Gewissenstypologie und Straftäterbehandlung
Sozial- und Psychotherapie von normativ Devianten oder
/ und "Kriminellen"
Manuskript des Vortrages auf der 8. Arbeitstagung der Fachgruppe Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft fuer Psychologie e. V. in Nürnberg vom 15.-18. September 1999
von Rudolf Sponsel, Erlangen
In der Behandlung von Straffälligen hat sich der Terminus Sozial- und nicht Psychotherapie eingebürgert, obwohl man nahezu jede Kriminelle problemlos unter eine ICD-Klassifikation oder DSM-Kategorie subsummieren kann. Eine Psychotherapie ist indiziert, wenn eine psychische Störung mit Krankheitswert vorliegt. Dahle (1997, S. 148) berichtet, daß die Schätzungen für den Anteil psychisch gestörter TäterInnen zwischen 35 und 50% liegt. Demnach wären dann zwischen 50 und 65% als "normal" im Sinne von nicht-psychisch gestört anzusehen. Nun, ich gehe davon aus, daß Kriminalität von ihrer Verbreitung her betrachtet, ein weitgehend normales Phänomen ist. Wie auch immer: Ein Jahr Gefängnis kostet die SteuerzahlerIn mit allem drum und dran rund 50-100.000 DM und 80 Stunden Verhaltenstherapie kosten für rund 2-3 Jahre Intensivarbeit etwa 10.000 DM. Wirkungsvolle Sozial- oder Psychotherapie könnte also ein gutes Geschäft für die Gesellschaft sein.
Gewissenstypologischer Ansatz. In der Kriminologie, differentiellen Persönlichkeitskeitspsychologie und in den internationalen Diagnosesystemen gibt es viele Typologien. Allein die Übersichtsarbeit Ruttkowskis weist bis zum Jahre 1970 zu Typologien und Schichtenlehren schon 1170 Einträge auf. Die Problematik und Konstruktionskriterien von Typen übergehe ich hier und verweise nur auf einen Aufsatz hierzu, den ich im Internet veröffentlicht habe (Sponsel 1998).
Rasch hat eine praktisch orientierte TäterInnen-Typologie vorgelegt - zitiert nach Dahle (1997) - und unterscheidet 7 Typen: (1) Überzeugungstäter, (2) Situationstäter, (3) subkulturell identifizierbare Täter, (4) Psychopathen, (5) Neurotiker, (6) schwachsinnige Täter und (7) psychisch Gestörte.
Mit dem Gewissenansatz alleine läßt sich kriminelles Verhalten weder erschöpfend erklären noch immer hinreichend behandeln. Eine praktisch sehr nützliche übergreifende allgemeine Typologie und Behandlungsstrategie kann aus der tiefenpsychologischen Struktur-Kombinatorik nach Toman (1978, S. 51) abgeleitet werden. Sie ist deskriptiv und daher von unerwünschten tiefenpsychologischen Implikationen frei. Aus Toman's 8 Grundtypen lassen sich problemlos allgemeine kriminologische Diagnose- und Behandlungskonzepte gewinnen.
Ich denke, daß der Gewissensansatz mit am wichtigsten ist, weil er oft den Kern der Sache trifft, indem er das sozial- bzw. psychotherapeutische Behandlungsziel in den Mittelpunkt stellt und direkt auf das Ziel losgeht. Gewissen bedeutet hier den Inbegriff der handlungswirksamen Gebote, Verbote und des Freigestellten bzw. Erlaubten im Zusammenhang mit bestimmten Situationen und Rahmenbedingungen. Bestimmte Gewissen sind humanideologisch wie staatspolitisch wünschenswert, sozialpolitisch praktisch und finanz-ökonomisch billig. Auf ein Volk mit bestimmten stark verbreiteten guten Gewissen muß weniger aufgepaßt werden, es ist vermutlich harmonischer und weniger konfliktträchtig verfaßt und der Sanktions- und Reparaturapparat kann klein und preiswert sein. Das ist in Deutschland sicher nicht der Fall. Die neue Ellenbogen-, Arbeitslosen- und Rentnergesellschaft ist disharmonischer denn je und der Sanktions- und Reparaturapparat ist groß und teuer, gerade jetzt, wo die Kassen leer sind und die öffentliche Verschuldung mit 2,5 Billionen ihren Grenzwert erreicht zu haben scheint. Kriminalität ist teuer und die Behandlungskonzepte sind bislang unzulänglich wie die bisherigen Effektstärken in den Metastudien und Überblicksarbeiten deutlich zeigen, (Egg 1990 , umfassend Lösel & Bender 1997, Kury 1998), neue Ideen sind also gefragt.
II. Gewissensklassifikation und GewissensTypologie
Es gibt im Prinzip potentiell unendlich viele Gewissen, in letzter Instanz wohl so viele als es Menschen gibt. Mit Unendlichkeiten ist aber sowohl in der Theorie als auch in der Praxis wenig anzufangen. Es stellt sich daher vor allem praktisch-therapeutisch die Frage, ob wir nicht Gewissenstypen konstruieren können, die uns entsprechende sozial- oder psychotherapeutische Konzepte und Leitlinien der Behandlung an die Hand geben? Ich denke ja und werde nun einige typologische und therapeutische Grundkonzepte vorstellen. Zunächst eine Übersicht:
1. Gewissens-Minderung: zu wenig oder keine Gewissensbildung.
2. Gewissens-Abweichung: andere Gewissensbildung:
3. Gewissens-Abwehr durch Abwehr- bzw. Neutralisationsmechanismen
4. Abwehr-Sonderfall Motiv-Abspaltung: Motivverleugnung durch Abspaltung.
X. Sonstige (bislang nicht erfaßte Typen)
1. Gewissens-Minderung: zu wenig oder keine Gewissensbildung.
Hier ist die Gewissensbildung überhaupt zu wenig ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Es sind also die seelisch-geistigen Funktionen, die eine Gewissensbildung ermöglichen gestört oder durch die Umwelt oder Erfahrung nicht - genügend - geweckt oder gefördert. Das Einhalten von Normen, Regeln, Geboten und Verboten ist grundsätzlich erschwert, sofern sie den inneren aktuellen Bedürfnissen und Zielen entgegenstehen und diese behindern. Solche Gewissensbildungs-Störungen können sowohl aus Störungen im affektiven Bereich (mangelnde Fühlfähigkeit [= Alexithymie], zu flache oder zu schnelle affektive Prozesse), aus Störungen im kognitiven Bereich (mangelhafte Erkenntnis- und Bewertungsfunktionen) wie auch aus unzulänglicher Gewohnheitsbildung oder fehlender regulierender Erfahrung oder Umwelt entstehen und verstanden werden.
2. Gewissens-Abweichung oder andere Gewissensbildung.
Hier gibt es ein ausgeprägtes Gewissen, aber die Normen, Ge- und Verbote des Gewissens stimmen nicht mit den gesellschaftlichen Normen, Regeln und dem Recht überein. Z. B. kann mehr oder minder streng zwischen Freund und Feind, bekannt oder fremd, unterschieden und die Einhaltung der persönlichen Normen davon abhängig gemacht werden. In gewissen Umfang ist das sogar in bestimmten normativen Angelegenheiten gesellschaftsstatistisch gesehen normal. Bei der Gewissens- Abweichung kann es zu mehr oder minder großen Überschneidungen kommen. Beispiele: Subkultur, Banden, Mafia; "Amigos" und "Seilschaften", radikal-ideologische Gruppen, Freund- Fremd- Feind- Ideologien, Auserwählt-Syndrome.
3. Gewissens-Abwehr durch Abwehr- bzw. Neutralisationsmechanismen
Hier gibt es ein gesellschaftlich konform entwickeltes Gewissen. Aber dieses Gewissen kann durch sog. Neutralisations- oder Abwehrmechanismen sozusagen ausgetrickst werden.
Begriff der yAbwehr. Bei den yAbwehr- oder Neutralisationsmechanismen handelt es sich psychologisch um eine seelische (Lenkungs-) Funktion, die eigene und die äußere Wirklichkeit oder Teile davon, nicht oder verfälscht wahrzunehmen und umzudeuten, um sie mit den eigenen Bedürfnissen, Idealen und Werten in Einklang zu bringen. yAbwehr- oder Neutralisationsmechanismen dienen der Erhaltung und Optimierung der affektiven Verfassung und Befindlichkeit.
Zum besseren Verständnis im folgenden ein paar wenige und keineswegs erschöpfende Beispiele: Einer der häufigsten yAbwehrmechanismen des Alltags, um ungeliebte Aktivitäten zu umgehen, ist das yVergessen. Mein Gewissen kann ich beruhigen, indem ich mir sage: ich hätte es ja getan, wenn ich nur daran gedacht hätte und mein innerer Schweinehund ist auch zufrieden, weil ich es eben nicht getan habe. Das "abern" findet immer im rechten Moment ein Haar in der Suppe, um etwas nicht positiv oder real behandeln zu müssen. Einer der häufigsten alltäglichen yAbwehrmechanismen bei Beschuldigungen ist das yAbstreiten, um der Verantwortung zu entgehen. Gelingt das Abtreiten nicht mehr, muß man also einräumen, daß man es getan hat, so greift nun der Abwehrmechanismus der yBagatellisierung. Durch das Bagatellisieren wird zwar die Tat zugestanden, aber in ihrer Bedeutung heruntergespielt. Hilfsweise kann auch noch die yRationalisierung wirksam werden, indem die wirklichen Motive verleugnet und stattdessen ganz andere bemüht werden: man wollte einen Denkzettel oder eine Lektion erteilen, man hat ein bißchen ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt oder die Deklaration, andere tun genau das Gleiche, das machen doch alle oder ähnliches. Dem Erfindungsreichtum, das eigene Tun und Lassen zu rechtfertigen und pseudo zu erklären ist keine Grenze gesetzt. Warum liegen die Dinge einfach so herum, soll man sie denn nicht sogar an sich nehmen, möglicherweise um sie vor bösen Menschen oder Dieben zu schützen?
Geschichte und Stellung der Abwehrmechanismen.
Geistesgeschichtlich findet man eine Variante der yAbwehrmechanismen in der Rhetorik, Sophistik und Rabulistik, der Kunst also, "recht" zu behalten und in der Argumentation zu siegen. Das Sachgebiet der Abwehrmechanismen ist kein Reservat der Psychoanalyse, auch wenn es das Verdienst der Psychoanalyse war - zunächst Anna Freuds mit ihrem berühmten Buch "Das Ich und die Abwehrmechanismen", (orig. 1936) in Systematisierung der Arbeit ihres Vaters, Konzept und Bedeutung der Abwehrmechanismen der Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie speziell erschlossen zu haben.
Psychologisch ist die Theorie der Abwehrmechanismen ein Teilgebiet der allgemeinen psychologischen Theorie von der yDissonanzbewältigung, auch wenn das noch nicht von allen PsychologInnen so gesehen wird - Anna Freud kannte z. B. Festingers Arbeiten nicht und dieser Anna Freuds Arbeit nicht, wie man aus den Registern und Literaturverzeichnissen ihrer Bücher erschließen kann. In der Kriminologie sind die Abwehr- und Neutralisationsmechanismen bekannt und anerkannt (Sykes & Matza dt. 1968, orig. 1957) und auch empirisch untersucht und als relevant bestätigt (Egg & Sponsel 1978, Amelang et al. 1988, Schagerl 1999).
4. Abwehr-Sonderfall Motiv-Abspaltung: Motivverleugnung durch Abspaltung
Es kann schlimme und böse Folgen haben, wenn wichtige Aspekte der
Wirklichkeit nicht mehr angemessen realistisch wahrgenommen und erkannt
werden können, weil die y"blinden
Flecke" einen angemessenen Umgang unmöglich machen. Müssen
im Rahmen einer psychologischen Beratung oder Therapie "Abwehrgebiete"
freigelegt werden, so ist mit starkem und anhaltendem Widerstand zu rechnen
und es stellt sich natürlich die Frage, wie dieser Widerstand zu behandeln
ist. Im Gegensatz zu den PsychoanalytikerInnen meine ich, yAbwehrmechanismen
müssen nicht notwendigerweise unbewußt ablaufen, sie bewegen
sich in der ganzen Bandbreite von völlig unbewußt bis zu völlig
bewußt, wenn sie auch am häufigsten mit einem Nebel und Schleier
des Nicht-so-Bewußten bedeckt sein dürften. Hier werden bestimmte
Teile des eigenen Bedürfnis- und Motivationssystems direkt yabgespalten,
so daß der Betreffende von diesen Teilen nichts mitbekommt. Das Problem
hierbei ist, daß diese abgespaltenen Teile nicht ruhen oder einfach
inaktiv sind, sondern durchaus ein Eigenleben entfalten können. Den
Betroffenen widerfahren dann Handlungen, die sie selbst nicht verstehen
und die sie sich nicht erklären können. Ich referiere nachher
einen solchen Fall.
Spaltungsvorgaenge sind schwierig zu verstehen.
Die einfachste Erklärung liefert der Abwehr- und Neutralisationsmechanismus
der yVerleugnung,
die Wegblendung, das Nichtwahrnehmen eines Sachverhalts. Er spielt eine
grundlegende Rolle bei den multiplen Persönlichkeiten, von denen mir
in 22 Jahren Praxis aber bislang nur ein einziger Fall begegnet ist. Spaltungsvorgänge
spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle bei Borderline-Störungen,
für die Marsha Linehan ihre DBT (Dialektische Behaviorale Therapie)
entwickelt hat. Unbewußte Prozesse finden zunehmend Eingang in die
Verhaltenstherapie. Tradition in der VT haben unbewußte Prozesse
schon immer durch die Anerkennung und Anwendung von Hypnose, etwa schon
durch Hull (1933). Neuere Anerkennung kommt durch Grawe (1998, S. 335).
In der Sozialpsychologie und Gruppendynamik sind die y"blinden
Flecke" der Personenwahrnehmung als "Johari-Window" bekannt geworden.
Das wichtigste allgemeinpsychologische, differentielle und sozialpsychologische
Fundament finden wir aber in der Dissonanztheorie. Ihre Bedeutung in der
Kriminologie wurde schon oben belegt.
[X. Sonstige (bislang nicht erfaßte) Typen - Rest- und Auffangkategorie ]
III.
Sozial- und psychotherapeutische Konsequenzen
und Behandlungskonzepte. Vier "Gretchenfragen" an
die Praxis
Die erste Gretchenfrage der Behandlung lautet: Wie weckt , erzeugt, entwickelt oder verändert man ein Gewissen? Und die zweite Gretchenfrage ist: wie überprüft man das Wecken, Erzeugen, Entwickeln und Verändern des Gewissens? Die dritte Gretchenfrage der Praxis heißt: unter welchen Voraussetzungen ist eine Behandlung überhaupt erfolgversprechend? Und schließlich die vierte Gretchenfrage: die Legitimation einer Sozial- oder Psychotherapie, die in das normative Wertgefüge eines Menschen eingreift. Denn sie bedeutet rechtlich einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht, vergleichbar dem chirurgischen Eingriff in der Medizin, der formaljuristisch u. a. eine Körperverletzung bedeutet und damit grundsätzlich das Einverständnis der ProbandInnen voraussetzt. Eine weitere Komplikation im sozial- und psychotherapeutischen Bereich ist, daß die vielfältigen zusätzlichen, Begleit- und Nebenwirkungen schwer abzuschätzen sind.
(1) Wie weckt, erzeugt, entwickelt oder verändert man ein Gewissen?
Hierzu ist es sicher hilfreich zu wissen, wie Gewissen entsteht. Diese Frage ist von der Entwicklungs-, differentiellen und Sozialpsychologie zu beantworten und sie betrifft nicht nur die Kindheit und Jugend, sondern die gesamte Lebensspanne bis hin zum Tod. Nach Kohlberg (dt. 1996, S. 96f), der seine eigene und nicht unproblematische Stufen-Theorie der Moral-Entwicklung dahingehend korrigierte, daß er zu dem neuen Ergebnis gelangte, daß die Stufenentwicklung der Moral nicht in der Jugend abgeschlossen wird, sondern die höheren Stufen 5 und 6 erst mit Ende 20 oder sogar erst noch später erreicht wird . Für Gewissensprozesse sind die allgemeinen psychologischen Elementarfunktionen Denken, Fühlen, Erfahren und Erfahrungsverarbeitung von großer Bedeutung. Grundlage der Gewissensbildung ist die Funktionsfähigkeit der psychologischen Bewertungsfunktion (Sponsel 1995, S. 213-215). Bewerten bedeutet affektive Regungen oder Befindlichkeiten den Ereignissen (richtig) zuordnen können. Die Bewertungsfunktion setzt sich daher aus den Haupt-Funktionen Denken (Urteil) und Fühlen (Affekt) zusammen. Psychologische Gewissensbasis = Denken (Urteil) + Gefühl (Affekt). Allgemeinpsychologisch kann das Gewissen als eine Abteilung des Motivationssystems aufgefaßt werden. Das Gewissen ist demnach ein System normativer Motive , im engeren Sinne sogar ein System intrinsisch normativer Motive.
Wie weckt, erzeugt, entwickelt oder verändert man also intrinsisch normative Motive etwa der Art: Du sollst, du musst, du darfst nicht, es ist erlaubt, geboten, verboten, wenn ...? Und vor allem: geht das in einer Therapie, sozusagen im Zeitraffer weniger Stunden gegenüber der Charakterbildung etwa eines halben Lebens? Es geht im Prinzip, das wissen wir von von den sog. plötzlichen oder schlagartigen Heilungen. Interessanterweise hat sich der Herausgeber des bedeutenden zweibändigen Handbuchs der Psychotherapie, R. J. Corsini, als Gefängnispsychologe und Psychodramatiker um die Entwicklung einer Psychotherapievariante bemüht, die unter geeigneten Bedingungen plötzliche und anhaltende Persönlichkeitsveränderungen bewirken kann. Das war aber schon den Alten bekannt, etwa Johann Christian Reil, der 1803 ein grundlegendes allgemeines und integratives Werk zur psychischen Kurmethode vorgelegt hat - 191 Jahre vor Grawe et al. Die Weiterentwicklung solcher Ansätze wäre von großer Bedeutung. Die Quintessenz aus Corsinis Lehre ist: ich muß den Menschen innerlich erreichen, die Mauern und Panzer durchdringen, ihn konstruktiv erschüttern. Corsini wählt den Weg - andere erscheinen ebenso möglich - der Konfrontation mit sich selbst, seiner Wirkung und Stellung in der Gemeinschaft und in der Welt.
(2) Wie überprüft man wecken, erzeugen, entwickeln oder verändern des Gewissens?
Das ideale Evaluationsdesign besteht darin: Man bringt die GewissensträgerIn in eine sogenannte reale Gewissen-Konfliktsituation und sieht, wie sie sich verhält, ideal-experimentell, ohne daß sie es weiß. Hierbei ist natürlich vorausgesetzt, daß sich das Wecken, Erzeugen, Entwickeln, Verändern von Gewissen operationalisieren läßt. Das ist für die Tun und Lassen auf der Beobachtungs- und Handlungsebene kein Problem, wohl aber für die Erfassung der inneren seelisch-geistigen Prozesse und hier besonders der normativen Motive.
(3) Unter welchen Voraussetzungen ist eine Behandlung erfolgversprechend?
Für den Anwendungsfall Psychotherapie nennt Dahle (1997, S. 148) drei notwendige Kriterien: (1) Therapiebedürftigkeit, (2) Therapiefähigkeit und (3) Therapiemotivation.
Die vier Haupt-Behandlungsstrategien nach typologischen Zielen
Paradigma 1: Erzeugung eines Gewissens
Paradigma 2: Umstrukurierung eines anderen Gewissens
Paradigma 3: Stärkung des Gewissens durch Abbau der
Abwehr
Paradigma 4: Stärkung der Ich-Kontrolle durch Aufhebung
der Abspaltung des "inneren Schweinehundes"
Diese vier Hauptbehandlungsstrategien sind natürlich Idealtypisierungen. Der Regelfall der Praxis wird eine Kombination aus 2, 3 und 4 sein, wobei der eine oder andere Fall einen mehr oder minder starken Schwerpunkt einnehmen mag.
Der Fall wurde mir von einem Rechtsanwalt angetragen, da nunmehr die Geduld der Justiz am Ende schien und eine Gefängnishaft sehr nahe war. Es handelt sich um einen schon älteren Mann, der seit 25 Jahren ständig mit dem Gesetz in Konflikt kam, hauptsächlich durch Diebstähle ohne besonders großen Wert und ohne besondere Not, da er in sog. geordneten Verhältnissen lebt. Für die praktische Intelligenz und die sonstige Lebenstüchtigkeit des Probanden macht seine Kriminalgeschichte keinen rechten Sinn, so daß der Verdacht auf eine psychische Störung sehr nahe lag. Begründet ist dies auch dadurch, daß bei einem unsinnig erscheinenden Diebstahl die herbeigerufene Polizei den Probanden nicht zur Anzeige, sondern zum Nervenarzt brachte, er befand sich offensichtlich in einem dämmerartig erregten und veränderten Bewußtseinszustand, der selbst psychopathologischen Laien, hier den Polizisten auffiel.
Noch zum Lebenshintergrund: Schwierige Kindheit, Heim, Armut, zwei traumatische Unfallerlebnisse, Ungünstiges Jugend- und Jungerwachsenenmilieu. Späterhin das Stehlen erlebt als unverstehbares, impulsives Widerfahrnis, möglicherweise ausgelöst durch eine schwere Liebesenttäuschung. Es wurden schon mehrere erfolglose Therapien durchgeführt, die allerdings nicht tat- und einzelfallbezogen sozial-therapeutisch konzipiert waren. Ich selbst arbeite multimodal-integrativ und meine dementsprechend, daß man die Therapiemethoden den idiographischen Fällen und Situationskontexten anpassen muß und die Fälle nicht in Therapieschulkorsette zwängen darf.
Bei der ersten Exploration ergab sich als zentraler Eindruck: der Mann hat - glaubhaft - nicht die geringste Ahnung von dem, was in ihm geschieht und was ihn zu den Diebstählen motiviert. Die Botschaft lautete: ich weiß nicht, warum ich das mache, ich verstehe mich selbst nicht, es geschieht und es widerfährt mir. Es fehlen sowohl die Bewußtheit als auch die Kontrolle, so daß sich als erste Arbeitshypothese das Sozialtherapeutische Paradigma 4: die Abspaltung des "inneren Schweinehundes" geradezu aufdrängte. Proband ist ausdrucksfähig und unter dem Eindruck der drohenden Gefängnisstrafe auch sehr motiviert. Es ergibt sich sehr schnell eine gute Arbeitsbeziehung und ich präsentiere nach der ersten Exploration mein Kern-Störungsmodell für diesen Fall:
Graphik: Psycho-Therapie-Konzept bei abgespaltenem "Inneren Schweinehund"
|
Repräsentiere der große Kreis die Ganze
und die kleinen Kreise Teile der Persönlichkeit eines Menschen, so
kann man sich vorstellen, daß die einzelnen Teile unterschiedlich
stark bewußt und integriert sind.
In unserem graphischen Beispiel repräsentiere der schwarze Kreis den sog. "inneren Schweinehund", der NICHT mit den anderen Teilen der Persönlichkeit verbunden und nicht in die ganze Persönlichkeit integriert ist. Dies ist graphisch dadurch deutlich gemacht, daß der schwarze Punkt mit keinem anderen verbunden ist. _ |
In der Psychopathologie und Psychotherapie bezeichnet man einen solchen Vorgang als Abspaltung. Abgespalten werden nun bevorzugt solche Teile, die nicht in das Selbstverständnis einer Persönlichkeit passen. Sehr häufig werden daher Teile abgespalten, die nicht zu den eigenen Normen, Geboten und Verboten, zu den eigenen Werten, Überzeugungen und Idealen passen. Ein besonderes Problem entsteht, wenn die Beherrschung und Unterdrückung des "inneren Schweinehundes" nicht mehr möglich ist und - wie hier - dieser eine Art Eigenleben entwickelt. Eine erfolgreiche Psychotherapie macht den "inneren Schweinehund" bewußt, sucht kultivierte und sozial akzeptable ("sublimierte") Ausdrucksformen und integriert ihn in die Persönlichkeit. Dies war der eine therapeutische Schwerpunkt. Der andere bestand in einer Reihe einfacher und konkreter Übungen, die zu einem neuen Verhalten konditioniert werden sollen:
1) 1x täglich Aufzeichnung über Kontakt zum "Inneren
Schweinehund"
2) 1x täglich in einen Laden gehen und nichts einkaufen
3) Wenn einkaufen, dann nur mit offenen Korb oder Wagen
4) Einkaufen nur mit Quittungen
Diese täglichen Übungen bauen nicht nur eine neue Gewohnheit
auf, sondern sie bedeuten, ganz im Sinne Corsinis, auch eine permanente
Selbstkonfrontation mit der Eigenproblematik. Ein weiterer positiver und
wichtiger Nebeneffekt ist, daß Proband lernt, daß Phantasieren,
Denken und Wünschen keine negativ befürchteten Auswirkungen auf
Befindlichkeit und Handeln haben muß. Ansonsten erwies es sich im
weiteren Therapieverlauf erforderlich, praktisch-alltägliche Operationalisierungshilfen
zum "inneren Schweinehund" zu geben und späterhin Unterscheidungshilfen
zur gesunden, normalen und wünschenswerten Selbstbehauptung. Im Verhalten
fiel im übrigen eine starke Bewegungungskomponente auf, gelegentlich
sprang Proband auf, um etwas durch Bewegung, Haltung und Gestik zu unterstreichen.
Dies veranlasste mich zu einer weiteren diagnostischen Prüfung auf
eine Aufmerksamkeits-/ Hyperaktivitätsstörung (AD-H-D) im Erwachsenen-Alter.
Dies könnte die impulshaften Handlungen und die erstaunliche Abspaltung
und Verdrängung des "inneren Schweinehundes" gut erklären. Da
ich gerade vor einiger Zeit begann, einen entsprechenden
Test
zur AD-H-D-Diagnostik
Erwachsener zu entwickeln und inzwischen über
ausreichende statistische Analysen und Normwerte von einer gut begründeten
Verdachtsfallgruppe (N=92), einer ambulanten Psychotherapiefallgruppe (N=30)
und einer Ideal-Norm-Kontrollgruppe relativ Gesunder und Zufriedener (N=36)
verfüge, stand das nötige Instrumentarium zur Verfügung.
Es wird der ADHD-Mittelwert über 41 Dimensionen gebildet. Er kann
theoretisch zwischen 0 und 100 liegen. Die Fallgruppe erzielte einen Mittelwert
von 62, die Psychotherapiegruppe von 35 und die Idealnormgruppe von 25.
Der Patient gehört mit einem Mittelwert von gerundet 70 ganz sicher
zur ADHD-Fallgruppe und erzielt selbst in dieser einen Prozentrang von
71. Das ist wichtig zu wissen und in der Therapie zu berücksichtigen,
weil hierdurch zusätzliche Vorkehrungen zur Evaluation und Kontrolle
der therapeutischen Maßnahmen nötig sind.
Es zeigte sich weiter, daß ich ziemlich viel Informationsarbeit,
Steuerung und Kontrolle der Therapie leisten muß. Was die Therapie
wirklich gebracht hat, werden wir aber erst in 10 Jahren wissen.
Gewissenstherapie macht keine Umwege und geht direkt auf das relevante Therapieziel zu: die Implementierung von handlungswirksamen inneren Normen in die Psyche des Devianten oder, wie im Fallbeispiel, Aufhebung der Abspaltung des "Inneren Schweinehundes". Wie man das unter welchen Bedingungen machen und fortlaufend überprüfen, d.h. einzelfallbezogen methodisch erweitern und evaluieren kann, sollte in Zukunft mehr wissenschaftliche und praktische Aufmerksamkeit erhalten. Wichtig erscheint auch die Weiterentwicklung und Erweiterung von Therapiemethoden nach dem Ansatz von Corsini, plötzliche und anhaltende Persönlichkeitsveränderungen herbeizuführen.
Querverweise
Standort: Gewissenstypologie und Straftaeterbehandlung.
*
Abwehrmechanismen und Neutralisationsmechanismen.
Überblick Forensische Psychologoe. * Schuldgefühle * Strafe * Haft *
*
Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
z.B. Gewissenstypologie site:www.sgipt.org.*
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Zitierung
Sponsel, R. (DAS). Gewissenstypologie und Straftaeterbehandlung. Sozial- und Psychotherapie von normativ Devianten oder / und "Kriminellen". Erlangen IP-GIPT: https://www.sgipt.org/forpsy/gewtyp0.htm
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Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
03.10.17 Link zu Abwehrmechanismen und Neutralisationsmechanismen.
27.11.06 Lit: Hefendehl, Roland (2005). Neutralisationstechniken bis in die Unternehmungsspitze. Eine Fallstudie am Beispiel Ackermann.