Zur Theorie und Praxis des Sachverständigengutachtens
der Geschäftsunfähigkeit
Konzepte der Geschäftsunfähigkeit in Psychologie
und Psychopathologie
Kritik einiger psychiatrischer Simplizitätsannahmen
u.a. belegt an der Rechtssprechung
Mindestanforderungen für Geschäftsfähigkeitsgutachten
nach den Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten.
Angepasst und übertragen
von Rudolf Sponsel.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Querverweise
Betreuung und Geschäftsfähigkeit
(23.2.12)
Übersicht
Die Begrifflichkeiten und Probleme zum Fragenkomplex eines die freie
Willensbestimmung ausschließenden Zustandes krankhafter Störung
der Geistestätigkeit sind ausgesprochen vielfältig schwierig.
Es erscheint daher angesichts der äußerst schwierigen Materie
geboten, die Fundamente für ein Geschäftsunfähigkeits-Gutachten
nachvollziehbar zu entwickeln und darzulegen.
§ 104 Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht
das siebente Lebensjahr vollendet hat; 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender
ist.
§ 105 (1) Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. (2) Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewußtlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird. |
Begrifflichkeit: zur Sprach- und Definitions-Problematik der Geschäfts-un-fähigkeit in Alltag, Wissenschaft, Gesetz und Recht
Worte sind Homonyme
und bedeuten, auch wenn sie die gleiche Zeichen- oder Lautgestalt haben,
meist Unterschiedliches. Das gilt nicht nur für die offenkundigen
Homonyme.
Beispiel. Das Wort „Star" bedeutet eine Augenkrankheit, einen Vogel und eine öffentlich oder in einem bestimmten sozialen Kontext für bedeutsam erachtete Persönlichkeit. „Bremse" bedeutet Insekt, Geschwindigkeitshemmvorrichtung oder übertragen eine Handlung, die hindert, hemmt, verlangsamt. Das Wort „Geistesstörung" bedeutete in BGB § 6 - durch das Betreuungsgesetz inzwischen aufgehoben - etwas anderes als in BGB § 104. In der Psychiatrie, Psychopathologie, Psychotherapie und Psychologie bedeutet es wiederum Vielfältiges. |
Was jeweils gemeint ist, muß oft mühsam aus dem Kontext erschlossen werden. Das ist eine unerschöpfliche Quelle für Mißverständnisse, Auseinandersetzungen und unaufhörlichen Streit. Sicher müssen Gesetzgebung und Rechtsprechung der potentiell unendlichen Mannigfaltigkeit alles Lebendigen, dem ständigen Wechsel und Wandel des Soziallebens und der Entwicklung in den Wissenschaften Rechnung tragen durch Flexibilität ihrer Begriffe und normativen Regeln.
So auch stellt auch Zippelius, R. (1974). Einführung in die juristische Methodenlehre, Abschnitt "Logischer Kalkül und Datenverarbeitung im Recht". München: C. H. Beck auf S. 113f fest: "Übrigens ist es sehr zweifelhaft, ob man - selbst dann, wenn es möglich wäre - eine völlig exakte Rechtssprache anstreben sollte. Es ginge nämlich mit dem Bedeutungsspielraum auch die Elastizität der Rechtsnormen, also die Anpassungsfähigkeit der generellen Normen an die Vielgestaltigkeit der konkreten Umstände verloren."
Das ist die eine sicherlich richtige Seite der Medaille. Im Rechtswesen haben die Worte manchmal aber nicht nur eine völlig verschiedene Bedeutung vom Sprachgebrauch im Alltag und in den Fachwissenschaften, sondern sie bedeuten in verschiedenen Rechtskontexten nochmals Unterschiedliches oder sind inhaltlich wenig oder nur teilweise bestimmt.
Beispiele: Geistesstörung, tiefgreifende Bewußtseinsstörung, Kindeswohl, schuldfähig, freie Willensbestimmung. Zur Problematik der Terminologie in der Jurisprudenz: Engisch, K. (5.A. 1971, Kapitel VI, S. 106-133). Ihm zufolge herrscht noch nicht einmal über die methodologischen Begriffe, also die Metasprache der Terminologie, Klarheit oder Einigkeit. |
Der Geschäftsunfähigkeitsparagraph BGB § 104 ist hier ein ganz besonders typisches Beispiel. Das ist natürlich eine Quelle für Rechtsunsicherheit bis hin zur Willkür. Das ist die - schwer erträgliche - andere Seite der Medaille. Es erscheint mir daher notwendig, die Begrifflichkeiten klar darzulegen.
Hinzu kommt noch die für viele verwirrende und schwer verständliche juristische Wert-Funktion: Ein Sachverhalt mag alltäglich und auch in den damit befaßten empirischen Wissenschaften klar sein, etwa, daß jemand mit minderer intellektueller Fähigkeit komplizierte Geschäfte nicht überblicken (relative Geschäftsunfähigkeit) und daher jederzeit von entsprechend skrupellosen GeschäftemacherInnen hereingelegt werden kann - relative Geschäftsunfähigkeit genannt - was aber juristisch keine Rolle spielt. Nicht weil die JuristInnen dies nicht auch so sehen würden. Sie sehen das sachlich und empirisch ähnlich wie die meisten Menschen oder empirischen WissenschaftlerInnen, aber sie sagen, daß sie aus Gründen der Rechtssicherheit eine relative Geschäftsunfähigkeit juristisch nicht anerkennen (Wert-Funktion) wollen. Die negativen Folgen für die Rechtssicherheit wären weit schädlicher als der Gewinn.
Kritische Anmerkung: So mancher stellt sich hier die Frage: Wird hier nicht ein Sozialdarwinismus, bei dem die Schwachen auf der Strecke bleiben, bevorzugt und weitergehend noch: Wenn die Intelligenten, Rücksichtslosen und Starken faktisch recht bekommen, wozu braucht man dann noch das Recht? Es ist einfach falsch, zu behaupten, die intellektuelle Fähigkeit oder die Schwierigkeit eines Rechtsgeschäftes sei nicht genügend sicher zu bestimmen. Zwar ist richtig, daß die Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie methodisch viel zu wünschen übrig lassen, aber gerade auf dem Gebiet der intellektuellen Leistungsdiagnostik ist die Psychologie am weitesten entwickelt und am wenigsten unsicher. Ich habe auch nicht den geringsten Zweifel, daß JuristInnen sehr wohl und hinreichend sicher befähigt sind, die Komplexität, Kompliziertheit und Schwierigkeit von Rechtsgeschäften zu beurteilen. Das ist ja häufig ihr täglich Brot. Es ist daher zu bedauern, daß sich Gebauers Vorschlag (1954) nicht durchsetzen konnte: „Geschäftsunfähig ist, wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewußtseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln" (Archiv für die civilistische Praxis, 153. Bd., S. 363)
Abb. Die
drei Dimensionen der Geschäfts-un-fähigkeit: Totale, Partielle,
Relative
mit den Zeitdimensionen andauernd oder vorübergehend
Halten wir
fürs Erste fest, worauf es bei der juristischen Wertung ankommt:
|
Richtungsweisende juristische Bestimmungen und Orientierungen für das psychologisch- psychopathologische Sachverständigengutachten
Geistesschwäche und inhaltliche Kriterien zur Willensbeeinflussung
Sekundär-Quelle: RGZ 130, S. 71 [1931]
“... ob also ‘gegenüber ihren verschiedenen Vorstellungen und
Empfindungen eine vernünftige Überlegung und Selbstentschließung
darüber stattfand, was im einzelnen Falle als das Richtige zu tun
war, oder ob nicht infolge der Geistesschwäche die damaligen Vorstellungen
und Empfindungen derart übermäßig ihren Willen beherrschten,
daß die Bestimmbarkeit des Willens durch vernünftige Erwägungen
ausgeschlossen war’ (RGZ. Bd. 103 S. 400).”
Kritischer Zwischenkommentar Sponsel:
Diese Annahme ist empirisch, sachlich und fachlich falsch wie ja auch die anderweitig höchstrichterlich anerkannte partielle Geschäftsunfähigkeit beweist. Sie widerspricht auch allgemeiner Erfahrung, wonach Menschen in manchen Belangen sehr kompetent, sehr umsichtig, sehr erfolgreich handeln können und auf anderen Gebieten völlige Inkompetenz, keinerlei Umsicht und Erfolg zeigen können. In der Psychopathologie zeigen sich solche Phänomene z. B. bei QuerulantInnen, überwertigen IdeenträgerInnen, in Hörigkeitsverhältnissen oder in besonderen sozialen Ausnahme-Situationen. |
Eine allgemein auf besonders schwierige Rechtsgeschäfte
beschränkte Geschäftsunfähigkeit kann daher grundsätzlich
nicht anerkannt werden. Eine Person, die in der Lage ist, ihren Willen
frei zu bestimmen, deren intellektuelle Fähigkeiten aber nicht ausreichen,
um bestimmte schwierige rechtliche Beziehungen verstandesmäßig
zu erfassen, ist deswegen noch nicht geschäftsunfähig. Es muß
ihr vielmehr überlassen bleiben , auf welche Weise sie mit besonderen
Lagen fertig werden will. Wenn sie sich dem Rat einer dritten Person fügt,
so ist dies aufgrund einer vernünftigen freien Willensentschließung
geschehen, sie steht dann auch insoweit nicht unter einem ihre eigene Willensfreiheit
ausschließenden Einfluß eines anderen.
Der entgegengesetzte, vom Berufungsgericht vertretende
Rechtsstandpunkt, der insoweit eine partiell
beschränkte
Geschäftsunfähigkeit annimmt, würde zu einer für den
Rechtsverkehr schwer erträglichen Rechtsunsicherheit führen.
Es läßt sich dann keine klare Grenze zwischen Geschäftsfähigkeit
und Geschäftsunfähigkeit ziehen. Schon die geistigen Fähigkeiten
einer Person werden von verschiedenen BeurteilerInnen je nach den Anforderungen,
die sie stellen, unterschiedlich beurteilt. Außerdem ist der Schwierigkeitsgrad
einzelner Rechtsgeschäfte unbeschadet ihrer typischen rechtlichen
Merkmale durchweg sehr unterschiedlich.”
Keine relative Geschäftsunfähigkeit.
Abgrenzung partielle und Grundsätzliches
Primär-Quelle: BayObLG, Beschluß v. 24.11.1988 - BReg.
3 Z 149/88. Sekundär-Quelle: NJW 1989, 1678 (Normenkette: FGG §
57 I Nr. 3; BGB § 104 Nr. 2)
Von der Redaktion der NJW gebildeter Leitsatz: “Geschäftsunfähigkeit
kann für einen bestimmten Bereich oder eine bestimmte Angelegenheit
gegeben sein (sogenannte partielle Geschäftsunfähigkeit); hingegen
gibt es eine Geschäftsunfähigkeit nur für besonders schwierige
Geschäfte (sogenannte abgestufte - relative - Geschäftsunfähigkeit)
nicht.”
Das BayObLG führt grundsätzlich aus: “Geschäftsunfähigkeit
ist gegeben, wenn sich ein Betr. in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden,
nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit
befindet (§ 104 Nr. 2 BGB). Dabei ist neben den Fähigkeiten des
Verstandes vor allem auch die Freiheit des Willensentschlusses von Bedeutung.
Es kommt darauf an, ob eine freie Entscheidung auf Grund einer Abwägung
des Für und Wider, eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden
Gesichtspunkte möglich ist, oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung
nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Betr. fremden Willenseinflüssen
unterliegt oder die Willensbildung von unkontrollierten Trieben und Vorstellungen
ähnlich mechanischen Verknüpfungen von Ursache und Wirkung bestimmt
wird (vgl. BayObLGZ 1986, 338 (339) m. w. Nachw.). Diese Grundsätze
gelten auch, wenn sich die Geschäftsunfähigkeit auf die Erledigung
einer einzelnen Angelegenheit beschränkt, also die freie Willensbestimmung
und die Einsichtsfähigkeit nur auf einem bestimmten Gebiet ausgeschlossen
sind und es sich gerade um eine Angelegenheit auf diesem Gebiet handelt
(partielle Geschäftsunfähigkeit; BayObLGZ 1986, 214 (215 f.)
m. w. Nachw.). Der Betr. muß danach, soweit es um diese Angelegenheit
geht, auf Grund einer geistigen Störung nicht imstande sein, seinen
Willen frei und unbeeinflußt von ihr zu bilden und nach zutreffend
gewonnenen Einsichten zu handeln. Ausschlaggebend für eine solche
Beurteilung sind auch dabei [dabei] nicht so sehr die Verstandesfähigkeiten
eines Betr., sondern vor allem die fehlende Freiheit der Willensbildung
auf einem bestimmten Gebiet (vgl. BGH, WM 1984, 1063 (1064)). Da es somit
bei der Geschäftsfähigkeit vorrangig auf das Willensmoment und
weniger auf die intellektuellen Fähigkeiten ankommt, reicht es für
die Annahme von Geschäftsunfähigkeit regelmäßig nicht
aus, wenn ein Betr. die wirtschaftliche Tragweite vermögensrechtlicher
Entscheidungen nicht voll zu ermessen vermag. Es ist vielmehr darauf abzustellen,
ob die Willensentscheidung des Betr. in einem sinngesetzlichen Zusammenhang
noch normal motiviert ist oder nicht; wer unklug und kurzsichtig handelt,
muß noch nicht geschäftsunfähig sein (vgl. Schumann-Lenckner,
in: Göppinger- Witter, Hdb. der forensischen Psychiatrie I, S. 292
f.). Eine abgestufte (relative) Geschäftsfähigkeit in dem Sinne,
daß eine Person für besonders schwierige wirtschaftliche Entscheidungen
geschäftsunfähig, für einfachere jedoch geschäftsfähig
wäre, wird - anders als bei der verminderten Schuldfähigkeit
im Strafrecht - von Rechtsprechung und Literatur für das Zivilrecht
und die Freiwillige Gerichtsbarkeit nicht anerkannt (BGH, WM 1975, 1280;
Staudinger-Dilcher, BGB, 12. Aufl., § 104 Rdnr. 23; Krüger=Nieland,
in: RGRK, 12. Aufl., Rdnr. 19; Soergel-Hefermehl, BGB, 12. Aufl., §
104 Rdnr. 7; Palandt-Heinrichs, BGB, 47. Aufl., § 104 Anm. 3 m. w.
Nachw.). Für eine bestimmte, gegenständlich abgrenzbare Angelegenheit
kann daher ein Betr. immer nur insgesamt geschäftsunfähig oder
geschäftsfähig sein. ...”.
“Ein Ausschluß der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen. Substantiiert dargelegt ist ein solcher Ausschluß nach allgemeinen Grundsätzen, wenn das Gericht auf der Grundlage des Klägervorbringens zu dem Ergebnis kommen muß, die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB lägen vor. Auf die Wahrscheinlichkeit des Vortrags kommt es nicht an.” |
Konzepte der Geschäftsunfähigkeit in Psychologie und Psychopathologie
Fragen der Geschäftsfähigkeit sind meist eine Sachverständigen-Domäne der Psychiatrie, was insofern verwundert, als die Psychiatrie im Grunde nie eine allgemeine und differentielle Psychologie (= Persönlichkeitspsychologie) betrieben und vorgelegt hat und ihr das normalpsychologische Fundament fehlt. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsprechung und zog eine Reihe kritikwürdiger Fehlentwicklungen nach sich.
Auseinandersetzung mit für falsch befundenen veralteten biologisch orientierten psychiatrischen Grundauffassungen:
Landgerichtsarzt K. von Oefele (1996, S. 545) schreibt
(1): „Die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit setzt eine eingehende
psychopathologische Fallanalyse unter Berücksichtigung und kritischer
Würdigung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen voraus.“
Bedeutet in diesem Zusammenhang psychopathologisch eo ipso auch psychologisch,
kann ich dieser Begutachtungsleitlinie zustimmen. Nicht zustimmen kann
ich seinem Theorem (2): „Nur schwerwiegende psychische Ausfallerscheinungen
können die freie Willensbestimmung aufheben.“ Diese Auffassung ist
sicher grundfalsch:
Dieses Theorem versucht die Frage der freien Willensbestimmung durch die Erhebung oder Feststellung schwerwiegender psychischer Ausfallerscheinungen zu ersetzen. Das ist weder vom Gesetzgeber und der Rechtsprechung gemeint oder gewollt noch zulässig. Im übrigen wird hier grundlegend verkannt, daß der - auch vorübergehende - Ausschluß der freien Willensbestimmung eine schwerwiegende psychische Ausfallerscheinung ist und zwar völlig unabhängig vom Schweregrad einer zusätzlichen oder bedingenden anderen psychischen Erkrankung. |
Die Psychiatrie versuchte sehr häufig, es sich einfach zu machen, indem sie sich auf die Erhebung und evtl. quantitative Feststellung einer körperlich begründbaren psychischen oder die Psyche betreffenden Erkrankung beschränkt, also z. B. etwa nach dem einfachen Strickmuster vorgeht: Schizophrenie ja - geschäftsunfähig ja oder: Manie ja - geschäftsunfähig ja. Dieses Vorgehen ist nicht nur sachunangemessen - und damit ein Sachverständigenkunstfehler - und geht an der eigentlichen Aufgabe vorbei, es enthält darüber hinaus auch ein interpretatives und falsches Dogma, wonach der Ausschluß der freien Willensbestimmung immer die Folge einer - anderen - Erkrankung ist, sein muß oder sollte. Hiermit wird von vorneherein die Möglichkeit einer reinen Willenserkrankung ausgeschlossen, wie es der ursprüngliche Gesetzestext als Möglichkeit zuläßt.
Der Gesetzestext BGB 104, 105 läßt tatsächlich offen - und das ist gut so -, ob der die freie Willensbestimmung ausschließende Zustand für sich allein schon als krankhafte Störung der Geistestätigkeit anzusehen ist oder durch eine andere Erkrankung hervorgebracht wird. In jedem Falle ist der Gesetzestext aber eindeutig, daß, falls die freie Willensbestimmung ausgeschlossen werden kann, dies auch schon für sich allein als ein Zustand krankhafter Geistesstörung anzusehen ist. Ich möchte jedenfalls eine primäre (originäre) Willenserkrankung nicht vorweg ausschließen.
Die traditionelle Psychiatrie hat ja auch für diesen, den die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand einer krankhaften Geistesstörung einen eigenen Fachbegriff - die Abulie - geschaffen, der auch gar nicht an eine körperliche Grunderkrankung gebunden ist, wenn zugestanden wird, daß Abulie z. B. auch bei „Hysterie“ oder „Psychasthenie“ vorkommen kann.
Da Krankheiten sowohl vom Kenntnisstand der Wissenschaft als auch von mehr oder minder zufälligen jeweiligen Machtverhältnissen und sogar von modeartigen Erscheinungen abhängen, wäre es wohl ein juristischer Kunstfehler, den Ausschluß der freien Willensbestimmung an bekannte oder diagnostizierbare Krankheitsetikette zu binden. Es ist ja nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich daß viele Erkrankungen - noch - nicht richtig erkannt oder - noch - nicht richtig zugeordnet sind. Psychologisch und psychopathologisch ist es daher von entscheidender Bedeutung, weniger Bedingung und Umfeld des Ausschlusses der freien Willensbestimmung zu erforschen, als diese selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Entscheidend kann grundsätzlich nicht sein, ob und welche Art der Hintergrund-, Grund-, Neben- oder Begleiterkrankung vorliegt, sondern die Kern- und Gretchenfrage der Beweiserhebung kann und muß immer lauten: ist die freie Willensbestimmung ausgeschlossen? Und das ist bei Bejahung eo ipso immer ein krankhafter Zustand.
Dieser meiner Interpretation entspricht auch die neuere obergerichtliche Rechtsprechung sowohl im Hinblick auf das, was ein psychologisch- psychopathologisches Sachverständigengutachten zu leisten hat, als auch im Hinblick auf die Weiterentwicklung vernünftiger Kriterien und Leitsätze, denen ich mich nun zuwenden möchte.
Die aktuellen rechtlich verbindlichen Leitsätze nach dem BGH Urteil vom 5.12.1995
Entscheidende Bedeutung kommt der psychologisch-psychopathologischen
Auslegung der relativ unbestimmten Begriffe „freie Willensbestimmung“ einerseits
und „Geistesstörung“ andererseits zu.
Es sind rechtlich nur vage inhaltlich bestimmte Begriffe, bei denen meiner
Meinung nach nur die Richtung der Beachtlichkeit angezeigt ist. Die neuere
Rechtsprechung des BGH vom 5.12.1995 hebt hierbei auf folgende zentrale
Kriterien ab:
|
Wir übersetzen uns Zug um Zug den BGH-Text in die Terminologie der Psychologie und Psychopathologie.
Wille. Zunächst einmal ist festzustellen, daß das juristische Wort „Wille“ im Sinne des psychologischen Begriffes von Selbst-Lenkung und damit Selbstbestimmung zu verstehen ist. Auch der Begriff der Steuerungsfähigkeit oder noch besser der Selbststeuerung zeigt in diese Richtung. Der psychologisch enge Begriff des Willens bedeutet gewöhnlich einen Wunsch, der mit Energie besetzt und zur Realisation ausgewählt und hingelenkt wird. Motive, Wünsche, Interessen, Neigungen, Strebungen werden zu einem Wollen durch Auswahl, Energiezuweisung und Lenkung zur Realisation. Der Mensch wünscht oder mag vieles, aber nur wenige Wünsche werden zu einem Wollen. Ich gehe unten - bei der Erörterung der Erkrankungen des Selbst-Lenkungs-Systems - noch einmal auf den Willen im engeren psychologischen Sinne ein.
Noch eine Bemerkung: Der Handlungsbegriff in der Psychologie wird gewöhnlich vom Verhaltensbegriff unterschieden durch eben die Bewußtheit und die Zielgerichtetheit. Handeln in der Psychologie ist gewöhnlich bewußtes, zielgerichtetes Handeln, während Verhalten meist nicht bewußt gewollt, sondern eher automatisch oder halb-automatisch geschieht als individuelles Widerfahrnis.
Geistesstörung. Das juristische Wort Geistesstörung bedeutet ganz allgemein Bio-Psycho-Soziale Störung und meint keine rein geistige, mentale, kognitive Störung des Verstandes oder Geistes. Betroffen und gemeint können auch die affektiven Systeme (Bedürfnisse, Antrieb oder Energie und die Gefühle und Stimmungen) sein, aber auch die Wahrnehmung oder das Lenkungssystem selbst. Jede Art von psychischer Störung, sei sie nun körperlich („hardware“), seelisch („software“) oder sowohl körperlich als auch seelisch bedingt, aus sich heraus, von innen her (endogen) oder durch äußere Einflüsse (exogen) entstanden.
Exkurs Anfang: Allgemeines Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell
Im allgemeinen Modell wird von einem Systemstörungsmodell ausgegangen, bei dem wir folgende Entwicklungsstadien unterscheiden: 1) Ursachen, Bedingungen und Auslöser der Störung. 2) die Bewertung einer Störung als Krankheit. Zum Wesen der Krankheit definiert man zweckmäßig wenigstens eine - wichtige - (Funktions-) Störung (1932 -Gustav von Bergmann [1878-1955]). 3) unterschiedliche Auswirkungen (lokale, zentrale, allgemeine, spezielle) der Störung. 4) Erfassen und Informationsverarbeitung der Störung und 5) aus Wiederherstellungsprozeduren: die Auseinandersetzung zwischen den Kräften der Störung und der Heilung. Störungen können exogener (außerhalb des Systems) oder endogener (innerhalb des Systems) Natur sein. Störungen haben im allgemeinen Ursachen, womit sich in der allgemeinen Krankheitslehre die Ätiologie beschäftigt. Entwickelt sich eine Störung in der Zeit, wie meistens, heißt dieser Vorgang Pathogenese. Unklar ist meist der Symptombegriff, der eine dreifache modelltheoretische Bedeutung haben kann: 1) es ist ein Zeichen der Störung (z. B. körperlich: bestimmte Antigene im Körper; z. B. psychisch: Angst); 2) es ist ein Zeichen der Spontanreaktion auf die Störung (z. B. körperlich: bestimmte Antikörper gegen die Antigene; z. B. psychisch: Vermeiden); 3) es ist ein Zeichen der Wiederherstellungsprozedur, also Ausdruck des “Kampfes” zwischen Krankheit und Heilungsvorgängen (körperlich z. B. Fieber; z. B. psychisch: Ambivalenzkonflikt zwischen Vermeiden und Stellen).
Nach zutreffend gewonnenen Einsichten handeln. Es genügt also nicht, eine Einsicht zu haben, sie muß auch noch zutreffen, also richtig sein. Mit anderen Worten, man muß zu richtigen Einsichten gelangen können. Verhindert eine biopsychosoziale Störung - die auch die Einsichtsfähigkeit unmittelbar selbst betreffen kann - richtige Einsichten, so kann die freie Selbstlenkung oder Selbstbestimmung nicht mehr möglich sein. Wichtig ist zudem, daß gehandelt werden kann. Es genügt also nicht nur, daß zutreffende Einsichten gebildet werden, man muß auch nach ihnen handeln können, was z. B. bei Störungen z. B. des Antriebs-, Gefühls- oder Motivationssystems verunmöglicht sein kann.
Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte. Dieses Kriterium ist empirisch und theoretisch sehr gut für Willens- und Selbst-Lenkungsprozesse in der Psychologie belegt und entspricht damit sowohl allgemeiner als auch klinischer Erfahrung und dem aktuellen Erkenntnisstand (1999) der psychologisch- psychopathologischen Wissenschaften. Hier handelt es sich nun ganz eindeutig um Kriterien, bei denen der Vernunft- und Verstandesbereich eine wichtige Rolle spielt, aber nicht nur, wie die Formulierung nahelegen könnte. Für alle Selbst-Lenkungsprozesse ist die psychologische Grundfunktion des Wertens (bewerten) ganz entscheidend.
Daher stellt sich an dieser Stelle die Frage: was bedeutet psychologisch werten? Dies ist für die Selbst-Lenkung sehr wichtig, weil der Mensch sich nur richtig selbst lenken, seinen Willen also frei bestimmen kann, wenn seine psychologische Grund-Funktion werten (bewerten) intakt ist.
Psychologie der Werte und des Wertens (Bewertens)
Einführung: Alltägliches Werten
Werten tun wir gewöhnlich mit Formulierungen und Worten wie: (1) Das ist mir die Sache wert! (2) Das ist gut, (3) Das schmeckt mir aber, (4) Das ist doch beschissen! (5) Das ist aber schön! (6) X, z. B. Gesundheit, ist ein hohes Gut. (7) Das ist sehr wertvoll. (8) Das ist doch nur billiger Ramsch. (9) Das genügt mir nicht. (10) Jetzt ist es aber zu viel! Es reicht! (11) Nein, das paßt mir nicht! (12) Das gefällt mir sehr gut. (13) Das mag ich gar nicht. (14) Das ist mir sehr wichtig. (15) Das ist mir egal, “wurst”, gleichgültig.
Wie ist nun das Verhältnis zwischen “normalen”, gewöhnlichen
Aussagen oder Urteilen und Wertungen? Betrachten wir hierzu wieder ein
paar Beispiele:
Sachliche Aussage (“Urteil”)
(1a) Da steht ein Gasthaus. (2a) Er hat den Gegenstand X mitgenommen. (3a) Ich fühle Angst. (4a) Ich fühle mich krank. (5a) Ich kann ohne Liebesbeziehung nicht leben (6a) Meine Fühlfähigkeit ist sehr gering.
|
Wertung (Werturteil)
(1w) Wie gut, daß da ein Gasthaus ist. (2w) Er hat X zu Unrecht entwendet. (3w) Ich mag es nicht, Angst zu fühlen. (4w) Ich bin nicht gern krank. (5w) Ohne Liebesbeziehung fühle ich mich wertlos und schlecht. (6w) Ich leide unter meiner mangelnden Fühlfähigkeit. |
Wir sehen an diesen Beispielen, daß manche Aussagen wie Wertungen anmuten, daß man klare und eindeutige Wertungen aber an bestimmten Formulierungen und Worten wie gern, gut, schlecht, mögen, nicht gefallen, ablehnen, zu Recht, zu Unrecht, richtig, falsch usw. erkennen. Welche Werte kennen wir?
Es gibt im Prinzip unendlich viele Werte, aber grundsätzlich kann man psychologisch drei große primäre Wertklassen unterscheiden:
Primäre Werte (ursprüngliche,
unmittelbare):
+
Positive Empfindungen, Gefühle, Stimmungen
- Negative Empfindungen, Gefühle, Stimmungen o neutrale oder abwesende Empfindungen, Gefühle, Stimmungen |
Aus den drei elementaren Primärwertungen kann eine praktisch sehr wichtige Gruppe, die zwiespältigen, doppel-, mehrwertigen oder ambivalenten Wertungen abgeleitet werden.
a Ambivalente Empfindungen, Gefühle, Stimmungen
Sekundäre Werte (abgeleitete, mittelbare) oder Wünschbarkeiten sind:
Ereignisse, Zustände, Dinge, Eigenschaften, die von primären
Werte begleitet werden, solche hervorrufen, erwarten lassen oder sonstwie
mit ihnen in Zusammenhang gebracht werden.
Allgemeine psychologische Definition des Wertens:
Primär werten bedeutet Empfindungen, Gefühle, Stimmungen erleben und dem Ereignisstrom (richtig) zuordnen können.
Sekundär werten bedeutet psychologisch Wünschbarkeiten (richtig) erkennen oder zuordnen können.
Psychologisch-Realistisches Mikro-Wertmodell im praktischen
Leben
Wertungen haben häufig vielfältige Entstehungs- und Einflußquellen. Wir mögen einen Menschen nicht nur, dieses oder jenes an ihm gefällt uns nicht so sehr und von manchem wissen wir gar nichts, anderes ist uns gleichgültig. Ein hohes Einkommen hat nicht nur angenehme Aspekte, die zahlreichen Pflichten und Extras, der Streß und der ständige Kampf um die Selbstbehauptung, die mit dem hohen Einkommen verbunden sein mögen, trüben die Annehmlichkeit möglicherweise mehr oder minder. Wir denken uns daher eine Wertung quantitativ aus Elementen zusammengesetzt. Je nach Zusammensetzung ergibt sich eine positive, negative, neutrale oder ambiva lente Wertung. |
Man versteht die Psychologie der Werte und des Wertens (Bewertens) besser,
wenn man sie in die vielfältigen Werte und Wertungen des alltäglichen,
kulturellen und wissenschaftlichen Lebens einordnen kann. Ich möchte
die Betrachtung des psychologischen Wertens, das für die Beurteilung
des Abwägens des Für und Widers bei freien Selbst-Lenkungs- bzw.
Willensentscheidungen so wichtig ist, daher mit einer Werte-Beispiels-Übersicht
abschließen:
Psychologisch-Psychopathologische Einflußmodelle
Bio-Psycho-Sozialer Störungen
auf die Selbst-Lenkung und freie Willensbildung
Das traditionell und aktuell schwierigste Kriterium oder Merkmal betrifft die von der bio-psycho-sozialen Störung freie und unbeeinflußte Willens- oder Selbst-Lenkung. Denn, das ist hier wie ehedem die Gretchenfrage, was heißt nun frei und neuerdings gar unbeeinflußt?
Es empfiehlt an sich an dieser zentralen Stelle einige Beispiele zur Klärung heranzuziehen.
Bsp-01 (Steckdose). Ich hatte vor einiger Zeit einen Jungen zu einer diagnostischen Untersuchung in meiner Praxis, der früher unter Stimmen hören litt, die ihm böse Sachen sagten. Unter anderem sagte eine böse Stimme, daß er seine Hand in die Steckdose stecken solle, was er dann aber - glücklicherweise - doch nicht tat. Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine bio-psycho-soziale Störung (Verdacht auf kindliche Psychose). Wie ist es hier mit der Freiheit und Unbeeinflußtheit bestellt? Denken wir 10 Jahre weiter. Aus Scherz sagt zu dem jungen Mann jemand, er soll doch mal in die Steckdose langen, um zu sehen, ob er den “Kitzel” aushält. Der junge Mann stößt einen Schrei aus und geht dem Scherzenden so an die Kehle, daß dieser schwer verletzt wird. Kein Mensch der Umgebung versteht dies, alle sind entsetzt, ratlos, ja der junge Mann versteht zunächst selbst gar nicht was geschehen ist. Verantwortlich? Schuldig? Schuldunfähig? Vermindert schuldfähig? Verlassen wir das Gelände des Strafrechts und kehren wir zum BGB zurück. Nehmen wir an, der junge Mann arbeitet in einem großen Konzern und ist inzwischen auch für den Einkauf von Steckdosen zuständig. Aus unerklärlichen Gründen geht hier immer etwas schief, so daß ein größerer Schaden entsteht, für den er haftbar gemacht werden soll. Mehr oder minder zufällig findet nun der Sachverständige heraus, daß es diesen Zusammenhang gibt. Es liegt nun für dieses Beispiel sehr nahe anzunehmen, daß hier keine Verantwortlichkeit gegeben ist. Weitergehend können wir sicher sagen, daß der Betreffende bis zur Heilung dieses Traumas, von dem er gar nichts mehr wußte, in allen Angelegenheiten, die mit Steckdosen zu tun haben, partiell geschäftsunfähig ist.
Was lehrt uns dieses Beispiel Bsp-01 aus Realität und Phantasie?
Bsp-02 Blaue Manchesterhose. “Einem Knaben, der in der Blütezeit der frühkindlichen Inzestbindung immer blaue Manchesterhosen trug und der sich in diesem Bild, d. h. in der Identifikation mit der Mutter, selbst so liebte, wie sie ihn liebte, drückte die Mutter eines Tages diese blauen Manchesterhosen, als er sie mit Urin naß machte, ins Gesicht. Folge: Fetischismus, Homosexualität, Lustmordversuch im Alter von 24 Jahren an einem Knaben, der blaue Manchesterhosen trug. ... Der Täter (...) hatte sich, angeregt durch eine Zeitungsnotiz über einen Lustmord - vorgenommen, einen Knaben zu töten, der als ‘Liebesbedingung’ eine ‘blaue Manchesterhose’ tragen mußte. Besessen von dieser Idee irrte er vor der Tat in der Gegend eines Schulhauses herum und suchte nach einem solchen Knaben, den er dann auch fand”.
Bsp-03 (Aufmerksamkeits-Deficit-Hyperactivity-Disorder ADHD und Zyklothymer hypomaniformer Prozeß). Jemand leide an heftigen Impulsen, Ungeduld und tue sich schwer mit Konzentration, Planung und Ordnung gepaart mit heftigen Stimmungsschwankungen, aber auch Phasen voller Schwung und Überoptimismus. Das Zusammentreffen von Impulsivität und hypo-maniformer Stimmung habe zu hektischer Geschäftsaktivität und einer Reihe völlig unüberlegter Geschäftsabschlüsse geführt, die schließlich in den wirtschaftlichen Ruin führen. Nun stellt sich die Frage: war die Person in diesem Zeitraum geschäftsunfähig? Das besonders Tückische und Schwierige an Bsp-03 ist die scheinbar leichte Manifestation. Vielen Menschen, selbst einer Reihe von Heilkundigen würde die Person nicht unbedingt als “krank” erscheinen. Hypomanie - die Weltgesundheitsbehörde WHO definierte kurioser- und fälschlicherweise den euphorischen Typ davon als Gesundheit - bedeutet wörtlich Unterhalb der Manie, also eine zwar merkliche, aber nicht starke Ausprägung der “Manie”.
Was heißt nun “Einfluß”, “beeinflußt”?
Die Formulierung des BGH Urteils vom 5.12.1995 (siehe oben) legt nahe, daß ein sehr realistisches, mit der Alltags-, Klinischen und Facherfahrung im Einklang stehendes Kriterium juristisch akzeptiert wurde: die Beeinflussung. Gebe ich in ein Glas Wasser etwas Süßstoff, so ist es immer noch Wasser, aber süßlich schmeckendes Wasser. Gebe ich etwas Zitronensaft hinzu, dann schmeckt es nach Zitrone. Gewürze sind ein gutes Beispiel für den Einfluß. Das Fleisch bleibt das gleiche, aber es kann so oder so gewürzt sein, so daß wir gut sagen können: Würzen beeinflußt den Geschmack mitunter erheblich, aber kaum den Nährwert. Dies führt uns psychologisch zu der Frage, welche Modelle der Beeinflussung wir sinnvollerweise unterscheiden können und sollen.
Die psychologischen Grundfunktionen oder Elementarsysteme (Zentrales Lenkungssystem; Bewußtsein; Filter- und Supervision; Aufmerksamkeit; Fühlen und Befinden; Motivations- und Bedürfnissystem; Antriebs- und Energiesystem; Wahrnehmung; Empfindung; Erfahrungen; kognitive Schemata und Denken; Gedächtnis; Anlagen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen, die Basis des körperlichen Betriebssystems) und ihre Zusammenhänge werden im folgenden dargelegt:
Abb. Außenwelt - Innenwelt: Körper, Seele, Geist-Modell
Man kann der Graphik sehr einfach entnehmen, wovon und durch welche
bio-psycho-sozialen Störungen das zentrale Lenkungssystem und damit
die freie Willensbildung beeinflußt werden kann bis hin zum vollständigen
Verlust jeglicher Freiheit im Zustand der Bewußtlosigkeit, des Komas
oder komaartiger Zustände, nämlich durch:
Ich habe nun ein Modell der bio-psycho-sozialen Zusammenhänge
entwickelt - das im wesentlichen die Kategorien der herrschenden Lehre
verwendet - anhand dessen wir sehr gut die Kategorie Einfluß studieren
können:
1)
Störungen des zentralen Lenkungsystems selbst.
In vielen psychopathologischen Störungen ist die zentrale Lenkung
selbst betroffen, indem der Mensch die Fähigkeit, sich zielorientiert
selbst zu lenken, länger, kürzer oder abwechselnd (intermittierend)
mehr oder minder, gänzlich oder in Teilen, dauerhaft oder vorübergehend
einbüßt. Die direkte und unmittelbare Betroffenheit der Selbst-Lenkung
ist aber natürlich auch eine bio- psycho- soziale Störung oder
eine “Geistesstörung” im Vokabular der JuristInnen.
Exkurs: Der Wille im engeren psychologischen Sinne und seine Funktion im Lenkungssystem
Traditionell verknüpft sich mit dem Willensbegriff in der Alltagssprache eine psychische Kraft, die man einsetzt, um ein Ziel zu erreichen. Im Bedeutungswörterbuch heißt es: “Wille... Fähigkeit des Menschen, sich für bestimmte Handlungen zu entscheiden ...”. Der allgemeine Sprachgebrauch stimmt auch ziemlich gut mit dem juristischen überein: So wird im Münchner Rechtslexikon, Bd.3, 1987 ausgeführt: “Wille ist die Fähigkeit des Menschen, sich zu einem Verhalten auf Grund bewußter Motive zu entscheiden.” Diesem Verständnis der Willensvorgänge entspricht auch sehr gut die psychologische Definition, die Heinrich Düker seiner Willensforschung zugrunde gelegt hat: Wollen heißt “die Fähigkeit, die zur Erreichung eines Zieles erforderlichen Vorgänge zu einer Handlung zu koordinieren, zu aktivieren und zu steuern.”
Wille oder wollen hat in all diesen Grundcharakterisierungen mit der Lenkung von Energie, Kraft und der Überwindung von Widerständen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel zu tun. Daher läßt sich der Wille oder das Wollen im Alltag auch relativ leicht abschätzen. Wollen oder den Willen zu einem Ziel erkennt man im praktischen Leben an der “MAZOKA”, die für ein Ziel aufgebracht wird. “MAZOKA” ist ein Kunstwort aus den Anfangsbuchstaben folgender Worte: M= Mühe, A= Ausdauer, Z= Zeit, O= Opfer, K= Kosten und A= Anstrengung. Bringt jemand für ein Ziel keinerlei Mühe, Ausdauer, Zeit, Opfer, Kosten oder Anstrengung auf, so verfolgt er dieses Ziel nicht mit seinem Willen, sondern man sagt besser, er hegt den Wunsch, Z zu erreichen. Wünsche gehören in das Reich der Träume, der Wille gehört zum Reich der Taten und der Handlungen. Was keine Handlungen oder Taten nach sich zieht, nennen wir nicht willensbestimmt. Da der Mensch viele Taten und Handlungen hervorbringt, über deren Zustandekommen er wenig sagen kann, gehört zum Willen im engeren psychologischen Sinne nicht unbedingt Bewußtheit, das Wissen um: ich will. Vieles geschieht einfach, quasi automatisch oder halbautomatisch durch Reflexe, Lernen und Gewohnheitsbildung. Ein grundsätzliches Problem besteht hier nicht, weil fast immer gefragt werden kann, ob die “Taten” willensfähig gewesen wären, also einer potentiellen Willenshandlung entsprechen.
Störungen des Willens im engeren psychologischen Sinne kommen bei sehr vielen Erkrankungen vor: geistige Behinderungen, hirnorganische Störungen, Psychosen, Neurosen (hier besonders die Psychasthenie ICD-10 F 48.8), Persönlichkeitsstörungen (früher: Psychopathien; hier besonders bei den abhängigen Persönlichkeitsstörungen ICD-10 F 60.7 )
Ende Exkurs: Der Wille im engeren psychologischen Sinne und seine Funktion im Lenkungssystem
2) Störungen
des Bewußtseins.
Der Bewußtseinsbegriff ist sehr vieldeutig und schillernd. Wir
werden ihn daher ausführlich in allen seinen Dimensionen und Funktionen
darstellen:
Freiheit kann es nur bei Bewußtheit und Bewußtheitsfähigkeit geben. Ist die Bewußtheit oder Bewußtheitsfähigkeit eingeschränkt, z. B. eingeengt auf wenige Bewußtseinsinhalte, getrübt, ganz oder teilweise mehr oder minder aufgehoben, wie bei vielen Rausch- oder Vergiftungszuständen, bei zahlreichen bio-psycho-sozialen Störungen, so kann die freie Willensbildung oder Selbst-Lenkung ebenfalls mehr oder mindert stark beeinträchtigt oder aufgehoben sein. Ein Drogenabhängiger wird unter seinem starken Verlangen und unter Entzugserscheinungen in seiner Bewußtheit sehr eingeengt auf die Beschaffung der Droge. Ein unter abnormer Trennungsangst leidender, also sehr abhängiger, Mensch wird unter dem Druck, verlassen oder verstoßen zu werden, in seiner Bewußtheit und in seinem Bewußtseinsstrom sehr eingeengt und fixiert auf das überdimensional überwertige Ziel, die PartnerIn nicht zu verlieren. Die Bewußtseinslenkung kann auch bei Zwangsneurosen sehr gestört und erschwert sein.
3)
Störungen der Wahrnehmung und der Empfindungen.
Fehlsichtigkeit, Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit, Hörstörungen,
Riech- und Geschmacksstörungen sind häufige, mit dem Alter meist
zunehmende Störungen, die im allgemeinen keinen bis geringen Einfluß
auf die freie Willensbildung oder Selbstlenkung haben. Anders steht es
mit Halluzinationen, also Wahrnehmungserlebnissen ohne äußere
Wahrnehmungsquelle, wenn Stimmen einem etwa eingeben, daß man dieses
oder jenes tun oder lassen solle.
4)
Störungen der Supervision und des Filters oder Abwehrsystems des Bewußtseins.
So wie der Körper eine körperliche Abwehr, das Immunsystem
hat, so wurde durch Freud und später vor allem durch seine Tochter
Anna Freud ein Konzept der Abwehr entwickelt, das sich aber - noch - nicht
allgemein in der Psychopathologie und Psychologie durchsetzen konnte. Bei
den Abwehrmechanismen handelt es sich psychologisch um eine seelische (Lenkungs-)
Funktion, die Wirklichkeit oder Teile davon, nicht oder verfälscht
wahrzunehmen oder umzudeuten, um sie mit den eigenen Bedürfnissen,
Idealen und Werten in Einklang zu bringen, die in der forensischen Forschung
zuweilen auch “Neutralisationsmechanismen” genannt werden und hier auch
in der Funktion so verstanden werden können. Historisch ist es das
Verdienst der Psychoanalyse - zunächst Anna Freuds - in Systematisierung
der Arbeit ihres Vaters, Konzept und Bedeutung der Abwehrmechanismen der
Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie erschlossen zu haben.
Allerdings ist das Sachgebiet der Abwehrmechanismen kein Reservat der Psychoanalyse,
wie dort manchmal irrtümlich geglaubt wird. Psychologisch ist die
Theorie der Abwehrmechanismen ein Teilgebiet der allgemeinen psychologischen
Theorie von der kognitiven Dissonanz. Die Abwehr kann so weit gehen, daß
ganze Wirklichkeitsbereiche der Wahrnehmung und dem Bewußtsein entzogen
sind. Und damit ist natürlich klar, daß dies zu partieller Geschäftsunfähigkeit
führen kann, weil die im BGH Urteil vom 5.12.1995 für wichtig
befundene Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung
der in Betracht kommenden Gesichtspunkte nicht mehr zutreffend möglich
ist.
5)
Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration.
Kann die Aufmerksamkeit nicht genügend lange auf Bewußtseinsinhalte
gerichtet werden, mögen sie innere oder äußere Wahrnehmungsobjekte
repräsentieren, fallen diese quasi wie durch ein Sieb, so kann dies
die Selbst-Lenkung, wie wir besonders durch die Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Störung
(AD-H-D) wissen, sehr erschweren, weil bestimmte, besonders unangenehm
erlebte Bewußtseinsobjekte sich einer kontrollierenden Zuwendung
und Auseinandersetzung entziehen. Außerdem ist direkt die Merk- und
daran anknüpfend die Erinnerungsfähigkeit betroffen.
6)
Störungen des Fühlens und Befindens.
Verliert jemand die Fähigkeit zu fühlen, so verliert er die
psychologische Basis für Wertungen, alles ist ihm mehr oder minder
gleichgültig, gleichunwertig. Die Störung wurde im Jahre 1967
von R. E. Sifneos so genannt und erstmals monografisch beschrieben.
Sie spielt eine große Rolle bei PsychosomatikerInnen, bei Schizophrenien,
Depressionen und Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei hirnorganischen
Psychosen und Störungen; vermutlich spielt sie auch eine größere
Rolle bei vielen Formen der Sucht, deren Hauptfunktion ja die chemische
Erzeugung von Gefühlen ist. Verlust oder entsprechende Beeinträchtigung
im Fühlen kann immer zu partieller Geschäftsunfähigkeit
führen, weil die im BGH Urteil vom 5.12.1995 Abwägung des Für
und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte
nicht mehr zutreffend möglich ist. Aber auch sehr stark negativ erlebte
emotionale Zustände können die freie Willensbestimmung sehr beeinflussen,
wenn etwa abnorme Trennungsangst oder andere negative erlebte Unruhe- und
Erregungszustände das Halten in einer Beziehung bewirken können.
7)
Störungen der vitalen oder sozialen Wünsche, Bedürfnisse,
Motive, Triebe, Interessen, Ziele, Absichten, Strebungen.
Das Motivations- und Bedürfnissystem kann vielfältig direkt
oder indirekt gestört sein. Bei allen alexithymen oder anhedonen Störungen
ist dieses System unmittelbar betroffen. Aber es können auch einzelne
Motive oder Bedürfnisse ausfallen oder eine überwertige und damit
beherrschende Bedeutung - bis hin zum Wahn - gewinnen. Die Liebe, Beziehung
und Partnerschaft zu einem Menschen kann eine solche überwertige Bedeutung
gewinnen, eine pathologische Form wurde von Krafft-Ebing [1840-1902] 1892
unter dem Namen Hörigkeit eingeführt.
Ernest Bornemann führt hierzu aus: Unter Hörigkeit versteht man
den Sachverhalt, “daß eine Person einen ungewöhnlich hohen Grad
von Abhängigkeit und Unselbständigkeit gegenüber einer anderen
Person erwerben kann, mit der sie im Sexualverkehr steht. Die Hörigkeit
kann gelegentlich bis zum Verlust jedes selbständigen Willens und
bis zur Erduldung der schwersten Opfer gehen.” (siehe bitte ausführlich
unter 14)).
8)
Störungen des Antriebs- und Energiesystems
Die Psychiatrie hatte im Gegensatz zur Psychologie schon immer ein
eigenes Antriebs- und Energiesystem als Konzept und abgetrennt vom Gefühls-
und Motivationssystem, was m. E. sinnvoll ist und durch die klinische Erfahrung
der sog. agitierten (motorisch unruhigen) Depression gut empirisch belegt
ist. Bei der agitierten, motorisch unruhigen Depression ist der Mensch
voller Antrieb und Energie, die aber durch den Mangel an Gefühlen
und Motiven keine Richtung bekommen. So schießt der Mensch unruhig
hin und her, geht auf ab, steht auf, setzt sich wieder, nestelt und bewegt
sich. Er verfügt ohne Zweifel über Antrieb und Energie, aber
durch seine Alexithymie, durch seine Unfähigkeit zu fühlen und
zu wünschen, kann er seinem Antrieb und seiner Energie keine motivationale
Richtung verleihen.
9)
Störungen der Gedächtnis-, Erfahrungs- und Lernfunktionen
Es ist offenkundig, daß Störungen der Gedächtnisfunktionen,
insbesondere die des Behaltens oder Merkens und Erinnerns von großer
Bedeutung für die Selbst-Lenkung oder freie Willensbestimmung sein
können. Das Gedächtnis ist nicht nur eine wichtige Grundlage
für das Denken, sondern auch für die Verhaltens- und Handlungsprogramme.
10)
Störungen des Denkens
Definition und Abgrenzungen: Denken im engeren psychologischen Sinne
heißt, geistige Modelle bilden oder zueinander in Beziehung setzen.
Geistige Modelle sind Abstraktionen und dürfen nicht mit Vorstellungen
verwechselt werden. Vorstellungen sind aus dem Gedächtnis aufgerufene
Wahrnehmungen, die ins Bewußtsein projiziert werden. Davon zu unterscheiden
sind Phantasien, denen eine Entsprechung in der Erfahrung oder Wirklichkeit
fehlt, etwa die Vorstellungsphantasie Pegasus, ein Pferd mit Flügeln,
das ich zwar phantasieren kann, das es aber - bislang - nicht wirklich
gibt. Denken und Sprechen sind zwei verschiedene psychologische Grundfunktionen.
Denken ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für
die Fähigkeit kommunikativ zu sprechen. Denken ist grundsätzlich
unabhängig von der Fähigkeit zu sprechen (es sei denn, man definiert
Denken als Sprache des Geistes). Wollte man das beweisen, würde man
für die Versuche irgendeine Art der Sprache anwenden müssen und
damit in einem logischen Zirkel landen.
Psychologie und Psychopathologie kennen viele Denkstörungen:
(1) Beeinträchtigte Abstraktionsfähigkeit und Begriffsbildungsfähigkeit
(Kleben am Sinnlich-Konkreten oder Operativen), (2) fehlende, falsche oder
unzulängliche kognitive Schemata und Begriffe zum Erfassen und Ordnen
der Erfahrung und Wirklichkeit, (3) fehlende, falsche oder unzulängliche
Logik, (4) Falsches oder unzulängliches in Beziehung setzen (Fehlurteile,
Falschaussagen, Störungen der Selbst- und Realitätskritik), (5)
falsche oder unzulängliche Verarbeitung der Wahrnehmung (Wahn), indem
Ereignissen eine Bedeutung zugeschrieben wird, die sie nicht haben, (6)
Ab- und Verlaufsstörungen des Denkens (zäh, verlangsamt, beschleunigt,
flüchtig, unzusammenhängend), (7) sonstige.
Es ist klar, daß eine freie Entscheidung nach
Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in
Betracht kommenden Gesichtspunkte, wie es der BGH in seinem Urteil vom
5.12.1995 ausführt, ein weitgehend intaktes Denkvermögen
erfordert. Störungen des Denkens stehen in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem für die Selbst-Lenkung und freie Willensbildung eng zusammenhängenden
Begriff der Einsichtsfähigkeit, wie Luthe - wie oben schon zitiert
- (1988, S. 247) auch meinte.
11)
Störungen der Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen
Diese Kategorie ist mehrdeutig und erfordert daher eine Vorbemerkung.
Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Gedächtnisfunktionen, Antrieb und
Energie usw. sind selbst schon als (Basis) Fähigkeiten, Fertigkeiten
oder Kompetenzen auffassbar. Sie sollen an dieser Stelle nicht gemeint
sein, da die psychischen Grundfunktionssysteme ja schon gesondert behandelt
werden. Es sollen darunter alle anderen, die Selbst-Lenkung oder
freie Willensbestimmung möglicherweise betreffenden Fähigkeiten
verstanden werden.
12)
Störungen im originären körperlichen Betriebssystem (“Hardware-Schäden").
Viele originären körperlichen Störungen können
psychopathologische Symptome oder Syndrome nach sich ziehen. Ein Nebennierenmarkstumor
(“Phäochromozytom”) kann das Bild einer Angstneurose erzeugen und
verkannt werden,. J. H. Schultz führt kritisch ein Leberkarzinom an,
das als Angstneurose verkannt wurde. Unterzuckerung, Schilddrüsenerkrankungen
u. v. a. mehr haben psychische oder psychopathologische Auswirkungen. Da
dies hier keine besondere Rolle spielt, soll dies nur der Vollständigkeit
halber erwähnt und nicht weiter darauf eingegangen werden.
13)
Störungen in der körperlichen Basis der Psychologischen Grundfunktionen
und Elementarsysteme 1) bis 10).
Die Frage körperlich oder psychisch ist eine alte Streitfrage,
obschon sie wahrscheinlich falsch gestellt ist. Körperlich oder psychisch
sind keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Perspektiven.
Alles Psychische ist an den Körper, an das Biologische gebunden und
mit ihm fundiert. Das Psychische existiert nicht unabhängig vom Körperlichen.
Das Seelenleben kann in unterschiedlichen Repräsentationsebenen beschrieben
werden: chemisch-physikalisch, biologisch-physiologisch, psychologisch-erlebnismäßig,
begrifflich-symbolisch, sprachlich-symbolisch, usw. So repräsentiert
Angst einen Begriff als geistige oder gedankliche Repräsentation,
ein Erlebnis als bewußte psychologische Repräsentation, eine
emotionale Repräsentation, eine physiologisch-biologische Erscheinung
und ein physikalisch-chemisches Geschehen, ein geschriebenes oder gesprochenes
Wort, eine Erfahrung, die im Gedächtnis gespeichert werden und mit
anderen Gedächtnisinhalten vernetzt sein kann, eine Erinnerung,
die im Bewußtsein präsent sein kann, ein Erlebnis, das kommuniziert
werden kann - wie so oft in der Psychotherapie. Wir wollen das hier nicht
weiter ausführen, weil es für das Gericht letztlich unerheblich
ist, ob eine Störung, die die freie Willensbildung ausschließt,
eine “Hardware” (körperliche) oder “Software” (psychische) Störung
genannt wird.
14) Sonstige bislang nicht berücksichtigte Störungen
In manchen Verfahren mag die emotionale oder geistige Abhängigkeit
(Hörigkeit, religiöse oder Abhängigkeit eine Rolle spielen)
und die freie Willensbestimmung beeinträchtigen. Dann muß natürlich
das Feld der Beziehungen, Bindungen, der emotionalen und geistigen Abhängigkeiten
besonders berücksichtigt werden.
Querverweis: Willfährigkeit,
Hörigkeit, Abhängigkeit
Querverweis: Dependende Persönlichkeitsstörung (DSM-IV Kriterien) und ICD Querverweis: Über Bindung und Messen in der Psychologie [Bindungsparadoxa] Querverweis: Grundprobleme der Bindungsforschung Querverweis: Kriterium Beziehung & Bindung im Familienverfahren |
Nachdem nun die psychologischen Grundfunktionssysteme und ihre allgemeine Erörterung, wie sie Einfluß auf die Selbst-Lenkung bzw. freie Willensbildung nehmen können, referiert wurden, stellt sich nun die Frage, wie dieser Einfluß genauer formal gefaßt werden kann. Denn wir alle werden von Störungen und Unzulänglichkeiten beeinflußt und können uns gegen frühe Prägungen und Persönlichkeitsentwicklungen so wenig wehren wie gegenüber unseren Erbanlagen und körperlichen “Betriebssystem-voraussetzungen”, unserem “Hardware”-Apparat Körper. Bio-Psycho-Soziale Störungen, so viel ist sicher, können die Selbst-Lenkung oder die freie Willensbestimmung unterschiedlich qualitativ und quantitativ beeinflussen. Das Qualitative meint hier die unterschiedlich betroffenen Grundfunktionssysteme und das Quantitative die Stärke des Einflusses auf die Selbst-Lenkung oder freie Willensbestimmung.
Einfache allgemeine formale Einfluß-Modelle
(1) Verformungs-Modell bio-psycho-soziale Störungs-Transformations-Achse
In diesem Modell wird durch die bio-psycho-soziale Störung das elementare Funktionssystem EFS in EFS’ verformt, verbogen, verzerrt. Die Quantität bleibt erhalten. Typische Anwendung: Motivschicksale aber auch Verhaltensweisen - wie z. B. der Tick - zeigen oft seltsame Wege und Erscheinungsformen, durch zig andere Motive verformt, überformt, verbogen, verzerrt.
(2) Verminderungs-Modell bio-psycho-soziale Störungs- Transformations- Achse
In diesem Modell wird durch die bio-psycho-soziale Störung das elementare Funktionssystem EFS in EFS’ in seiner Ausprägung, also in seiner Quantität vermindert, verkleinert. Die Qualität bleibt erhalten. Typische Anwendung: in vielen depressiven Zuständen, aber auch bei vielen hirnorganischen Prozessen kann eine Hemmung und Verlangsamung beobachtet werden, wodurch auch oft die Qualität beeinträchtigt erscheint.
(3) Vermehrungs-Modell bio-psycho-soziale Störungs- Transformations- Achse
Im Vermehrungs-Modell wird durch die bio-psycho-soziale Störung das elementare Funktionssystem EFS in EFS’ in seiner Ausprägung, also in seiner Quantität vermehrt, vergrößert. Die Qualität bleibt erhalten. Typische Anwendung: In allen (hypo-) maniformen Prozessen kommt es zu beschleunigten Abläufen und Enthemmung, alles geht leichter, schneller und dadurch ist auch allgemein und insgesamt eine Vermehrung der Produktivität beobachtbar. Die Qualität kann erhalten bleiben, ja gesteigert sein aber auch vermindert sein, wenn Denk- und Handlungsabläufe z. B. gar nicht mehr vollendet werden und es zu dauernden Sprüngen kommt.
(4) Vergröberungs-Modell bio-psycho-soziale Störungs- Transformations- Achse
In diesem Modell wird durch die bio-psycho-soziale Störung das elementare Funktionssystem EFS in EFS’ in seiner Ausprägung, also in seiner Differenziertheit vergröbert. Qualität und Quantität verändern sich dadurch. Typische Anwendung: die Vergröberung der Charaktereigenschaften bei hirnorganischen Prozessen und mit fortgeschrittenem Alter.
(5) Verfeinerungs-Modell bio-psycho-soziale Störungs- Transformations- Achse
In diesem Modell wird durch die bio-psycho-soziale Störung das elementare Funktionssystem EFS in EFS’ in seiner Ausprägung, also in seiner Differenziertheit verfeinert. Qualität und Quantität verändern sich dadurch. Das Verfeinerungs-Modell spielt in der Praxis eine geringe Rolle. Eine typische Anwendung ergibt sich bei manirierten oder ritualisierten Entwicklungen.
Es gäbe noch eine ganze Reihe von Einflußmöglichkeiten. Eine Systematik ist möglich, wenn man sämtliche (bekannten) Veränderungsparameter - die ich Quantoren nenne - erfaßt. Ich gebe abschließend eine Übersicht und komme dann zum komplexen Einfluß-Modell für die Wirklichkeit und zum System der Beweisfrage der freien Willensbestimmung:
Systematische Kategorien zur Einfluß-Analyse: Quantoren (Veränderungs-Parameter) zur Charakterisierung von Ausprägungserscheinungen und Prozessen mit Beispielen aus der Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie
Auswahl-Quantoren (Qualitaet)
z. B.: was, welche von ..., wählen, auswählen, entscheiden
Sehr bedeutsam bei den Therapiezielen, aber auch den Methoden und wo
man den Hebel ansetzt in der Psychotherapie. Wichtig für die Indikationsfrage
und natürlich für die Erstellung des Therapieplans.
Begrenzungs-Quantoren
z. B.: Mindestens, höchstens, von ... bis, ab, bis
Hier ist das Problem der Grenzen, Bereiche, Anfang und Ende angesprochen.
Was soll mindestens erreicht werden? Wo hören wir auf, geben uns zufrieden?
Auch das Gebiet der Bedingungen ist berührt: notwendig, hinreichend,
höchstens, mindestens, für den Bereich i ...j.
Beschleunigungs-Quantoren
z. B.: gleichförmig, beschleunigt ansteigend (flach, steil), beschleunigt
verlangsamend
(flach, steil): Bremsen.
Bei maniformen Prozessen laufen viele Funktionen beschleunigt ab, während
in der Depression der umgekehrte Effekt, die Verlangsamung und Hemmung
zu beobachten ist. Bei Symptomverläufen interessiert auch der Verlauf:
Bricht es plötzlich herein? Wie schnell entwickelt sich die Symptomatik?
Bei allen Wachstumsprozessen z. B. beim Lernen in der Psychologie stellt
sich die Frage, ob der Lernzuwachs beschleunigt verläuft. Die Vergessenskurve
von Ebbinghaus ist ebenfalls keine lineare, sondern eine abnehmend negativ
weniger beschleunigte Funktion.
Dauer-Quantoren (siehe auch Kontinuitäts-Quantoren)
z. B.: immer, ständig, dauernd, stets, ununterbrochen, fortlaufend,
stetig, so und so
lange (Zeitangabe)
Langanhaltende Symptomerfahrungen, langdauernde Erkrankungen demoralisieren
stärker und sind so gesehen natürlich von Bedeutung. Im Leistungsbereich
ist es die Ausdauer, wie lange und hartnäckig jemand ein Ziel verfolgt,
z. B. um eine Kompetenz zu erwerben. Wie lange soll eine Therapie dauern?
Sind Langzeitpsychoanalysen sinnvoll? All das sind Fragen der Psychotherapieforschung.
Geschwindigkeits-Quantoren
z. B.: schnell, langsam, rasend, plötzlich, unmittelbar
Sehr wichtig z. B. in der Psychopharmakopsychotherapie der Depression,
wenn Antriebskomponente und Stimmungsaufhellungskomponente unterschiedliche
Reaktionsgeschwindigkeiten haben, was das Suizidrisiko sehr erhöhen
kann. In der Lenkung einer Psychotherapie auch bedeutsam: TherapeutInnen
dürfen die Entwicklung von PatientInnen und Problemlösungen nicht
zu schnell forcieren, sonst riskieren sie erneute, tiefere Demoralisierung
und einen unerwünschten und unnötigen Therapieabbruch.
Häufigkeits-Quantoren
z. B.: nie, selten, manchmal, gelegentlich, öfter, oft
Diese Quantoren kommen sehr oft in der Diagnostik, Exploration und
Psychotherapie vor. Es sind unmittelbar kriterienvalide Erfolgskontrollparameter.
Bei erfolgreicher Therapie sollte ein Symptom, das oft auftauchte idealiter
so gut wie nie mehr vorkommen. Häufigkeitsquantoren spielen in der
Beurteilung von Schweregraden eine ähnlich wichtige Rolle wie Intensitätsquantoren.
Es ist natürlich sehr wesentlich, ob man oft Schmerz, Asthma, Migräne,
Panikattacken, Vollräusche oder Kontrollzwänge hat oder selten.
Intensitäts-Quantoren
z. B.: gar nicht, ein bißchen, deutlich spürbar, mittel,
mittelstark, stark, sehr, hoch,
hochgradig, extrem, maximal, x-prozentig
Dieser Quantor ist in der Psychotherapie sehr wichtig immer dann, wenn
es um die Erfassung und Beurteilung der Ausprägungen von Symptomen,
Leiden, Störungen oder Beeinträchtigungen geht.
Komplexitäts-Quantoren
z. B.: Ganzes, Teil, zusammengesetzt, ein- bzw. mehrdimensional, vernetzt,
kompliziert
In der Psychotherapie wichtig zum Differenzieren z. B. von Therapiezielen,
Teilzielen, Mitteln und Methoden. Für die Therapieforschung wichtig,
wenn mehrdimensionale Erfolgsmaße konstruiert werden, z. B. auch,
wenn verschiedene Beurteilungen des Therapieerfolgs vorliegen (PatientIn,
PsychotherapeutIn, Angehörige, "objektive" Parameter wie z. B. Fehltage
durch Krankheit usw.).
Kontinuitäts-Quantoren
(siehe auch Dauer-Quantoren)
z. B.: stetig, (kontinuierlich), diskret, "quantisch"
Sie sind z. B. wichtig in der Entwicklungspsychologie: Kinder brauchen
die Erfahrung zuverlässiger Erziehungskontinuität. In der Anwendung
der forensischen Psychologie im Familienrecht für Sorgerechtsentscheidungen
sehr relevant. Im Zivilrecht spielt die Kontinuität eine größere
Rolle in der Frage der Dauer einer Geschäftsunfähigkeit und auch
bei der Beurteilung und Bewertung von sog. lichten Momenten in physischen
und nicht durchgängig gleichen Beeinträchtigungsprozessen. Aber
auch für die Stimmungs- und Lustpsychologie ist die Frage nach Kontinuität
im Zusammenhang mit Periodizität interessant. Wir können nicht
ununterbrochen “high” sein, wie es wohl viele Süchtige möchten,
so daß sich die alte philosophische Frage stellt, ob zu einem glücklichen
Leben nicht auch zwingend der Kontrast gehört: down sein, Phasen von
Tiefs oder grauem Einerlei. Große Bedeutung hat die Kontinuität
als Metakategorie im zwischenmenschlichen Bereich, in der Sozialpolitik
und der Gesellschaft, was die Kalkulierbarkeit, die Berechenbarkeit, die
Kategorien Verläßlichkeit und Vertrauen betrifft. Auch für
die Lernprozesse, bei denen es bekanntlich Plateaus gibt, stellt sich die
interessante Frage, ob Lernen im Verlauf "quantisch" vor sich geht, was
man sich durch das Bild einer Treppe veranschaulichen kann. Auch für
den Verlauf einer Psychotherapie gibt es wahrscheinlich "quantische" Phänomene.
Das verwundert insofern nicht, wenn Psychotherapie auch als ein Lernprozeß
interpretiert wird. Sie kennen das Phänomen wahrscheinlich auch aus
eigener Erfahrung: eine Entwicklung stagniert, man hängt auf einem
Plateau, etwas entwickelt sich latent, eine Einsicht reift. Das Aha-Erlebnis
bei der Problemlösung ist ein solch quantisches Phänomen.
Mengen-Quantoren
z. B.: einige, wenige, viel, viele, alle, wie viele? (Anzahl)
Um wie viele Probleme und Therapieziele geht es? Anspruchsniveau und
Ideale werden berührt. Manche Menschen leiden darunter, daß
sie zu viel - vielleicht im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten oder
ihrer Leistungsbereitschaft - wollen. Ein Therapieziel könnte dann
lauten: aufgeben, verzichten, sich mit weniger zufriedengeben lernen.
Meta-Quantoren
z. B.: Genauigkeit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit (gesetzesartig,
statistisch).
Sehr wichtig für die Beurteilung der Güte und Sicherheit
von Aussagen. In der Test- und ganz allgemein in der Wissenschaftstheorie
etwa die Kriterien Objektivität, Reliabilität, Validität
und Evaluation. Was bedeutet das genau? Wie sicher ist die Aussage? Unter
welchen Bedingungen gilt sie? Diese Fragen und Probleme sind natürlich
nicht nur für die Wissenschaft wichtig und interessant, sondern für
alle Informationsgewinnungs- und Erkenntnisprozesse. Da es in Diagnostik,
Exploration und Psychotherapie ständig um Informationsgewinnung und
Erkenntnis geht - wie geht es PatientIn, kommt sie voran, was geschieht
im Augenblick, an welcher Stelle des Therapieplans befinden wir uns, sind
wir in der Zeit, ist das jetzt wichtig, wie ist das zu beurteilen, was
PatientIn jetzt äußert, stimmt das, was bedeutet das?
usw. usf. - betreffen diese Fragen natürlich im höchsten Maße
die praktische Arbeit von PsychologInnen, DiagnostikerInnen und PsychotherapeutInnen
.
Ordnungs-Quantoren
z. B.: mehr, größer, besser, geeigneter... als
Wichtig für alle Prioritätsprobleme; im psychologisch-psychotherapeutischen
Bereich daher für Entscheidungen, Auswahlen, Optimierungsprobleme,
Zeit-Plan-Management; in der Familienrechtspsychologie bei Fragestellungen,
wer für das Kindeswohl geeigneter ist. Der Alltag wie auch jede Psychotherapiestunde
ist voll von ständigen Entscheidungen, welche Reaktion oder Intervention
aus der Vielzahl der möglichen gewählt wird. Letztlich kann jede
dieser Entscheidungen auf einen ordinalen Paarvergleich vom Typ entweder
X-Tun oder Nicht-X-Tun (=lassen) zurückgeführt werden.
Periodizitäts-Quantoren
z. B.: Periode p, Rhythmik, wiederkehrend, regelmäßig, abwechselnd,
Kontrast
Für die Motivationspsychologie, für Homöostase und Befriedigungszyklen
sehr wichtig. In der klinischen Psychologie und Psychotherapie, besonders
z. B. in der verhaltenstherapeutischen Bedingungsanalyse, stellt sich etwa
die Frage, was es bedeutet, wenn Migräneanfälle bevorzugt am
Wochenende oder in Freizeiten auftreten. Bei der alten endogenen Depression
haben Periodizitätszyklen eine große Rolle gespielt: die Aufhellung
zum Abend hin, nächtliches Aufwachen und jahreszeitliche Perioden
waren für die Diagnose wichtig.
Beeinträchtigungs-Quantoren
z. B. beeinträchtigt, gestört, behindert, benachteiligt,
krank
Was (Y) wird wie sehr durch (X) gestört, behindert?
Sonstige, noch
nicht erfaßtew Quantoren
Ergänzungs-, Rest- und Auffangkategorie
Querverweis: Norm, Wert, Abweichung (Deviation),
Krank (Krankheit), Diagnose. "Normal", "Anders", "Fehler", "Gestört",
"Krank", "Verrückt".
Das komplexe Einfluß-Modell für die Wirklichkeit und Beweisfrage zur freien Willensbestimmung oder Selbst-Lenkung
bio-psycho-soziale Störungs- Transformations- Achse
Erläuterungen: FS bedeute Funktionssystem, z. B. wahrnehmen, fühlen, denken, erinnern, bewerten, handeln ... . Diese einzelnen Funktionssysteme, die wir allgemein und abstrakt mit FS1, FS2, ..., FSi, ..., FSn bezeichnet haben, können nun durch eine bio-psycho-soziale Störung auf verschiedenartigste Weise transformiert werden, so daß ein mehr oder minder großer Einfluß auf die freie Willensbestimmung oder Selbst-Lenkung stattfindet. Die allgemeine Beweisfrage verlangt, diesen Einfluß zu bestimmen und im Hinblick auf die freie Willensbestimmung zu beurteilen und psychopathologisch zu bewerten. Von besonderer Bedeutung ist allerdings, daß man sich klar macht, daß eine bio- psycho- soziale Störung, eine Erkrankung, eine Beeinflussung der freien Willensbestimmung, in der Wirklichkeit nicht bedeutet, daß alle Funktionen, alle bio-psycho-sozialen Lebensäußerungen vollständig und immer gleichermaßen gestört sind.
Das
Wertungs-Modell zur freien Willensbestimmung und Selbst-Lenkung
“Gestörte” Menschen sind und funktionieren nicht immer aber oft auch so wie du und ich. Es ist sehr wichtig - und an dieser Stelle vielleicht besonders -, sich klar zu machen, daß NeurotikerInnen oder psychisch gestörte Menschen, nicht nur NeurotikerInnen oder psychische Gestörte, sondern auch Menschen mit ganz normalen, gesunden und natürlichen Anteilen sind - Menschen, wie du und ich. In guten Lebensphasen können daher die neurotischen oder störenden Anteile völlig im Hintergrund verschwinden. NeurotikerInnen oder gestörte Menschen sind eben keine ganz anderen Menschen, sondern weitgehend Menschen wie Du und ich, weil fast alle Menschen nicht nur gesund, normal, natürlich sind, sondern das Gesunde, Normale, Natürliche - mehr oder minder stark ausgeprägt - sich mit Gestörtem, Unnormalem, Unnatürlichem mischt, wobei das Aufscheinen der einen oder anderen Anteile auch noch von Situationen und Gegenübern, den Mitagierenden abhängt. Vielleicht ist es diese verwirrende Vielfalt des Lebens, die so viele nach diagnostisch einfachen “Schachteln” (= Klassen, Kategorien) suchen läßt, in die man die Menschen mit ihren vielfältigen Störungen packen kann, um sich in der Illusion von Wissen (= Macht) und Ordnung (= Wissen) zu wiegen. |
Das formale Modell hierzu kann wie folgt veranschaulicht werden:
Die Erhebung und Darstellung der einzelnen Funktionsbereiche und ihres Zusammenspiels ist Aufgabe des Sachverständigen. Die juristische Anerkennung, Wertung und Grenzziehung, ist Sache des Gerichts.
Kombinatorik
der Einflußmöglichkeiten
Die Einflußmöglichkeiten einer bio-psycho-sozialen Störung auf die freie Willensbestimmung oder die Selbst-Lenkung sind potentiell unendlich - selbst im Einzelfall und in verschiedenen Situationen. Das gilt schon deshalb, weil praktisch jede kombinatorische Figur ein eigenes, möglicherweise einzigartiges individuelles Ereignis formt. |
Die
praktische Ermittlung der Geschäftsunfähigkeit
Die praktische Bestimmung ergibt sich nun direkt aus den vorangehenden
Darlegungen. Das heißt, es sind die bio-psycho-sozialen Störungen
und ihre Auswirkungen auf die psychologischen Funktionssysteme und sodann
der Einfluß der Veränderungen auf die freie Willensbestimmung
oder die Selbst-Lenkung - total oder partiell - zu untersuchen, zu beurteilen
und psychologisch- psychopathologisch zu bewerten.
Beurteilungen der Geschäftsfähigkeit sind meist retrospektiv, d. h. rückblickend zu erstellen, das zur Debatte stehende Rechtsgeschäft liegt in der Vergangenheit. Daran ist also nichts ungewöhnlich. |
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Geschäftsunfähigkeit site:www.sgipt.org. |