Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=28.04.2003
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 05.02.20
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Dipl.-Psych.
Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil.Rudolf Sponsel
Stubenlohstr.
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Willkommen in der Abteilung Allgemeine und Integrative Psychologie,
Psychopathologie und Psychotherapie, Bereich Lenken (steuern, regeln) hier
zum Thema:
Willensfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Handlungsfreiheit:
Cranach, Mario von & Foppa, Klaus (1995, Hrsg.). Freiheit
des Entscheidens und Handelns. Heidelberg: Asanger.
Ein Buchhinweis von Rudolf Sponsel, Erlangen
Gewidmet
dem Antifaschisten und Wollensforscher Heinrich Düker.
Einstieg * Inhaltsverzeichnis * Zusammenfassungen
* Kritik
und konstruktive Vorschläge zu Experimenten * Literatur-
und Linkhinweise * Querverweise
|
Die viele Jahre grob vernachlässigte
Willenspsychologie
gibt es seit einiger Zeit erfreulicherweise wieder. Und dadurch wird auch
das Thema Willensfreiheit unterstützt, dem eine große Bedeutung
in der forensischen Psychologie und Psychopathologie, im Rechtswesen (Geschäftsfähigkeit,
Deliktfähigkeit, Schuldfähigkeit), aber auch in der Psychotherapie
und im Alltag (kann ich, was ich will?) zukommt. Ohne Zweifel berührt
dieses Buch also nicht nur theoretische Grundlagen, sondern ganz handfeste
praktische Probleme. Kurz und gut: thematisch ein wichtiges Buch.
Das Problem enthält vier große Fallstricke und Tücken:
(1) die operationale Bedeutung von (2) ist,
(3) frei, (4) Wille. Ist nämlich klar definiert, was
unter freiem Willen zu verstehen ist, kann die Existenz grundsätzlich
empirisch geprüft werden und damit auch der diesbezügliche Wert
dieses Buches. |
Die Links im Inhaltsverzeichnis verweisen auf die Zusammenfassungen
in der Einleitung durch Klaus Foppa.
Inhaltsverzeichnis
Klaus Foppa: Einleitung 9
I. Soll sich die wissenschaftliche Psychologie mit dem
Freiheitsproblem befassen? 19
II. Reflexivität als Voraussetzung der Entscheidungs-
und Willensfreiheit 123
III. Individual-psychologische Implikationen der Entscheidungsfreiheit
171
IV. Freies Entscheiden und Handeln im Kontext sozialer
Systeme 251
V. Schlußfolgerungen 329
Personenregister 347
Leseproben:
Zusammenfassungen der Beiträge"
Hans-Joachim
Kornadt ("Willensfreiheit: empirische Tatsache und theoretisches Problem
in der Psychologie") vertritt mit Nachdruck die Auffassung, daß
die Psychologie auf das Konzept der Willensfreiheit nicht verzichten könne,
und daß nichts für einen solchen Verzicht spreche. "Angesichts
sehr vieler grundlegender Fragen über die Natur, die ungelöst
sind, ist es m.E. redlicher einzugestehen, daß wir noch vieles nicht
wissen, und konstruktiver und produktiver, alle uns gegebenen Informationen
und Erfahrungen einschließlich der Erfahrung der Willensfreiheit
einer psychologischen Theoriebildung zugrundezulegen, als aus Voreingenommenheit
bestimmte Teile zu leugnen. Unverständlich ist für mich, wie
Psychologen ihr Denken und ihr Bemühen um klare Argumente auf das
Ziel richten können, andere davon zu überzeugen, daß eben
dieses Denken und intendierte Handeln eigentlich irreal, illusionär
oder nicht wert sei, Gegenstand der Forschung zu sein" schreibt er und
bezieht damit eindeutig Position. Und weiter: "Wir sollten unser Unwissen
akzeptieren und statt von a priori-Annahmen ... von der uns gegebenen Empirie
ausgehen und durch sorgfältige und kontrollierte empirische Forschung
allmählich zu besseren Theorien über menschliches Erleben und
Handeln gelangen". Denn: "Selbst wenn ... die Physik ein vollständig
deterministisches Weltbild entwickelt hätte, könnte daraus wegen
der Tatsache, daß dieses Weltbild bei aller Realitätsbezogenheit
immer noch ein menschliches Konstrukt ist, das gerade den Prozeß
der Konstruktion selbst nicht zum Gegenstand hat, und wegen der Endlichkeit,
also der Nichtsabgeschlossenheit der physikalischen Theorien kein Argument
abgeleitet werden, das zwingend gegen die Annahme der Willensfreiheit spräche."
Theo
Herrmann ("Willensfreiheit - eine nützliche Fiktion?") fokussiert
- im Unterschied zu Kornadt, dessen Argumentation von phänomenalen
Tatbeständen ausgeht - primär das konzeptuelle Problem. Er unterscheidet
"zwei 'Sprachspiele', zwei nicht aufeinander reduzierbare kognitive Bezugssysteme
oder zwei kognitive (Re-) Konstruktionsmuster", die er "kurzerhand als
den intentionalen Freiheits-Handlungs-Jargon und den naturwissenschaftlichen
Determinationsjargon"
bezeichnet. Aufgrund der Tatsache, daß "unser Hirn ... so gebaut
(ist), daß es propositionale Attitüden ...", also Aussagen von
der Art "Ich will, daß H und daß nicht H' geschieht", produzieren
kann, "besteht ... gar kein Widerspruch zwischen erlebter (kognizierter)
Freiheit und naturgesetzlicher Determination. Beides kann als real
betrachtet werden. Von einer Fiktion kann also keine Rede sein."
Ja mehr noch: Bei näherer Betrachtung kommt er zum Schluß, daß
das Freiheitserlebnis sogar "einen erheblichen tradigenen Selektionsvorteil"
biete und die Willensfreiheit (deshalb) "eine nützliche - kognitive
- Realität" sei. [12]
Carl
F. Graumann ("Wollen und Können. Überlegungen zu deren Wechselwirkung")
verfolgt den Weg des Begriffs der Willensfreiheit in die Psychologie und
macht - vor allem am alten Wundt'schen Konzept der "Heterogonie der Zwecke"
die "Interdependenz (Reziprozität) zwischen dem Willentlichen und
dem Unwillentlichen" (P. Ricoeur) deutlich; " ... derjenige, der vom Willen
spricht, ob Wundt'sch als Prototyp des Bewußtseins, ob Ricoeur'sch
als ausgezeichnete Intentionalität, die nichtbewußte und nichtwillentliche
Intentionalität einbeziehen muß. Wer von menschlicher Tätigkeit
spricht, muß deren Komplement der Passivität mitberücksichtigen.
Zum 'Ich will' des Entschlusses gehört das 'Es sei' der Einwilligung,
zur Charakterisierung des Subjekts als agens die des patiens. Der Mensch,
der auf die Welt einwirkt, ist auch ihrer Wirkung unterworfen." Daraus
folgt für ihn: "Weder das Individuum läßt sich losgelöst
'für sich' betrachten, etwa als unabhängig und frei, noch gibt
es 'das Bewußtsein' oder 'Kognitionen' in Absehung von dem, worauf
sie bezogen und von dem sie abhängig sind ...".
Wolfgang
Prinz ("Freiheit oder Wissenschaft?") hält demgegenüber
das Problem nicht für ein wissenschaftliches, sondern allenfalls für
ein "alltagspsychologisches": "Wir sind davon überzeugt, daß
Personen für ihre Handlungen verantwortlich sind, und wir rechtfertigen
diese Überzeugung damit, daß wir glauben, daß sie in ihren
Handlungsentscheidungen grundsätzlich frei sind." Der "Willensfreiheitsjargon"
habe "zwei Gesichter": "Auf der einen Seite verwenden wir ihn, um fundamentale
psychologische
Tatsachen zu beschreiben", "auf der anderen Seite sichert der ihm innewohnende
Erklärungsverzicht zugleich eine wesentliche
moralische Funktion".
Mit "einer ernstgenommenen Theorie der Willensfreiheit" seien daher verschiedene
"erkenntnistheoretische Zumutungen" verbunden, von denen der dem Willensfreiheitskonzept
innewohnende Erklärungsverzicht die gravierendste sei. Und er faßt
zusammen: "Es beruht auf einem Mißverständnis, wenn man glaubt,
daß das sog. Problem der Willensfreiheit ... ein theoretisch-psychologisches
Problem (sei)." Das "Freiheitserleben" sei zwar ein empirisches Faktum,
es gebe aber keine Legitimation dafür, "ausgerechnet bei diesem Phänomen
eine Art funktionale Isomorphie forden zu wollen, indem man phänomenale
Freiheit auf funktionale Freiheit zurückführt ...".
Werner Greve
("Die Grenzen empirischer Wissenschaft. Philosophische Schwierigkeiten
einer psychologischen Theorie der Willensfreiheit") artikuliert seine
Skepsis in anderer Weise und mit unterschiedlicher Stoßrichtung:
"Denn auch wenn Willensfreiheit kein psychologisches Problem ... wäre,
könnte sie vielleicht ein Problem für die Psychologie
sein. Wenn nämlich die freie Entscheidung der Person für manche
ihrer Verhaltensweisen (d.h. für menschliche Handlungen) eine
notwendige Bedingung ist, und wenn diese Freiheit unter anderem impliziert,
daß diese Verhaltensweisen empirisch bzw. kausal eben [13]
nicht vollständig erklärbar sind, dann würde die Freiheit
menschlicher Handlungen sozusagen eine Grenze der empirischen Psychologie
markieren." Greve kommt zu dem Schluß, daß die empirische Psychologie
zwar "zur Erklärung freier menschlicher Handlungen und also auch zur
Erklärung des Phänomens der Willensfreiheit selbst aus prinzipiellen
Gründen nichts beizutragen hat", daß aber gleichzeitig "der
unendlich weite Bereich der subjektiv empfundenen Freiheit" ein "reiches
Feld fiir psychologische Arbeit" eröffnet.
Dietrich
Dörner ("Der freie Wille und die Selbstreflexion") weist
eingangs anhand von Alltagsbeispielen auf die Problematik der "Gleichsetzung
freier Entscheidungen mit Indeterminiertheit" hin. Er stellt eine (typische)
Entscheidungssituation als einen "antagonistischen Dialog" dar, in dem
die Stärke der beteiligten Motive eine wesentliche Rolle spielt. Sie
wird als abhängig von "der Stärke des Bedürfnisses,
welches vermindert, bzw. deren Auftreten verhindert werden soll, aufgefaßt,
und zum anderen von der Wahrscheinlichkeit, mit der Verminderung
bzw. Vermeidung auftreten kann." . . . "Der Prozeß beginnt (und endet
gegebenenfalls) mit der Abfrage, ob die Differenz beider Motivstärken
> ALPHA sei. Ist dies der Fall, dann hat ein Motiv 'gesiegt', und es wird
dementsprechend gehandelt. ... Ist nun die Differenz der beiden Motivstärken
< ALPHA, so beginnt der Prozeß der Redetermination." Redetermination
bedeutet dabei, "daß die Entscheidung nicht einfach von bestimmten,
vorhandenen Determinanten ... abhängig ist, sondern daß die
Determinanten selbst sich im Laufe des Prozesses wandeln." Dadurch wird
die "Determination der schließlichen Entscheidung zweistufig": Neben
den primären Determinanten spielt die Redetermination, d.h. eine Metadetermination
(und weitere MetaMeta-Determinationen) eine wesentliche Rolle. Sie tritt
nach außen als eine Form des freien Willens in Erscheinung.
Rainer
H. Kluwe ("Steuerung von Denkvorgängen in Modellen menschlicher
Informationsverarbeitung") geht von der Frage aus, "in welchem Umfang
Menschen frei über den Inhalt und den Gang ihrer Denkprozesse entscheiden
können. Eigenes Denken wird subjektiv als willentlich steuerbar erlebt:
man kann es unterbrechen, ihm andere Richtungen geben, etwas systematisch
oder oberflächlich durchdenken usw. Aber Menschen erleben auch, daß
sich Gedankeninhalte aufdrängen, schlecht unterdrücken lassen,
daß Denken nicht so gelingen will, wie es beabsichtigt ist." Aufgrund
einer Analyse kognitionspsychologischer Modelle der Informationsverarbeitung
zeigt Kluwe, daß in ihnen "die Möglichkeit zur Kontrolle und
Steuerung eigener Denkprozesse vorgesehen" ist. "Eine übergeordnete
Instanz kontrolliert, koordiniert und steuert scheinbar willentlich und
scheinbar frei den Fortgang und den Inhalt des Denkens." Der adaptive Wert
der Tatsache, daß Menschen "diese Vorgänge" (auch) "als willentlich
und frei steuerbar, nicht als verursacht" erleben, könnte in der vermittelten
Sicherheit liegen. [<14]
Für
Klaus
Foppa ("Über Handlungsfreiheit und die Restriktionen menschlichen
Handelns") macht "die Frage, ob sich eine Person P 'frei für eine
Handlung entschieden hat' nur unter der Voraussetzung einen empirischen
Sinn ..., daß man in der Lage ist, Instanzen 'freier Entscheidung'
von Episoden abzugrenzen, bei denen man mit guten Gründen davon ausgehen
kann, das Verhalten von P sei vollständig determiniert, also 'unfrei"'.
SeinerMeinung nach ist es mit der "Freiheit des Individuums", zwischen
Handlungsoptionen zu entscheiden, nicht vereinbar, daß sich das Ergebnis
dieser Entscheidung voraussagen läßt. Dabei ist zu beachten,
daß bestimmte Handlungen einfach deshalb nicht auftreten können,
weil "notwendige Voraussetzungen ... fehlen ...; oder weil Restriktionen
den aktuellen Möglichkeitsraum von P so eingeschränkt haben,
daß nur mehr eine Option übriggeblieben ist (und) P nur die
entsprechende Handlungen ausführen kann". Solche Handlungen nennt
er "ausschlußdeterminiert". "Von der Handlungsfreiheit von P" wird
nur dann gesprochen, wenn "sich P in einer Situation, in der ihr Verhalten
... jeweils zutreffend vorhergesagt werden konnte, ... ohne erkennbare
andere (externe) Restriktionen nicht mehr entsprechend der Prognose verhält."
Julius
Kuhl ("Wille, Freiheit, Verantwortung: Alte Antinomien aus experimentalpsychologischer
Sicht") hält "verschiedene Varianten des Phänomens subjektiver
(Un-) Freiheit ... durch Indikatoren für die Beteiligung volitionaler
Kontrollprozesse an der Handlungsveranlassung theoretisch und empirisch
(für) faßbar." "Determinismus (Fremdbeobachtungsperspektive)
und Freiheitserleben eines selbstreferentiellen Systems (Selbstbeobachtungsperspektive)"
sind demnach "logisch vereinbar". Trotz dieser "logischen Vereinbarkeit
von Freiheitserleben und Determinismus ist eine deterministische Position
im klassischen Sinne für die Psychologie unplausibel. Angemessener
ist ein klassischer Indeterminismus, der aber Raum läßt für
einen 'systemischen Determinismus': Die Zurückweisung klassischer
Determinismusattribute (lineare Kausalität, hinreichende Ursachen,
Vorhersagbarkeit, Wiederholbarkeit von Bedingungskonstellationen) führt
zu einem (klassischen) 'Indeterminismus', der aber mit einem 'systemischen
Determinismus' durchaus vereinbar ist: Prinzipielle Verursachung durch
ein komplexes, u.U. nicht wiederholbares Muster von Bedingungen wird angenommen
..., obwohl es nicht in jedem Einzelfall nachweisbar ist".
Dietrich
Albert & Christof Körner ("Entscheidungs- und Willensfreiheit
in konnektionistischen Modellen") verstehen "Entscheidungsfreiheit
als die Möglichkeit ..., eine von zwei oder mehr (Handlungs-) Alternativen
auszuwählen". Sie ist der Willensfreiheit, bei der es sich darum handelt,
"sich innerhalb eines gewissen Rahmens eigene Ziele oder Präferenzen
zu setzen und zu eigenen Wertvorstellungen zu kommen", nachgeordnet. "Aus
psychologischer Sicht stellt sich in diesem Zusammenhang das Problem, wie
in einer Entscheidungssituation die unterschiedlichen Ziele und Präferenzen
einer Person mit den [<15] aktuell hinzutretenden Informationen und
Bewertungen von Alternativen und deren Merkmalen zusammenwirken und zu
einer Entscheidung bzw. der Auswahl einer Alternative führen". Albert
& Körner zeigen, daß sich der Prozeß der Entscheidungsfindung
in (erweiterten) konnektionistischen Modellen abbilden läßt
und es prinzipiell auch möglich erscheint, jene Fälle abzudecken,
in denen das Modell "'eigenständig' Ziele und Präferenzen" setzen
muß, was Lernfähigkeit voraussetzt.
Klaus
E. Grossmann ("Wille und Absicht in der Entwicklung von Individuen")
demonstriert an Beispielen der individuellen Entwicklung, daß "zweckvolle
Intentionen ... Grundlage jedes geplanten, auf Ordnung, Verbesserung, Neugestaltung
Fortentwicklung und Veränderung bedachten menschlichen Verhaltens"
sind. Dabei ist "der Wille in der Individualentwicklung ... ein biologisches
Programm, das seine jeweilige Ausgestaltung in der Entwicklung des Kindes
nach den Regeln seiner Familie, Gemeinschaft und Kultur erfährt".
"Es
gibt dabei keinen Widerspruch zwischen freiem Willen und kausalem Geschehen
im Psychischen, weil eben Ursache und Zweck beim Lebendigen in der Phylogenese
nicht trennbar sind". Diese unlösbare "Zusammengehörigkeit von
Ursache und Zweck hat natürlich methodologische Konsequenzen. Die
ideographisch biographische Sicht des Individuums ist dabei nämlich
genauso wichtig wie die auf allgemeine Aussagen abzielenden Experimente".
Das physikalische Weltbild ist nicht geeignet, diesem Umstand Rechnung
zu tragen.
Mario v. Cranach ("Handlungs-Entscheidungsfreiheit:
ein sozialpsychologisches Modell") zeigt, "wie sich die Freiheit zu
entscheiden aus einer Folge von Prozessen ergibt, die in der Psychologie
bekannt und erforscht sind. Es ist aber auch sozialpsychologisch, da ...
gesellschaftliche und in sozialen Prozessen vermittelte Vorstellungen eine
notwendige Voraussetzung der Handlungs- Entscheidungsfreiheit darstellen
und diese wieder auf gesellschaftliche Prozesse und Zustände zurückwirkt".
"Prozesse der Handlungs- Entscheidungsfreiheit" sind nach ihm "die in unserer
Kultur vorgegebene Antwort auf unvermeidliche Konflikte". "Unterdetermination,
mangelnde Festgelegtheit ergibt sich aus der Komplexität der menschlichen
Wissensverarbeitung und ist eine Voraussetzung jener höheren Funktionen
des menschlichen Handelns, die wir für typisch menschlich halten...".
Willensfreiheit gilt ihm als ein Aspekt der Selbstorganisation, die in
verschiedenen Instanzen der Persönlichkeit ihren je spezifischen Ausdruck
findet. Von Cranachs Behandlung des Handlungs- Entscheidungsfreiheitsproblems
ist also sowohl systemisch, als auch differential- und sozialpsychologisch.
Gisela
Trommsdorff ("Erleben von Handlungsfreiheit und Restriktionen")
demonstriert die soziokulturell bedingte Relativität der Bedeutung
von Handlungsfreiheit und Freiheitserlebnis. Gerade die kulturspezifischen
Unterschiede [<16] zeigen, "daß man zwar universell die Erfahrung
von Handlungsfreiheit annehmen kann, daß aber auch diese Primärerfahrung
wie viele andere Erlebnisse im Laufe der Ontogenese und darnit u.a. auch
kulturabhängig strukturiert wird. Die höhere primäre Kontrolle
bei Personen in individualorientierten und höherer sekundärer
Kontrolle bei Personen in sozialorientierten Kulturen läßt sich
somit gut in den Rahmen theoretischer Überlegungen zur Handlungsfreiheit
einordnen". Obwohl sie die Bedeutung von Handlungsrestriktionen durchaus
anerkennt, hält sie die auf ihnen basierende Vorhersagbarkeit von
Handlungen für methodisch ungenügend. "Bei Handlungen, die auf
erlebter Handlungsfreiheit beruhen, entstehen andere psychische Prozesse
als bei unwillentlich oder nur automatisch vollzogenen Handlungen. ...
Die Frage, ob das Erlebnis der Handlungsfreiheit auf einer Illusion beruht
oder nicht, ist dann irrelevant, wenn eine als frei erlebte Handlung die
Überzeugung der Verantwortlichkeit und entsprechende Handlungen nach
sich zieht".
Françis
Rochat ("Autoritätsgehorsam und Willensfreiheit") macht auf
der Grundlage sorgfältiger neuer Analysen der Videoaufzeichnungen
der Milgramschen Experimente auf einen Aspekt von Entscheidungssituationen
aufmerksam, der in den anderen Beiträgen nicht berücksichtigt
ist. Während man im allgemeinen dazu zu neigen scheint, freiheitsrelevante
Entscheidungssituationen als disjunktive Vorgaben für das Individuum
zu betrachten (entweder dieses oder etwas anderes zu tun), wird hier deutlich,
daß es sich vielfach um einen allmählichen Prozeß des
Hineinschlitterns handelt, dem jede disjunktive Charakteristik weitgehend
fehlt. Interessant ist dabei, daß sich Milgrams Versuchspersonen,
obwohl sie während des ganzen Experiments prinzipiell die Möglichkeit
hatten, sich "frei zu entscheiden", diese kaum nutzten. Nach Rochat macht
das deutlich, weshalb das Milgramsche Experiment so aufschlußreich
für das Verhalten von Menschen in Autoritätssituationen ist,
also für Situationen, in denen sie sich - trotz der Möglichkeit
dazu - nicht gegen an sich abgelehnte Handlungsalternativen entscheiden.
Im abschließenden
Kapitel ("Willens- und Handlungsfreiheit als psychologisches Problem: die
Struktur des Diskurses") zeichnet Mario von Cranach die dominanten
Argumentationslinien des (oder dieses) Diskurses über Willensfreiheit
nach. Nach einer kurzen Erörterung der Definitionsproblematik arbeitet
er die Grundstruktur der "Eintretensdebatte" heraus und expliziert fünf
Hauptthemen, welche in dieser Debatte vorgebracht werden: 1. Die Behauptung
der Unwissenschaftlichkeit, 2. die Annahme der Notwendigkeit, 3. den Einwand
logischer Schwierigkeiten, 4. den Gegeneinwand der Unangemessenheit logischer
Kriterien und 5. Positionen zur Bedeutung von "Kausalität", "Determination"
und zum Leib-Seele-Problem. Im Verlauf der sorgfältigen Explikation
einzelner Facetten dieser Punkte schälen sich deutliche Argumentations-Hauptlinien
heraus, die es einerseits ermöglichen, die verschiedenen Autoren zu
[<17] lokalisieren, die aber auch erkennen lassen, welche Aspekte übersehen
oder jedenfalls nicht thematisiert wurden. - Änliches gilt für
den 3. Abschnitt (Die Frage der Methodik). Den zentralen Teil dieses Schlußkapitels
bildet aber zweifellos der letzte Abschnitt (4. Theoretische Annahmen über
den Willensfreiheitsprozeß). v. Cranach stellt vier im Buch vorgestellte
theoretische Lösungen (Albert & Körner; Dörner; v. Cranach;
Kuhl) einander gegenüber und vergleicht sie im Hinblick auf die folgenden
Kategorien: sozio-kulturelle Basis; Struktur des Trägersystems; Rolle
bewußter Repräsentationen; Art des Prozesses; Ergebnisse - Ziele
der Prozesse.
Es versteht sich von selbst, daß weder das
Schlußkapitel, noch eines der Einzelkapitel eine abschließende
Lösung des Entscheidungs-, Handlungs- oder Willensfreiheitsproblems
enthält. Die Palette unterschiedlicher Perspektiven läßt
immerhin die Hoffnung nicht ganz unbegründet erscheinen, daß
eine Fortführung des Diskurses nicht nur möglich, sondern auch
sinnvoll ist, und daß sich, mit der nötigen Geduld, die Konturen
einer konsensuellen Position herauskristallisieren könnten, welche
als Basis für eine rationale Auseinandersetzung geeignet wären.
Denn, auch wenn uns das nicht passen mag: Das Problem der Entscheidungs-
und Handlungsfreiheit scheint eines jener Probleme zu sein, dessen Lösung
die Gesellschaft von "der Wissenschaft" erwartet. Und wenn wir Psychologen
dieser Erwartung nicht entsprechen, werden uns andere (wie schon oft) die
ungeliebte Aufgabe abnehmen und sie - ohne Rücksicht auf unsere Bedenken
und Einwände - lösen." [Anmerkung RS]
Kritik
und Konstruktive Vorschläge zu Experimenten
Was mir fehlt, sind einfache
und klare operationale Definitionen des "freien Willens" und dementsprechend
ebensolche einfachen und klaren Experimente, die eine einfache
und klare Antwort darauf geben, ob es denn den so oder so definierten "freien
Willen" gibt oder nicht. |
Konstruktiver
Vorschlag an die freien WillensforscherInnen
Nach traditionellem Verständnis gehört zur Willensfreiheit
die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen. Nun könnte
man einwenden, wenn man einen einfachen Auswahlversuch durchführt,
daß die ProbandIn zwar ausgewählt hat, aber nicht frei, da ihre
spezifische Verfassung, Befindlichkeit und ihr Motivationszustand eben
genau dieses Auswahlergebnis determiniert hat. Diesem Einwand kann man
entgehen, wenn die freie Wahl an einen Zufallsmechanismus gekoppelt wird.
In der allgemeinen und integrativen Psychologie
nennen wir die Möglichkeit, die Handlung, die (zeitlich) nach
einer Zufallsauswahl aus einem Repertoire von Handlungsmöglichkeiten
befolgt wird, frei. Frei wird also konzipiert als die Möglichkeit,
eine vorher nicht gewußte Handlungsalternative per - nun so definierten
- freiem Willensentschluß zu befolgen. |
Allgemeines
und integratives freies Willensexperiment
Demnach konstruieren wir
folgendes allgemeines Experiment: Gegeben seien o.B.d.A.
die Handlungen H1, H2, H3, H4, H5, H6 und ein Sechser- Würfel W6.
Mit den ProbandInnen wird ausgemacht, daß geprüft werden soll,
ob sie ihre Handlungen so ausführen können, wie sie Wurf um Wurf
ausgewürfelt werden. |
Beispiel Variante 1: Das Handlungsrepertoire ist den ProbandInnen
unbekannt.
Abk |
Ergebnis |
Auszuführende Handlungen |
H1 |
Wurf ergibt 1 |
P macht nichts und verharrt in seiner Stellung. |
H2 |
Wurf ergibt 2 |
P steht auf, geht drei Schritte, wendet, geht zurück und setzt
sich wieder. |
H3 |
Wurf ergibt 3 |
P steht auf und sagt "Guten Tag". |
H4 |
Wurf ergibt 4 |
P steht auf, verläßt für eine Minute den Raum und kehrt
wieder. |
H5 |
Wurf ergibt 5 |
P sucht ein Fehlverhalten, erklärt und erzählt es. |
H6 |
Wurf ergibt 6 |
P steht auf und singt "Froh zu sein bedarf es wenig, denn wer froh
ist ist ein König." |
Beispiel Variante 2: Das Handlungsrepertoire wird nach
Übereinstimmung (Konsensusverfahren) vorher gemeinsam ausgemacht.
Man kann das Handlungsrepertoire zunehmend schwieriger
gestalten, für H5 und H6 etwa durch Zulassen von Zuschauern.
Literatur-
und Linkhinweise
Empirisch-praktisch
orientierte Literaturauswahl zum Themenkomplex Willensfreiheit
Warnung: Das Thema ist traditionell von PhilosophInnen mit Beschlag
belegt. Diese sind aber wegen ihrer meist nicht experimentellen und empirischen
Orientierung weitgehend ungeeignet - Ausnahme z.B. Nikolaus
Tetens - , brauchbare und vernünftige Problemlösungen zu
entwickeln. Das ist eigentlich schade, denn eine experimentelle und empirische
Philosophie könnte eben diese in die Wissenschaft zurückbringen.
Linkauswahl (beachte)
zum Themenkomplex Willensfreiheit im Internet
Anmerkungen und Fußnoten
Heckhausen,
H.; Gollwitzer, P.M. & Weinert, F. E. (1987, Hg.). Jenseits des Rubikon:
Der Wille in den Humanwissenschaften. Berlin: Springer.
___
o.B.d.A. ohne Beschränkung der Allgemeinheit,
Formulierung aus der Mathematik, wenn man sagen möchte, daß
auch andere Beispiele geeignet wären. Konkret muß man natürlich
immer eines wählen. Es könnten auch nur 2 (Münzwurf), 3,
8 oder 12 Handlungen im Handlungsrepertoire enthalten sein. Aus traditionellen
Gründen wurden hier 6 gewählt, da der Standardwürfel - es
gibt auch viele andere - sechs Seiten hat.
___
Gewidmet
dem Antifaschisten und Wollensforscher Heinrich Düker
24.11.1898 Dassel - 8.11.1986 Saarbrücken
|
"Unter Wollen verstehen
wir die Fähigkeit, die zur Erreichung eines Zieles erforderlichen
Vorgänge zu einer Handlung zu koordinieren, zu aktivieren und zu steuern.
Im Wollen erlebt sich das Individuum (Ich) tätig, und zwar als verursachendes
Subjekt seiner Handlung."
In: Düker, H. (1975). Untersuchungen über
die Ausbildung des Wollens. Bern: Huber. Seite 11
Und das zweite wichtige Wollensbuch:
Düker, H. (1983). Über unterschwelliges
Wollen. Göttingen: Hogrefe.
|
Aus Heinrich Dükers Psychologie in Selbstdarstellungen
(S. 60-61)
"Mit Beginn des Jahres 1936 wurde meine akademische Tätigkeit
für zehn Jahre unterbrochen. Ich wurde mit einer Gruppe von Gesinnungsfreunden
im Januar verhaftet und im April 1936 wegen Vorbereitung eines hochverräterischen
Unternehmens zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem
entzog man mir die Venia legendi. Etwa ein Jahr nach meiner Haftentlassung
richtete ich mit finanzieller Unterstützung der Schering AG in Berlin
eine pharmakopsychologische Forschungsstelle ein. Diese leitete ich, bis
ich Ende 1944 gemeinsam mit meiner Frau und zwei Freunden nochmals verhaftet
wurde, und zwar legte man uns den Aufbau einer illegalen Widerstandsgruppe
zur Last. Nach kurzer Untersuchungshaft bei der Geheimen Staatspolizei
in Berlin wurden meine Freunde und ich bis zur Aburteilung in das Konzentrationslager
Sachsenhausen gebracht, während meine Frau in Berlin blieb. Zur Aburteilung
kam es nicht mehr, denn die SS-Stelle, in deren Händen wir waren,
hatte wegen dauernder Fliegerangriffe und dem Näherrücken der
Front Berlin verlassen. Im Mai 1945, durch die Rote Armee befreit und in
einem russischen Lazarett gesundheitlich einigermaßen wiederhergestellt,
machte ich mich auf die Heimreise und traf Ende August 1945 in Göttingen
bei meiner Familie ein. Gleich nach meiner Rückkehr erhielt ich die
Venia legendi zurück und wurde im Herbst 1945 zum außerplanmäßigen
Professor ernannt. Neben meiner akademischen Tätigkeit nahm ich noch
ein Mandat im Rat der von Flüchtlingen überschwemmten Stadt Göttingen
an. Im Herbst 1946 wählte mich der Rat der Stadt zum Oberbürgermeister.
Dieses Amt war ein politisches und nach dem Vorbild des englischen Verwaltungssystems
von der Militärregierung eingeführt worden. Mir kam die Wahl
sehr [60] ungelegen; denn einige Monate vorher hatte ich einen Ruf auf
den Lehrstuhl für Psychologie an die Universität Marburg erhalten
und angenommen. Ich versuchte, neben meinem Göttinger Amt wenigstens
einen Teil meiner Marburger Lehrstuhlverpflichtungen durchzuführen,
was unter den damaligen Verkehrsverhältnissen sehr schwierig war.
Deshalb habe ich nach einem Jahr auf eine Wiederwahl als Oberbürgermeister
verzichtet.
Der Grund für meine aktive Teilnahme am Widerstand
gegen das nationalsozialistische Regime und meine politische Betätigung
ist in meiner Studentenzeit gelegt worden. Ich habe bereits erwähnt,
daß der Göttinger Philosoph LEONARD NELSON auf meine wissenschaftliche
Entwicklung einen starken Einfluß ausgeübt hat. Ich muß
ergänzen: Auch meiner politischen Entwicklung hat er die Richtung
gegeben. Nach NELSON soll die Ethik nicht nur gelehrt, sie soll auch verwirklicht
werden. Ein wichtiges Anwendungsgebiet war für ihn die Politik. Im
ethisch begründeten Sozialismus größtmöglichste persönliche
Freiheit, gleiche Möglichkeiten für alle, gerechte Verteilung
des Sozialprodukts sah er den Weg zur Verwirklichung gerechter Zustände.
Er vertrat, wie PLATON, den Standpunkt, daß der Gebildete sich um
die öffentlichen politischen Angelegenheiten zu kümmern habe.
NELSONS Ideen, die sehr klar und einsichtig begründet waren, beeindruckten
mich sehr. Ich schloß mich daher der politischen Organisation an,
die er zur Verwirklichung seiner Ideen gegründet hatte. Hier war ich
in einem Kreis junger Menschen, die mir wegen ihres hohen moralischen und
politischen Verantwortungsbewußtseins stark imponierten. Diese theoretisch
und praktisch gut ausgebildete Organisation bekämpfte scharf den zur
Macht drängenden Nationalsozialismus. Als dieser 1933 in Deutschland
die Regierung übernahm, wurde unsere Organisation verboten, sie führte
jedoch den Kampf gegen das Regime unter großen Opfern illegal weiter."
Heinrich Düker im Internet (Auswahl)
[URL Adressen ohne Weiterleitung entlinkt]
PI Uni Göttingen: [URL Adresse ohne Weiterleitung entlinkt]
Biographie: [URL Adresse ohne Weiterleitung entlinkt]
Heinrich-Düker-Preis des Kepler-Seminars für Naturwissenschaften
2004: [URL Adresse ohne Weiterleitung entlinkt]
Studentenwohnhaus: https://www.studentenwerk-goettingen.de/wohnen/wohnobjekte/campus-2/dueker.php
L. Tent (Hrsg.): Heinrich Düker. Ein Leben für die Psychologie
und für eine gerechte Gesellschaft
Band 1: https://www.pabst-publishers.de/Psychologie/Buecher/neuersch/buchn11a.htm
Querverweis: Antifaschistische Psychologen im 3. Reich: Wolfgang
Köhler
Anmerkung RS: Das scheint inzwischen,
Stand 2004, Realität zu sein, wie man dem Symposion Turmdersinne
"Freier Wille - frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit"
(1.-3.10.2004, Nürnberg) entnehmen kann. Biologen, Neurologen,
"NeurocientologInnen" (Kritik
am Beispiel LeDoux), Neurobiologen, Philosophen, Juristen, KognitionswissenschaftlerInnen,
Informatiker, Techniker, Computerspezialisten, CpmputerinteilligenzlerInnen
u.a.m. bilden eine riesige Fraktion von Wissenschaftlern, die ihr ganzes
wissenschaftliches Leben noch nie einen Menschen richtig exploriert haben,
noch nie einen psychologischen Begriff richtig operationalisiert haben,
noch nie ein psychologisches Experiment geplant, durchgeführt und
ausgewertet haben schicken sich an, so im Vorübergehen über bewußt
sein, brauchen-bedürfen, wollen, wünschen, denken, vorstellen,
entscheiden, entschließen, wahrnehmen, fühlen, planen, selbst
organiseren (lenken), empfinden usw. ihre laienhaften und alltagspsychologischen
Phantasien als letzte kopernikanische Wahrheiten zu verkünden.