Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=26.06.2005
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 11.11.13
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
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Anfang_Aussagepsychologische
Wahrheitstheorie_Überblick_
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in unserer Internet-Publikation Allgemeine und Integrative Psychotherapie,
Abteilung Forensik / Gerichtspsychologie, Bereich Aussagepsychologie
und hier speziell zum Thema:
Aussagepsychologische Wahrheitstheorie 1
Systematik der Falsch-Aussagen
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Aussagepsychologische
Wahrheitstheorie
Wahr oder falsch bezieht sich auf einen Vergleich zwischen wenigstens
zwei Modellen (M1, M2), im allgemeinen ein "wirkliches" (W) und ein sprachliches
(S) Modell (M) - tatsächlich ist die Sache in der Aussagepsychologie
natürlich komplizierter (davon weiter unten). Beim Vergleich zweier
Modelle ist es im Prinzip willkürlich, welches der beiden Modelle
als Original oder Urbild und welches als Abbild oder Bild bezeichnet wird.
Quantifizierung
des Wahrheitsgehaltes: Was ist eine Aussage ?
Definition: Eine Aussage ist ein Ausdruck der Sprachwelt, der, verglichen
mit dieser oder jener Welt (z.B.
wirkliche Welt, Erinnerung, Phantasie, Geschichte), mehr oder minder wahr
oder falsch sein kann. Anmerkung: diese Definition unterscheidet sich von
der üblichen in der zweiwertigen Prädikaten- oder Aussagelogik.
Daß das sinnvoll ist, kann schnell und einfach über ein treffendes
Beispiel bewiesen werden: Gegeben seien folgende Modelle: ein Foto, daß
für einen Ausschnitt aus der "wirklichen" Welt stehen soll und verschiedene
Texte mit unterschiedlichen Fehlern und Richtigkeiten.
Beispiel
für ein "wirkliches" Modell W1 durch ein Foto
|
Beispiel für ein sprachliches Modell durch Text
S1(W1): "An dem Baum vor dem Friedhof verkauft
ein Straßenhändler auf dem Gehsteig Schmuck. An dem Geschäft
scheinen vier Leute beteiligt. Die zwei Frauen halten Schmuckbänder
in der Hand. Eine sitzt in der Hocke und hat in auseinandergebreiteten
Armen ein Schmuckband in den Händen. Die andere Frau steht, ihr Gesicht
durch die Haare verdeckt, mit einem leicht nach vorne geknickten Bein und
hält ebenfalls in beiden Händen ein Schmuckband, das sie betrachtet.
Im Hintergrund nähert sich ein Jugendlicher."
S2(W1): "An dem Baum vor einem Zaun bietet
ein Straßenhändler auf dem Gehsteig Schmuck an. An dem Geschäft
scheinen vier Leute beteiligt. Die zwei Frauen halten Schmuckbänder
in den Händen. Eine sitzt in der Hocke und hat in auseinandergebreiteten
Armen ein Schmuckband in den Händen. Die andere Frau steht - neben
ihr in lässiger Haltung ein Mann, im hellblauen Hemd und dunkler Hose
mit Hosenträgern - ihr Gesicht durch die Haare verdeckt, mit einem
leicht nach vorne geknickten Bein und hält ebenfalls in beiden Händen
ein Schmuckband am Anfang und Ende. Im Hintergrund nähert sich ein
Mädchen mit Brille, hinter dem ein Fahrrad an einen Zaun angelehnt
ist." |
Beweis: Nehmen wir an, es gibt zu W1 die
sprachlichen Modelle S1 und S2, die sich mehr oder minder deutlich voneinander
unterschieden, so ist an diesem Beispiel durch Modellbildung bewiesen,
daß der Wahrheitsgehalt einer (zusammengesetzten, komplexen) Aussage
quantifiziert aufgefaßt werden kann. Damit stellt sich dann grundsätzlich
das Problem der "Messung" der Wahrheitsgehalte von zusammengesetzten (komplexen)
Aussagen.
Weiterführende Fragen:
Die folgenden Fragen führen zu einem tieferen praktischen Verständnis
der quantitativen Wahrheitstheorie in der Aussagepsychologie: Sind beide
Berichte wahr? Sind beide Berichte falsch? Sind beide Berichte teilweise
wahr? Welcher ist "wahrer" bzw. "falscher" und warum?
Vergrößerung
W1 um 64%
Vergrößerung
Ausschnitt Mensch auf einer Bank in W1:
Ich meine, man sieht hier relativ deutlich, was sich schon oben mit
der 64%-Vergrößerung abzeichnete, daß der Mensch auf der
Bank ein Mann ist (Frisur, Profil und die Art der Armverschränkung).
Weitere
Ausschnitte und Vergrößerungen
|
Das "Mädchen" hat Zöpfe und ich denke, man kann
auch die Brille, obschon recht unscharf, trotzdem relativ deutlich wahrnehmen.
Möglicherweise verleiten die Zöpfe, an ein Mädchen zu denken.
Sie könnte ebenso gut 12 wie 16 Jahre alt sein, es könnte
sich aber auch um eine Studentin mit 19 oder schon um eine junge Mutter
mit 23 Jahren handeln.
Ausdruck und Erscheinung des Frauengesichts links unten wirken auf mich
lateinamerikanisch.
Die Wahrnehmung von Hosenträgern muß nicht stimmen, es könnten
Riemen einer Kamera eines Touristen sein. Der längliche Schatten unterhalb
des Schnurrbartes hat mich zur Deutung Hosenträger angeregt. |
Analyse
des aussagepsychologischen Prozesses
Macht man sich klar, was für ein komplizierter Prozeß es
ist, eine Aussage über Erlebtes in der Vergangenheit zu machen, dürfte
schnell klar werden, wie fehlerträchtig Aussagen sind. Fast alle Beteiligten
im Rechtswesen und WahrnehmungspsychologInnen können ein Lied davon
singen. Mit dem Altmeister der deutschen Aussagepsychologie kann man daher
sagen:
„Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern
die Ausnahme."
William Stern 1902 in der Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft, S. 327
Die Komplexität, Schwierigkeit und Problematik der Aussagen zeigt
sich besonders im Bereich von sexuellen Mißbrauchs- und Vergewaltigungsverfahren.
Das sieht man vor allem sehr klar, wenn man sich den Verfahrensgang vergegenwärtigt:
Der
zeitliche Werdegang der Aussagen in sexuellen Mißbrauchsverfahren
[Quelle]
Bei Nahestehenden oder im Umfeld eines Kindes entwickelt sich ein Verdacht:
-
Erste spontane Aussagen bei Nahestehenden oder, problematisch, durch Nahestehende
aufgedeckt:
Dieser Verdacht führt zu verstärkter Beobachtung und Aufklärungs-
bzw. problematischer Aufdeckungsarbeit durch die Nahestehenden, wobei diese
„Aufklärungs- bzw. Aufdeckungsarbeit" den Verdacht auf sexuellen Mißbrauch
selbst hervorrufen kann, wie wir z.B. aus den großen Prozessen (Münster,
Mainz [Worms], und von einem Fall in Flachslanden wissen).
-
Zweite Aussage bei Hilfestellen, an die sich die Nahestehenden bei subjektivem
Verdacht wenden. (z.B. psychologische Beratungseinrichtungen, Notruf, Jugendamt,
Kinderschutzbund, Organisationen gegen sexuellen Mißbrauch, [z.B.
Wildwasser,
Zartbitter
u.ä.]),
-
Dritte Aussage und Vernehmung bei der Kriminalpolizei manchmal mit Nach-
und Zusatzvernehmungen (dann erhöht sich die Zahl jeweils)
-
Vierte Aussage beim Ermittlungsgericht.
-
Fünfte Aussage bei der aussagepsychologischen GutachterIn.
-
Sechste Aussage in der Hauptverhandlung, wenn es zur Eröffnung des
Strafverfahrens kommt.
-
Evtl. siebte Aussage durch eine neu anberaumte Begutachtung nach Berufung
in der höheren Instanz.
Und in den Zwischenzeiten erfolgen naturgemäß die verschiedenartigsten
bewußten und unbewußten Beeinflussungen, Vergessens-, Lern-
und Verarbeitungsprozesse. Der Aussagezeitraum zieht sich also nicht selten
über viele Monate oder gar mehrere Jahre hin. Bevor es zur ersten
erwarteten fachkundigen Vernehmung durch die KriminalbeamtIn - besser wären
wohl aussagepsychologisch richtig geschulte Sachverständige - kommt,
sind also schon viele Monate und nicht selten schon Jahre vergangen.
Elementaraussagen
und zusammengesetzte (komplexe) Aussagen
Der Begriff der Aussage ist im Rechtswesen und in der forensischen
Psychologie nicht klar definiert. Das Wort Aussage ist daher ein vieldeutiges
Homonym. Im einzelnen bedeutet eine Aussage:
-
eine sprachliche Äußerung
-
das gesamte Ergebnis einer Vernehmung 1, 2, 3, ... durch eine Vernehmende
(PolizistIn, ErmittlungsrichterIn, RichterIn, Gericht, Sachverständige,
AussagepsychologIn, PsychologIn, PsychiaterIn, ... )
-
Teilergebnis einer Vernehmung 1, 2, 3, ...
-
einen Satz, der wahr oder falsch sein kann
-
einen Atomsatz (Elementaraussage)
-
eine zusammengesetzte (komplexe) Aussage.
Elementaraussagen
Die formale Logik ist
ein hilfreiches Instrument, um Ordnung in die Komplexität von Aussagen
zu bringen. Die einfachste Aussage (Atomaussage, Elementaraussage) liegt
vor, wenn einem Gegenstand genau ein einziges Merkmal zugesprochen
wird, z.B.:
-
Apfel(rot) <=> Dieser Apfel ist rot.
-
G(Bleistift) <=> Das (deiktische=hinweisende Geste) ist ein Bleistift.
-
Ganz allgemein kann dies formal wie folgt ausgedrückt werden G(P)
<=> einem Gegenstand G wird ein Prädikat P zugesprochen oder G(-P)
<=> einem Gegenstand G wird ein Prädikat P abgesprochen.
Anwendung:
Maß für den Detailreichtum einer Aussage
In der Aussagepsychologie wurden 19 Kriterien der Aussagepsychologie
(Undeutsch-Hypothese), die zu einer realerlebnisfundierten Aussage gehören
(aber),
vom BGH
in seinem richtungsweisenden Urteil 1999 bestätigt. Zu einer realerlebnisfundierten
Aussage gehört im allgemeinen Kriterium Nr. 3, das man trefflich den
Detailreichtum
einer Aussage nennt. Wirkliches Erleben zeichnet sich daher meist durch
eine lebendige, konkrete, detailreiche Geschichte aus. Als einfachstes
Maß für den Detailreichtum einer Aussage bietet sich daher die
Anzahl der nicht-redundanten Elementaraussagen an.
Komplexe Aussagen
Komplexe Aussagen sind aus Elementaraussagen zusammengesetzt.
Sie hatte große, dunkle Augen. Sie(große,dunkle: Augen).
liegt auf (Bleistift, Küchentisch) <=> Der Bleistift liegt
auf dem Küchentisch.
Dann nahm er meine Hand und führte sie zwischen seine Beine <=>
nahm meine Hand(Er) UND führte meine Hand zwischen (Seine Beine)
Kriterien
für die Messung des Wahrheitsgehaltes einer Aussage
Als einen ersten Maß-Ansatz für den Wahrheitsgehalt einer
komplexen Aussage schlage ich folgende Kriterien vor:
-
Anzahl aller Merkmale (MN) bezüglich eines Sachverhalts
-
Richtig erfaßte Merkmale (M+) bezüglich eines Sachverhalts
-
Falsch erfaßte Merkmale (M-) bezüglich eines Sachverhalts
-
Nicht erfaßte Merkmale (M0) bezüglich eines Sachverhalts
Ist der strittige Sachverhalt z.B., ob vor dem Zaun im Eingangsbild-Beispiel
eine Straßenhändlerin Schmuckwaren angeboten hat, so ist die
Tatsache, daß im Hintergrund ein Mädchen entlang kam und auf
einer Bank ein Mensch saß, unbedeutend. Wichtig ist hingegen, daß
Schmuckstücke auf einer Decke auf den Pflaster dalagen. Gelänge
es aber, die beiden als Zeugen ausfindig zu machen, könnte dies aus
dieser Perspektive wichtig sein.
Als ein zweiter Maß-Ansatz kann die Treffergenauigkeit der Aussage
gelten, was sich z.B. an folgender Entwicklung vom Abstrakten, Allgemeinen
hin zum Konkreteren und Spezielleren klar machen kann:
-
da war jemand ...
-
da kam ein Mensch ...
-
da kam ein älterer Mensch ...
-
da kam eine ältere Frau ...
-
da kam eine ältere Frau langsam ...
-
da kam eine ältere Frau langsam humpelnd ...
Diese Vorschläge und Überlegungen führen zu einem
zusammengesetzten Maß, bei dem die Anzahl der Merkmale, die richtig
und falsch erfaßten, die gar nicht erfaßten und die konkrete
Treffer-Spezifikation eine Rolle spielen. Für die Maß-Konstruktion
können folgende Regeln für die Ausprägung des Wahrheitsgehaltes
herangezogen werden:
-
je mehr (weniger) Merkmale erfaßt werden, desto stärker (geringer)
ist der Wahrheitsgehalt
-
je mehr (weniger) Merkmale richtig erfaßt werden, desto stärker
(geringer) ist der Wahrheitsgehalt
-
je weniger (mehr) Merkmale gar nicht erfaßt werden, desto stärker
(geringer) ist der Wahrheitsgehalt
-
je besser (schlechter) die Merkmale konkreter und genauer erfaßt
werden, desto stärker (geringer) ist der Wahrheitsgehalt
Glossar
der Fehler, Fehlermöglichkeiten und Fehlerquellen
Es gibt sehr viele Möglichkeiten, Aussagen zu verfälschen.
Abwehr [1,]* déjà-vu
* Einordnen, falsch * Erinnerungslücke * Erinnerungstäuschung
* False memory syndrome * Färben * Fehlschluß * Frisieren *
Halluzination * Hinzufügen * Hörensagen übernehmen * Illusion
* Irrtum * Kognitive Dissonanz * Konfabulation * Lüge * Projektion
* Pseudologia phantastica [1,]
* Quellenzuschreibung, falsche * Schönen > verschönen *
Trugschluß * Übernahme durch Suggestion * Übertreiben *
Umdeuten * Untertreiben * Verschönern * Wahn * Wahngewißheit
* Weglassen * Wünsche * Zuordnen, falsch *
Anmerkung: siehe auch Glossar
der Biographik * Glossar
Selbstbild, Abwehrmechanismen
* Irrtum, Betrug, Tricks,
Täuschung, Fälschung, ... * Überblick
Hochstapelei * Pathologische
LügnerInnen, Phantastische PseudologInnen, BlenderInnen und GrenzgängerInnen
*
Literatur (Auswahl): [1,2,3,4,5,6,]
Links (Auswahl: beachte):
Anmerkungen und Endnoten
___
Foto. Markt2.gif aus CD Vol4 Photoarchiv
"Menschen" - Benutzung frei von Copyright. Tronic Verlag.
___
Änderungen Kleinere
Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet
und ergänzt.
tt.mm.jj
Querverweise
Standort: Aussagepsychologische Wahrheitstheorie.
*
Aussagepsychologie
* Überblick:
Aussage, Glaubwürdigkeit, Beweismethodik.
Überblick: Forensische Diagnostik,
Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie in der GIPT.
Überblick:
Beweis und beweisen in Wissenschaft und Leben.
Beweis und beweisen in
der Kriminologie und im Recht.
* Grundzüge einer idiographischen
Wissenschaftstheorie. * Welten
*
Überblick
Wissenschaft in der IP-GIPT.
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS). Aussgepsychologische
Wahrheitstheorie 1. Systematik der Falsch-Aussagen. Abteilung
Forensik / Gerichtspsychologie. Service der IP-GIPT, Erlangen:
https://www.sgipt.org/forpsy/falsch/falaus0.htm
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sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.
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