Die Idee allgemeiner "normaler" Verrücktheit bei
Max Stirner
dargelegt im Abschnitt Der Sparren aus dem Kapitel
Die
Besessenen in Der
Einzige und sein Eigentum.
mit einem philosophischen Glossar.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Was Machiavelli für die Herrschenden, das ist Stirner für
jedermann:
eine Bibel für die Raskolnikows und rücksichtslosen Egoisten
dieser Welt -
eine Fundgrube für Globalplayer, Manager, Banker, Politiker
und andere ehrenwerte Soziopathen.
Der
Sparren [fett RS]
[56] Mensch, es spukt in deinem Kopfe; du hast einen Sparren zu viel! Du bildest dir große Dinge ein und malst dir eine ganze Götterwelt aus, die für dich da sei ein Geisterreich, zu welchem du berufen seiest, ein Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee! |
Analyse und Kommentar RS
Gottgläubige leiden nach Stirner an einer fixen Idee, besonders
offenbar dann, wenn man auch noch glaubt, dass das Geisterreich für
den es Fantasierenden bestimmt sei.
|
Fast die ganze
Menschenwelt sind Narren
Denke nicht, daß ich scherze
oder bildlich rede, wenn ich die am Höheren hangenden Menschen,
und weil die
ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die
ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe.
Was
nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen
sich unterworfen hat. Erkennt ihr an einer solchen fixen Idee, daß
sie eine Narrheit sei, so sperrt ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt.
Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät
z.B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher),
die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll,
damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe
Ideen«? Ist nicht alles dumme Geschwätz, z.B. unserer meisten
Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit,
Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen,
weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt?
Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich
vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben.
Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten
Tollen, daß sie heimtückisch über den herfallen, der ihre
fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das
freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn
her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen
auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muß
die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muß den Philister
sprechen hören, um die gräßliche Überzeugung zu gewinnen,
daß man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst deinen
Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.« Ich aber fürchte
den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer
Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater,
Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger
sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger
Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter [57] Mensch usw.
zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer
es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger
Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit,
Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen. Gleichwie die Scholastiker
nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV.
dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb,
ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten
über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst
in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in
dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon
zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte
Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne
jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen.
Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf
festem Fuße, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an!
Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!
Begegnen uns etwa bloß vom Teufel Besessene, oder treffen wir ebensooft auf entgegengesetzte Besessene, die vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Gesetze, oder irgend welchem »Prinzipe« besessen sind? Die Teufelsbesitzungen sind nicht die einzigen. Gott wirkt auf uns und der Teufel wirkt: jenes »Gnadenwirkungen«, dieses »Teufelswirkungen«. Besessene sind auf ihre Meinungen versessen. |
Stirner macht gleich im ersten Satz deutlich,
dass er weder scherzt noch bildlich spricht. Er glaubt tatsächlich,
dass "fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren im Tollhause"
angesehen werden können.
Mit der Formulierung "Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat" - also entweder ein Zwangsgedanke oder eine Wahnidee - entwickelt er allerdings selbst eine eigene Spukwelt, in der Ideen wie selbstständige Wesen handeln und Menschen "unterwerfen" können. Stirner macht indirekt deutlich, dass das, was eine fixe Idee ist, die ins Irrenhaus führt, nur von den Machtverhältnissen abhängt. Ein Wahn, der von der Mehrheit oder der Macht getragen wird, wird nicht als ein solcher angesehen. Weiter macht er deutlich, was seiner Meinung nach alles unter
fixer Idee zu verstehen ist: "Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit."
Und: wer die verbreiteten und mächtigen fixen Ideen angreift, lebt
gefährlich und jeder Tag decke "die Feigheit und Rachsucht" dieser
Tollen auf, was vom dummen Volk noch bejubelt werde.
"»Du sollst deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.«
Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind
Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist,
er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob
ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein
guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein
tugendhafter [57] Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe
»fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter
Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu
sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und
befangen."
Es scheint, als ob Stirner jegliche Ideologie, jeglichen geistigen Überbau, jegliche Weltanschauung oder Glauben, wo Verbindliches für mehrere Menschen ausgesagt wird, ohne deren persönlichen Willen oder eine Prüfung auch des Gegenteils ausdrücklich zu ermöglichen, als Ausgeburt von fixen Ideen ansieht oder sie ihnen gleichstellt. Damit begibt er sich in einen Grundwiderspruch, in eine Antinomie, weil er selbst natürlich auch eine Ideologie und Ethik verkündet, nämlich die letztliche Nichtigkeit aller ideologischen Forderungen, ohne das Einverständnis der Betroffenen einzuholen. Hierbei erscheint bedeutsam, dass Stirner von den Ideologen - obwohl er sie kritisiert - gar nicht fordert, ihre Instrumentalisierungen sein zu lassen. In erster Linie fordert er den einzelnen "nur" auf, SEINE Sache zu betreiben und sich nicht nach dem zu richten, was fremde Interessen von ihm verlangen und seien es auch die höchsten Autoritäten. Als besonderes Problem und zweite Antinomie ergibt sich hier, dass Stirner anscheinend ausschließt, dass sich jemand freiwillig mit anderen, auch fremd herangetragenen Interessen identifiziert. |
Besessenheit,
Eingenommenheit, Begeisterung, Enthusiasmus, Fanatismus
Mißfällt euch das Wort »Besessenheit«,
so nennt es Eingenommenheit, ja nennt es, weil der Geist euch besitzt und
von ihm alle »Eingebungen« kommen, – Begeisterung und Enthusiasmus.
Ich setze hinzu, daß der vollkommene Enthusiasmus – denn bei dem
faulen und halben kann man nicht stehen bleiben – Fanatismus heißt.
Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, so weit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muß es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum). Man beobachte unsere Liberalen, man blicke in die sächsischen Vaterlandsblätter, man höre, was Schlosser sagt9: »Die Gesellschaft Holbachs bildete ein förmliches Komplott gegen die überlieferte Lehre und das bestehende System, und die Mitglieder [58] derselben waren ebenso fanatisch für ihren Unglauben, als Mönche und Pfaffen, Jesuiten und Pietisten, Methodisten, Missions- und Bibelgesellschaften für mechanischen Gottesdienst und Wortglauben zu sein pflegen.« ___
|
Stirner versucht nun näher einzugrenzen,
was eine fixe Idee ist. Er führt Wahn und Besessenheit an, sodann
Eingenommenheit und Eingebung, Begeisterung, Enthusiasmus und deren höchste
Form: den Fanatismus (fanum - Heiliges).
Damit kommt der Wahnbegriff Heinroths
sehr nahe.
Mit Scharfsinn erkennt und geißelt er, dass auch Liberale oder
Atheisten ebenso fanatisch und verblendet sein können, wie die, die
sie bekämpfen. Dies mündet später [203] in die Sentenz:
"Unsere Atheisten sind fromme Leute."
|
Die
fixe Idee des Sittlichen: Es gibt keine Tabus, alles ist dem Ego erlaubt
Man achte darauf, wie ein »Sittlicher«
sich benimmt, der heutigestags häufig mit Gott fertig zu sein meint,
und das Christentum als eine Verlebtheit abwirft. Wenn man ihn fragt, ob
er je daran gezweifelt habe, daß die Vermischung der Geschwister
eine Blutschande sei, daß die Monogamie die Wahrheit der Ehe
sei, daß die Pietät eine heilige Pflicht sei usw., so wird ein
sittlicher Schauder ihn bei der Vorstellung überfallen, daß
man seine Schwester auch als Weib berühren dürfe usw. Und woher
dieser Schauder? Weil er an jene sittlichen Gebote glaubt. Dieser sittliche
Glaube wurzelt tief in seiner Brust. So viel er gegen die frommen Christen
eifert, so sehr ist er dennoch selbst Christ geblieben, nämlich ein
sittlicher Christ. In der Form der Sittlichkeit hält ihn das Christentum
gefangen, und zwar gefangen unter dem Glauben. Die Monogamie soll etwas
Heiliges sein, und wer etwa in Doppelehe lebt, der wird als Verbrecher
gestraft; wer Blutschande treibt, leidet als Verbrecher. Hiermit zeigen
sich diejenigen einverstanden, die immer schreien, auf die Religion soll
im Staate nicht gesehen werden, und der Jude Staatsbürger gleich dem
Christen sein. Ist jene Blutschande und Monogamie nicht ein Glaubenssatz?
Man rühre ihn an, und man wird erfahren, wie dieser Sittliche eben
auch ein Glaubensheld ist, trotz einem Krummacher, trotz einem Philipp
II. Diese fechten für den Kirchenglauben, er für den Staatsglauben,
oder die sittlichen Gesetze des Staates; für Glaubensartikel verdammen
beide denjenigen, der anders handelt, als ihr Glaube es gestatten will.
Das Brandmal des »Verbrechens« wird ihm aufgedrückt, und
schmachten mag er in Sittenverbesserungshäusern, in Kerkern. Der sittliche
Glaube ist so fanatisch als der religiöse! Das heißt dann
»Glaubensfrei- heit«, wenn Geschwister um eines Verhältnisses
willen, das sie vor ihrem »Gewissen« auszumachen hätten,
ins Gefängnis geworfen werden. »Aber sie gaben ein verderbliches
Beispiel«! Ja freilich, es könnten andere auch darauf verfallen,
daß der Staat sich nicht in ihr Verhältnis zu mischen habe,
und darüber ginge die »Sittenreinheit« zugrunde. So
eifern denn die religiösen Glaubenshelden für den »heiligen
Gott«, die sittlichen für das »heilige Gute«.
[59] Die Eiferer für etwas Heiliges sehen einander oft gar wenig ähnlich. Wir differieren die strengen Orthodoxen oder Allgläubigen von den Kämpfern für »Wahrheit, Licht und Recht«, von den Philalethen, Lichtfreunden, Aufgeklärten usw. Und doch wie gar nichts Wesentliches enthält die Differenz. Rüttelt man an einzelnen althergebrachten Wahrheiten (z.B. Wunder, unumschränkte Fürstengewalt usw.), so rütteln die Aufgeklärten mit, und nur die Altgläubigen jammern. Rüttelt man aber an der Wahrheit selbst, so hat man gleich beide als Gläubige zu Gegnern. So mit Sittlichkeiten: die Strenggläubigen sind unnachsichtig, die helleren Köpfe sind toleranter. Aber wer die Sittlichkeit selbst angreift, der bekommt's mit beiden zu tun. »Wahrheit, Sittlichkeit, Recht, Licht usw.« sollen »heilig« sein und bleiben. Was man am Christentum zu tadeln findet, das soll nach der Ansicht dieser Aufgeklärten eben »unchristlich« sein; das Christentum aber muß das »Feste« bleiben, an ihm zu rütteln ist frevelhaft, ist ein »Frevel«. Allerdings setzt sich der Ketzer gegen den reinen Glauben nicht mehr der früheren Verfolgungwut aus, desto mehr aber gilt es jetzt dem Ketzer gegen die reine Sitte. |
Stirner greift nun sogar ein Tabu an,
Liebe unter Geschwistern, und stellt es in Frage, genauer, der Gewissensentscheidung
der Liebenden anheim. Zugleich gebraucht er es als Beispiel wie sehr jemand,
der eine Ideologie, einen Glauben abgestreift zu haben meint, von diesem
doch noch gefangen ist. Diese Passage macht deutlich, dass der entscheidende
Faktor der Glaube ist, und zwar ganz allgemein der Glaube im Sinne von
"nicht wissen und doch für wahr halten". Er sagt aber nichts über
die Art des Glaubens, wie fest, tief, nachhaltig und unerschütterlich
ein solcher Glaube sein muss, damit er zur fixen Idee wird.
Nun ja, auch das Gegenteil, die Verneinung oder Aufhebung ist ein Glaubenssatz,
z.B. es gibt keine Blutschande und Geschlechtsbeziehungen unter nahen Verwandten
werden nicht bestraft. Damit sind wir wieder beim Grundwiderspruch. Stirner
scheint zu propagieren: jeder kann tun, was er will.
Stirner kommt es gar nicht so auf den Inhalt an oder was hinter den
Idealen steckt, ob Gott oder Moral, ist ihm einerlei, allein die allgemeine
Forderung nach Unterwerfung unter ein Ideal oder ethisches Gebot ist ihm
zuwider.
Ob die Beobachtung, die helleren Köpfe seien die toleranteren, stimmt, entspricht zwar einer allgemeinen Meinung, ich zweifle aber, ob das so richtig ist. Stirner widerspricht sich hier selbst. Denn S. 48 führt er aus: "Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, soweit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muss es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum)." |
Die
Frömmigkeit der Frommen und Atheisten ist im Prinzip das Gleiche.
Die Frömmigkeit hat seit einem Jahrhundert
so viele Stöße erfahren und ihr übermenschliches Wesen
so oft ein »unmenschliches« schelten hören müssen,
daß man sich nicht versucht fühlen kann, noch einmal sich gegen
sie auszulegen. Und doch sind fast immer nur sittliche Gegner auf der Mensur
erschienen, um das höchste Wesen anzufechten zugunsten eines – andern
höchsten Wesens. So sagt Proudhon ungescheut10:
»Der Mensch ist bestimmt, ohne Religion zu leben, aber das Sittengesetz
(la loi morale) ist ewig und absolut. Wer würde es heute wagen, die
Moral anzugreifen?« Die Sittlichen schöpften das beste Fett
von der Religion ab, genossen es selbst und haben nun ihre liebe Not, die
daraus entstandene Drüsenkrankheit loszuwerden. Wenn wir deshalb darauf
hinweisen, daß die Religion noch bei weitem nicht in ihrem Innersten
verletzt wird, solange man ihr nur ihr übermenschliches Wesen zum
Vorwurfe macht, und daß sie in letzter Instanz allein an den »Geist«
appelliert (denn Gott ist Geist), so haben wir ihre endliche Eintracht
mit der Sittlichkeit genugsam angedeutet, und können ihren hartnäckigen
Streit mit derselben hinter uns liegen lassen. Um ein höchstes
[60] Wesen handelt es sich bei beiden, und ob dasselbe ein übermenschliches
oder ein menschliches sei, das kann mir, da es jedenfalls ein Wesen über
mir, gleichsam ein übermeiniges ist, nur wenig verschlagen. Zuletzt
wird das Verhalten zum menschlichen Wesen oder zum »Menschen«,
hat es nur erst die Schlangenhaut der alten Religion abgestreift, doch
wieder eine religiöse Schlangenhaut tragen.
So belehrt uns Feuerbach, daß »wenn man die spekulative Philosophie nur umkehre, d.h. immer das Prädikat zum Subjekt, und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip mache, man die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit habe«11. Damit verlieren wir allerdings den beschränkten religiösen Standpunkt, verlieren den Gott, der auf diesem Standpunkte Subjekt ist; allein wir tauschen dafür die andere Seite des religiösen Standpunktes, den sittlichen ein. Wir sagen z.B. nicht mehr: »Gott ist die Liebe«, sondern »die Liebe ist göttlich«. Setzen wir noch an die Stelle des Prädikats »göttlich« das gleichbedeutende »heilig«, so kehrt der Sache nach alles Alte wieder zurück. Die Liebe soll danach das Gute am Menschen sein, seine Göttlichkeit, das was ihm Ehre macht, seine wahre Menschlichkeit (sie »macht ihn erst zum Menschen«, macht erst einen Menschen aus ihm). So wäre es denn genauer gesprochen so: die Liebe ist das Menschliche am Menschen, und das Unmenschliche ist der lieblose Egoist. Aber gerade alles dasjenige, was das Christentum und mit ihm die spekulative Philosophie, d.h. Theologie als das Gute, das Absolute offeriert, ist in der Eigenheit eben nicht das Gute (oder, was dasselbe sagt, es ist nur das Gute), mithin würde durch die Verwandlung des Prädikats in das Subjekt das christliche Wesen (und das Prädikat enthält ja eben das Wesen) nur noch drückender fixiert. Der Gott und das Göttliche verflöchte sich um so unauflöslicher mit mir. Den Gott aus seinem Himmel zu vertreiben und der »Transcendenz« zu berauben, das kann noch keinen Anspruch auf vollkommene Besiegung begründen, weil er dabei nur in die Menschenbrust gejagt und mit unvertilgbarer Immanenz beschenkt wird. Nun heißt es: das Göttliche ist das wahrhaft Menschliche! Dieselben Leute, welche dem Christentum als der Grundlage des Staates,
d.h. dem sogenannten christlichen Staate widerstreben, werden nicht müde
zu wiederholen, daß die Sittlichkeit »der Grundpfeiler des
gesellschaftlichen Lebens und [61] des Staates« sei. Als ob nicht
die Herrschaft der Sittlichkeit eine vollkommene Herrschaft des Heiligen,
eine »Hierarchie« wäre.
|
Die Negation des Religiösen durch die Materialisten
und Atheisten ist noch keine echte Befreiung, stellt die eigene Sache nicht
auf Nichts, d.h. auf sich selbst und nichts Fremdes, sondern tauscht Gott
nur gegen die Idee des Sittlichen. Die wahre Freiheit besteht im Verzicht
auf höhere Wesen und Werte, welcher Natur auch immer. Hier landen
wir wieder in der schon bekannten Antinomie, dass auch Stirner nur den
höchsten Wert ersetzt durch das Ich oder den Egoismus des Einzigen.
Stirner (an-) erkennt nicht den geistesgeschichtlichen Fortschritt, sittliches Verhalten von Gott oder einer religiösen Haltung zu lösen. Noch heute denken ja viele Leute, dass die Absage an Gott und das Jenseits gleichbedeutend mit Sinnlosigkeit und der Aufgabe aller Werte sei. Stirner hat aber recht, wenn er erkennt, dass unterschiedliche Werte
und Ideale immer noch Werte und Ideale - und auf dieser letzten Abstraktionsebene
austauschbar und gleich - sind.
Das Göttliche gegen das wahrhaft Menschliche zu tauschen, ist für
Stirner keine grundsätzliche Änderung, sondern sozusagen "dasselbe
in grün".
Der Einzige will keinem fremden Herren dienen, egal wie er genannt oder
begründet wird. Der Einzige will nur sich selber dienen.
|
Die Berufung
auf die Vernunft macht es nicht besser.
So kann hier beiläufig der aufklärenden
Richtung gedacht werden, die, nachdem die Theologen lange darauf bestanden
hatten, nur der Glaube sei fähig, die Religionswahrheiten zu fassen,
nur den Gläubigen offenbare sich Gott usw., also nur das Herz, Gefühl,
die gläubige Phantasie sei religiös, mit der Behauptung hervorbrach,
daß auch der »natürliche Verstand«, die menschliche
Vernunft, fähig sei, Gott zu erkennen. Was heißt das anders,
als daß auch die Vernunft darauf Anspruch machte, dieselbe Phantastin
zu sein wie die Phantasie. In diesem Sinne schrieb Reimarus seine »Vornehmsten
Wahrheiten der natürlichen Religion«. Es mußte dahin kommen,
daß der ganze Mensch mit allen seinen Fähigkeiten sich als religiös
erwies: Herz und Gemüt, Verstand und Vernunft, Fühlen, Wissen
und Wollen, kurz alles am Menschen erschien religiös. Hegel hat gezeigt,
daß selbst die Philosophie religiös sei. Und was wird heutigestages
nicht alles Religion genannt? Die »Religion der Liebe«, die
»Religion der Freiheit«, die »politische Religion«,
kurz jeder Enthusiasmus. So ist's auch in der Tat.
Noch heute brauchen wir das welsche Wort »Religion«, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebunden bleiben wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht unser Geist, sondern absolut. Darum wäre die richtige affirmative Übersetzung des Wortes Religion die – »Geistesfreiheit«! Bei wem der Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste. Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung auf mich: ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel es uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit uns durchgehen, davon wird mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußterweise ein Egoist zu sein. [62] Reimarus und alle, welche gezeigt haben, daß auch unsere Vernunft, unser Herz usw. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, daß wir durch und durch besessen sind. Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Geistesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glauben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der Form des Verstandes usw. an den geistigen und himmlischen Wahrheiten teilnehmen darf, dann ist der ganze Geist nur mit Geistigem, d.h. mit sich beschäftigt, also frei. Jetzt sind wir so durch und durch religiös, daß »Geschworene« uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Christ durch »Amtseid« uns ins Loch bringt. |
Anerkennung und Anwendung der Vernunft
auf fixe Ideen macht es nicht besser. Nimmt die Theologie die Vernunft
als Verbündeten hinzu, führt das nur zu einer Ausdehnung quasi-religiöser
fixer Ideen.
Diese Passage ist für mich sehr schwierig, ja eigentlich nicht zu verstehen: a) "Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr," b) "ist nicht unser Geist, sondern absolut." Das gibt es also einen Geist, der frei und alleiniger Herr ist (a). Aber dieser freie Geist ist nicht unser Geist, sondern ein "absoluter" (b). Das hört sich ganz nach einer Chimäre an, die er doch so bekämpft. Aus psychologischer Sicht ist es natürlich fraglich, ob der Geist
so frei ist, wie Stirner meint.
Es gibt also viele Wege zur und viele Formen der Besessenheit.
Mit der Eroberung der fixen Ideen durch den Geist gibt es auch viele Möglichkeiten, fixen Ideen nicht zu genügen und damit auch viele Möglichkeit der Repression und ihrer Autoritäten zur Unterdrückung. |
Sittlichkeit contra
Frömmigkeit
Die Sittlichkeit konnte erst von da ab
gegen die Frömmigkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt
der brausende Haß wider alles, was einem »Befehle« (Ordonnanze,
Gebote usw.) ähnlich sah, sich revoltierend Luft machte und der persönliche
»absolute Herr« verhöhnt und verfolgt wurde: sie konnte
folglich zur Selbständigkeit erst durch den Liberalismus kommen, dessen
erste Form als »Bürgertum« sich weltgeschichtliche Bedeutung
verschaffte und die eigentlich religiösen Gewalten schwächte
(siehe unten »Liberalismus«). Denn das Prinzip der neben der
Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, sondern auf eigenen Füßen
stehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten,
sondern im Vernunftgesetze, von welchem jene, soweit sie noch gültig
bleiben sollen, zu ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten
müssen. Im Vernunftgesetze bestimmt sich der Mensch aus sich selbst,
denn »der Mensch« ist vernünftig, und aus dem »Wesen
des Menschen« ergeben ich jene Gesetze mit Notwendigkeit. Frömmigkeit
und Sittlichkeit scheiden sich darin voneinander, daß jene Gott,
diese den Menschen zum Gesetzgeber macht.
Von einem gewissen Standpunkte der Sittlichkeit aus räsonniert man etwa so: entweder treibt den Menschen seine Sinnlichkeit, und er ist, ihr folgend, unsittlich, oder es treibt ihn das Gute, welches, in den Willen aufgenommen, sittliche Gesinnung (Gesinnung und Eingenommenheit für das Gute) heißt: dann beweist er sich als sittlich. Wie läßt sich von diesem Gesichtspunkte aus z.B. die Tat Sands gegen Kotzebue unsittlich nennen? Was man so unter uneigennützig [63] versteht, das war sie doch gewiß in demselben Maße als unter anderem die Diebereien des heiligen Crispin zugunsten der Armen. »Er hätte nicht morden sollen, denn es stehet geschrieben: du sollst nicht morden!« Also dem Guten zu dienen, dem Volkswohl, wie Sand wenigstens beabsichtigte, oder dem Wohl der Armen, wie Crispin, das ist sittlich; aber der Mord und Diebstahl ist unsittlich: der Zweck sittlich, das Mittel unsittlich. Warum? »Weil der Mord, der Meuchelmord etwas absolut Böses ist.« Wenn die Guerillas die Feinde des Landes in Schluchten verlockten und sie ungesehen aus den Büschen niederschossen, so war das etwa kein Meuchelmord? Ihr könntet dem Prinzip der Sittlichkeit nach, welches befiehlt, dem Guten zu dienen, doch nur fragen, ob der Mord nie und nimmer eine Verwirklichung des Guten sein könne, und müßtet denjenigen Mord anerkennen, der das Gute realisierte. Ihr könnt die Tat Sands gar nicht verdammen: sie war sittlich, weil im Dienst des Guten, weil uneigennützig; sie war ein Strafakt, den der einzelne vollzog, eine mit Gefahr des eigenen Lebens vollzogene – Hinrichtung. Was war am Ende sein Unterfangen anders gewesen, als daß er Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt ihr dasselbe Verfahren nicht als ein »gesetzliches« und sanktioniertes? Und was läßt sich aus eurem Prinzip der Sittlichkeit dagegen einwenden? – »Aber es war eine widergesetzliche Hinrichtung.« Also das Unsittliche daran war die Ungesetzlichkeit, der Ungehorsam gegen das Gesetz? So räumt ihr ein, daß das Gute nichts anderes ist als das – Gesetz, die Sittlichkeit nichts anderes als Loyalität. Es muß auch bis zu dieser Äußerlichkeit der »Loyalität« eure Sittlichkeit heruntersinken, bis zu dieser Werkheiligkeit der Gesetzerfüllung, nur daß die letztere zugleich tyrannischer und empörender ist als die einstige Werkheiligkeit. Denn bei dieser bedurfte es nur der Tat, ihr aber braucht auch die Gesinnung: man soll das Gesetz, die Satzung in sich tragen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. Auch die letzte Heiterkeit des katholischen Lebens muß in dieser protestantischen Gesetzlichkeit zugrunde gehen. Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht »ich lebe, sondern das Gesetz lebt in mir«. So bin ich denn wirklich so weit gekommen, nur das »Gefäß seiner (des Gesetzes) Herrlichkeit« zu sein. »Jeder Preuße trägt seinen Gendarmen in der Brust« sagt ein hoher preußischer Offizier. |
Die These eines Gegensatzes ist für
mich nicht nachvollziehbar, zumal sich Frömmigkeit und Sittlichkeit
nicht ausschließen.
Sinnlich leben und "gut" sein, muss sich nicht ausschliessen.
Ich kann in einem leidenschaftlichen Mordmotiv, das die eigene Position
verabsolutiert, keinerlei Uneigennützigkeit erkennen.
Dieses Beispiel trifft die Sache viel besser. Ob etwas "gut" oder "schlecht"
bewertet wird, hängt ganz davon ab, in wessen Auftrag und zu welchen
Zielen und Zwecken eine Tötungshandlung durchgeführt wird. Natürlich
findet im Krieg sehr häufig hinterhältiger Mord statt. Doppelmoral
und zweierlei Recht ist Obrigkeitsprinzip.
Ja, siehe oben. So handhaben es Obrigkeiten, Staat und "Recht".
Das ist eine gute Idee: gut ist, wer aus eigener Überzeugung richtig
handelt.
Dass ich ein Sittengesetz in mir aufnehme, heisst ja noch nicht, dass
es mich völlig beherrscht und alles in mir bestimmt. Es heißt
nur: das Sittengesetz wirkt dort, wo der Anwendungstatbestand greift.
|
Warum wollen gewisse Oppositionen nicht gedeihen? [64] Lediglich aus dem Grunde, weil sie die Bahn der Sittlichkeit oder Gesetzlichkeit nicht verlassen wollen. Daher die maßlose Heuchelei von Ergebenheit, Liebe usw., an deren Widerwärtigkeit man sich täglich den gründlichsten Ekel vor diesem verdorbenen und heuchlerischen Verhältnis einer »gesetzlichen Opposition« holen kann, – In dem sittlichen Verhältnis der Liebe und Treue kann ein zwiespältiger, ein entgegengesetzter Wille nicht stattfinden; das schöne Verhältnis ist gestört, wenn der eine dies und der andere das Umgekehrte will. Nun soll aber nach der bisherigen Praxis und dem alten Vorurteil der Opposition das sittliche Verhältnis vor allem bewahrt werden. Was bleibt da der Opposition übrig? Etwa dies, eine Freiheit zu wollen, wenn der Geliebte sie abzuschlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf sie die Freiheit nicht; sie kann sie nur wünschen, darum »petitionieren«, ein »Bitte, bitte!« lallen. Was sollte daraus werden, wenn die Opposition wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Willens? Nein, sie muß auf den Willen Verzicht leisten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit – der Sittlichkeit zuliebe. Sie darf nie »als ein Recht in Anspruch nehmen«, was ihr nur »als Gunst zu erbitten« erlaubt sei. Die Liebe, Ergebenheit usw. heischt mit unabwendbarer Bestimmtheit, daß nur ein Wille sei, dem die andern sich ergeben, dem sie dienen, folgen, den sie lieben. Ob dieser Wille für vernünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen sittlich, wenn man ihm folgt, und unsittlich, wenn man sich ihm entzieht. Der Wille, der die Zensur gebietet, scheint vielen unvernünftig; wer aber sein Buch im Lande der Zensur dieser unterschlägt, der handelt unsittlich, und wer ihr's vorlegt, handelt sittlich. Quittiere einer sein sittliches Urteil, und errichte z.B. eine geheime Presse, so müßte man ihn unsittlich nennen, und unklug obenein, wenn er sich erwischen ließe? Aber wird ein solcher Anspruch darauf machen, in den Augen der »Sittlichen« einen Wert zu haben? Vielleicht! – Wenn er sich nämlich einbildete, einer »höheren Sittlichkeit« zu dienen. | Nein, sicher nicht. Es gibt viele Gründe,
die noch dazu zusammenwirken können.
Die Verbreitung allgemeiner Heuchelei ist wohl richtig beobachtet. Aber
rät nicht Stirner selbst zu List und Täuschung, wenn die Verhältnisse
für den Einzelnen dies nützlich erscheinen lassen?
Wieso nicht? Ist das nicht gerade der typische dramatische Konflikt,
in dem wir alle des öfteren stecken?
Stirner hat recht, das bloße Bitten wird nicht viel helfen, daher
kommt es ja - Gottseidank - immer wieder zu grenzüberschrei- tenden
Bewegungen bis hin zu Revolutionen. Wozu sollte man sich auch an Gesetz
und Recht halten, wenn es parteiisch und ungerecht verfasst und angewendet
wird?
Man liebt nicht unbedingt, woran man sich hält. Es gibt nicht entweder nur das ANDERE (Staat, Kirche, Gemeinwohl) oder MICH. Ich kann das ANDERE - teilweise oder bedingt - in mich aufnehmen und unter bestimmten Bedingungen zu meinem Eigenen machen. Wer erwischt wird, ist nicht unbedingt unklug, er kann Pech haben oder es kann Verrat im Spiel sein. Aber es kann manchmal sogar gut sein, sich erwischen lassen, weil ein Modell oder sogar ein Vorbild geschaffen und Öffentlichkeit hergestellt wird. |
Schwanken
zwischen Heuchelei und Egoismus: Nichts Halbes und nichts Ganzes.
Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwischen denen unsere Zeit herüber und hinüber schwebt und ihre feinen Fäden der Täuschung und Selbsttäuschung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeschwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rücksichtslos genug, um ganz dem Egoismus zu leben, zittert sie in dem Spinnennetze der Heuchelei bald zur [65] einen, bald zum andern hin, und fängt, vom Fluche der Halbheit gelähmt, nur dumme, elende Mücken. Hat man's einmal gewagt, einen »freien« Antrag zu stellen, gleich verwässert man ihn wieder mit Liebesversicherungen und – heuchelt Resignation; hat man anderseits die Stirne gehabt, den freien Antrag mit sittlichen Verweisungen auf Vertrauen usw. zurückzuschlagen, gleich sinkt auch der sittliche Mut, und man versichert, wie man die freien Worte mit besonderem Wohlgefallen usw. vernehme: man – heuchelt Anerkennung. Kurz man möchte das eine haben, aber das andere nicht entbehren: man möchte einen freien Willen haben, aber den sittlichen beileibe nicht missen. – Kommt nur zusammen, ihr Liberalen, mit einem Servilen. Ihr werdet jedes Wort der Freiheit mit einem Blick des loyalsten Vertrauens versüßen, und er wird seinen Servilismus in die schmeichelndsten Phrasen der Freiheit kleiden. Dann geht ihr auseinander, und er wie ihr denkt: Ich kenne dich, Fuchs! Er wittert an euch so gut den Teufel, als ihr an ihm den alten finstern Herrgott. |
Stirner beschreibt hier den Konflikt, den einer hat, wenn er die Verhältnisse
ändern will, aber noch nicht so recht weiß, was er sich trauen
kann und darf, und wie man es verpackt und deklariert. Er spricht hier
die Kunst praktischer Politik an.
Lüge, Täuschung, Heuchelei sind ganz normales politisches
Alltagsgeschäft. Daher wird nur ein naiver Narr den Worten von PolitikerInnen
eine besondere Bedeutung beimessen. Man kann und darf PolitikerInnen nur
an ihrem Tun und Lassen bewerten.
|
Nero
oder von Relativität des Guten und Bösen
Ein Nero ist nur in den Augen der »Guten« ein »böser« Mensch; in den meinigen ist er nichts als ein Besessener, wie die Guten auch. Die Guten sehen in ihm einen Erzbösewicht und delegieren ihn der Hölle. Warum hinderte ihn nichts in seinen Willkürlichkeiten? Warum ließ man sich so viel gefallen? Waren etwa die zahmen Römer, die von einem solchen Tyrannen sich allen Willen binden ließen, um ein Haar besser? Im alten Rom hätte man ihn augenblicklich hingerichtet, wäre nie sein Sklave geworden. Aber die jetzigen »Guten« unter den Römern setzten ihm nur die sittliche Forderung entgegen, nicht ihren Willen; sie seufzten darüber, daß ihr Kaiser nicht der Sittlichkeit huldige wie sie: sie selber blieben »sittliche Untertanen«, bis endlich einer den Mut fand, die »sittliche, gehorsame Untertänigkeit« aufzugeben. Und dann jauchzten dieselben »guten Römer«, die als »gehorsame Untertanen« alle Schmach der Willenlosigkeit ertragen hatten, über die frevelhafte, unsittliche Tat des Empörers. Wo war denn bei den »Guten« der Mut zur Revolution, den sie jetzt priesen, nachdem ein anderer ihn gefaßt hatte? Die Guten konnten diesen Mut nicht haben, denn eine Revolution, und gar eine Insurrektion, ist immer etwas »Unsittliches«, wozu man sich nur entschließen kann, wenn man aufhört, »gut« zu sein, und entweder »böse« wird, oder – keins von beiden. Nero war nicht schlimmer als [66] seine Zeit, in der man nur eins von beiden sein konnte, gut oder böse. Seine Zeit mußte von ihm urteilen: er sei böse, und zwar im höchsten Grade, nicht ein Flauer, sondern ein Erzböser. Alle Sittlichen können nur dieses Urteil über ihn fällen. Schurken, wie er war, leben heute noch mitunter fort (siehe z.B. Memoiren des Ritters von Lang) inmitten der Sittlichen. Bequem lebt sich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens ist man da ebensowenig sicher, nur daß man »im Wege Rechtens« gehängt wird, seiner Ehre aber ist man am wenigsten sicher, und die Nationalkokarde fliegt im Umsehen davon. Die derbe Faust der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Wesen des Egoismus um. | Das ist richtig. Es gibt natürlich
keine absolut gültige Ethik und Moral. Unterstellte man, dass Nero
Stirners Lehre vom Einzigen kannte, dann hat er nach dieser Lehre nichts
falsch gemacht. Stirner erkennt nur an dieser Stelle zum wiederholten Male
nicht, dass auch er selbst ein Besessener ist, denn die Ethik des Egoisten
und Einzigen, ist auch eine Ethik und damit Spuk und fixe Idee.
Das ist wohl richtig. Herrscher und Politiker sind durch Worte wenig zu beeindrucken. Ja, der Opportunismus hat eine jahrtausendealte Tradition. Hinterher war nie jemand bei den Falschen, im Nachhinein hat man es gleich gewußt und den neuen Mächtigen wird allenthalben zugejubelt. Stirner beschreibt hier ziemlich scharfsinnig, vermutlich zeitlose massen- soziologische Phänomene. Und er beschreibt auch richtig, dass die Weiterentwicklung des Guten meist bedeutet, dass man bestehende Gesetze - die die Herrschenden einseitig zu ihren Gunsten eingerichtet haben - übertreten muss. Wer erst eine Bahnsteigkarte lösen muss, um an der Revolution teilzunehmen, hat gute Chancen, zu scheitern. Verändern wollen heißt Kampf gegen die Herrschaft, die sich natürlich wehrt und ihre Vorteile (Polizei, Militär, Presse, Geld, Recht und Gesetz) nutzt. Man kann nicht nur entweder gut oder böse sein und wir sind das
auch nicht. Fast jeder Mensch trägt Gut und Böse in sich, leidet
mehr oder weniger darunter und lebt es unterschiedlich aus.
Die derbe Faust der Sittlichkeit ist nicht selten nur eine besondere
(versteckte) Form des Egoismus etwa die Mordlust der Fundamentalisten.
|
»Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen ehrlichen Mann auf gleiche Linie stellen!« Nun, kein Mensch tut das öfter als ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das, einen ehrlichen Mann, der offen gegen die bestehende Staatsverfassung, gegen die geheiligten Institutionen usw. redet, den sperrt ihr ein als Verbrecher, und einem verschmitzten Schurken überläßt ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge. Also in praxi habt ihr mir nichts vorzuwerfen. »Aber in der Theorie!« Nun, da stelle ich beide in der Tat auf eine Linie als zwei entgegengesetzte Pole: beide nämlich auf die Linie des Sittengesetzes. Sie haben beide nur Sinn in der »sittlichen« Welt, gerade so, wie in der vorchristlichen Zeit ein gesetzlicher Jude und ein ungesetzlicher nur Sinn und Bedeutung hatten in bezug auf das jüdische Gesetz, dagegen vor Christus der Pharisäer nicht mehr war als die »Sünder und Zöllner«. So gilt auch vor der Eigenheit der sittliche Pharisäer so viel als der unsittliche Sünder. | Nun, wenn man die "fixe Idee" vertritt,
dass vor dem Gesetz - zumindest grundsätzlich - alle gleich sein sollen,
erscheint das das Gebot.
Stirner kritisiert hier das Gegenteil seiner obigen Klage ungerechter
Gleichbehandlung, indem er ausführt, ehrliche Leute, die ihre kritische
Meinung vertreten würden bestraft, verschmitzten Schurken vertrauen
man aber sogar wichtige Dinge an.
Für Stirner ist es offenbar kein Fortschritt, nicht mehr so sehr auf die Hülle, sondern auf die Sache zu schauen. |
Nur Bettler betteln,
Eigene nehmen
Nero wurde durch seine Besessenheit sehr unbequem. Ihm würde aber ein eigener Mensch nicht albernerweise das »Heilige« entgegensetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann des Heiligen nicht achtet, sondern seinen Willen. Wie oft wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menschenrechte den Feinden derselben vorgehalten und irgendeine Freiheit als ein »heiliges Menschenrecht« erwiesen und vordemonstriert. Die das tun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirklich geschieht, wenn sie nicht eigentlich doch, sei's auch unbewußt, den zum Ziele führenden Weg einschlügen. Sie ahnen es, daß, wenn nur erst die Mehrzahl für jene Freiheit gewonnen ist, sie auch dieselbe wollen und dann nehmen [67] wird, was sie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle möglichen Beweise dieser Heiligkeit werden sie niemals verschaffen: das Lamentieren und Petitionieren zeigt eben nur Bettler. | Es ist - wie ja schon mehrfach ausgeführt
- sicher richtig, Tyrannen nicht mit Worten zu bekämpfen.
Worte sind aber auch nicht völlig und von vornherein wirkungslos,
da mit ihnen auch symbolisches Handeln ausgedrückt werden, Menschen-
und Weltbilder beeinflusst werden.
Stirner verkündet hier eine Philosophie der Tat, die wohl von kaum jemandem bestritten wird. Wirkliche Veränderungen erfordern wirkliche Handlungen. |
Der Sittliche ist notwendig darin borniert, daß er keinen andern Feind kennt als den »Unsittlichen«. »Wer nicht sittlich ist, der ist unsittlich!«, mithin verworfen, verächtlich usw. Darum kann der Sittliche niemals den Egoisten verstehen. Ist nicht unehelicher Beischlaf eine Unsittlichkeit? Der Sittliche mag sich drehen, wie er will, er wird bei diesem Ausspruch bleiben müssen; Emilia Galotti ließ für diese sittliche Wahrheit ihr Leben. Und es ist wahr, es ist eine Unsittlichkeit. Ein tugendhaftes Mädchen mag eine alte Jungfer werden; ein tugendhafter Mann mag die Zeit damit hinbringen, sich mit seinen Naturtrieben herumzuschlagen, bis er sie vielleicht verdumpft hat, er mag sich um der Tugend willen verschneiden, wie der heilige Origenes um des Himmels willen: er ehrt die heilige Ehe, die heilige Keuschheit dadurch als unverletzlich, es ist – sittlich. Unkeuschheit kann nie zu einer sittlichen Tat werden. Mag der Sittliche den, der sie beging, auch noch so nachsichtig beurteilen und entschuldigen, ein Vergehen, eine Sünde wider ein sittliches Gebot bleibt sie, es haftet daran ein unauslöschlicher Makel. Wie die Keuschheit einst zum Ordensgelübde, so gehört sie zu sittlichem Wandel. Keuschheit ist ein – Gut. – Dagegen für den Egoisten ist auch Keuschheit kein Gut, ohne das er nicht auskommen könnte: es ist ihm nichts daran gelegen. Was folgt nun für das Urteil des Sittlichen hieraus? Dies, daß er den Egoisten in die einzige Klasse von Menschen wirft, die er außer den sittlichen Menschen kennt, in die der – Unsittlichen. Er kann nicht anders, er muß den Egoisten in allem, worin dieser die Sittlichkeit nicht achtet, unsittlich finden. Fände er ihn nicht so, so wäre er eben schon der Sittlichkeit abtrünnig geworden, ohne sich's zu gestehen, er wäre schon kein wahrhaft sittlicher Mensch mehr. Man sollte sich durch solche Erscheinungen, die heutigentags allerdings nicht mehr zu den seltenen gehören, nicht irreführen lassen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergibt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Parabel die christliche Religion, so gut als die mohammedanische und jüdische, einem »unechten Ringe« vergleicht, ein frommer Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich's zu gestehen getrauen. [68] – Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit gewesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil Sokrates – ein sittlicher Mensch war. Die »sittenlosen, ruchlosen« Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue geschworen, und dekretierten seine Absetzung, ja seinen Tod, die Tat war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden. | "Der Sittliche" hat nicht nur die "Unsittlichen"
als Feind, sondern die Anderssittlichen als Konkurrenz, die Zwiespältigen,
Launischen und Wechselhaften.
Das hängt doch ganz von den Vereinbarungen und den Rechtsverhältnissen ab - wie wir inzwischen ganz genau wissen. Hier ist Stirner ein ziemliches Opfer seiner Zeit und ein wenig blind,
wenn er nur die kleinbürgerlichen und kirchlichen Lehren sieht.
Ich denke, man braucht sich nur einem Sittengesetz verpflichtet fühlen, wenn dies auch die anderen in der Gemeinschaft und Gesellschaft tun. Einseitige Bindungen und Verpflichtungen kann, aber muss man nicht eingehen. Warum soll ich zu meinem Staat gut sein, wenn der mich austrickst und betrügt, wie es ihm gefällt? Warum soll ich einem Prinzip treu sein, dem meine MitspielerInnen untreu sind? Wieso soll ich ehrlich sein, wo mir das zum Schaden gereicht? Die zahlreichen Bedingungen und Umstände, die das eigene sittliche Verhalten beeinflussen und bewirken können, werden von Stirner überhaupt nicht differenziert und berücksichtigt. |
Die human
entwickelte "reine" Sittlichkeit
Mehr oder weniger trifft jedoch dies alles nur die »bürgerliche Sittlichkeit«, auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbständige Lehren zu erzeugen. Ganz anders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein ihrer Würde gelangt, und ihr Prinzip, das Wesen des Menschen oder »den Menschen«, zum einzigen Maßgebenden erhebt. Diejenigen, welche so zu entschiedenem Bewußtsein sich durchgearbeitet haben, brechen vollständig mit der Religion, deren Gott neben ihrem »Menschen« keinen Platz mehr findet, und wie sie (s. unten) das Staatsschiff selbst anbohren, so zerbröckeln sie auch die im Staate allein gedeihende »Sittlichkeit« und dürfen folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter gebrauchen. Denn, was diese »Kritischen« Sittlichkeit nennen, das scheidet sich sehr bündig von der sogenannten »bürgerlichen oder politischen Moral« ab und muß dem Staatsbürger wie eine »sinn- und zügellose Freiheit« vorkommen. Im Grunde aber hat es nur die »Reinheit des Prinzips« voraus, das, aus seiner Verunreinigung mit dem Religiösen befreit, nun in seiner geläuterten Bestimmtheit als – »Menschlichkeit« zur Allgewalt gekommen ist. Deshalb darf man sich nicht wundern, daß auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Freiheit, Humanität, Selbstbewußtsein usw., beibehalten und nur etwa mit dem Zusatze einer »freien« Sittlichkeit versehen wird, gerade so wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Unglimpf erfährt, doch der Staat als »freier Staat«, oder, wenn selbst so nicht, doch als »freie Gesellschaft« wieder erstehen soll. | Stirner räumt hier endlich ein,
dass er sich oben vor allem in der "bürgerlichen" Sittlichkeit verfangen
hat. Mit Recht er kennt er noch eine große Nähe zur religiös
motivierten Sittlichkeit.
Stirner arbeitet nicht klar heraus, weshalb die auf Humanität gegründete
Sittlichkeit der Religion gleichzusetzen ist. Tatsächlich werden von
der auf Humanität gegründeten Sittlichkeit die meisten metaphysischen
Bedürfnisse, die die Religion befriedigt, gerade offen gelassen und
eben nicht befriedigt.
Die Schilderung einer entwickelten Sittlichkeit unabhängig von
der Religion folgt den philosophischen und politischen Entwicklungen seiner
Zeit.
|
Die
bürgerlich humane Sittlichkeit als Religion
[69] Weil diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus welcher sie geschichtlich hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat, so hindert sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden. Denn zwischen Religion und Sittlichkeit waltet nur so lange ein Unterschied ob, als unsere Beziehungen zur Menschenwelt durch unser Verhältnis zu einem übermenschlichen Wesen geregelt und geheiligt werden, oder so lange als unser Tun ein Tun »um Gottes willen« ist. Kommt es hingegen dahin, daß »dem Menschen der Mensch das höchste Wesen ist«, so verschwindet jener Unterschied, und die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur – Religion. Es hat dann nämlich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und wir verhalten uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d.h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun ebenso synonym als im Anfang des Christentums, und nur weil das höchste Wesen ein anderes geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein »heiliger«, sondern ein »menschlicher«. Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger – Herrenwechsel eingetreten. | Die Idee einer religionsunabhängigen
Sittlichkeit setzt nicht unbedingt voraus, dass der Mensch selbst als das
höchste Wesen angesehen wird. Besser würde passen, wenn die Idee
einer Menschlichkeit und Humanität als eine Art höchsten Wesen
angesehen würde. Es ist natürlich ein geistesgeschichtlicher
und moralischer Fortschritt, wenn die Idee der Humanität und Sittlichkeit
keinen furchterregenden Gott mehr braucht.
|
Kritik
an Feuerbachs Leitidee der Liebe zum Menschen
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt
Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. »Das
höchste und erste Gesetz muß die Liebe des Menschen zum Menschen
sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz
– dies der Wendepunkt der Weltgeschichte«12.
Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe, ist
geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen
Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist mir – heilig. Und alles »wahrhaft
Menschliche« ist mir – heilig! »Die Ehe ist durch sich selbst
heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist
und sei dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig
das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst«13.
Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch! Was
das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat
nur in Subjekt verwandelt, und statt des Satzes »Gott ist die Liebe«
heißt es »die Liebe ist göttlich«, statt »Gott
ist Mensch geworden« – »der Mensch ist Gott geworden«
usw. Es ist eben nur eine neue – Religion. »Alle sittlichen Verhältnisse
sind nur da moralische, sie werden [70] nur da mit sittlichem Sinne gepflogen,
wo sie durch sich selbst (ohne religiöse Weihe durch den Segen des
Priesters) als religiöse gelten.« Feuerbachs Satz: die Theologie
ist Anthropologie, heißt nur »die Religion muß Ethik
sein, die Ethik ist allein Religion.«
Überhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und
Prädikat, eine Bevorzugung des letzteren. Da er aber selbst sagt:
»Die Liebe ist nicht dadurch heilig (und hat den Menschen niemals
dadurch für heilig gegolten), daß sie ein Prädikat Gottes,
sondern sie ist ein Prädikat Gottes, weil sie durch und für sich
selbst göttlich ist,« so konnte er finden, daß der Kampf
gegen die Prädikate selbst eröffnet werden mußte, gegen
die Liebe und alle Heiligkeiten. Wie durfte er hoffen, die Menschen von
Gott abzuwenden, wenn er ihnen das Göttliche ließ? Und ist ihnen,
wie Feuerbach sagt, Gott selbst nie die Hauptsache gewesen, sondern nur
seine Prädikate, so konnte er ihnen immerhin den Flitter noch länger
lassen, da ja die Puppe doch blieb, der eigentliche Kern. Er erkennt das
auch, daß es sich bei ihm »nur um die Vernichtung einer Illusion
handelt«14, meint jedoch, sie »wirke
grundverderblich auf die Menschen, da selbst die Liebe, an sich die innerste,
wahrste Gesinnung, durch die Religiosität zu einer unscheinbaren,
illusorischen werde, indem die religiöse Liebe den Menschen nur um
Gottes willen, also nur scheinbar den Menschen, in Wahrheit nur Gott liebt.«
Ist dies anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen
Menschen um dieses Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um
des Menschen willen, also – denn homo homini Deus – um Gottes willen?
|
Die Leitidee Feuerbachs klingt sehr vernünftig
im Sinne eines wohlverstandenen Egoisten, der um die Bedeutung des Sozialen
und Zwischenmenschlichen für sich selbst weiß.
In der Tat liest sich Feuerbach beim Thema Liebe sehr schwärmerisch
wie ein quasi-religiöses Bekenntnis zur Liebe ohne Gott und Christentum.
Stirner kritisiert hier zu Recht, dass Wertschöpfer dazu neigen,
ihre Grundwerte zu glorifizieren, mit dem Nimbus einer Überwelt zu
versehen und darin gleicht dieses Vorgehen dem Religiösen. Solcherart
begründete und gepriesene Ethik ähnelt religiöser Schwelgerei
und Schwärmerei.
Aus der offenbar einvernehmlichen Tatsache, dass die Liebe wunderbare
Wirkungen hat, lässt sich nicht ableiten, dass hier von Feuerbach
eine - ungewollte - wesensmäßige Gleichsetzung mit Gott vorgenommen
wird. Feuerbach nimmt zu Recht an, dass dies eine genuin der Liebe eigene
Wirkung ist.
|
Der Sparren hat noch eine Menge von formellen
Seiten, deren einige hier anzudeuten nützlich sein möchte.
So ist die Selbstverleugnung den Heiligen gemein mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine verleugnet alle »besseren Gefühle«, alle Scham, ja die natürliche Furchtsamkeit, und folgt nur der ihn beherrschenden Begierde. Der Reine verleugnet seine natürliche Beziehung zur Welt (»verleugnet die Welt«) und folgt nur dem ihn beherrschenden »Verlangen«. Von Gelddurst getrieben verleugnet der Habgierige alle Mahnungen des Gewissens, alles Ehrgefühl, alle Milde und alles Mitleid; er setzt alle [71] Rücksichten aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht der Heilige. Er macht sich zum »Spotte der Welt«, ist hartherzig und »strenggerecht«; denn ihn reißt das Verlangen fort. Wie der Unheilige vor dem Mammon sich selbst verleugnet, so verleugnet der Heilige sich vor Gott und den göttlichen Gesetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unverschämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt wird, wodurch sie zugleich gezwungen ist, sich selbst täglich mehr zu enthüllen und bloßzustellen. Übersteigt nicht die Unverschämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man dem »Fortschritt der Zeit« entgegenwirkt, längst alles Maß und alle Erwartung? Aber es muß so kommen. Die Selbstverleugnenden müssen als Heilige denselben Gang nehmen wie als Unheilige, und wie diese nach und nach ins vollste Maß selbstverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit versinken, so müssen jene zur entehrendsten Erhabenheit aufsteigen. Der Mammon der Erde und der Gott des Himmels fordern beide genau denselben Grad der – Selbstverleugnung. Der Niedrige wie der Erhabene langen nach einem »Gute«, und beide ergänzen zuletzt auch einander wieder, indem der »materiell Gesinnte« einem ideellen Schemen alles opfert, seiner Eitelkeit, der »geistlich Gesinnte« einem materiellen Genüsse, dem Wohlleben. |
Es ist belegt, dass die Selbstverleugnung als allgemein menschliches
Phänomen angesehen werden muss. Aber es gibt hier viele Grau- und
Grenzzonen, Unter- und Übertreibungen. Stirner nimmt hier die später
von Freud erdachten Abwehrmechanismen
vorweg.
Diese scharfsinnigen Gedanken Stirners treten aber nicht nur als interpsychische
Gegensätze zwischen (Ideal-) Typen hervor, sondern sie finden sich
auch intrapsychisch als unterschiedlich ausgeprägte Gegensätze
in einer einzigen Seele.
|
Analyse
der Uneigennützigkeit - ein regelrechter "Modeartikel der zivilisierten
Welt"
Die innere Notwendigkeit - hier stehe ich und kann nicht anders.
Ungemein viel glauben diejenigen zu sagen,
welche den Menschen »Uneigennützigkeit« ans Herz legen.
Was verstehen sie darunter? Wohl etwas Ähnliches als unter »Selbstverleugnung«.
Wer aber ist dieses Selbst, das verleugnet werden und keinen Nutzen haben
soll? Du scheinst es selber sein zu sollen. Und zu wessen Nutzen empfiehlt
man dir die uneigennützige Selbstverleugnung? Wiederum dir zu Nutzen
und Frommen, nur daß du durch Uneigennützigkeit deinen »wahren
Nutzen« dir verschaffst.
Dir sollst du nutzen, und doch sollst du deinen Nutzen nicht suchen. Für uneigennützig hält man den Wohltäter der Menschen, einen Franken, welcher das Waisenhaus stiftete, einen O'Connell, der für sein irisches Volk unermüdlich arbeitet; aber auch den Fanatiker, der, wie der heilige Bonifacius, sein Leben für die Heidenbekehrung einsetzt, oder wie Robespierre alles der Tugend opfert, wie Körner für Gott, König und Vaterland stirbt. Daher versuchen unter andern die Gegner O'Connells, ihm eine Eigennützigkeit oder Gewinnsucht unterzuschieben, wozu ihnen die O'Connell-Rente Grund [72] zu geben schien; denn gelänge es, seine »Uneigennützigkeit« zu verdächtigen, so trennten sie ihn leicht von seinen Anhängern. Was könnten sie indes weiter beweisen, als daß O'Connell auf einen andern als den vorgeblichen Zweck hinarbeite? Ob er aber Geldgewinn oder Volkbefreiung erzielen mag, daß er einem Zwecke, und zwar seinem Zwecke zustrebt, bleibt doch im einen wie im andern Falle gewiß: Eigennutz hier wie da, nur daß sein nationaler Eigennutz auch andern zugute käme, mithin gemeinnützig wäre. Ist nun etwa die Uneigennützigkeit unwirklich und nirgends vorhanden? Im Gegenteil, nichts ist gewöhnlicher! Man darf sie sogar einen Modeartikel der zivilisierten Welt nennen, den man für so unentbehrlich hält, daß man, wenn er in solidem Stoffe zu viel kostet, wenigstens mit seinem Flitterschein sich ausputzt und ihn erheuchelt. Wo beginnt die Uneigennützigkeit? Gerade da, wo ein Zweck aufhört, unser Zweck und unser Eigentum, mit dem wir als Eigentümer nach Belieben schalten können, zu sein; wo er ein fixer Zweck oder eine – fixe Idee wird, wo er anfängt, uns zu begeistern, enthusiasmieren, fanatisieren, kurz, wo er zu unserer Rechthaberei ausschlägt und unser – Herr wird. Man ist nicht uneigennützig, solange man den Zweck in seiner Gewalt behält; man wird es erst bei jenem »Hier steh' ich, ich kann nicht anders«, dem Kernspruche aller Besessenen, man wird es bei einem heiligen Zwecke durch den entsprechenden heiligen Eifer. Ich bin nicht uneigennützig, solange der Zweck mein eigen bleibt, und ich, statt zum blinden Mittel seiner Vollführung mich herzugeben, ihn vielmehr allezeit in Frage lasse. Mein Eifer braucht darum nicht geringer zu sein als der fanatischste, aber ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn frostig kalt, ungläubig und sein unversöhnlichster Feind; ich bleibe sein Richter, weil ich sein Eigentümer bin. Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, soweit die Besessenheit reicht, gleich sehr auf Teufelsbesitzungen wie auf denen eines guten Geistes: dort Laster, Narrheit usw.; hier Demut, Hingebung usw. |
Hier greift Stirner etwas sehr Richtiges
an, nämlich die seit Urzeiten weit verbreitete moralische Rhetorik.
Man redet dem Menschen ein, Uneigennützigkeit sei der wahre Nutzen,
doch dies steht oft im Widerspruch zum Erleben und zur Erfahrung der Menschen.
Diesen Widerspruch spießt Stirner gut auf. Aber er berücksichtigt hierbei nicht, dass der Mensch zwar logisch und widerspruchsfrei denken kann, aber selbst in seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht logisch und widerspruchsfrei organisiert ist. Der Mensch hat viele Strebungen und bezieht man diese etwa durch verschiedene ICH-Konstruktionen (Vital-Ich, Real-Ich, Norm-Ich, Ideal-Ich, Super-Ich) ein, so macht es durchaus Sinn zu sagen, was dem einen ICH nutzte, kann dem andern schaden. Solche Konflikte gehören zu fast jedem Leben dazu, egal wie "normal" oder "unnormal" es gelebt wird. Alle von Stirner beispielhaft Genannten für vermeintliche Uneigennützigkeit
sind es sicher nicht, wenn man eine differenzierte ICH-Analyse durchführt.
Wozu sollte man auch "uneigennützig" handeln? Meist wird dann das
Norm- oder Ideal-Ich befriedigt. Richtig ist aber, dass man jemand mehr
Glaubwürdigkeit zubilligt, der Opfer für seine Sache bringt.
Diese Analyse ist wohl richtig: ein Ziel kann mehreren Herren dienen,
sowie Altruismus sehr gute Wirkungen für den Egoisten haben kann.
Das ist eine wirklich wichtige Frage, die Stirner aber gar nicht beantwortet. Stattdessen schweift er auf seine Lieblingsidee der fixen Idee ab. Ein Mensch erreicht nach Stirner den Höhepunkt uneigennützigen Handeln wenn er von inneren Normen so wie Luther - hier stehe ich, ich kann nicht anders - zwanghaft getrieben wird, wenn er die Souveränität der freien Wahl verloren hat, wenn er handeln muss. Affektbeteiligung, Überwertigkeit und Zwang beherrschen Stirners
Charakterisierung. Die übliche Charakterisierung bestimmt hingegen:
Uneigennützigkeit liegt gewöhnlich dann vor, wenn der Nutzen
für den Handelnden nicht so erkennbar ist wie für andere, die
Nutznießer seines Handelns.
Eifrigkeit und frostig kalt bleiben ist ein psychologischer Widerspruch. Wer Anteil nimmt und eifrig ist, der ist eben nicht "frostig kalt". Stirner kann hier nur sinnvoll meinen, dass man, wie oben schon herausgearbeitet, die Wahlfreiheit behält. Eine solche Bestimmung ist auch mit Leidenschaft verträglich.
|
Das
Hohe Lied Stirners auf Kurtisanen und freie Frauen gegenüber entsagenden
Jungfern
Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbstverleugnung zu begegnen? Da sitzt mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer bringt. Über der üppigen Gestalt neigt sich ein todmüdes Haupt, und bleiche Wangen verraten die langsame Verblutung [73] ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leidenschaften an dein Herz geschlagen, und die reichen Jugendkräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn dein Haupt sich in die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur durch deine Glieder, spannte das Blut deine Adern, und gössen feurige Phantasien den Glanz der Wollust in deine Augen. Da erschien das Gespenst der Seele und ihrer Seligkeit. Du erschrakst, deine Hände falteten sich, dein gequältes Auge richtete den Blick nach oben, du – betetest. Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über den Ozean deiner Begierden. Langsam senkten sich die matten Augenlider über das unter ihnen erloschene Leben, aus den strotzenden Gliedern schlich unvermerkt die Spannung, in dem Herzen versiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände selbst lasteten entkräftet auf dem widerstandslosen Busen, ein leises, letztes Ach stöhnte noch nach, und – die Seele war ruhig. Du entschliefst, um am Morgen zu neuem Kampfe zu erwachen und zu neuem – Gebete. Jetzt kühlt die Gewohnheit der Entsagung die Hitze deines Verlangens, und die Rosen deiner Jugend erblassen in der – Bleichsucht deiner Seligkeit. Die Seele ist gerettet, der Leib mag verderben! O Lais [W], o Ninon [W], wie tatet ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette [W] gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern! | Hier gibt Stirner eine beinah lyrische
Einlage zum klassischen Konflikt der Sehnsucht nach leidenschaftlicher
Hingabe und dem moralischen Verbot, aktiv und frei die Liebe zu leben.
Stirner spricht sich hier poetisch-enthusiastisch für die Lebensform
der Hetären und freien Frauen (Beispiel Grisetten) aus und bedauert
die in der Tugend grau gewordenen Jungfern.
|
Die
Verdächtigkeit der Worte "Grundsatz, Prinzip, Standpunkt"
Auch als »Grundsatz, Prinzip, Standpunkt« u. dergl. läßt sich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen Standpunkt außerhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach diesem Standpunkte suchten fortwährend die Menschen, und jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedanken, Begriffe, Wesen usw.; es ist der Himmel. Der Himmel ist der »Standpunkt«, von welchem aus die Erde bewegt, das irdische Treiben überschaut und – verachtet wird. Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest und auf ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich rang danach die Menschheit. | Der Kritik Stirners an der Suche nach
einem Standpunkt vermag ich nicht zu folgen. Er hat ja auch einen - gesucht
und gefunden.
Das klingt doch schon sehr "eigen".
|
Wodurch soll
der Mensch bestimmt sein ?
Es hat das Christentum dahin gezielt, uns von der Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Begierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, daß der Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin liegt nicht, daß er keine Begierden haben solle, sondern daß die Begierden ihn nicht haben sollen, daß sie nicht fix, unbezwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun [74] das Christentum (die Religion) gegen die Begierden machinierte, könnten wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, daß uns der Geist (Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube usw.) bestimmen solle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geist oder die Vorstellung, die Idee uns nicht bestimmen, nicht fix und unantastbar oder »heilig« werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen uns nicht haben, so hieße es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, so denke man z.B. daran, daß bei so manchem ein Gedanke zur »Maxime« wird, wodurch er selbst in dessen Gefangenschaft gerät, so daß nicht er die Maxime, sondern diese vielmehr ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen »festen Standpunkt«. Die Lehren des Katechismus werden unversehens unsere Grundsätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derselben oder der – Geist hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des »Fleisches« wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann ich nur durch das »Fleisch« die Tyrannei des Geistes brechen; denn nur, wenn ein Mensch auch sein Fleisch vernimmt, vernimmt er sich ganz, und nur, wenn er sich ganz vernimmt, ist er vernehmend oder vernünftig. Der Christ vernimmt den Jammer seiner geknechteten Natur nicht, sondern lebt in »Demut«; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche seiner Person widerfährt: mit der »Geistesfreiheit« glaubt er sich befriedigt. Führt aber einmal das Fleisch das Wort und ist der Ton desselben, wie es nicht anders sein kann, »leidenschaftlich«, »unanständig«, »nicht wohlmeinend«, »böswillig« usw., so glaubt er Teufelsstimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geist (denn Anstand, Leidenschaftlosigkeit, Wohlmeinung u. dergl. ist eben – Geist), und eifert mit Recht dagegen. Er müßte nicht Christ sein, wenn er sie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit und schlägt die Sittenlosigkeit aufs Maul, er hört nur auf die Gesetzlichkeit und knebelt das gesetzlose Wort: der Geist der Sittlichkeit und Gesetzlichkeit hält ihn gefangen, ein starrer, unbeugsamer Herr. Das nennen sie die »Herrschaft des Geistes« –, es ist zugleich der Standpunkt des Geistes. | Hier geht Stirner sehr milde mit dem
Christentum um. So tolerant gegenüber den Begierden war es nie. Leider
stellt Stirner die wichtige Grundfrage nicht, was es denn heißen
soll, sich nicht von seinen Begierden bestimmen zu lassen? Hier ist ja
zu unterscheiden zwischen dem Augenblick, der Gegenwart und einer mittleren
und längeren Zukunfts-Sicht. Wie oben
schon ausführlich erörtert, hat der Mensch ja ganz verschiedene
Strebungen, Wünsche und Bedürfnisse, so dass die Aufgabe
für jeden ist, mit Hilfe seines Super-Ichs,
einen Ausgleich herzustellen. Dies bedeutet natürlich in manchen Fällen
Bedürfnisaufschub, aber nicht unbedingt Verzicht.
All unser Tun und Lassen ist letztlich von Wünschen, Bedürfnissen,
Motiven oder Interessen bestimmt. Der Geist, genauer unser Denken
war immer nur ein "Hilfssheriff" im Dienste unserer Strebungen.
Hier ist es auch nicht der Geist oder der Gedanke, der einen Menschen
gefangen nimmt, sondern eine Norm, ein Wert oder ein Ideal. Das Wesentliche
ist dabei, dass Normen, Werte, Ideale gefühlsmäßig besetzt
sein müssen, um wirken zu können (> siehe bitte Grundlagen
des Werterlebens; > allgemeine Übersicht
Werte).
Das stimmt dann, wenn es sich um eine "geglückte", d.h. gut abgerichtete neutestamentliche ChristIn handelt. Das ist eine interessante für nicht wenige Fälle bis ins 20.
Jhd. hinein stimmige Theorie, wie es zu Wahnbildungen
und Halluzinationen kommen kann.
Das ist nicht die Herrschaft des Geistes, sondern des Norm-Ichs
(Über-Ich), dem Real-Ich
und Super-Ich nicht gewachsen
sind.
|
Welche
Freiheit sucht und braucht der Mensch ?
Und wen wollen nun die gewöhnlichen
liberalen Herrn frei machen? Nach wessen Freiheit schreien und lechzen
sie [75] denn? Nach der des Geistes! Des Geistes der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit,
Frömmigkeit, Gottesfurcht usw. Das wollen die antiliberalen Herren
auch, und der ganze Streit zwischen beiden dreht sich um den Vorteil, ob
die letzteren das Wort allein haben oder die ersteren einen »Mitgenuß
desselben Vorteils« erhalten sollen. Der Geist bleibt für beide
der absolute Herr, und sie hadern nur darum, wer den hierarchischen Thron,
der dem »Statthalter des Herrn« gebührt, einnehmen soll.
Das Beste an der Sache ist, daß man dem Treiben ruhig zusehen kann
mit der Gewißheit, daß die wilden Tiere der Geschichte sich
ebenso zerfleischen werden, wie die der Natur; ihre verwesenden Kadaver
düngen den Boden für – unsere Früchte.
Auf manchen andern Sparren, wie den des Berufes, der Wahrhaftigkeit, der Liebe usw., kommen wir später zurück. |
Stirner erkennt keinen grundsätzlichen
Unterschied zwischen den Strebungen der Liberalen und der Antiliberalen
(Kleriker). Beide streiten nur um die Macht der gesellschaftlich gültigen
Werte, aber beide sind sich eben darin gleich, eine Wertordnung vorzugeben
und ihre Anerkennung zu verlangen.
Stirner findet den Kampf der Ideologien gut und wähnt seine Ideologie
als lachenden Dritten, wenn sich Liberale und Christen zerfleischt haben.
Er sieht nicht, dass seine Lehre den Kampf jedes gegen jeden bedeutet und
dass hierbei die Skrupellosesten und Stärksten jeweils bestimmen,
wo es lang gehen soll, d.h. es mündet in Vulgäranarchie, Chaos
und Tyrannis, einzig und allein den Gesetzen des Sozialdarwinismus
unterliegend.
|
Das Eigene und das Eingegebene
Wenn das Eigene dem Eingegebenen entgegengestellt wird, so will der Einwurf nichts verschlagen, daß wir Isoliertes nicht haben können, sondern alles im Weltzusammenhange, also durch den Eindruck des um uns Befindlichen empfangen, mithin als ein »Eingegebenes« haben; denn es ist ein großer Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch anderes in mir angeregt, und denen, welche mir gegeben werden. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Menschlichkeit usw. werden uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle eingeprägt, die kräftiger oder flauer unser Inneres bewegen, und entweder unbewußt uns beherrschen, oder in reicheren Naturen zu Systemen und Kunstwerken sich darlegen können, immer aber nicht angeregte, sondern eingegebene Gefühle sind, weil wir an sie glauben und an ihnen hängen müssen. Daß ein Absolutes sei und dieses Absolute von uns aufgenommen, gefühlt und gedacht werden müsse, stand als Glaube bei denen fest, die alle Kraft ihres Geistes darauf verwandten, es zu erkennen und darzustellen. Das Gefühl für das Absolute besteht da als ein eingegebenes und kommt fortan nur zu den mannigfaltigsten Offenbarungen seiner selbst. So war in Klopstock das religiöse Gefühl ein eingegebenes, das sich in der Messiade nur künstlerisch verkündete. Wäre hingegen die Religion, welche er vorfand, für ihn nur eine Anregung zu Gefühl und Gedanke gewesen, und hätte er sich ganz eigen dagegen zu stellen gewußt, so ergab sich statt religiöser Begeisterung eine Auflösung und [76] Verzehrung des Objektes. Dafür setzte er im reifen Alter nur seine kindischen, in der Kindheit empfangenen Gefühle fort und verpraßte die Kräfte seiner Mannheit in dem Aufputz seiner Kindereien. | Drei entscheidende Fragen erörtert
Stirner leider gar nicht: 1) Kann Fremdes zu Eigenem werden? 2) Wie kann
Eingegebenes zu Eigenem werden? 3) Und welches Fremde steht im Dienste
des Ego und Einzigen und sollte daher wie zu berücksichtigen sein?
Immerhin: wenigstens unterscheidet er Eingegebenes von Anregungen, wobei
er letztere wohl gelten lässt, aber man vermisst alle Kriterien, wie
man das eine vom andern unterscheidet. So verrichtet Stirner an dieser
Stelle nur etwa 10% der Arbeit, die nötig wäre.
Das "Eingegebene" scheint bei Stirner mit der Erziehung und Kindheit zusammenzuhängen. Die Ausführung von "unbewusst beherrschen" und es in Systemen oder Kunstwerken darlegen, ist nicht nachvollziehbar und auch nicht recht vergleichbar. Es werden hier sozusagen zwei Umgangsformen mit "Eingegebenen" postuliert: man lebt unbewusst danach oder drückt das Eingegebene durch Schaffung von Systemen oder Kunstwerken aus. Das Beispiel Klopstock spricht für die oben gemachte Interpretation:
Eingegebenes geht auf die Erziehung in der Kindheit zurück.
Dieser Gedankengang ist mir unverständlich.
|
Der Unterschied
zwischen "anregen" und "eingeben"
Der Unterschied ist also der, ob mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize ich mich auf, hege sie in mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewußter oder unbewußter gemerkt, daß unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. Hören wir den Namen Gottes, so sollen wir Gottesfurcht empfinden, hören wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören wir den der Moral, so sollen wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören wir von dem und den Bösen, so sollen wir schaudern usw. Auf diese Gefühle ist's abgesehen, und wer z.B. die Taten der »Bösen« mit Wohlgefallen vernähme, der müßte durch die Zuchtrute »gezüchtigt und erzogen« werden. So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden »mündig gesprochen«. Unsere Ausrüstung besteht aus »erhebenden Gefühlen, erhabenen Gedanken, begeisternden Grundsätzen, ewigen Prinzipien« usw. Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten; man hetzt sie durch die Schule, damit sie die alte Leier lernen, und haben sie diese inne, so erklärt man sie für mündig. | Man erkennt hier, dass Stirner mit Eingegebenem
etwas Fremdes, von außen Übergestülptes meint. Im Grunde
ist Stirner wie Johann Christian Reil schon vor ihm in der Erziehungsfrage
ein früher Vorgänger Jungs, der Humanistischen
Psychologie und Psychotherapiebewegung, namentlich von Carl Rogers,
wo die Idee der Selbstentfaltung
eine große Rolle spielt. Sein Grundverständnis von Erziehung
ist Hegels Autoritätsdiktatur entgegengesetzt und zeigt einen grundlegenden
Respekt vor dem kindlichen Selbst und seiner Eigenart. Damit vertritt er
im Sinne seiner Lehre aber auch selbst einen Spuk oder eine fixe Idee,
nämlich den hohen pädagogischen und humanistischen Wert der Selbstentfaltung.
Und damit widerspricht er sich wieder selbst, wenn er allen Spuk, alle
Gespenster, alle fixen Ideen verbannen will. Denn dann verbannt er auch
seine eigenen guten Werte: entwickeln, entfalten lassen, Begabungen und
Neigungen fördern.
Die Kritik an der Hegelschen Antipädagogik seiner Zeit ist vollkommen
berechtigt. Abrichten bis zur reibungslosen Fügsamkeit erzieht keine
selbstbewussten Menschen, sondern Marionetten, die sich für fremde
"höhere" Zwecke natürlich bestens missbrauchen lassen.
|
Sinn
der Seelsorge - Vorschriften für "fühlen" und "denken"
Wir dürfen nicht bei jeder Sache
und jedem Namen, der uns vorkommt, fühlen, was wir dabei fühlen
möchten und könnten, dürfen z.B. bei dem Namen Gottes nichts
Lächerliches denken, nichts Unehrerbietiges fühlen, sondern es
ist uns vorgeschrieben und eingegeben, was und wie wir dabei fühlen
und denken sollen.
Das ist der Sinn der Seelsorge, daß meine Seele oder mein Geist gestimmt sei, wie andere es recht finden, nicht wie ich selbst möchte. Wie viele Mühe kostet es einem nicht, wenigstens bei dem und jenem Namen endlich sich ein eigenes Gefühl zu sichern und manchem ins Gesicht zu lachen, der von uns bei seinen Reden ein heiliges Gesicht und eine unverzogene Miene erwartet. Das Eingegebene ist [77] uns fremd, ist uns nicht eigen, und darum ist es »heilig«, und es hält schwer, die »heilige Scheu davor« abzulegen. Heutigestags hört man auch wieder den »Ernst« anpreisen, den »Ernst bei hochwichtigen Gegenständen und Verhandlungen«, den »deutschen Ernst« usw. Diese Art der Ernsthaftigkeit spricht deutlich aus, wie alt und ernstlich schon die Narrheit und Besessenheit geworden ist. Denn es gibt nichts Ernsthafteres als den Narren, wenn er auf den Kernpunkt seiner Narrheit kommt: da versteht er vor großem Eifer keinen Spaß mehr. (Siehe Tollhäuser.) |
Ja, so sehen es die Auserwählten
und danach führen sie sich auch auf.
Ja, so war und so ist es.
Hier vermisse ich die Einsicht, das Fremdes, von anderen kommendes,
Eingegebenes auch zu Eigenem werden kann.
Bei unseren hohen Werten und Empfindlichkeiten verstehen wir allesamt
nicht so viel Spaß. Besonders grausam und brutal sind hier aber sicher
die auserwählten Fundamentalisten
aller Farben und Schattierungen.
|
Biographisches. [nach
Mackay > Online und Engert (2001)]
Max Stirner, mit bürgerlichen Namen Johann Caspar Schmidt, wurde
1806 in Bayreuth geboren und er starb mit noch nicht ganz 50 Jahren 1856
in Berlin. Sein Vater, Instrumentenbauer, stammte aus Ansbach und starb
ein halbes Jahr nach seiner Geburt, worauf seine Mutter 1809 nochmals heiratete
und mit ihrem zweiten Mann in der Not der Zeit nach Kulm in Westpreußen
zog. 1818 Gymnasium in Bayreuth. Unstetes Studium in Berlin, Erlangen,
Königsberg, mehrere Jahre unterbrochen u.a. wegen einer längeren
Reise durch Deutschland. 1835 und 1836 Referendarzeit an einer königlichen
Realschule in Berlin. 1839 Lehrerexamen in Berlin. Die Mutter stammte aus
Erlangen und litt an "fixen Ideen", die sie für Jahrzehnte in die
Heilanstalt brachten. 1834 taucht sie plötzlich - mitten in den Prüfungsvorbereitungen
- bei Stirner in Berlin auf, 1835 kommt sie in die Charité bis 28.
Juli 1836 und ab 17.10.1837 in die Privatanstalt Schönhauser Allée
(Frau Dr. Klinsmann), wo sie am 17.3.1859, drei Jahre nach Stirners Tod,
starb.
1839 wurde Stirner Lehrer an einer Mädchenschule
in Berlin. Anschluß an die Gruppe der "Freien" (überwiegend
damalige Linke), die jahrelang tagtäglich hauptsächlich in Wirtshäusern
tagte (Stammsitz Weinstube Hippel in der Friedrichstraße nach der
Bierstube Zum Kronprinzen und der Weinwirtschaft Walburg in der alten Post
um die Nikolaikirche herum). Die "Freien" waren nur eine lose Verbindung
mit Kontakten zur Rheinischen Zeitung, zur Allgemeinen Litteratur-Zeitung
und politisch avantgardistischen Zirkeln. Friedrich Engels ging dort einige
Zeit ein und aus und von diesem gibt es auch - eine wenig ähnliche
Zeichnung - von Stirner. Die zentrale Figur der "Freien" war Bruno Bauer;
weitere Stammgäste waren sein Bruder Edgar Bauer und Ludwig Buhl.
Von Marx und Engels wurde gegen die "Freien" 1845 das Pamphlet "Die Heilige
Familie oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer und Consorten"
verfasst. Von Marx stammt auch eine umfangreiche Kritik des "Der Einzige
und sein Eigentum", "Sankt Max", das er aber zurückhielt und erst
posthum veröffentlicht wurde.
Seine erste Ehefrau starb mit dem Kinde bei der
Geburt. Seine zweite Ehefrau (Kneipenname: Marius Daehnhardius) lernte
er bei den "Freien" - genauer im Hause Dr. Zabels - bei denen auch
viele Frauen waren, kennen. Sie heirateten am 21. Oktober 1843 in der Wohnung
Stirners, Neu Cölln, am Wasser 23. Stirner arbeitete in Buhls Berliner
Monatsschrift mit und gab seine Stellung als Lehrer am 1.10.1844 auf. Ende
Oktober 1844 erscheint "Der Einzige und sein Eigentum". 1845 scheitert
das Gelderwerbsprojekt "Milchwirtschaft". Seine zweite Frau war schwer
enttäuscht von Stirner und trennte sich von ihm im April 1846, nachdem
ihr Vermögen in wenigen Jahren durchgebracht war und Stirner keine
Anstalten zeigte, sich wieder um eine finanziell tragfähige Arbeit
zu bemühen. Mackay berichtet zur Kündigung und zu dieser Zeit:
Für den Psychologen besonders interessant sind
Schilderungen zu Charakter, Wesensart, Persönlichkeit. Mackay berichtet
(Online):
Mit einem Worte: wie war der Mensch? - Das ist die Frage, die bisher
so völlig unberücksichtigt bleiben musste, weil sich keine Zeugen
für ihre Beantwortung finden konnten, die nun aber, wo der, dem sie
gilt, für uns in den "Kreis der Lebenden" tritt, vor allen anderen
mit Recht die erste und eingehendste Beachtung beansprucht.
Zur zweiten, gescheiterten Ehe äußert sich Mackay
(S. 181f): "Die Ehe Stirners mit Marie Dähnhardt schien nach aussen
hin gefesteter, als sie es innerlich war. Ohne Leidenschaft, wie sie geschlossen
war, nährte sie keine sich stets erneuernde Liebe und war, nach den
eigenen Worten der Frau, "mehr ein Zusammenleben in demselben Hause als
eine Ehe".
Weitere Quellen, die über Mackay hinausgehen:
(1) Antworten zum Fragebogen Mackays an die 2. Ehegattin, dokumentiert
von Laska [O]. (2)
Äußerungen "Rings um Stirner", hrsg. von Rolf Engert (2001).
|
___
Psychopathographische
Skizze Max Stirners.
Nach vorläufigen Eindrücken meiner Stirner-Rezeption entwickelte
sich bei mir die Hypothese, dass Stirner seinen 'Einzigen' gelebt haben
könnte. Aber es ist ausgesprochen schwierig, auch nur eine psychopathographische
Skizze Stirners zu wagen, weil nur sehr wenig authentisch verwertbares
Material Stirners vorliegt, im wesentlichen schon von Mackay besorgt. Man
könnte daraus aber auch folgern, dass er bestrebt war, sein Inneres,
das ganz im Sinne seiner Lehre nur ihm gehörte, zu verbergen. Wer
nichts von einem weiß, kann dieses Nichts auch nicht gegen einen
verwerten.
Dass Stirner seinen 'Einzigen' lebte, wäre
eine gute Erklärung dafür, weshalb er scheiterte und die letzten
10 Jahre seines Lebens ein gutes Stück damit beschäftigt war,
seinen Gläubigern zu entkommen. Er konnte und wollte auf seine Umwelt
und die Realität nicht so eingehen, dass er eine ausreichende wirtschaftliche
Basis bilden konnte.
Äußere Erscheinung. Dies bestätigt,
wenn auch mit großer Vorsicht zu genießen, die 2. Ehegattin
im Fragebogen rund 45 Jahre später. " Er sah aus wie ein "Dandy",
wie jemand, der durch ein gefälliges Äusseres sein Inneres verbergen
möchte." Zum Äußeren Stirners findet sich noch eine Bemerkung
in einem Brief Turgenjews, der seinerzeit 4 Semester in Berlin weilte und
studierte, vom 1.3.1847: "Neulich traf ich in einem Konzert einen gelekten,
trübselig resignierten Menschen - Max Stirner!" In einer anderen Quelle
(Aufbau Verlag 1979) heißt es: "Dieser Tage traf ich in einem Konzert
einen gestriegelten und traurig-devoten Mann ... Es war Max Stirner." Damit
gibt zwei völlig unabhängige Quellen zum äußeren Erscheinungsbild
eines Stutzers oder Dandy.
Zum Liebes- und Sexualleben macht Mackay einige
wichtige Mitteilungen: "Eine Äusserung, die er einmal einem Freunde
gegenüber getan hat, ist viel zu charakteristisch, und eine solche
viel zu selten aus seinem Munde, als dass sie hier übergangen werden
dürfte. Er erzählte jenem Freunde, dass sich seine erste Frau
einmal unbewusst im Schlaf entblösst habe, und dass es ihm unmöglich
gewesen sei, sie von dem Augenblick an wieder zu berühren." Diese
Mitteilung spricht für ein Problem im psychosexuellen Bereich.
Rudolf von Gottschall - nach Engert (2001, S. 43)
beschreibt Stirner in seinen Jugenderinnerungen als einen der Stillsten,
was für einen schizoiden Charakter spricht.
Mackay spricht (S. 181) allgemein vom "zurückhaltenden Wesen" Stirners.
Dazu passt auch sein großes Lebensthema Autonomie, Eigen, Einzigartig,
Selbstbestimmung, Selbstentfaltung.
Kann "Der Einzige ..." eine Reaktion auf die
Erfahrung der geistigen Erkrankung der Mutter sein? Jordens (2008, S.18)
berichtet: "1828/29 folgte ein Semester in Erlangen, 1829/30 war Schmidt
in Königsberg (Ostpreußen) immatrikuliert, besuchte dort aber
keine Vorlesungen. Häusliche Verhältnisse, Familien-Angelegenheiten
waren es, die ihn zwangen, sein Studium zu unterbrechen und sich nach Kulm
zu begeben - möglicherweise die ersten Symptome einer Gemütskrankheit
bei seiner Mutter. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, daß
es auch ihm selbst bald darauf gesundheitlich schlecht ging. Sein 1832
mit viel Ehrgeiz wiederaufgenommenes Studium in Berlin wurde immer wieder
unterbrochen: durch eigene Krankheitspausen und durch die Notwendigkeit,
seine Mutter zu betreuen, die 1834 ganz zu ihrem Sohn nach Berlin zog.
Das aussichtslose Schicksal seiner Mutter, die bedrückende Pflicht,
sie zu pflegen, muß schwer auf Stirner gelastet haben. In seinem
Hauptwerk 'Der Einzige und sein Eigentum' wurde die Wendungen fixe Idee
- neben dem nicht minder „einschlägigen" Wort Besessenheit
- zu einer der „leitmotivischen" Formulierungen: Es war die Diagnose,
die die Nervenärzte seiner Mutter gestellt hatten ..."
Das Buch und sein gewagter Inhalt war sicher 1845
eine außergewöhnliche Provokation und damit auch Sensation.
Und so war Stirner auch über ein Jahr lang in aller Munde. Ich fragte
mich beim Lesen des öfteren, wie war es nur möglich, dass dieses
Buch nicht sofort verboten und sein Autor ins Gefängnis gesteckt wurde?
Mackay berichtet (S. 127): "Aber die Beschlagnahme wurde schon wenige Tage
später von dem Ministerium des Innern wieder aufgehoben: weil das
Buch "zu absurd" sei, um gefährlich zu sein." Trotzdem musste Stirner
damit rechnen. Aber er traute sich zu, den Publikationskampf zu gewinnen.
Stirner war ein mutiger, eigenständiger und
einzigartiger Kopf und äußert scharfsinnig und sensibel für
- besonders anmaßende - Fremdeinflüsse. Persönlichkeitstypologisch
war er vermutlich ein schizoider Typ; nach heutigen
Standards würde er wahrscheinlich eine Persönlichkeitsstörung
diagnostiziert bekommen - auch wegen seiner abwegigen und skurril anmutenden
Ansichten. Die Bedeutung der psychosexuellen Abwendungsreaktion beim nächtlichen
Anblick seiner entblößten ersten Ehefrau ist schwer einzuschätzen,
auch weil man nicht weiß, ob und wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten
war.
_
Exkurs
III: Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Einzigen.
Mackay berichtet (S. 125ff): "Im Kreise der "Freien" hatte sich im
Laufe der Zeit das Gerücht verbreitet, dass Max Stirner an einem umfangreichen
Werk arbeite, zu dem er "bereits Blatt auf Blatt gehäuft" und das
immer noch, "das ganze eigentümliche Gewebe seiner Gedanken in sich
aufnehmend", anwachse.
Aber niemand hätte etwas näheres über
dieses Werk zu sagen gewusst. Nie ging Stirner auf diesbezügliche
Fragen ein, nie liess er irgendjemand auch nur eine einzige Seite seiner
Arbeit sehen oder gar lesen. Nur insofern verriet er das "Geheimnis seines
Lebens" selbst, als er zuweilen auf sein Pult zu deuten pflegte, wo sein
"Ich" verborgen liege.
Die Existenz des Werkes "konnte auch eine Fabel
sein", und wurde bereits von manchen als eine solche betrachtet, als es
plötzlich, in den letzten Tagen des Oktober 1844, unter dem Titel
"Der Einzige und sein Eigenthum" an das Licht der Öffentlichkeit trat.
Ursprünglich sollte dieser Titel - und die
oben angeführte Bemerkung Stirners spricht dafür - "Ich" lauten.
Er wurde fallen gelassen, um über der zweiten Hauptabteilung des Werkes
zu stehen.
Als Autor nannte Stirner den Namen, unter dem er
seine ersten Arbeiten geschrieben und den er im Kreise seiner Bekannten
führte; als Verleger stand auf dem Titelblatt eine der angesehensten
buchhändlerischen Firmen Deutschlands, Otto Wigand in Leipzig, der
unerschrockene und weithin bekannte Verleger der meisten und bedeutendsten
radikalen Erscheinungen jener Zeit, der Verleger der Ruge'schen Unternehmungen
und der Feuerbachs, selbst innig mit Herz und Geist an den Kämpfen
seiner Zeit beteiligt. Als Jahreszahl war 1845 angegeben. Stirner und Wigand
verband ein freundschaftliches Verhältnis; dieser hielt grosse Stücke
auf seinen neuen [>126] Autor und hat stets mit hoher Achtung von ihm gesprochen.
Stirner war übrigens 1844 in Leipzig gewesen, wahrscheinlich um das
Nähere über das Erscheinen seines Lebenswerkes mit Wigand zu
besprechen.
Das Vertrauen, das dieser in das Werk setzte, bewies
er am besten durch die durchaus gediegene Ausstattung, die er ihm angedeihen
liess. Die erste Ausgabe des "Einzigen" ist eines der bestgedruckten Werke
seines Verlages: ein stattlicher Band von fast fünfhundert Seiten,
auf bestem Papier splendid mit breitem Rande und in grosser, klarer Schrift,
fast fehlerfrei bei J. B. Hirschfeld in Leipzig gedruckt, übertrifft
die heute selten gewordene, deren damaliger Preis für das in hellen
Umschlag broschierte Exemplar zwei und einen halben Taler betrug, ihre
beiden späteren in jeder Beziehung.
Das Buch trug die Widmung "Meinem Liebchen Marie
Dähnhardt". Das Liebchen war seit einem Jahre Stirners Frau.
Wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, dass der
erste Plan zu dem Werk in das Jahr 1842 fällt, in die Zeit also, als
sich Stirner so manche seiner Gedanken zu kürzeren Arbeiten rundeten,
Arbeiten, die dann im nächsten der einen grossen selbst weichen mussten
und daher aufhören. Sie selbst geht mit ihren Zusätzen und wohl
auch teilweisen Umarbeitungen dann gewiss noch bis in die Mitte von 1844,
wo sie abgeliefert und gedruckt wird, so dass angenommen werden kann, dass
das Werk in dem Zeitraum von anderthalb Jahren - von 1843 bis etwa Mitte
1844 - entstanden ist.
Es ist von jeher das Bestreben der Gewalt gewesen,
ihr feindliche Gedanken zu unterdrücken und ihre Verbreitung zu hindern.
Waren in Preussen seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV die Zügel
einer frechen und unsinnigen Zensur etwas weniger straff gehalten, so hatte
die Herrlichkeit mit der Veröffentlichung des Herwegh'schen Briefes
an den König bald ein Ende, und es wurde schlimmer gewirtschaftet
als vorher. Auch in Sachsen hatte eine Reaktion sondergleichen begonnen.
Zwar wurden auch dort 1844 Schriften über zwanzig Bogen frei, d.h.
sie brauchten nicht zur Zensur vorgelegt zu werden. Aber um so näher
lag dafür die Gefahr der Beschlagnahme und Konfiskation, gegen die
es keinen richterlichen Schutz gab. [>127]
Um dem wenigstens teilweise zu entgehen, nahmen
die Leipziger Verleger ihre Zuflucht zu einem drastischen Mittel. Während
auf der Kreisdirektion das gleichzeitig mit der Ausgabe einzureichende
Pflichtexemplar abgeliefert wurde, stand an der nächsten Strassenecke
schon der mit den versandfertigen Exemplaren beladene Wagen, und sowie
der Empfangsschein der Behörde in den Händen des Verlegers war,
ging es im Galopp von Sortimenter zu Sortimenter, so dass die Beamten,
wenn sie das Buch eingesehen und beschlagnahmen wollten, meist das Nachsehen
hatten.
Auch dem Stirner'schen Werke ist es so ergangen.
Die Kreisdirektion in Leipzig verfügte sofort die Beschlagnahme und
es sollen ihr noch 250 Exemplare in die Hände gefallen sein.
Aber die Beschlagnahme wurde schon wenige Tage später
von dem Ministerium des Innern wieder aufgehoben: weil das Buch "zu absurd"
sei, um gefährlich zu sein. Die "sehr interessanten" Entscheidungsgründe,
die die Brockhaus'sche Allgemeine Presszeitung vom 8. November 1844 mitzuteilen
versprach, sind leider nie veröffentlicht worden, und die tiefe Weisheit
der hochwohllöblichen Behörden wird nie in ihrer ganzen Grösse
erfasst werden können. Genug, dass Stirner, der sich mit der Frage
der Pressfreiheit so eingehend beschäftigt und sein Werk mit der vollen
Vorsicht geschrieben hatte, den Staat zu "betrügen", seine Absicht
glänzend gelungen war. "Mag ein Volk der Pressfreiheit entbehren,
Ich suche Mir eine List oder Gewalt aus, um zu drucken - die Druckerlaubnis
hole Ich Mir nur von - Mir und meiner Kraft." Er hat sie sich geholt, und
während das harmloseste Geschreibsel in Acht und Bann getan wurde,
durfte das radikalste und "gefährlichste" Buch jener und jeder Zeit
ungehindert von Hand zu Hand gehen - damals und so noch heute.
Ob sich je einer an dieser Tatsache innerlicher
gaudiert hat als der, der sein köstliches Gut, so kühn und klug
zugleich, über die Grenze geschmuggelt, die die Willkür dem freien
Gedanken gezogen? ...
In Preussen wurde der "Einzige" übrigens noch
vor Weihnachten, wie auch in Kurhessen und Mecklenburg-Schwerin, verboten,
und das Verbot ist, so weit festgestellt werden konnte, nie [>128] aufgehoben
worden. Das hinderte natürlich nicht, dass die neue Erscheinung überall,
besonders unter der studierenden Jugend, eifrig gelesen wurde und von Hand
zu Hand ging, und auch hier wird die Klage von Savignys, des Justizministers,
beim König, sich bestätigt haben: dass die verbotenen Schriften
gerade am meisten verbreitet und gelesen würden, und dass die Verbote
und Konfiskationen also genau das Gegenteil ihrer beabsichtigten Wirkung
hervorriefen.
Mit der Polizei ist Stirner, wie gleich hier gesagt
werden mag, nie in irgendeinen Konflikt gekommen. Sie führte nicht
einmal, wie über die meisten des Kreises, Akten über ihn, und
wenn sie ihn gelegentlich in solchen, so in denen über Buhl, schlecht
unterrichtet erwähnte, schrieb sie den Namen nur dem Hörensagen
nach auf echt berlinisch "Styrna". Als gelegentlich des "Gegenworts" Recherchen
angestellt wurden, fand man nicht ihn, sondern infolge einer Namensverwechslung
einen völlig harmlosen wirklichen Gymnasiallehrer Schmidt, der auf
die Vorhaltungen seiner Behörde nur entsetzt seine völlige Unschuld
zu beteuern vermochte. Über Stirner selbst, diesen "Herrn von gesetztem
Alter", wusste die Polizei "nur Gutes in Erfahrung zu bringen". Man hat
ihm natürlich auch das vorgeworfen. Als ob er nichts Besseres zu tun
gehabt hätte, und als ob Mut dazu gehörte, sich mit den untergeordneten
Organen der Gewalt herumzuschlagen, während man zum tödlichsten
Streich gegen das innerste Wesen dieser Gewalt selbst ausholt!
Die allgemeine Aufnahme, die das Werk fand, war
eine durchschlagende; heute würde man sie "sensationell" nennen.
Man beschäftigte sich sofort lebhaft mit der
neuen Erscheinung, die so plötzlich aus völligem Dunkel heraus
in das grelle Licht des lauten Tages trat. Zu Weihnachten 1844 war das
Buch bereits in den meisten Händen, jedenfalls in den Händen
derer, die dem radikalen Fortschritt ihrer Tage überhaupt Interesse
entgegen brachten. Besonders die Jugend griff, wie gesagt, gierig nach
der kühnen Tat.
Aber die Aufnahme war so verschieden, wie sie überhaupt
nur sein konnte bei einem solchen Werk. War den einen kein Ausdruck [>129]
der Bewunderung zu gross, erwarteten sie von ihm den Anbruch einer neuen
Zeit des Denkens und Lebens, und nannten sie den Verfasser mit Recht ein
Genie, so warfen die anderen das Buch hohnlachend von sich, empört
über solchen "Unsinn", denn nur Unsinn konnte sein, was so an den
"Grundpfeilern alles sittlichen und sozialen Lebens" zu rütteln wagte.
Die meisten aber wussten nicht recht, was sie sagen sollten, und viele
von ihnen schwiegen ... Alle aber ahnten doch, dass sie hier vor einer
aussergewöhnlichen Erscheinung standen.
Suchten die einen, die Tiefbefangenen, die überhaupt
nicht begreifen konnten, wie man es wagen könne, Begriffe, die "von
Ewigkeit her" so fest standen, wie Recht, Pflicht, Sitte u.s.w., überhaupt
einer menschlichen Kritik zu unterziehen, den, der sie nicht allein zu
kritisieren, sondern sie zu vernichten sich unterfangen, als den "advocatus
diaboli" zu kennzeichnen, so waren doch auch die anderen, die, welche diese
Begriffe zwar nicht als ewig feststehende, aber doch immer den Untergrund
unseres Handelns bildende betrachteten, fast nicht weniger entsetzt, diesen
Grund plötzlich ihren Füssen entzogen zu sehen, und sie, die
noch nicht wussten, wo nun stehen, konnten sich das Phänomen nur durch
die Annahme erklären, dass der Verfasser sich mit ihnen einen Scherz
habe machen wollen, und - sie wie sich selbst verspottend - nur gespielt
habe.
Seht, so teuflisch kann ein Mensch sein! - schrien
jene; nein, so schlecht kann kein Mensch sein, trösteten diese. Die
einen fanden in dem ätzenden Spott Stirners, die anderen in seiner
heiteren Ironie die Bestätigung ihrer Annahme.
Aber auch die Liberalen wichen zurück. Die
Politiker lachten: welcher vernünftige Mensch konnte bezweifeln, dass
der "Staat" nicht die "Ordnung" sei, und seine Notwendigkeit negieren?
- ; die Sozialen schimpften: das "Lumpentum" hatte sie empfindlich getroffen;
die Humanen endlich gerieten in ernstliche Unruhe: sie hatten sich "den
Menschen" so schön, neu und herrlich, so gottähnlich, aufgebaut,
und nun wurde ihr Kunstwerk so elend in Stücke geschlagen! Sie waren
es vor allem, die ihr letztes Ideal zu verteidigen und zu retten suchten.
Der Stolz der "Kritik", der "kritischen", der "absoluten" Kritik war es
in all diesen Jahren gewesen, [>130] in rastlosem Vorwärtsschreiten
einen Widerstand nach dem anderen zu überwinden; sich sagen zu lassen,
dass sie so weit noch zurückgeblieben sei, das durfte sie nicht erlauben.
So bäumte sie sich auf. - Aber die "Kritik" war damals schon in das
Stadium der Selbstzersetzung eingetreten. Ihre Kräfte waren erschöpft
und ihre Arbeit, die vorbereitende Arbeit, getan. Sie starb an dem Stosse,
mit dem Stirner sie traf.
So war es nur natürlich, dass die Meinungen
auch unter den "Freien" sich sehr verschieden äusserten. Die Überraschung,
den stillsten der ihren plötzlich so laut und vernehmlich reden zu
hören, war allgemein, und wenn auch die nächsten Bekannten, die
bereits Stirners erste Arbeiten verfolgt hatten, wussten, dass es sich
nur um eine bedeutende Tat handeln konnte, so waren die anderen, ferner
Stehenden umsomehr überrascht in dem einfachen Mann, den sie bisher
wohl oft übersehen haben mochten, den grossen und scharfen Geist zu
finden, der aus seinem Buche sprach. So mögen Stirner und seine Ideen
in dieser Zeit oft genug den Mittelpunkt des Kreises und seiner Unterhaltung
gebildet haben. Stirner selbst blieb sich natürlich völlig gleich:
der äussere Ruhm konnte ihn nicht stolzer machen als er es innerlich
gewesen war. Jedenfalls gehörte er jetzt zu den "Merkwürdigkeiten"
des Kreises, und wie er von nun an mit den Bauers und den anderen zusammengenannt
wurde, so kam man jetzt auch zu Hippel, um "den Einzigen" zu sehen und
sich zu überzeugen, dass er 'in Wirklichkeit gar nicht so schlimm
war, wie er sich in seinem Buche hingestellt hatte'."
Links zu Max
Stirner, Leben und Werk
Veränderte URLs ohne Weiterleitung oder
unzuverlässige Adressen wurden entlinkt.
Links zum fixe
Idee und Wahnproblem
"Diagnostische Kriterien
A. Die allgemeinen
Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung (F60) müssen
erfüllt sein.
B. Mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen
müssen vorliegen:
1. wenn überhaupt, dann bereiten nur wenige Tätigkeiten
Freude;
2. emotionale Kühle, Distanziertheit oder abgeflachter
Affekt;
3. reduzierte Fähigkeit, warme, zärtliche Gefühle
für andere oder Ärger auszudrücken;
4. erscheint gleichgültig und indifferent gegenüber
Lob oder Kritik von anderen;
5. wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit einem anderen
Menschen (unter Berücksichtigung des Alters);
6. fast immer Bevorzugung von Aktivitäten, die alleine
durchzuführen sind;
7. übermäßige Inanspruchnahme durch Phantasien
und Introvertiertheit;
8. hat keine oder wünscht keine engen Freunde oder
vertrauensvollen Beziehungen (oder höchstens eine);
9. deutlich mangelhaftes Gespür für geltende
soziale Normen und Konventionen; wenn sie nicht befolgt werden, geschieht
das unabsichtlich."
"F60 Spezifische Persönlichkeitsstörungen
Persönlichkeitsstörungen sind schwere Störungen der
Persönlichkeit und des Verhaltens der betroffenen Person, die nicht
direkt auf eine Hirnschädigung oder -krankheit oder auf eine andere
psychiatrische Störung zurückzuführen sind. Sie erfassen
verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit ausgeprägten
persönlichen Leiden und sozialen Beeinträchtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen
treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und
bestehen während des Erwachsenenalters weiter.
G1. Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben («Normen») ab. Diese Abweichung äußert sich in mehr als einem der folgenden Bereiche:
Anmerkung: Die schizotype Störung wurde früher bei den Persönlichkeitsstörungen eingeordnet, seit einiger Zeit aber bei den "Schizophreniespektrum-Störungen" angesiedelt.
Querverweis: Überblick Diagnostik in der IP-GIPT.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Organisation IP-GIPT site:www.sgipt.org. * |
Copyright & Nutzungsrechte
Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen
Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht inhaltlich
verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle
benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten
oder Rahmen ist nicht gestattet. Zitate und Links sind natürlich willkommen.
Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden.
Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um
Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus ... geht,
sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.
korrigiert: irs 12. / 13.09.09