Vulgärkonstruktivismus:
können Erkenntnistheorie, Wissenschaft und Alltagsleben
auf den Wahrheitsbegriff verzichten?
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Einführung in die Erkenntnistheorie aus psychologischer Sicht
Vulgärkonstruktivismus: Für die vulgäre KonstruktivistIn ist alles ganz einfach: nichts muß stimmen, alles kann stimmen, jeder kann sich bedienen, wie es ihm gefällt. Alles ist möglich oder auch nicht möglich. Die gesamte Wissenschaft wie auch die persönliche Erfahrung und Interessenlage kann so oder so oder auch ganz anders genutzt werden. Alle Erkenntnissysteme und Aussagen sind irgendwie gleichwertig und es ist ganz legitim, sich seine Erkenntnisse so zusammenzubasteln, wie man sie eben braucht. Der vulgäre Konstruktivismus ist damit so etwas wie ein radikaler egozentrischer Subjektivismus [FN].
Der Begriff des Konstruktivismus ist vieldeutig und unscharf. Ein Kern ist wohl, daß die Welt, wie wir sie erfahren, wahrnehmen, erleben oder denken, nicht etwas - absolut - Objektives ist, sondern ein durch unsere eigene Konstruktion als geistige, erkennende und menschliche Wesen vermitteltes und bedingtes Konstrukt.
Das ist so gesehen keineswegs neu, sondern wenigstens seit Kant philosophisches Allgemeingut: das Ding an sich bleibt uns verschlossen. Nun ist allerdings diese Kant'sche Idee selbst nicht sehr klar und erhellend. Denn wir fragen uns natürlich: was meint er denn damit, mit dem Ding an sich? Ich interpretiere: Kant meint damit ein Objekt, dessen Existenz und Merkmale nicht durch die Filter eines wahrnehmenden Systems verzerrt werden. Dem läßt sich natürlich sofort - etwas psychologisch formuliert - entgegenhalten: jedes wahrnehmende System bringt sich in die Wahrnehmung selbst mit ein. Es liegt im Wesen des Erkenntnisprozesses, daß ein System in eine wahrnehmende oder erkennende Beziehung zu einem anderen tritt. Erkennen ist wenigstens eine zweistellige Relation derart:
Subjekt (erkennendes Objekt) erkennt <--> Objekt (-merkmale)
Wir können nun fragen: Können Objekte unabhängig von bestimmten Subjekten erkannt werden? Auf den ersten Blick möchte man sagen: was soll der Unsinn!? Wie sollte denn ein Objekt erkannt werden, ohne daß es ein erkennendes Objekt, ein Subjekt, gibt? Nun vielleicht meinte Kant es genau so. Sobald wir erkennen, bringen wir unser Wahrnehmungs- und Erkenntnissystem mit ein. Und sobald wir unser Erkenntnis- und Wahrnehmungssystem wegdenken, können wir nicht mehr erkennen. Denn zum Erkennen gehören immer mindestens zwei. Wie ein Ding an sich ist, wenn es nicht erkannt wird, ist sozusagen eine unsinnige Frage, denn ein nicht erkanntes Ding, das ist ein unbekanntes Ding, d.h. wir wissen nicht, was es für ein Ding ist. Und sobald wir mit unseren Erkenntnissystemen an Dinge herantreten, "erzeugen" wir das Ding durch unser Erkenntnissystem, sofern das Ding Merkmale hat, die durch unser Erkenntnissystem erfaßt werden können, denn wir wissen: ein Blinder sieht keine Farben, ein Tauber hört keine Laute, ein Mensch erkennt vieles nicht, weil sein Wahrnehmungs- und Erkenntnissystem, obwohl es zuweilen an ein Wunder gemahnt, doch auch wieder sehr begrenzt und grob ist, weil er vieles mit Hilfe seines Wahrnehmungssystems gar nicht erkennen kann. Daß er dennoch so viel weiß, was weit über die Fähigkeiten seines persönlichen Wahrnehmungssystems hinausgeht, verdankt er seinem Verstand, seinem Erfindungsgeist, seinen Mitteln, Werkzeugen und seiner Erfahrung, zusammengefaßt: seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten. Der Mensch konstruierte sich Meßgeräte für fehlende oder ungenaue Wahrnehmungssysteme und erweiterte damit seine beschränkten Sinnesorgane sehr stark. Was Wissenschaft und Technik da geleistet haben, ist ungeheuerlich - auch in des Wortes doppelter Bedeutung.
Was könnten wir ganz allgemein über Dinge sagen? Nun, sie befinden sich gewöhnlich an einem Ort, sind in Ruhe oder in Bewegung, haben eine Ausdehnung, Masse, Form und Gestalt und sie wirken auf dieses oder jenes in der und der Weise. So viel kann man vielleicht ganz allgemein sagen. Nun, wenn wir wissen wollen, ob in der Küche ein Stuhl steht, dann müssen wir folgendes wissen: Wo ist die Küche, was bedeuten Stuhl und stehen und wie stellen wir fest, ob das zutrifft? Ich könnte mir vorstellen, daß KonstruktivistInnen, radikale, gemäßigte oder vulgäre, PlatonistInnen, RealistInnen, IdealistInnen, ja selbst SolipsistInnen, SkeptikerInnen, RationalistInnen oder IrrationalistInnen [FN] alle zu dem gleichen Ergebnis kommen: Ja, in der Küche steht ein Stuhl, falls dort einer steht. SophistInnen allerdings könnten sagen: Nein, da steht nicht ein Stuhl, wenn dort zwei oder mehrere stehen sollten. Sie würden damit das Homolog ein [unbestimmter Artikel gegenüber dem Zahlwort] verdreht deuten, um eine überraschende, irritierende und widrige These aufzustellen wie es so ihre Art ist. Mit den SophistInnen wollen wir uns aber nicht weiter beschäftigen. Wir wollen vielmehr festhalten, daß erstaunlich viel Übereinstimmung selbst zwischen ganz verschiedenen und mitunter unverträglich erscheinenden philosophischen Standpunkten möglich scheint - sobald wir die Probleme sehr praktisch angehen.
Wie wird nun Wahrheit in der Praxis überprüft ?
Nehmen wir an, ein Junge eines Bauern stürmt ins Haus und sagt:
die
Kühe sind nicht mehr da. Der Bauer und seine Bäuerin mit
den Geschwistern mögen erstaunt und zweifelnd reagieren. Was wird
wohl geschehen? Nun, es wird wohl wenigstens einer nachsehen, um die Aussage
des Jungen zu überprüfen. Nehmen wir an, er kehrt und zurück
und sagt: Stimmt, die Kühe sind weg. Nun wird man nachdenken
und sich auf die Suche begeben. Ich denke, so würde sich eine platonistische,
realistische, idealistische, skeptische, radikal, gemäßigt oder
vulgär konstruktivistische wie auch eine rationale oder irrationale
[FN] bäuerliche
Familie verhalten. Nur eine strenge und merkwürdige religiöse
Sekte würde es vielleicht anders halten und denken:
Der Herr hat
es so gewollt, er wird es auch wieder richten oder nicht. Wir müssen
uns demutsvoll in Geduld fassen. Fassen wir unabhängig davon die
Prüfung in eine Regel, so lautet diese:
Eine Aussage A1 durch einen Beobachter B1 wird geprüft, indem man sie mit der Aussage A2 eines Beobachters B2 vergleicht. Gilt A1 <=> A2, so kann man sagen: A1 wird durch A2 bestätigt - und umgekehrt. Diese Regel spielt eine wichtige Rolle beim Zeugenbeweis vor Gericht aber auch natürlich in potentiell unendlich vielen Alltagssituationen wie jeder bei sich selbst überprüfen kann. |
Der radikale und vulgäre Konstruktivismus äußert sich öfter abfällig über den Wahrheitsbegriff und meint, auf ihn verzichten zu können. Kann er das? Oder verschiebt er das Problem nur? Es gibt jedenfalls potentiell unendlich viele Situationen, in denen es außerordentlich bedeutsam ist, ob eine Aussage zutrifft oder nicht, wahr ist oder nicht. Im Straßenverkehr etwa: kommt einer von rechts? Ist der Parkplatz noch frei? Ist die Ampel auf grün? Wollte man dies alles radikal- oder vulgärkonstruktivistisch in Frage stellen, könnte sich niemand mehr ein Auto leisten, weil niemand mehr die Versicherungsprämien zahlen könnte. Wahrheit sei überholt, etwas sehr Relatives oder auch Subjektives, heißt es oft in radikal- oder vulgärkonstruktivistischen Kreisen. Was für den einen so sei, sei für den andern eben anders, und da kein Erkenntnissystem vor einem anderen ausgezeichnet sei (vulgärkonstruktivistisches Relativitätsprinzip) könnte weder bei dem einen noch bei dem anderen auf wahr erkannt werden.
Exkurs: Skizze des allgemeinen und integrativen Wahrheitsbegriffs
Wahr ist ein relationaler Ausdruck der Metasprache und bedeutet eine Übereinstimmung zwischen zwei Modellen (Modell-Welten), z.B.:
BeobachterIn (ProbandIn) B1:
B1.1 in der Küche: Wahrnehmungs-Modell: "Da steht ein Stuhl"
B1.2 in der Küche: Kognitiv-mentales Modell, der Gedanke: "Da
steht ein Stuhl"
B1.3 zu B3 im Wohnzimmer: Sprachliches Ausdrucks-Modell: "Da steht
ein Stuhl"
Wir können hier sagen: B1.1 <=> B1.2 <=> B1.3
BeobachterIn (ProbandIn) B2:
B2.1 in der Küche: Wahrnehmungs-Modell: "Da steht ein Stuhl"
B2.2 in der Küche: Kognitiv-mentales Modell, der Gedanke: "Da
steht ein Stuhl"
B2.3 zu B3 im Wohnzimmer: Sprachliches Ausdrucks-Modell: "Da steht
ein Stuhl"
Und wir können hier sagen: B2.1 <=> B2.2 <=> B2.3
Und wir können weiter sagen:
B1.1 <=> B1.2 >=> B1.3 <=> B2.1 <=> B2.2 <=> B2.3
Alle diese Modell entsprechen sich, drücken den gleichen Sachverhalt in unterschiedlichen Modell- Welten aus.
Die Beschränkung auf Übereinstimmung oder Unterschied zwischen verschiedenen Modellen ist philosophisch neutral. SolipsistIn, IdealistIn und RealistIn können wie die radikale, gemäßigte oder vulgäre KonstruktivistIn, RationalistIn oder IrrationalistIn zustimmen.
Anmerkung: Den alten philosophischen Streit können wir so deuten, daß ein bestimmtes Modell vor anderen ausgezeichnet wird. Nimmt man eine reale Außenwelt an, so läßt sich natürlich auch fragen, ob eine Wahrnehmung mit der realen Außenwelt übereinstimmt oder nicht. Hierzu bedarf es dann aber nachvollziehbarer Wege der Konstruktion einer solchen Außenwelt. Die - meist naive - Identifizierung der eigenen Wahrnehmung mit der "objektiven" Außenwelt ist hierbei sicher ein elementarer Fehler, der den PhilosophInnen und WissenschaftlerInnen aber schon seit Jahrtausenden bekannt und ganz sicher keine Leistung des radikalen oder gar vulgären Konstruktivismus ist.
Widerlegung des pragmatischen Arguments
Die Grundidee des Konstruktivismus stammt aus der Kritischen Vernunft und Erkenntniskritik mit den zentralen erkenntniskritischen Fragestellungen: wie können wir wissen, wie können wir sicher sein, was ist wahr, gibt es unterschiedliche oder relative Grade von Wissen, Wahrheit und Sicherheit der Erkenntnis? Aufgrund der zahlreichen Schwierigkeiten und Probleme, die mit diesen Fragen verbunden sind, schüttet der radikale und vulgäre Konstruktivismus sozusagen das Kind mit dem Badewasser aus und beschließt, den Wahrheitsbegriff für überflüssig zu erklären. Das erinnert an die BehavioristInnen, denen die Seele zu kompliziert und schwierig war, weshalb sie sie gleich "abgeschafft" haben und sich in der Paradoxie versuchten, eine Psychologie ohne Psychologie aufzubauen, eine Seele ohne Seele zu verstehen.
Der fundamentale und logische Fehler der radikalen und vulgären KonstruktivistInnen ist, daß sie das Problem der Wahrheit lediglich verschieben, aber nicht aufheben können. Sie machen nur einen Umweg über irgendwelche andere Kriterien, wie nützlich, zweckmäßig, pragmatisch, vorhersagefähig, brauchbar usw. X, Y, Z ist? Radikale und vulgäre KonstruktivistInnen übersehen hierbei leicht, daß sich dann immer noch die Frage stellt: Stimmt es, daß X, Y, Z nützlich, zweckmäßig, pragmatisch, vorhersagefähig, brauchbar usw. ist? Ist es wahr oder richtig, daß X, Y, Z nützlich, zweckmäßig, pragmatisch, vorhersagefähig, brauchbar usw. ist?
Ein typisches vulgärkonstruktivistisches Argument gegen den Wahrheitsbegriff
ist also, daß dieser überholt sei und es nur darauf ankomme,
was eine Erkenntniskonstruktion z.B. nutze. Hier stellt sich natürlich
sofort die Frage, wie man denn feststellt, ob eine Erkenntnis nutze
und woher man denn weiß, daß dem so ist oder nicht so ist?
Es ist klar, daß eine Antwort auf diese Frage folgende Form für
ein Erkenntniskonstrukt (EK) haben muß:
|
Damit ergibt sich natürlich die Frage, ob die Aussage EK habe diesen oder jenen Nutzen wahr und sicher bzw. wie wahr und sicher diese Aussage ist.
Auch der Ausweg, man nehme eben eine sog. Wahrheit als nützlich an, führt auf die Frage, wie man denn zu dieser Wahrheit gelangt, was macht die Wahrheit zur Wahrheit?
Der radikale und vulgäre Konstruktivismus verzichtet nur scheinbar auf den Wahrheitsbegriff. Tatsächlich macht er nur einen Umweg über andere Kriterien, wobei er gewöhnlich übersieht, daß sich auch bei anderen Kriterien die Frage stellt, ob diese denn nun richtig (wahr, zuverlässig, sicher) sind oder nicht. Der Wahrheitsbegriff ist in der Wissenschaft, Erkenntnistheorie und im Alltagsleben unverzichtbar. |
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