeit, die Komplexität
des Eingriffs konkret zu erfassen. Diese Fähigkeit kann je nach der
Art des Eingriffs und der Verfassung des Patienten auch bei dem Geschäftsunfähigen
gegeben sein oder bei dem Geschäftsfähigen fehlen. Sie ist in
erster Linie durch den jeweiligen Arzt zu beurteilen, auf dessen Strafbarkeit
es ja auch ankommt.
Für die Beurteilung, ob der Patient im Hinblick auf den anstehenden
medizinischen Eingriff nach seiner natürlichen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit
Bedeutung, Tragweite und Risiken erfassen und seinen Willen hiernach bestimmen
kann, haben sich folgende Kriterien herausgebildet:
-
Je komplexer der Eingriff ist, in den eingewilligt werden soll, desto höher
sind die juristischen Anforderungen, die an die Einwilligungsfähigkeit
zu stellen sind.
Hieraus ergeben sich folgende Voraussetzungen für eine Einwilligungsfähigkeit:
-
Der Patient muss über die Fähigkeit verfügen, einen bestimmten
Sachverhalt zu verstehen (Verständnis);
-
der Patient muss die Fähigkeit besitzen, bestimmte Informationen,
auch bezüglich der Folgen und Risiken, in angemessener Weise zu verarbeiten
(Verarbeitung);
-
der Patient muss die Fähigkeit besitzen, die Informationen, auch im
Hinblick auf Behandlungsalternativen, angemessen zu bewerten (Bewertung)
-
der Patient muss die Fähigkeit haben, den eigenen Willen auf der Grundlage
von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation zu bestimmen
(Bestimmbarkeit des Willens)
Bei psychisch kranken, dementen oder in sonstiger Weise in ihrer Willensbildung
beeinträchtigten Patienten ist also stets im Einzelfall zu prüfen,
ob Einwilligungsfähigkeit gegeben ist oder nicht."
Quelle: Wegweiser Betreuung (Abruf
23.2.12).
B05 "Einwilligungsunfähigkeit
"Ähnlich dem rechtlichen Unvermögen ist die Unfähigkeit
zur wirksamen Erteilung einer personenrechtlichen Gestattung, zu der u.
a. die Einwilligung in ärztliche Heileingriffe zählt. Bei personenrechtlichen
Gestattungen handelt es sich nicht um Willenserklärungen, sondern
um sog. geschäftsähnliche Handlungen (grundlegend BGHZ 29, S.
33, 36). Der Unterschied liegt darin, dass geschäftsähnliche
Handlungen im Gegensatz zu Willenserklärungen nicht auf einen rechtlichen,
sondern lediglich auf einen tatsächlichen Erfolg gerichtet sind, der
bei der Einwilligung des Patienten in der Vornahme der gewünschten
medizinischen Maßnahme liegt. Auch geschäftsähnliche Handlungen
ziehen jedoch Rechtswirkungen nach sich; im Falle der Einwilligung ist
es die Rechtfertigung der Körperverletzung, die tatbestandlich jeden
Heileingriff erfüllt. Diese Rechtswirkungen treten jedoch - anders
als bei der Willenserklärung - kraft Gesetzes und nicht deshalb ein,
weil sie von einem rechtsgeschäftlichen Willen des Erklärenden
umfasst sind. Dementsprechend ist für die Abgabe der Einwilligung
Geschäftsfähigkeit nicht erforderlich. Es bedarf aber der verstandesmäßigen,
geistigen und sittlichen Reife, die man benötigt, um die Bedeutung
und Tragweite des Heileingriffs zu erkennen. Ferner muss die Urteilskraft
gegeben sein, das Für und Wider abzuwägen, schließlich
die Fähigkeit, das Handeln nach der eigenen Einsicht zu bestimmen
(grundlegend BGHZ 29, S. 33, seitdem ständige Rechtsprechung des BGH;
Abschn. 5.2.2). Diese Erfordernisse bezeichnet man als Einwilligungsfähigkeit."
Quelle: Schneider,
Frank; Frister, Helmut & Olzen, Dirk (2010, Hrsg.). Einwilligungsfähigkeit
und Betreuungsrecht.
B06 Unscharfe Abgrenzung
zwischen Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsunfähigkeit
"In der Gestaltung einer Betreuung erwachsen Probleme aus der unscharfen
Abgrenzung zwischen Einwilligungsvorbehalt und Geschäftsunfähigkeit.
Die Gerichte sind mehr und mehr dazu übergegangen, die Frage nach
der Geschäftsfähigkeit auch in Gutachtenaufträge zu den
Voraussetzungen einer Betreuung generell zu stellen. Da dies den Rahmen
einer betreuungsrechtlichen Begutachtung eigentlich übersteigt, besteht
die Gefahr, dass, abgesehen von ohnehin eindeutigen Gegebenheiten, eine
rasche und dadurch oberflächliche Beurteilung erfolgt, unter Umständen
mit weitreichenden Konsequenzen für den Betroffenen. [>90] ...
... Die Entscheidungen der Gerichte ergeben, dass ein Betreuer ohne Einverständnis
eines Betroffenen nur bestellt werden kann, wenn und solange dieser aufgrund
einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung
seinen Willen nicht frei bestimmen kann. Liegt diese Situation nicht vor,
besteht bei Ablehnung einer Betreuung ein Schutz gegen unkluges Handeln
nicht."
Quelle: Konrad von Oefele: 7 Anwendung und Entwicklung
des Betreuungsrechts aus forensisch-psychiatrischer Sicht, aus Müller
& Hajek (2005), S. 89f.
Literatur
(Auswahl)
Links(Auswahl:
beachte)
Glossar,
Anmerkungen und Endnoten:
1) GIPT=
General
and Integrative
Psychotherapy, internationale Bezeichnung
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
__
Beispiele: Die scheinbare Klarheit in
den einen oder anderen Bestimmungen verliert sich schnell, wenn man genauer
hinsieht und weiter fragt. Man landet dann meist bei "generalklauselartigen"
Formulierungen, die auch vieldeutige Homonyme
sind (> Exkurs...).
Beweis,
Freie
Beweiswürdigung, Geschäftsfähigkeit,
Kindeswohl,
Recht,
seine
Angelegenheiten selbst besorgen können, Sozialethos,
Tatbestand,
Treu
und Glauben,
Vertrag,
Vertragsfreiheit,
Würde,
___
BGH-Arbeitsgruppe
aus JuristInnen, Psychiater- und PsychologInnen:
Siehe: Boetticher, A., Nedopil, N., Bosinski, H.A.G. et al. (2005)
Mindestanforderungen für Schuldfähig-keitsgutachten. NStZ 25:57–62.
Auch: Boetticher, A.; Nedopil, N.; Bosinski, H.A.G. & Saß,
H. (2007). Mindestanforderungen für Schuldfähig-keitsgutachten
Forens Psychiatr Psychol Kriminol., 1, 3–9. Und: Kröber, H.-L
(2010). Mindeststandards in der Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtung.
… In (164-185): Kröber, H.-L.; Dölling, D.; Leygraf, N.
& Saß, H. (2010, Hrsg.). Handbuch der Forensischen Psychiatrie.
Bd. 2: Psychopathologische Grundlagen und Praxis der Forensischen Psychiatrie
im Strafrecht Berlin: Stein-kopff (Springer).
__
Betreuungsrecht [nach
Abruf131114, wird hier nicht ständig aktualisiert]
§ 1896 Voraussetzungen
(1) Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit
oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht
auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. Den
Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. Soweit der Volljährige
auf Grund einer körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht
besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des Volljährigen bestellt
werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen nicht kundtun kann.
(1a) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer
nicht bestellt werden.
(2) Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden,
in denen die Betreuung erforderlich ist. Die Betreuung ist nicht erforderlich,
soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten,
der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört,
oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt
wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können.
(3) Als Aufgabenkreis kann auch die Geltendmachung von Rechten des
Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten bestimmt werden.
(4) Die Entscheidung über den Fernmeldeverkehr des Betreuten und
über die Entgegennahme, das Öffnen und das Anhalten seiner Post
werden vom Aufgabenkreis des Betreuers nur dann erfasst, wenn das Gericht
dies ausdrücklich angeordnet hat.
§ 1897 Bestellung einer natürlichen Person
(1) Zum Betreuer bestellt das Betreuungsgericht eine natürliche
Person, die geeignet ist, in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die
Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen und ihn in dem hierfür
erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen.
(2) Der Mitarbeiter eines nach § 1908f anerkannten Betreuungsvereins,
der dort ausschließlich oder teilweise als Betreuer tätig ist
(Vereinsbetreuer), darf nur mit Einwilligung des Vereins bestellt werden.
Entsprechendes gilt für den Mitarbeiter einer in Betreuungsangelegenheiten
zuständigen Behörde, der dort ausschließlich oder teilweise
als Betreuer tätig ist (Behördenbetreuer).
(3) Wer zu einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung,
in welcher der Volljährige untergebracht ist oder wohnt, in einem
Abhängigkeitsverhältnis oder in einer anderen engen Beziehung
steht, darf nicht zum Betreuer bestellt werden.
(4) Schlägt der Volljährige eine Person vor, die zum Betreuer
bestellt werden kann, so ist diesem Vorschlag zu entsprechen, wenn es dem
Wohl des Volljährigen nicht zuwiderläuft. Schlägt er vor,
eine bestimmte Person nicht zu bestellen, so soll hierauf Rücksicht
genommen werden. Die Sätze 1 und 2 gelten auch für Vorschläge,
die der Volljährige vor dem Betreuungsverfahren gemacht hat, es sei
denn, dass er an diesen Vorschlägen erkennbar nicht festhalten will.
(5) Schlägt der Volljährige niemanden vor, der zum Betreuer
bestellt werden kann, so ist bei der Auswahl des Betreuers auf die verwandtschaftlichen
und sonstigen persönlichen Bindungen des Volljährigen, insbesondere
auf die Bindungen zu Eltern, zu Kindern, zum Ehegatten und zum Lebenspartner,
sowie auf die Gefahr von Interessenkonflikten Rücksicht zu nehmen.
(6) Wer Betreuungen im Rahmen seiner Berufsausübung führt,
soll nur dann zum Betreuer bestellt werden, wenn keine andere geeignete
Person zur Verfügung steht, die zur ehrenamtlichen Führung der
Betreuung bereit ist. Werden dem Betreuer Umstände bekannt, aus denen
sich ergibt, dass der Volljährige durch eine oder mehrere andere geeignete
Personen außerhalb einer Berufsausübung betreut werden kann,
so hat er dies dem Gericht mitzuteilen.
(7) Wird eine Person unter den Voraussetzungen des Absatzes 6 Satz
1 erstmals in dem Bezirk des Betreuungsgerichts zum Betreuer bestellt,
soll das Gericht zuvor die zuständige Behörde zur Eignung des
ausgewählten Betreuers und zu den nach § 1 Abs. 1 Satz 1 zweite
Alternative des Vormünder- und Betreuervergütungsgesetzes zu
treffenden Feststellungen anhören. Die zuständige Behörde
soll die Person auffordern, ein Führungszeugnis und eine Auskunft
aus dem Schuldnerverzeichnis vorzulegen.
(8) Wird eine Person unter den Voraussetzungen des Absatzes 6 Satz
1 bestellt, hat sie sich über Zahl und Umfang der von ihr berufsmäßig
geführten Betreuungen zu erklären.
§ 1898 Übernahmepflicht
(1) Der vom Betreuungsgericht Ausgewählte ist verpflichtet, die
Betreuung zu übernehmen, wenn er zur Betreuung geeignet ist und ihm
die Übernahme unter Berücksichtigung seiner familiären,
beruflichen und sonstigen Verhältnisse zugemutet werden kann.
(2) Der Ausgewählte darf erst dann zum Betreuer bestellt werden,
wenn er sich zur Übernahme der Betreuung bereit erklärt hat.
§ 1899 Mehrere Betreuer
(1) Das Betreuungsgericht kann mehrere Betreuer bestellen, wenn die
Angelegenheiten des Betreuten hierdurch besser besorgt werden können.
In diesem Falle bestimmt es, welcher Betreuer mit welchem Aufgabenkreis
betraut wird. Mehrere Betreuer, die eine Vergütung erhalten, werden
außer in den in den Absätzen 2 und 4 sowie § 1908i Abs.
1 Satz 1 in Verbindung mit § 1792 geregelten Fällen nicht bestellt.
(2) Für die Entscheidung über die Einwilligung in eine Sterilisation
des Betreuten ist stets ein besonderer Betreuer zu bestellen.
(3) Soweit mehrere Betreuer mit demselben Aufgabenkreis betraut werden,
können sie die Angelegenheiten des Betreuten nur gemeinsam besorgen,
es sei denn, dass das Gericht etwas anderes bestimmt hat oder mit dem Aufschub
Gefahr verbunden ist.
(4) Das Gericht kann mehrere Betreuer auch in der Weise bestellen,
dass der eine die Angelegenheiten des Betreuten nur zu besorgen hat, soweit
der andere verhindert ist.
§ 1900 Betreuung durch Verein oder Behörde
(1) Kann der Volljährige durch eine oder mehrere natürliche
Personen nicht hinreichend betreut werden, so bestellt das Betreuungsgericht
einen anerkannten Betreuungsverein zum Betreuer. Die Bestellung bedarf
der Einwilligung des Vereins.
(2) Der Verein überträgt die Wahrnehmung der Betreuung einzelnen
Personen. Vorschlägen des Volljährigen hat er hierbei zu entsprechen,
soweit nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Der Verein teilt dem
Gericht alsbald mit, wem er die Wahrnehmung der Betreuung übertragen
hat.
(3) Werden dem Verein Umstände bekannt, aus denen sich ergibt,
dass der Volljährige durch eine oder mehrere natürliche Personen
hinreichend betreut werden kann, so hat er dies dem Gericht mitzuteilen.
(4) Kann der Volljährige durch eine oder mehrere natürliche
Personen oder durch einen Verein nicht hinreichend betreut werden, so bestellt
das Gericht die zuständige Behörde zum Betreuer. Die Absätze
2 und 3 gelten entsprechend.
(5) Vereinen oder Behörden darf die Entscheidung über die
Einwilligung in eine Sterilisation des Betreuten nicht übertragen
werden.
§ 1901 Umfang der Betreuung, Pflichten des Betreuers
(1) Die Betreuung umfasst alle Tätigkeiten, die erforderlich sind,
um die Angelegenheiten des Betreuten nach Maßgabe der folgenden Vorschriften
rechtlich zu besorgen.
(2) Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen,
wie es dessen Wohl entspricht. Zum Wohl des Betreuten gehört auch
die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach
seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
(3) Der Betreuer hat Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit
dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft und dem Betreuer zuzumuten ist.
Dies gilt auch für Wünsche, die der Betreute vor der Bestellung
des Betreuers geäußert hat, es sei denn, dass er an diesen Wünschen
erkennbar nicht festhalten will. Ehe der Betreuer wichtige Angelegenheiten
erledigt, bespricht er sie mit dem Betreuten, sofern dies dessen Wohl nicht
zuwiderläuft.
(4) Innerhalb seines Aufgabenkreises hat der Betreuer dazu beizutragen,
dass Möglichkeiten genutzt werden, die Krankheit oder Behinderung
des Betreuten zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten
oder ihre Folgen zu mildern. Wird die Betreuung berufsmäßig
geführt, hat der Betreuer in geeigneten Fällen auf Anordnung
des Gerichts zu Beginn der Betreuung einen Betreuungsplan zu erstellen.
In dem Betreuungsplan sind die Ziele der Betreuung und die zu ihrer Erreichung
zu ergreifenden Maßnahmen darzustellen.
(5) Werden dem Betreuer Umstände bekannt, die eine Aufhebung der
Betreuung ermöglichen, so hat er dies dem Betreuungsgericht mitzuteilen.
Gleiches gilt für Umstände, die eine Einschränkung des Aufgabenkreises
ermöglichen oder dessen Erweiterung, die Bestellung eines weiteren
Betreuers oder die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts (§ 1903)
erfordern.
§ 1901a Schriftliche Betreuungswünsche,
Vorsorgevollmacht
(1) Hat ein einwilligungsfähiger Volljähriger für den
Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit schriftlich festgelegt, ob er
in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende
Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche
Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (Patientenverfügung), prüft
der Betreuer, ob diese Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation
zutreffen. Ist dies der Fall, hat der Betreuer dem Willen des Betreuten
Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Eine Patientenverfügung kann
jederzeit formlos widerrufen werden.
(2) Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen
einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation
zu, hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen
Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden,
ob er in eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 einwilligt oder
sie untersagt. Der mutmaßliche Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte
zu ermitteln. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere mündliche
oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen
und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten unabhängig von Art und Stadium
einer Erkrankung des Betreuten.
(4) Niemand kann zur Errichtung einer Patientenverfügung verpflichtet
werden. Die Errichtung oder Vorlage einer Patientenverfügung darf
nicht zur Bedingung eines Vertragsschlusses gemacht werden.
§ 1901b Gespräch zur Feststellung des Patientenwillens
(1) Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme
im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert
ist. Er und der Betreuer erörtern diese Maßnahme unter Berücksichtigung
des Patientenwillens als Grundlage für die nach § 1901a zu treffende
Entscheidung.
(2) Bei der Feststellung des Patientenwillens nach § 1901a Absatz
1 oder der Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens
nach § 1901a Absatz 2 soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen
des Betreuten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden, sofern
dies ohne erhebliche Verzögerung möglich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 gelten für Bevollmächtigte entsprechend.0
§ 1901c Schriftliche Betreuungswünsche,
Vorsorgevollmacht
Wer ein Schriftstück besitzt, in dem jemand für den Fall
seiner Betreuung Vorschläge zur Auswahl des Betreuers oder Wünsche
zur Wahrnehmung der Betreuung geäußert hat, hat es unverzüglich
an das Betreuungsgericht abzuliefern, nachdem er von der Einleitung eines
Verfahrens über die Bestellung eines Betreuers Kenntnis erlangt hat.
Ebenso hat der Besitzer das Betreuungsgericht über Schriftstücke,
in denen der Betroffene eine andere Person mit der Wahrnehmung seiner Angelegenheiten
bevollmächtigt hat, zu unterrichten. Das Betreuungsgericht kann die
Vorlage einer Abschrift verlangen.
§ 1902 Vertretung des Betreuten
In seinem Aufgabenkreis vertritt der Betreuer den Betreuten gerichtlich
und außergerichtlich.
§ 1903 Einwilligungsvorbehalt
(1) Soweit dies zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die
Person oder das Vermögen des Betreuten erforderlich ist, ordnet das
Betreuungsgericht an, dass der Betreute zu einer Willenserklärung,
die den Aufgabenkreis des Betreuers betrifft, dessen Einwilligung bedarf
(Einwilligungsvorbehalt). Die §§ 108 bis 113, 131 Abs. 2 und
§ 210 gelten entsprechend.
(2) Ein Einwilligungsvorbehalt kann sich nicht erstrecken auf Willenserklärungen,
die auf Eingehung einer Ehe oder Begründung einer Lebenspartnerschaft
gerichtet sind, auf Verfügungen von Todes wegen und auf Willenserklärungen,
zu denen ein beschränkt Geschäftsfähiger nach den Vorschriften
des Buches vier und fünf nicht der Zustimmung seines gesetzlichen
Vertreters bedarf.
(3) Ist ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, so bedarf der Betreute
dennoch nicht der Einwilligung seines Betreuers, wenn die Willenserklärung
dem Betreuten lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. Soweit das Gericht
nichts anderes anordnet, gilt dies auch, wenn die Willenserklärung
eine geringfügige Angelegenheit des täglichen Lebens betrifft.
(4) § 1901 Abs. 5 gilt entsprechend.
§ 1904 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
bei ärztlichen Maßnahmen
(1) Die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustands,
eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung
des Betreuungsgerichts, wenn die begründete Gefahr besteht, dass der
Betreute auf Grund der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger
dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet. Ohne die Genehmigung darf
die Maßnahme nur durchgeführt werden, wenn mit dem Aufschub
Gefahr verbunden ist.
(2) Die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung des Betreuers
in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder
einen ärztlichen Eingriff bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts,
wenn die Maßnahme medizinisch angezeigt ist und die begründete
Gefahr besteht, dass der Betreute auf Grund des Unterbleibens oder des
Abbruchs der Maßnahme stirbt oder einen schweren und länger
dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet.
(3) Die Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist zu erteilen,
wenn die Einwilligung, die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung
dem Willen des Betreuten entspricht.
(4) Eine Genehmigung nach den Absätzen 1 und 2 ist nicht erforderlich,
wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber
besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung
dem nach § 1901a festgestellten Willen des Betreuten entspricht.
(5) Die Absätze 1 bis 4 gelten auch für einen Bevollmächtigten.
Er kann in eine der in Absatz 1 Satz 1 oder Absatz 2 genannten Maßnahmen
nur einwilligen, nicht einwilligen oder die Einwilligung widerrufen, wenn
die Vollmacht diese Maßnahmen ausdrücklich umfasst und schriftlich
erteilt ist.
§ 1905 Sterilisation
(1) Besteht der ärztliche Eingriff in einer Sterilisation des
Betreuten, in die dieser nicht einwilligen kann, so kann der Betreuer nur
einwilligen, wenn
-
die Sterilisation dem Willen des Betreuten nicht widerspricht,
-
der Betreute auf Dauer einwilligungsunfähig bleiben wird,
-
anzunehmen ist, dass es ohne die Sterilisation zu einer Schwangerschaft
kommen würde,
-
infolge dieser Schwangerschaft eine Gefahr für das Leben oder die
Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen
oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren zu erwarten wäre,
die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte, und
-
die Schwangerschaft nicht durch andere zumutbare Mittel verhindert werden
kann.
Als schwerwiegende Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand der
Schwangeren gilt auch die Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides,
das ihr drohen würde, weil betreuungsgerichtliche Maßnahmen,
die mit ihrer Trennung vom Kind verbunden wären (§§ 1666,
1666a), gegen sie ergriffen werden müssten.
(2) Die Einwilligung bedarf der Genehmigung des Betreuungsgerichts.
Die Sterilisation darf erst zwei Wochen nach Wirksamkeit der Genehmigung
durchgeführt werden. Bei der Sterilisation ist stets der Methode der
Vorzug zu geben, die eine Refertilisierung zulässt.
§ 1906 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
bei der Unterbringung
(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung
verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten
erforderlich ist, weil
-
auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung
des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen
gesundheitlichen Schaden zufügt, oder
-
zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine
Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher
Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt
werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder
geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung
nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.
(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig.
Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit
dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich
nachzuholen. Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen
wegfallen. Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Betreuungsgericht
anzuzeigen.
(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer
2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme),
so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn
-
der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen
oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme
nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
-
zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen
Maßnahme zu überzeugen,
-
die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach
Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen
gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
-
der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten
zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
-
der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu
erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.
§ 1846 ist nur anwendbar, wenn der Betreuer an der Erfüllung
seiner Pflichten verhindert ist.
(3a) Die Einwilligung in die ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf
der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Der Betreuer hat die Einwilligung
in die ärztliche Zwangsmaßnahme zu widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen
wegfallen. Er hat den Widerruf dem Betreuungsgericht anzuzeigen.
(4) Die Absätze 1 und 2 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten,
der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung
aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen,
Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum
oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.
(5) Die Unterbringung durch einen Bevollmächtigten und die Einwilligung
eines Bevollmächtigten in Maßnahmen nach den Absätzen 3
und 4 setzen voraus, dass die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die
in den Absätzen 1, 3 und 4 genannten Maßnahmen ausdrücklich
umfasst. Im Übrigen gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.
§ 1907 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
bei der Aufgabe der Mietwohnung
(1) Zur Kündigung eines Mietverhältnisses über Wohnraum,
den der Betreute gemietet hat, bedarf der Betreuer der Genehmigung des
Betreuungsgerichts. Gleiches gilt für eine Willenserklärung,
die auf die Aufhebung eines solchen Mietverhältnisses gerichtet ist.
(2) Treten andere Umstände ein, auf Grund derer die Beendigung
des Mietverhältnisses in Betracht kommt, so hat der Betreuer dies
dem Betreuungsgericht unverzüglich mitzuteilen, wenn sein Aufgabenkreis
das Mietverhältnis oder die Aufenthaltsbestimmung umfasst. Will der
Betreuer Wohnraum des Betreuten auf andere Weise als durch Kündigung
oder Aufhebung eines Mietverhältnisses aufgeben, so hat er dies gleichfalls
unverzüglich mitzuteilen.
(3) Zu einem Miet- oder Pachtvertrag oder zu einem anderen Vertrag,
durch den der Betreute zu wiederkehrenden Leistungen verpflichtet wird,
bedarf der Betreuer der Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn das Vertragsverhältnis
länger als vier Jahre dauern oder vom Betreuer Wohnraum vermietet
werden soll.
§ 1908 Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
bei der Ausstattung
Der Betreuer kann eine Ausstattung aus dem Vermögen des Betreuten
nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts versprechen oder gewähren.
§ 1908a Vorsorgliche Betreuerbestellung und
Anordnung des Einwilligungsvorbehalts für Minderjährige
Maßnahmen nach den §§ 1896, 1903 können auch für
einen Minderjährigen, der das 17. Lebensjahr vollendet hat, getroffen
werden, wenn anzunehmen ist, dass sie bei Eintritt der Volljährigkeit
erforderlich werden. Die Maßnahmen werden erst mit dem Eintritt der
Volljährigkeit wirksam.
§ 1908b Entlassung des Betreuers
(1) Das Betreuungsgericht hat den Betreuer zu entlassen, wenn seine
Eignung, die Angelegenheiten des Betreuten zu besorgen, nicht mehr gewährleistet
ist oder ein anderer wichtiger Grund für die Entlassung vorliegt.
Ein wichtiger Grund liegt auch vor, wenn der Betreuer eine erforderliche
Abrechnung vorsätzlich falsch erteilt oder den erforderlichen persönlichen
Kontakt zum Betreuten nicht gehalten hat. Das Gericht soll den nach §
1897 Abs. 6 bestellten Betreuer entlassen, wenn der Betreute durch eine
oder mehrere andere Personen außerhalb einer Berufsausübung
betreut werden kann.
(2) Der Betreuer kann seine Entlassung verlangen, wenn nach seiner
Bestellung Umstände eintreten, auf Grund derer ihm die Betreuung nicht
mehr zugemutet werden kann.
(3) Das Gericht kann den Betreuer entlassen, wenn der Betreute eine
gleich geeignete Person, die zur Übernahme bereit ist, als neuen Betreuer
vorschlägt.
(4) Der Vereinsbetreuer ist auch zu entlassen, wenn der Verein dies
beantragt. Ist die Entlassung nicht zum Wohl des Betreuten erforderlich,
so kann das Betreuungsgericht statt dessen mit Einverständnis des
Betreuers aussprechen, dass dieser die Betreuung künftig als Privatperson
weiterführt. Die Sätze 1 und 2 gelten für den Behördenbetreuer
entsprechend.
(5) Der Verein oder die Behörde ist zu entlassen, sobald der Betreute
durch eine oder mehrere natürliche Personen hinreichend betreut werden
kann.
Nichtamtliches Inhaltsverzeichnis
§ 1908c Bestellung eines neuen Betreuers
Stirbt der Betreuer oder wird er entlassen, so ist ein neuer Betreuer
zu bestellen.
§ 1908d Aufhebung oder Änderung von Betreuung
und Einwilligungsvorbehalt
(1) Die Betreuung ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen.
Fallen diese Voraussetzungen nur für einen Teil der Aufgaben des Betreuers
weg, so ist dessen Aufgabenkreis einzuschränken.
(2) Ist der Betreuer auf Antrag des Betreuten bestellt, so ist die
Betreuung auf dessen Antrag aufzuheben, es sei denn, dass eine Betreuung
von Amts wegen erforderlich ist. Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger
stellen. Die Sätze 1 und 2 gelten für die Einschränkung
des Aufgabenkreises entsprechend.
(3) Der Aufgabenkreis des Betreuers ist zu erweitern, wenn dies erforderlich
wird. Die Vorschriften über die Bestellung des Betreuers gelten hierfür
entsprechend.
(4) Für den Einwilligungsvorbehalt gelten die Absätze 1 und
3 entsprechend.
§ 1908e weggefallen
§ 1908f Anerkennung als Betreuungsverein
(1) Ein rechtsfähiger Verein kann als Betreuungsverein anerkannt
werden, wenn er gewährleistet, dass er
-
eine ausreichende Zahl geeigneter Mitarbeiter hat und diese beaufsichtigen,
weiterbilden und gegen Schäden, die diese anderen im Rahmen ihrer
Tätigkeit zufügen können, angemessen versichern wird,
-
sich planmäßig um die Gewinnung ehrenamtlicher Betreuer bemüht,
diese in ihre Aufgaben einführt, fortbildet und sie sowie Bevollmächtigte
berät,
2a. planmäßig über Vorsorgevollmachten
und Betreuungsverfügungen informiert,
-
einen Erfahrungsaustausch zwischen den Mitarbeitern ermöglicht.
(2) Die Anerkennung gilt für das jeweilige Land; sie kann auf einzelne
Landesteile beschränkt werden. Sie ist widerruflich und kann unter
Auflagen erteilt werden.
(3) Das Nähere regelt das Landesrecht. Es kann auch weitere Voraussetzungen
für die Anerkennung vorsehen.
(4) Die anerkannten Betreuungsvereine können im Einzelfall Personen
bei der Errichtung einer Vorsorgevollmacht beraten.
§ 1908g Behördenbetreuer
(1) Gegen einen Behördenbetreuer wird kein Zwangsgeld nach §
1837 Abs. 3 Satz 1 festgesetzt.
(2) Der Behördenbetreuer kann Geld des Betreuten gemäß
§ 1807 auch bei der Körperschaft anlegen, bei der er tätig
ist.
§ 1908h weggefallen
§ 1908i Entsprechend anwendbare Vorschriften
(1) Im Übrigen sind auf die Betreuung § 1632 Abs. 1 bis 3,
§§ 1784, 1787 Abs. 1, § 1791a Abs. 3 Satz 1 zweiter Halbsatz
und Satz 2, §§ 1792, 1795 bis 1797 Abs. 1 Satz 2, §§
1798, 1799, 1802, 1803, 1805 bis 1821, 1822 Nr. 1 bis 4, 6 bis 13, §§
1823 bis 1826, 1828 bis 1836, 1836c bis 1836e, 1837 Abs. 1 bis 3, §§
1839 bis 1843, 1846, 1857a, 1888, 1890 bis 1895 sinngemäß anzuwenden.
Durch Landesrecht kann bestimmt werden, dass Vorschriften, welche die Aufsicht
des Betreuungsgerichts in vermögensrechtlicher Hinsicht sowie beim
Abschluss von Lehr- und Arbeitsverträgen betreffen, gegenüber
der zuständigen Behörde außer Anwendung bleiben.
(2) § 1804 ist sinngemäß anzuwenden, jedoch kann der
Betreuer in Vertretung des Betreuten Gelegenheitsgeschenke auch dann machen,
wenn dies dem Wunsch des Betreuten entspricht und nach seinen Lebensverhältnissen
üblich ist. § 1857a ist auf die Betreuung durch den Vater, die
Mutter, den Ehegatten, den Lebenspartner oder einen Abkömmling des
Betreuten sowie auf den Vereinsbetreuer und den Behördenbetreuer sinngemäß
anzuwenden, soweit das Betreuungsgericht nichts anderes anordnet.
§ 1908k weggefallen
__
Deontische Logik. Vieldeutiges
Homonym.
Im allgemeinen eine Logik, die sich mit den normativen Grundwerten Sollen,
Erlaubt (frei gestellt), Geboten, Verboten beschäftigt und
entsprechende Systeme entwickelt. Die Sache erscheint verwickelt, wenn
man sich vergegenwärtigt, dass es auch im Rahmen der "üblichen"
Logik (Aussagen- und Prädikatenlogik) gültige Schlüsse gibt,
obwohl normative Obersätze gebraucht werden. Beispiel aus Herberger
& Simon (1980, S. 180):
"Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis
friedlich und ohne Waffen zu versammeln
Maier, Müller und Schmidt sind Deutsche
Maier, Müller und Schmidt haben das Recht, sich ohne Anmeldung
oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln."
Diskutiert wird u.a., was für Wahrheitswerte deontische Aussagen haben
(sollen ;-).
Meine Ansicht ist, dass analog zu den Wahrheitswerten
in der Aussagepsychologie (wahr und falsch in der zweiwertigen Konzeption)
folgende fünf deontische Grundwerte vorgesehen werden sollten: geboten,
verboten, freigestellt, bedingt und unbestimmt.
___
Freie Beweiswürdigung. Vieldeutiges
Homonym.
"... Freie richterliche Beweiswürdigung bedeutet, die Beweismittel
ohne Bindung an förmliche Beweisregeln umfassend und pflichtgemäss
zu würdigen. Der Richter hat alle Beweismittel objektiv zu prüfen,
unabhängig davon, von wem sie stammen und danach zu entscheiden, ob
die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des
strittigen Rechtsanspruches gestatten[4]. Der Richter ist nicht an bestimmte
starre Beweisregeln gebunden, die dem Richter vorschreiben, wie ein gültiger
Beweis zu Stande kommt und welchen Beweiswert die einzelnen Beweismittel
im Verhältnis zueinander haben[5]. ..." Quelle: Groner, Rechtsanwälte
(Abruf 22.2.12).
___
Fuzzylogische Strukturen. Vieldeutiges
Homonym.
So benennt Joerden,
Jan C. (2010) sein 8. Kapitel, das unscharfe und nicht genau bestimmte
Begriffe und Sachverhalte behandelt.
___
Generalklausel. Unbestimmter Rechtsbegriff.
Vieldeutiges Homonym.
In der Rechtswissenschaft eine sehr wichtige eigene kreative Begriffsschöpfung,
die der Tatsache Rechnung trägt, dass man den relevanten Bedeutungsraum
für einen Rechtsbegriff nicht hinreichend vollständig definitorisch
fassen kann, sondern ihn allmählich durch konkrete Rechtsprechung
mehr und mehr ausfüllt. Es gibt sozusagen einen Bedeutungsraum, der
durch diese und jene Merkmalsdefinition partiell bestimmt und eingegrenzt
wird und in der konkreten Rechtsprechung mehr und mehr ausgefüllt
wird. Ein Beispiel ist z.B. der Begriff des Kindeswohls.
In neueren Entwicklungen zur juristischen Logik
und Methodologie wird inzwischen auch die Fuzzylogik - gerade im Zusammenhang
mit unbestimmten Rechtsbegriffen - erörtert (8. Kapitel bei Joerden,
Jan C. (2010). [W]
___
Nedopil: Forensische Psychiatrie. In (S.
1344): Möller, H.-J.; Laux, G. & Kapfhammer, H.-P. (2008,
Hrsg.) Psychiatrie und Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
___
Ontisierung. Das Universalienproblem
scheint in der Rechtswissenschaft namentlich nicht bekannt. Aber in der
Sache wird es von manchem erkannt, so von Rainer Wimmer in seinem Beitrag
"Weltansichten aus sprachlicher und rechtlicher Perspektive. Zur Ontisierung
von Konzepten des Rechts", in (81-95) Eichoff-Cyrus
& Antos (2008). Ich zitiere S. 82 und hebe fett-kursiv die universalienrelevante
Stelle hervor:
"Es geht in den rechtlichen Auseinandersetzungen
und Diskursen um eine Gegenstandskonstruktion und damit um eine Verdinglichung
von Vorstellungen, Begriffen und Konzepten, die aus rechtlicher Perspektive
entwickelt und begründet werden und die auf der Grundlage der Privilegierung
des rechtlichen Diskurses in unserer rechtsstaatlichen Gesellschaft in
die gemeinsprachlich konzipierte Vorstellungswelt der normalen Staatsbürger
hineingetragen wird. Der rechtliche Diskurs ist in unserer Gesellschaft
deshalb privilegiert, weil nach unserer Verfassung die Gerichte in relevanten
Situationen letztlich über die Bedeutungen von Ausdrücken zu
entscheiden haben. So hat das Verfassungsgericht verschiedentlich darüber
entschieden, was unter Gewalt zu verstehen ist. Ich spreche anstelle
von „Verdinglichung" auch von „Ontisierung". Es wird etwas als in der Wirklichkeit
seiend konzipiert und in diese hineingestellt, was in der gemeinsprachlich
bestimmten Wirklichkeitswelt der Normalbürger nicht fraglos seinen
Platz hat. Der Ausdruck Ontisierung hat gegenüber dem Ausdruck
Verdinglichung unter anderem den Vorteil, dass deutlich werden kann dass
es nicht nur um (materielle) Gegenstände geht, sondern auch um Sachverhalte.
Sachverhalte haben auch mit der Relationierung von Gegenständen zu
tun. Ontisierung ist ein Teil dessen, was man seit Berger/Luckmann (1969)
die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" nennt."
___
Recht. Vieldeutiges Homonym.
[W]
___
Rechtsgeschäft. Vieldeutiges
Homonym.
Voraussetzung ist die allgemein angenommene Geschäftsfähigkeit
(BGB § 104), d.h. die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung
einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (BGB § 2229)
___
Rechtsphilosophie. Vieldeutiges
Homonym.
Im allgemeinen eine grundlegende, der besonderen Rechtsentwicklung vorausgehende
Haltung oder Einstellung, wie Recht zu begründen ist (Naturrechtsauffassung,
Rechtspositivismus oder Rechtsrealismus), was es zu leisten hat (Herrschafts-
oder Gerechtigkeitsinstrument) und wie es ausgeübt und kontrolliert
wird. (z.B. öffentlich, mündlich). [W]
___
seine Angelegenheiten
selbst besorgen können. Vieldeutiges Homonym.
Sie werden in den sog. Aufgabenkreisen spezifiziert.
Fundstellen der Formulierung Im Betreuungsrecht
nach der Quelle (Abruf 22.2.12):
1. Juli 2005, 1. September 2009
§ 1896. Voraussetzungen.
(1) [1] Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit
oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht
auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. [2]
Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. [3] Soweit
der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine
Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des
Volljährigen bestellt werden, es sei denn, daß dieser seinen
Willen nicht kundtun kann.
...
1. Januar 2002, 1. Juli 2005
§ 1896. Voraussetzungen
(1) [1] Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit
oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Vormundschaftsgericht
auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. [2]
Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. [3] Soweit
der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine
Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des
Volljährigen bestellt werden, es sei denn, daß dieser seinen
Willen nicht kundtun kann.
1a) Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer
nicht bestellt werden.
...
[1. Januar 1999, 1. Januar 2002]
§ 1896. Voraussetzungen
(1) [1] Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit
oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Vormundschaftsgericht
auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. [2]
Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. [3] Soweit
der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine
Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des
Volljährigen bestellt werden, es sei denn, daß dieser seinen
Willen nicht kundtun kann.
(2) [1] Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden,
in denen die Betreuung erforderlich ist. [2] Die Betreuung ist nicht erforderlich,
soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten,
der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 bezeichneten Personen gehört,
oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt
wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können.
(3) Als Aufgabenkreis kann auch die Geltendmachung von Rechten des
Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten bestimmt werden.
(4) Die Entscheidung über den Fernmeldeverkehr des Betreuten und
über die Entgegennahme, das Öffnen und das Anhalten seiner Post
werden vom Aufgabenkreis des Betreuers nur dann erfaßt, wenn das
Gericht dies ausdrücklich angeordnet hat.
[1. Januar 1992]
§ 1896
(1) [1] Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit
oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine
Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Vormundschaftsgericht
auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. [2]
Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. [3] Soweit
der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine
Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des
Volljährigen bestellt werden, es sei denn, daß dieser seinen
Willen nicht kundtun kann.
(2) [1] Ein Betreuer darf nur für Aufgabenkreise bestellt werden,
in denen die Betreuung erforderlich ist. [2] Die Betreuung ist nicht erforderlich,
soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten
oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt
wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können.
(3) Als Aufgabenkreis kann auch die Geltendmachung von Rechten des
Betreuten gegenüber seinem Bevollmächtigten bestimmt werden.
(4) Die Entscheidung über den Fernmeldeverkehr des Betreuten und
über die Entgegennahme, das Öffnen und das Anhalten seiner Post
werden vom Aufgabenkreis des Betreuers nur dann erfaßt, wenn das
Gericht dies ausdrücklich angeordnet hat
___
Sozialethos. Vieldeutiges Homonym.
Zippelius unterstellt mit der Formulierung (fett-kursiv RS):
"Das Recht hat die Funktion, bestimmte Rechtsfragen zu lösen;
und zwar sollte - wenigstens idealtypisch gesehen - eine solche Problemlösung
gefunden werden, die dem zur Zeit herrschenden Sozialethos [>168]
möglichst
gerecht wird (Kap. 20h)."
dass man erstens "das zur Zeit herrschende Sozialethos" feststellen kann
und dass es zweitens Methoden gibt, die erlauben, zu bestimmen, ob eine
Problemlösung dem zur Zeit herrschenden Sozialethos möglichst
gerecht wird. Hier wird im Brustton der Überzeugung so geredet, als
sei dies alles feststellbar, als sei dies alles Wirklichkeit und nicht
nur geistige Konstruktion..
Quelle mit Kontext: Zippelius, Reinhold (1973, 3.
A.). Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtsphilosophie.
München: C.H.Beck. S. 166ff:
"31. PROBLEMDENKEN
a) Der Denkansatz an Einzelproblemen
Wenn auch die Rechtswissenschaft im Interesse größtmöglicher
Widerspruchsfreiheit und Transparenz der Normenordnung auf das Aufdecken
systematischer Bezüge nicht verzichten kann, so gelangt sie doch nicht
zu einem geschlossenen System. Das juristische Erwägen unterscheidet
sich grundsätzlich vom rein axiomatischen Denken. Die Jurisprudenz
sucht von Haus aus Antworten auf konkrete Gerechtigkeits- und Ordnungsprobleme.
Das Recht muß „herausexperimentiert" werden (Kap. 201). Das geschieht
aber in Erwägungen, die weitgehend antinomisch sind: Man zieht verschiedene
Lösungsmöglichkeiten in Betracht und wägt bei deren Auswahl
die für und gegen sie sprechenden Argumente gegeneinander ab. Diese
„erwägende" und „in Betracht ziehende" Methode des juristischen Denkens
hat schon die Interessenjurisprudenz erkannt. Auf die gleiche Spur führt
auch der neuere Hinweis, daß das juristische Denken weitgehend „topisch"
sei (Kap. 32a). Die Widersprüche zwischen den Interessen und zwischen
den Rechtsgrundsätzen (etwa zwischen den Prinzipien der Rechtssicherheit
und der Billigkeit, Kap. 23) lassen sich oft nicht rational auflösen,
sondern fordern eine Abwägung heraus, in welchem Maße dem einen
und dem anderen Interesse oder Grundsatz Rechnung zu tragen sei.
Daß Jurisprudenz und Gesetzgebung solche Erwägungen
anzustellen haben, liegt auf der Hand. Schon Max Salomon [M. Salomon, Grundlegung
zur Rechtsphilosophie,2 1925, S. 26ff.] hat die Rechtsprobleme als den
Forschungsgegenstand der Rechtswissen- [>167] schaft bezeichnet. Auch die
Gesetze seien Lösungen von Rechtsproblemen.
Die Suche nach einer gerechten Problemlösung
setzt sich zumeist über die Gesetzgebung hinaus in der Rechtsanwendung
fort:
Soweit freilich der Inhalt des gesetzlichen Tatbestandes unzweideutig
feststeht, sind für die Rechtsanwendung grundsätzlich die im
Tatbestand fixierten Entscheidungskriterien verbindlich. Insofern ist die
Jurisprudenz dogmatisch, d.h. an einen autoritativ vorgegebenen Rechtssatz
gebunden, den sie in seinem Sinngehalt auszuschöpfen hat.
Idealtypisch steht dieses dogmatische Denken im
Gegensatz zu einem „Forschungsdenken", das kritisch in eigener geistiger
Verantwortung die Lösung von Problemen sucht. In der praktischen Rechtsanwendung
wird aber die Grenze zwischen beiden fortlaufend überschritten. Das
liegt daran, daß nachvollziehende Interpretation und Rechtsfortbildung
ineinander verzahnt sind. In zahlreichen Fragen lassen die geltenden Rechtsnormen
dem Richter einen Spielraum für eine eigene Wertung (Kap. 30b). In
solchen Fällen hat dieser dann selber daran Anteil, die Kriterien
einer gerechten Entscheidung zu finden. Die Kommentare zu den Generalklauseln
(wie z.B. „Treu und Glauben") legen Zeugnis davon ab, in welch hohem Maße
die Gerichte an solcher „Invention" von Rechtsgrundsätzen beteiligt
sind.
Darüber hinaus bleibt dem Richter sogar eine begrenzte Möglichkeit
zu „produktiver Kritik" am Gesetz: dort nämlich, wo die bestehenden
Rechtsnormen ihre Funktion nicht erfüllen, ein Rechtsproblem gerecht
zu lösen. Hier wird das Sozialethos zur kritischen Instanz, an der
sich die Unvollständigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit des
Gesetzes enthüllt. Wo das Gesetz regelungsbedürftige Fälle
ungeregelt läßt oder aber solche Fälle miterfaßt,
die aus der Regelung auszunehmen wären, kann der Richter eine „Lücke"
feststellen und ausfüllen (b).
b) Problemgebundenheit der Rechtsgrundsätze und Rechtsbegriffe
Das Recht hat die Funktion, bestimmte Rechtsfragen
zu lösen; und zwar sollte - wenigstens idealtypisch gesehen - eine
solche Problemlösung gefunden werden, die dem zur Zeit herrschenden
Sozialethos [>168] möglichst gerecht wird (Kap. 20h). Die Sätze
und Begriffe des Rechts haben also eine auf diese Probleme bezogene Bedeutung.
Das Recht hat in der Vielfalt der Ereignisse vor allem diejenigen Merkmale
aufzusuchen und begrifflich herauszuheben, auf die es unter dem Gesichtspunkt
der Gerechtigkeit ankommt (vgl. auch Kap. 33).
Schon die einzelnen Rechtsbegriffe sind also bestimmten
Rechtsproblemen zugeordnet, deren Lösung sie dienen sollen. Sie sind
somit funktionsgebunden. Zum Beispiel soll der Begriff der Fahrlässigkeit
im Strafrecht eine der Voraussetzungen bezeichnen, unter denen es gerecht
ist, jemanden zu bestrafen, im Zivilrecht dagegen eine Voraussetzung gerechten
Schadensausgleichs. Der Begriff der Rechtswidrigkeit soll im Recht der
unerlaubten Handlungen eine Schadensersatzvoraussetzung, im strafrechtlichen
Deliktstatbestand eine allgemeine Strafvoraussetzung und in den Notwehrparagraphen
solche Angriffe bezeichnen, gegen die man sich wehren darf. Das selbe Wort
kann also in verschiedenen gesetzlichen Tatbeständen zur Erschließung
ganz verschiedener Rechtsfragen dienen, und es liegt nahe, daß es
diese unterschiedlichen Funktionen nicht immer in genau ein und derselben
Bedeutung erfüllen kann. Das gleiche Wort kann also in verschiedenen
gesetzlichen Tatbeständen verschiedene Bedeutungen haben, je nach
dem Problem, das die eine oder die andere Norm zu lösen hat. Diese
Tatsache tritt übrigens in einen nicht ganz auflösbaren Widerstreit
zu der Forderung, daß die Normenordnung im Interesse terminologischer
Einfachheit und Klarheit sich soweit wie möglich eines einheitlichen
Sprachgebrauches bedienen sollte.
Das begriffliche Instrumentarium des Rechts ist
also funktionsgebunden. Insbesondere spielt sich auch die Gesetzesauslegung
als eine „problemorientierte Argumentation" ab: Die interessenjuristische
Analyse läuft auf die Frage nach einer gerechten Interessenabwägung
hinaus. Auch die Entstehungsgeschichte der Norm, der erkennbare Zweck des
Gesetzes, das „äußere" und das „innere" System und andere Auslegungskriterien
liefern Gesichtspunkte und Argumente, mit deren Hilfe Auslegungsalternativen
präzisiert werden und das Für und Wider der einen oder anderen
Auslegung erwogen wird. Diese ganze Argumentation bleibt stets auf die
grundsätzliche Aufgabe bezogen: diejenige Auslegungsalternative zu
[>169] finden, die dem herrschenden Rechtsethos am besten gerecht wird.
Das wird sofort sichtbar, wenn mehrere Auslegungsargumente sich widerstreiten.
Denn dann ist es legitim, auf diejenigen Argumente abzustellen, die zum
„befriedigenden Ergebnis" führen, d. h. zu dem Ergebnis, das dem herrschenden
Rechtsgefühl am besten entspricht. Wenn die klassischen Auslegungsargumente
eine Wahl offenlassen, läuft die Interpretation also in aller Unmittelbarkeit
wieder auf die ursprüngliche Aufgabe hinaus, Gerechtigkeit zu finden.
Aber nicht nur die einzelnen Gesetzesbegriffe und
Auslegungsargumente sind in dieser Weise funktionsgebunden, sondern auch
die gesetzlichen Regelungen als ganze. Das zeigt sich dann, wenn eine Vorschrift
allen Auslegungsbemühungen zum Trotz zu Ergebnissen führt, die
dem herrschenden Sozialethos widersprechen. Hier genügt das Gesetz
seiner Funktion nicht, das Rechtsproblem gerecht zu lösen. In solchen
Fällen stellt man fest, daß das Gesetz eine Lücke aufweise,
die durch eine Gesetzesergänzung auszufüllen ist, sei es durch
eine Erweiterung (durch Analogie) oder eine Einschränkung des gesetzlichen
Tatbestandes, sei es de lege ferenda oder bereits de lege lata."
___
Tatbestand. Vieldeutiges Homonym
mit oft schwierigen Ermittlungen, ob vermuteten Sachverhalten Tatsachenstatus
zuerkannt werden kann. Hier greift das weite Feld der Sachverhaltsermittlungen
und Beweise. Voraussetzung, dass eine Rechtsnorm überhaupt greifen
kann, ist natürlich, ob der Sachverhalt oder Tatbestand, auf den sie
sich gründet, überhaupt - hinreichend zweifelsfrei - vorliegt.
> Allgemeines
zu Sachverhalt und Tatsache.
___
Treu und Glauben. Vieldeutiges Homonym
und unklare Universalie, insbesondere auch der Begriff Verkehrssitte
in der Formel "wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte
es erfordern.". [W]
___
Vertrag. Vieldeutiges Homonym.
[W]
___
Vertragsfreiheit. Vieldeutiges
Homonym.
"2a. Definition der Vertragsfreiheit
Um den Begriff der Vertragsfreiheit zu klären und zu erklären
muss dieser zunächst einmal definiert werden. Eine allgemein verbindliche
Definition der Vertragsfreiheit im deutschen Recht fehlt, ebenso eine ausdrückliche
Regelung im Gesetz (mehr dazu unter punkt
3: Rechtsgrundlage).
Soll auf der Grundlage der deutschen Rechtslehre
eine Definition formuliert werden, bietet sich folgende Definition an:
Die Vertragsfreiheit ist ein zivilrechtliches Prinzip, das vom Grundsatz
der Privatautonomie abzuleiten ist und besagt, dass die Parteien eines
schuldrechtlichen Vertrages das Recht haben, sowohl das "Ob" wie auch in
jeder Hinsicht das "Wie" des Vertrages frei zu bestimmen.
Die reine Definition ist allerdings erst dann mit
leichter verständlichem Inhalt gefüllt, wenn dabei auch ihre
einzelnen Erscheinungsformen genannt werden: Erscheinungsformen (in Anlehnung
an Medicus, Schuldrecht AT, Rn. 63-68)."
Quelle (Abruf 21.2.12): https://wdb.fh-sm.de/aDefinition.
___
Würde. Vieldeutiges Homonym.
[W] > Menschenwürde
(Gewährung der Menschenrechte).
___
Querverweise
Standort: Juristisches Denken.
*
Zur Theorie und Praxis des Sachverständigengutachtens
der Geschäftsunfähigkeit.
Beweis und beweisen
in der Kriminologie und im Recht.
Überblick Denken in
der IP-GIPT. * Überblick
Forsensik *
*
*
Dienstleistungs-Info.
*
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS).
Juristisches Denken. Gibt es eine kognitive Eigenwelt der Rechtswissenschaft?
Erörtert am Beispiel Betreuung und Geschäftsfähigkeit. IP-GIPT.
Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/allpsy/denk/JurDenk.htm
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Wichtige
Hinweise zu Links und Empfehlungen
korrigiert: irs 22.02.12
Änderungen wird
gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen
und Kritik willkommen
21.06.18 Ergänzungen:
Freie
Willensbestimmung, Natürlicher Wille.
03.03.15 Linkfehler
geprüft und korrigiert.
09.12.12 Zum
Problem der Begriffskonstruktionen und ihr Realitätsstatus.
05.04.12 Formale
Hilfsmittel der interdisziplinären Begriffsanalyse, Korrespondenz-
und Zuweisungsregeln
17.03.12 Exkurs
II: Das sprachliche Grundproblem zwischen Juristen und Nicht-Juristen und
seine Lösung
27.02.12 Link
und Eintrag "Ontisierung".
[intern: noch nicht zugeordnet: Der
Begriff der Homogenität in der Verfassungslehre und Europarechtswissenschaft.
Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht,
2008, Volume 198, 149-238, Geschichte und Sprache als Homogenitätskriterien]