Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=12.09.2009 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 04.12.19
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
    E-Mail: sekretariat@sgipt.org  _ Zitierung  &  Copyright
    Anfang
    _Allgemeine bzw. "normale" Verrücktheit_Dastenschutz _Aktuelles__Überblick__Rel. Beständiges _Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ English contents__ Service_iec-verlag__Dienstleistungs-Info * Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Psychopathologie, Bereich ..., und hier speziell zum Thema:

    Die Idee allgemeiner "normaler" Verrücktheit bei Max Stirner
    dargelegt im Abschnitt Der Sparren aus dem Kapitel Die Besessenen in Der Einzige und sein Eigentum.
    mit einem philosophischen Glossar.

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Was Machiavelli für die Herrschenden, das ist Stirner für jedermann:
    eine Bibel für die Raskolnikows und rücksichtslosen Egoisten dieser Welt -
    eine Fundgrube für Globalplayer, Manager, Banker, Politiker und andere ehrenwerte Soziopathen.



    Überblick - Inhaltsverzeichnis  - Gleich zur Zusammenfassung.
    Einführung in Max Stirners Denken.
    • Stirners historisches Menschenbild und Anthropologie.
    • Stirners Erkenntnistheorie und philosophischer Standort.
    • Stirners ethischer Standort.
    • Stirners politischer Standort.
    • Stirners Lehre vom Sparren.
    • Hintergründe zu dieser Sparren-Studie.
    Text, Analyse und Kommentar zu Der Sparren (Zwischenüberschriften von RS):
    • Fast die ganze Menschenwelt sind Narren.
    • Besessenheit, Eingenommenheit, Begeisterung, Enthusiasmus, Fanatismus.
    • Die fixe Idee des Sittlichen: Es gibt keine Tabus, alles ist dem Ego erlaubt.
    • Die Frömmigkeit der Frommen und Atheisten ist im Prinzip das Gleiche.
    • Die Berufung auf die Vernunft macht es nicht besser.
    • Sittlichkeit contra Frömmigkeit.
    • Sittliche Konflikte.
    • Schwanken zwischen Heuchelei und Egoismus: Nichts Halbes und nichts Ganzes.
    • Der Schurke und der Ehrliche.
    • Nur Bettler betteln, Eigene nehmen.
    • Falsche Vereinfachungen.
    • Die human entwickelte "reine" Sittlichkeit.
    • Die bürgerlich humane Sittlichkeit als Religion.
    • Kritik an Feuerbachs Leitidee der Liebe zum Menschen.
    • Formelle Seiten des Sparrens.
    • Analyse der Uneigennützigkeit - ein regelrechter "Modeartikel der zivilisierten Welt".
    • Das Hohe Lied Stirners auf Kurtisanen und freie Frauen gegenüber entsagenden Jungfern.
    • Die Verdächtigkeit der Worte "Grundsatz, Prinzip, Standpunkt".
    • Wodurch soll der Mensch bestimmt sein?.
    • Welche Freiheit sucht und braucht der Mensch?.
    • Das Eigene und das Eingegebene.
    • Der Unterschied zwischen "anregen" und "eingeben".
    • Sinn der Seelsorge - Vorschriften für "fühlen" und "denken".
    Zusammenfassung, Abstract, Summary.
    Exkurs I: Biographie Max Stirner.
    Exkurs II: Psychopathographische Skizze Max Stirners.
    Exkurs III: Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Einzigen.
    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
      Altruismus * Anarchismusfrage nach Laska * Atheismus * Aufklärung * Besessenheit * Egoismus * Ethik *  Existenz * Existenzialismus * Fixe Idee * Freiheit, Verantwortung und Schuld * Goldene Regel * Ich, Identität, Selbst ... * Idealismus, philosophischer * Konstruktivismus * Kritik * Machiavellismus * Materialismus, philosophischer * Nihilismus * Nominalismus * Normale Verrücktheit * Platonismus * Pragmatismus * Realismus, naiver * Realismus, philosophischer * Recht * Relativismus * Schuld * Schizoid * Skeptizismus * Solipsismus * Spiritualität * Staat *  Stirner * Universalienstreit * Utilitarismus * Verantwortung  * Verrückt, normal,. krank, gestört  * Zusammenleben *
    Literatur und Links.
    Querverweise.



    Einführung: Max Stirner (Johann Caspar Schmidt) bekennt sich und ermutigt alle allgemein zu einem radikalen Individualismus und Subjektivismus. Mit der Verkündung seiner radikal individualistischen Ethik des Egoismus, die nichts anderes wertschätzt als das Eigene, Einzige, Persönlich-Subjektive, geht auch eine sehr drastische Kritik des vielfältigen Missbrauchs durch fremde Interessen einher. Mir ist kein zweites Werk der Geistesgeschichte und Weltliteratur bekannt, das so kompromisslos die Verlogenheit, Parteilichkeit, Gnadenlosigkeit und dogmatischen Herrschaftsanspruch der gesellschaftlichen Interessengruppen, der Herrschenden und Mächtigen geißelt und aufdeckt. Aber es gibt auch kein zweites Werk, das so konsequent einen völlig asozialen Egoismus, ausschließlich dem persönlichen und einzigen ICH verpflichtet, jenseits aller Werte und Ideale - die Stirner als fixe Ideen und Wahn abtut - als richtig verficht. Er leugnet - auch für den Egoisten - die Bedeutung und intersubjektiven Gültigkeitsansprüche von Idealen, Werten, Normen und Rechten vollständig. Für Stirner gibt es nur ein Ideal, einen Wert, ein Recht: das der eigenen, einzigen Selbstverwirklichung. Was Machiavelli für die Herrschenden, das ist Stirner für jedermann: eine Bibel für die Raskolnikows und rücksichtslosen Egoisten dieser Welt.  Für die Psychopathologie ist nun interessant, wie Stirner dazu kommt, Menschen, die sich Werten, Idealen, Normen und Rechten - in seinen Augen Ausdruck oder "Abgesandte"  von Geistern und Spuk -  unterwerfen oder sich für ihre Durchsetzung einsetzen, als Geistesgestörte, als solche, die einen "Sparren" haben, anzusehen. Interessant ist das vor allem deshalb, weil er diese "Geistesstörung" in fast der ganzen Menschheit walten sieht. Damit behauptet er so etwas wie eine "normale Verrücktheit".
    Stirners historisches Menschenbild und Anthropologie. Stirner zeichnet einen Entwicklungsfortschritt: 1) Die Alten (Antike), 2) die Neuen (Christen bis zur Aufklärung), 3) die Freien (Aufgeklärten) und 4) die Eigenen (Autonome).
    Stirners Erkenntnistheorie und philosophischer Standort. Stirner ist sicher kein Solipsist sondern ein nominalistischer, materialistischer Realist, der sich gegen jedwede Form des Platonismus und Idealismus wendet. Es hat den Anschein, als ob für Stirner alle Universalien (Allgemeinbegriffe, Abstrakta) gute Kandidaten für Hirngespinste, Spuk und Geister gewesen seien. Beispiele: Recht, Gesetz, Kirche, Gott, Staat, Freiheit, Gemeinwohl, Vaterland, Tugend, Moral, Sitte, Brauch. "Die Sprache oder »das Wort« tyrannisiert Uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt." (389).
    Stirners ethischer Standort: Er vertritt eine radikale Ethik des Egoismus. Gut ist einzig und allein, was dem Einzigen, dem ICH nutzt. Obwohl er jegliche Ethik, jegliches Ideal zum Spuk und Gespenst erklärt, formuliert er hier selbst eine Ethik, selbst wenn diese Haltung von den meisten Menschen eher als Anti-Ethik bewertet wird. Aber auch eine Anti-Ethik ist eine Ethik. Man kann dem ethischen Grundproblem nicht entkommen, denn jeder der zwei möglichen Hauptstandpunkte ist Ausdruck einer Ethik: (1) Ethik interessiert mich nicht, ich lebe aus dem Augenblick heraus, wie es mir in den Sinn kommt und jeweils angemessen erscheint (Stirner). (2) Sobald zwei Menschen zusammenkommen, stellt sich die Frage, wie sie ihren Umgang miteinander regulieren wollen. Wie sollen Menschen leben, wonach sollen sie sich richten, wie sollen sie ihren Umgang miteinander einrichten, wie ihre Konflikte regeln?
    Stirners politischer Standort: So wenig wie Stirner Solipsist war, so wenig war er Anarchist. Er war im Grunde unpolitisch und beteiligte sich auch nicht an den revolutionären Bewegungen. Er lebte die Philosophie des "Einzigen" und kümmerte sich fast ausschließlich um sich selbst und seine Belange. Er war bei den "Freien", weil er diese Form intellektueller Geselligkeit mochte, bei einer revolutionären Aktion wurde nach Kenntnis meiner Quellen nie gesehen.
    Stirners Lehre vom Sparren. Im folgenden soll seine Lehre vom "Sparren", den allgemeinen fixen Ideen (Wahn), die nach Stirners Meinung in vielen anscheinend normalen und äußerlich unauffälligen Köpfen stecken, untersucht werden. "Der Sparren" ist ein Abschnitt im Kapitel "Die Besessenen". Aber Stirners Arbeit ist auch aus anderen Gründen von großer psychologischer Bedeutung (Entwicklungs- und pädagogische Psychologie, differentielle Psychologie der Persönlichkeit, Sozialpsychologie). Die Kardinalfrage, die sich auch durch die Arbeit Stirners unverändert stellt, ist nämlich: was ist das Eigene, was das Fremde in einer Persönlichkeit, wann, wodurch und wie kann Fremdes zu Eigenem werden?
    Hintergründe zu dieser Sparren-Studie: Meine Überlegungen, ob Verrücktheit nicht viel verbreiteter ist, als gewöhnlich angenommen wird, hat verschiedene Quellen und schon eine längere Geschichte: (1) Der soziale Frieden wurde und wird seit Jahrtausenden durch radikale religiöse Fundamentalisten, die sich auserwählt dünken und anderen durch Missionierung ihre Vorstellungen aufzwingen wollen, nachhaltig gestört. Die Religionsgemeinschaften wimmeln nur so von paranoiden und soziopathischen Fundamentalisten. Und die Systeme selbst sind vom wissenschaftlichen und psychopathologischen Standpunkt aus betrachtet hochgradig fantastisch bis wahnhaft. Das Projekt Aufklärung ist nach 250 Jahren im wesentlichen gescheitert. Auserwählt dünken und Missionierungsdrang sind daher die wesentlichen größenwahnhaften (paranoiden) Grundwurzeln für die gigantische Blutspur, die sich bis auf den heutigen Tag durch die Geschichte zieht. (2) Im Zuge der Auserwähltstudien zeigte sich aber auch, dass Auserwählt dünken, Missions- und Unterwerfungsdrang auch bei anderen weltanschaulichen, philosophischen und politischen Bewegungen festzustellen ist - wie auch Stirner kritisch bemerkt. Ein drastisches Beispiel ist der nationalsozialistische Rassenwahn. (3) Schließlich: Ein anderes Forschungsinteresse, das Studium der psychischen Epidemien und im weiteren Sinne auch der Psychomoden zeigt auch vielfältige Zeichen und Spuren von Verrücktheit. (4) Endlich: Seit ich mich selbst im Rahmen meiner Analysen zur Staatsverschuldung zur Hypothese einer rollenfunktionellen Verrücktheit genötigt sah, hat mich die Idee "normaler Verrücktheit" (= Verrücktheit, die meist aus soziologischen Gründen nicht als solche angesehen wird) nicht mehr losgelassen.
        Der aktuelle Auslöser war kürzlich die überraschende Schlussempfehlung des Moderators bei der Podiumsdiskussion zur Finanzkrise (Die Unsichtbarkeit des Geldes) anlässlich des Poetenfestes Erlangen, Max Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum zu lesen; ein Werk, das seit nunmehr 42 Jahren in meinem Bücherregal darauf wartete, richtig gelesen zu werden. Nachdem ich Zeit hatte und  neugierig war, machte ich mich daran, den "Einzigen" durchzuarbeiten. Hierbei faszinierte mich der Abschnitt "Der Sparren" im Kapitel "Die Besessenen" besonders. Hier stellt Stirner die These auf, dass die überwältigende Mehrheit der anscheinend normalen Menschen, die große Masse, an fixen Ideen leidet, einen "Sparren" hat, also verrückt ist. Provoziert er damit nur, treibt er seinen Schabernack mit uns? Oder meint er es gar ernst? Und wie begründet er seine These, dass die überwiegende Mehrheit der Menschheit einen "Sparren" haben soll? Das soll in dieser Untersuchung geklärt werden. Im folgenden wird eine zweispaltige Darstellung gewählt: Links Stirners Text, rechts, hellblau unterlegt, meine Analyse und Kommentare.


     
    Der Sparren [fett RS]

    [56] Mensch, es spukt in deinem Kopfe; du hast einen Sparren zu viel! Du bildest dir große Dinge ein und malst dir eine ganze Götterwelt aus, die für dich da sei ein Geisterreich, zu welchem du berufen seiest, ein Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee!

    Analyse und Kommentar RS

    Gottgläubige leiden nach Stirner an einer fixen Idee, besonders offenbar dann, wenn man auch noch glaubt, dass das Geisterreich für den es Fantasierenden bestimmt sei.
     

    Fast die ganze Menschenwelt sind Narren
     
    Denke nicht, daß ich scherze oder bildlich rede, wenn ich die am Höheren hangenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat. Erkennt ihr an einer solchen fixen Idee, daß sie eine Narrheit sei, so sperrt ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt. Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z.B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe Ideen«? Ist nicht alles dumme Geschwätz, z.B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, daß sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muß die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muß den Philister sprechen hören, um die gräßliche Überzeugung zu gewinnen, daß man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.« Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter [57] Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen. Gleichwie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen. Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf festem Fuße, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an! Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!

    Begegnen uns etwa bloß vom Teufel Besessene, oder treffen wir ebensooft auf entgegengesetzte Besessene, die vom Guten, von der Tugend, Sittlichkeit, dem Gesetze, oder irgend welchem »Prinzipe« besessen sind? Die Teufelsbesitzungen sind nicht die einzigen. Gott wirkt auf uns und der Teufel wirkt: jenes »Gnadenwirkungen«, dieses »Teufelswirkungen«. Besessene sind auf ihre Meinungen versessen.

    Stirner macht gleich im ersten Satz deutlich, dass er weder scherzt noch bildlich spricht. Er glaubt tatsächlich, dass "fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren im Tollhause" angesehen werden können. 

    Mit der Formulierung "Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat" - also entweder ein Zwangsgedanke oder eine Wahnidee - entwickelt er allerdings selbst eine eigene Spukwelt, in der Ideen wie selbstständige Wesen handeln und Menschen "unterwerfen" können. 

    Stirner macht indirekt deutlich, dass das, was eine fixe Idee ist, die ins Irrenhaus führt, nur von den Machtverhältnissen abhängt. Ein Wahn, der von der Mehrheit oder der Macht getragen wird, wird nicht als ein solcher angesehen. 

    Weiter macht er deutlich,  was seiner Meinung nach alles unter fixer Idee zu verstehen ist: "Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit."
     
     

    Und: wer die verbreiteten und mächtigen fixen Ideen angreift, lebt gefährlich und jeder Tag decke "die Feigheit und Rachsucht" dieser Tollen auf, was vom dummen Volk noch bejubelt werde.
     

    "»Du sollst deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.« Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter [57] Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen."
     

    Es scheint, als ob Stirner jegliche Ideologie, jeglichen geistigen Überbau, jegliche Weltanschauung oder Glauben, wo Verbindliches für mehrere Menschen ausgesagt wird, ohne deren persönlichen Willen oder eine Prüfung auch des Gegenteils ausdrücklich zu ermöglichen, als Ausgeburt von fixen Ideen ansieht oder sie ihnen gleichstellt. Damit begibt er sich in einen Grundwiderspruch, in eine Antinomie, weil er selbst natürlich auch eine Ideologie und Ethik verkündet, nämlich die letztliche Nichtigkeit aller ideologischen Forderungen, ohne das Einverständnis der Betroffenen einzuholen.

    Hierbei erscheint bedeutsam, dass Stirner von den Ideologen - obwohl er sie kritisiert -  gar nicht fordert, ihre Instrumentalisierungen sein zu lassen. In erster Linie fordert er den einzelnen "nur" auf, SEINE Sache zu betreiben und sich nicht nach dem zu richten, was fremde Interessen von ihm verlangen und seien es auch die höchsten Autoritäten. Als besonderes Problem und zweite Antinomie ergibt sich hier, dass Stirner anscheinend ausschließt, dass sich jemand freiwillig mit anderen, auch fremd herangetragenen Interessen identifiziert. 

    Besessenheit, Eingenommenheit, Begeisterung, Enthusiasmus, Fanatismus
     
    Mißfällt euch das Wort »Besessenheit«, so nennt es Eingenommenheit, ja nennt es, weil der Geist euch besitzt und von ihm alle »Eingebungen« kommen, – Begeisterung und Enthusiasmus. Ich setze hinzu, daß der vollkommene Enthusiasmus – denn bei dem faulen und halben kann man nicht stehen bleiben – Fanatismus heißt.

    Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, so weit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muß es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum). Man beobachte unsere Liberalen, man blicke in die sächsischen Vaterlandsblätter, man höre, was Schlosser sagt9: »Die Gesellschaft Holbachs bildete ein förmliches Komplott gegen die überlieferte Lehre und das bestehende System, und die Mitglieder [58] derselben waren ebenso fanatisch für ihren Unglauben, als Mönche und Pfaffen, Jesuiten und Pietisten, Methodisten, Missions- und Bibelgesellschaften für mechanischen Gottesdienst und Wortglauben zu sein pflegen.«

    ___
    9) Friedrich Christoph Schlosser: Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung. Bd. 2. Heidelberg 1837. S. 519

    Stirner versucht nun näher einzugrenzen, was eine fixe Idee ist. Er führt Wahn und Besessenheit an, sodann Eingenommenheit und Eingebung, Begeisterung, Enthusiasmus und deren höchste Form: den Fanatismus (fanum - Heiliges). Damit kommt der Wahnbegriff Heinroths sehr nahe. 
     

    Mit Scharfsinn erkennt und geißelt er, dass auch Liberale oder Atheisten ebenso fanatisch und verblendet sein können, wie die, die sie bekämpfen. Dies mündet später [203] in die Sentenz: "Unsere Atheisten sind fromme Leute."
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

     

    Die fixe Idee des Sittlichen: Es gibt keine Tabus, alles ist dem Ego erlaubt
     
    Man achte darauf, wie ein »Sittlicher« sich benimmt, der heutigestags häufig mit Gott fertig zu sein meint, und das Christentum als eine Verlebtheit abwirft. Wenn man ihn fragt, ob er je daran gezweifelt habe, daß die Vermischung der Geschwister eine Blutschande sei, daß die Monogamie die Wahrheit der Ehe sei, daß die Pietät eine heilige Pflicht sei usw., so wird ein sittlicher Schauder ihn bei der Vorstellung überfallen, daß man seine Schwester auch als Weib berühren dürfe usw. Und woher dieser Schauder? Weil er an jene sittlichen Gebote glaubt. Dieser sittliche Glaube wurzelt tief in seiner Brust. So viel er gegen die frommen Christen eifert, so sehr ist er dennoch selbst Christ geblieben, nämlich ein sittlicher Christ. In der Form der Sittlichkeit hält ihn das Christentum gefangen, und zwar gefangen unter dem Glauben. Die Monogamie soll etwas Heiliges sein, und wer etwa in Doppelehe lebt, der wird als Verbrecher gestraft; wer Blutschande treibt, leidet als Verbrecher. Hiermit zeigen sich diejenigen einverstanden, die immer schreien, auf die Religion soll im Staate nicht gesehen werden, und der Jude Staatsbürger gleich dem Christen sein. Ist jene Blutschande und Monogamie nicht ein Glaubenssatz? Man rühre ihn an, und man wird erfahren, wie dieser Sittliche eben auch ein Glaubensheld ist, trotz einem Krummacher, trotz einem Philipp II. Diese fechten für den Kirchenglauben, er für den Staatsglauben, oder die sittlichen Gesetze des Staates; für Glaubensartikel verdammen beide denjenigen, der anders handelt, als ihr Glaube es gestatten will. Das Brandmal des »Verbrechens« wird ihm aufgedrückt, und schmachten mag er in Sittenverbesserungshäusern, in Kerkern. Der sittliche Glaube ist so fanatisch als der religiöse! Das heißt dann »Glaubensfrei- heit«, wenn Geschwister um eines Verhältnisses willen, das sie vor ihrem »Gewissen« auszumachen hätten, ins Gefängnis geworfen werden. »Aber sie gaben ein verderbliches Beispiel«! Ja freilich, es könnten andere auch darauf verfallen, daß der Staat sich nicht in ihr Verhältnis zu mischen habe, und darüber ginge die »Sittenreinheit« zugrunde. So eifern denn die religiösen Glaubenshelden für den »heiligen Gott«, die sittlichen für das »heilige Gute«.

    [59] Die Eiferer für etwas Heiliges sehen einander oft gar wenig ähnlich. Wir differieren die strengen Orthodoxen oder Allgläubigen von den Kämpfern für »Wahrheit, Licht und Recht«, von den Philalethen, Lichtfreunden, Aufgeklärten usw. Und doch wie gar nichts Wesentliches enthält die Differenz. Rüttelt man an einzelnen althergebrachten Wahrheiten (z.B. Wunder, unumschränkte Fürstengewalt usw.), so rütteln die Aufgeklärten mit, und nur die Altgläubigen jammern. Rüttelt man aber an der Wahrheit selbst, so hat man gleich beide als Gläubige zu Gegnern. So mit Sittlichkeiten: die Strenggläubigen sind unnachsichtig, die helleren Köpfe sind toleranter. Aber wer die Sittlichkeit selbst angreift, der bekommt's mit beiden zu tun. »Wahrheit, Sittlichkeit, Recht, Licht usw.« sollen »heilig« sein und bleiben. Was man am Christentum zu tadeln findet, das soll nach der Ansicht dieser Aufgeklärten eben »unchristlich« sein; das Christentum aber muß das »Feste« bleiben, an ihm zu rütteln ist frevelhaft, ist ein »Frevel«. Allerdings setzt sich der Ketzer gegen den reinen Glauben nicht mehr der früheren Verfolgungwut aus, desto mehr aber gilt es jetzt dem Ketzer gegen die reine Sitte.

    Stirner greift nun sogar ein Tabu an, Liebe unter Geschwistern, und stellt es in Frage, genauer, der Gewissensentscheidung der Liebenden anheim. Zugleich gebraucht er es als Beispiel wie sehr jemand, der eine Ideologie, einen Glauben abgestreift zu haben meint, von diesem doch noch gefangen ist. Diese Passage macht deutlich, dass der entscheidende Faktor der Glaube ist, und zwar ganz allgemein der Glaube im Sinne von "nicht wissen und doch für wahr halten". Er sagt aber nichts über die Art des Glaubens, wie fest, tief, nachhaltig und unerschütterlich ein solcher Glaube sein muss, damit er zur fixen Idee wird.
     
     
     
     
     
     
     

    Nun ja, auch das Gegenteil, die Verneinung oder Aufhebung ist ein Glaubenssatz, z.B. es gibt keine Blutschande und Geschlechtsbeziehungen unter nahen Verwandten werden nicht bestraft. Damit sind wir wieder beim Grundwiderspruch. Stirner scheint zu propagieren: jeder kann tun, was er will. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Stirner kommt es gar nicht so auf den Inhalt an oder was hinter den Idealen steckt, ob Gott oder Moral, ist ihm einerlei, allein die allgemeine Forderung nach Unterwerfung unter ein Ideal oder ethisches Gebot ist ihm zuwider. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Ob die Beobachtung, die helleren Köpfe seien die toleranteren, stimmt, entspricht zwar einer allgemeinen Meinung, ich zweifle aber, ob das so richtig ist. Stirner widerspricht sich hier selbst. Denn S. 48 führt er aus: "Der Fanatismus ist gerade bei den Gebildeten zu Hause; denn gebildet ist der Mensch, soweit er sich für Geistiges interessiert, und Interesse für Geistiges ist eben, wenn es lebendig ist, Fanatismus und muss es sein; es ist ein fanatisches Interesse für das Heilige (fanum)." 

    Die Frömmigkeit der Frommen und Atheisten ist im Prinzip das Gleiche.
     
    Die Frömmigkeit hat seit einem Jahrhundert so viele Stöße erfahren und ihr übermenschliches Wesen so oft ein »unmenschliches« schelten hören müssen, daß man sich nicht versucht fühlen kann, noch einmal sich gegen sie auszulegen. Und doch sind fast immer nur sittliche Gegner auf der Mensur erschienen, um das höchste Wesen anzufechten zugunsten eines – andern höchsten Wesens. So sagt Proudhon ungescheut10: »Der Mensch ist bestimmt, ohne Religion zu leben, aber das Sittengesetz (la loi morale) ist ewig und absolut. Wer würde es heute wagen, die Moral anzugreifen?« Die Sittlichen schöpften das beste Fett von der Religion ab, genossen es selbst und haben nun ihre liebe Not, die daraus entstandene Drüsenkrankheit loszuwerden. Wenn wir deshalb darauf hinweisen, daß die Religion noch bei weitem nicht in ihrem Innersten verletzt wird, solange man ihr nur ihr übermenschliches Wesen zum Vorwurfe macht, und daß sie in letzter Instanz allein an den »Geist« appelliert (denn Gott ist Geist), so haben wir ihre endliche Eintracht mit der Sittlichkeit genugsam angedeutet, und können ihren hartnäckigen Streit mit derselben hinter uns liegen lassen. Um ein höchstes [60] Wesen handelt es sich bei beiden, und ob dasselbe ein übermenschliches oder ein menschliches sei, das kann mir, da es jedenfalls ein Wesen über mir, gleichsam ein übermeiniges ist, nur wenig verschlagen. Zuletzt wird das Verhalten zum menschlichen Wesen oder zum »Menschen«, hat es nur erst die Schlangenhaut der alten Religion abgestreift, doch wieder eine religiöse Schlangenhaut tragen.

    So belehrt uns Feuerbach, daß »wenn man die spekulative Philosophie nur umkehre, d.h. immer das Prädikat zum Subjekt, und so das Subjekt zum Objekt und Prinzip mache, man die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit habe«11. Damit verlieren wir allerdings den beschränkten religiösen Standpunkt, verlieren den Gott, der auf diesem Standpunkte Subjekt ist; allein wir tauschen dafür die andere Seite des religiösen Standpunktes, den sittlichen ein. Wir sagen z.B. nicht mehr: »Gott ist die Liebe«, sondern »die Liebe ist göttlich«. Setzen wir noch an die Stelle des Prädikats »göttlich« das gleichbedeutende »heilig«, so kehrt der Sache nach alles Alte wieder zurück. Die Liebe soll danach das Gute am Menschen sein, seine Göttlichkeit, das was ihm Ehre macht, seine wahre Menschlichkeit (sie »macht ihn erst zum Menschen«, macht erst einen Menschen aus ihm). So wäre es denn genauer gesprochen so: die Liebe ist das Menschliche am Menschen, und das Unmenschliche ist der lieblose Egoist. Aber gerade alles dasjenige, was das Christentum und mit ihm die spekulative Philosophie, d.h. Theologie als das Gute, das Absolute offeriert, ist in der Eigenheit eben nicht das Gute (oder, was dasselbe sagt, es ist nur das Gute), mithin würde durch die Verwandlung des Prädikats in das Subjekt das christliche Wesen (und das Prädikat enthält ja eben das Wesen) nur noch drückender fixiert. Der Gott und das Göttliche verflöchte sich um so unauflöslicher mit mir. Den Gott aus seinem Himmel zu vertreiben und der »Transcendenz« zu berauben, das kann noch keinen Anspruch auf vollkommene Besiegung begründen, weil er dabei nur in die Menschenbrust gejagt und mit unvertilgbarer Immanenz beschenkt wird. Nun heißt es: das Göttliche ist das wahrhaft Menschliche!

    Dieselben Leute, welche dem Christentum als der Grundlage des Staates, d.h. dem sogenannten christlichen Staate widerstreben, werden nicht müde zu wiederholen, daß die Sittlichkeit »der Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens und [61] des Staates« sei. Als ob nicht die Herrschaft der Sittlichkeit eine vollkommene Herrschaft des Heiligen, eine »Hierarchie« wäre.
    ___
    10) Pierre-Joseph Proudhon: De la Création de l'Ordre dans l'Humanité ou Principes d'Organisation politique. Paris, Besançon 1843. S. 38
    ___
    11)  Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie. In: Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik. Hg. von Arnold Ruge. Bd. 2. Zürich und Winterthur 1843. S. 64


     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Die Negation des Religiösen durch die Materialisten und Atheisten ist noch keine echte Befreiung, stellt die eigene Sache nicht auf Nichts, d.h. auf sich selbst und nichts Fremdes, sondern tauscht Gott nur gegen die Idee des Sittlichen. Die wahre Freiheit besteht im Verzicht auf höhere Wesen und Werte, welcher Natur auch immer. Hier landen wir wieder in der schon bekannten Antinomie, dass auch Stirner nur den höchsten Wert ersetzt durch das Ich oder den Egoismus des Einzigen. 
     

    Stirner (an-) erkennt nicht den geistesgeschichtlichen Fortschritt, sittliches Verhalten von Gott oder einer religiösen Haltung zu lösen. Noch heute denken ja viele Leute, dass die Absage an Gott und das Jenseits gleichbedeutend mit Sinnlosigkeit und der Aufgabe aller Werte sei. 

    Stirner hat aber recht, wenn er erkennt, dass unterschiedliche Werte und Ideale immer noch Werte und Ideale - und auf dieser letzten Abstraktionsebene austauschbar und gleich - sind.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Das Göttliche gegen das wahrhaft Menschliche zu tauschen, ist für Stirner keine grundsätzliche Änderung, sondern sozusagen "dasselbe in grün". 
     
     
     
     

    Der Einzige will keinem fremden Herren dienen, egal wie er genannt oder begründet wird. Der Einzige will nur sich selber dienen.
     
     
     
     
     
     

     

    Die Berufung auf die Vernunft macht es nicht besser.
     
    So kann hier beiläufig der aufklärenden Richtung gedacht werden, die, nachdem die Theologen lange darauf bestanden hatten, nur der Glaube sei fähig, die Religionswahrheiten zu fassen, nur den Gläubigen offenbare sich Gott usw., also nur das Herz, Gefühl, die gläubige Phantasie sei religiös, mit der Behauptung hervorbrach, daß auch der »natürliche Verstand«, die menschliche Vernunft, fähig sei, Gott zu erkennen. Was heißt das anders, als daß auch die Vernunft darauf Anspruch machte, dieselbe Phantastin zu sein wie die Phantasie. In diesem Sinne schrieb Reimarus seine »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«. Es mußte dahin kommen, daß der ganze Mensch mit allen seinen Fähigkeiten sich als religiös erwies: Herz und Gemüt, Verstand und Vernunft, Fühlen, Wissen und Wollen, kurz alles am Menschen erschien religiös. Hegel hat gezeigt, daß selbst die Philosophie religiös sei. Und was wird heutigestages nicht alles Religion genannt? Die »Religion der Liebe«, die »Religion der Freiheit«, die »politische Religion«, kurz jeder Enthusiasmus. So ist's auch in der Tat.

    Noch heute brauchen wir das welsche Wort »Religion«, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebunden bleiben wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht unser Geist, sondern absolut. Darum wäre die richtige affirmative Übersetzung des Wortes Religion die – »Geistesfreiheit«! Bei wem der Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste. Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung auf mich: ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel es uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit uns durchgehen, davon wird mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußterweise ein Egoist zu sein.

    [62] Reimarus und alle, welche gezeigt haben, daß auch unsere Vernunft, unser Herz usw. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, daß wir durch und durch besessen sind. Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Geistesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glauben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der Form des Verstandes usw. an den geistigen und himmlischen Wahrheiten teilnehmen darf, dann ist der ganze Geist nur mit Geistigem, d.h. mit sich beschäftigt, also frei. Jetzt sind wir so durch und durch religiös, daß »Geschworene« uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Christ durch »Amtseid« uns ins Loch bringt.

    Anerkennung und Anwendung der Vernunft auf fixe Ideen macht es nicht besser. Nimmt die Theologie die Vernunft als Verbündeten hinzu, führt das nur zu einer Ausdehnung quasi-religiöser fixer Ideen.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Diese Passage ist für mich sehr schwierig, ja eigentlich nicht zu verstehen: a) "Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr," b) "ist nicht unser Geist, sondern absolut."  Das gibt es also einen Geist, der frei und alleiniger Herr ist (a). Aber dieser freie Geist ist nicht unser Geist, sondern ein "absoluter" (b). Das hört sich ganz nach einer Chimäre an, die er doch so bekämpft. 

    Aus psychologischer Sicht ist es natürlich fraglich, ob der Geist so frei ist, wie Stirner meint. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Es gibt also viele Wege zur und viele Formen der Besessenheit.
     

    Mit der Eroberung der fixen Ideen durch den Geist gibt es auch viele Möglichkeiten, fixen Ideen nicht zu genügen und damit auch viele Möglichkeit der Repression und ihrer Autoritäten zur Unterdrückung. 

    Sittlichkeit contra Frömmigkeit
     
    Die Sittlichkeit konnte erst von da ab gegen die Frömmigkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt der brausende Haß wider alles, was einem »Befehle« (Ordonnanze, Gebote usw.) ähnlich sah, sich revoltierend Luft machte und der persönliche »absolute Herr« verhöhnt und verfolgt wurde: sie konnte folglich zur Selbständigkeit erst durch den Liberalismus kommen, dessen erste Form als »Bürgertum« sich weltgeschichtliche Bedeutung verschaffte und die eigentlich religiösen Gewalten schwächte (siehe unten »Liberalismus«). Denn das Prinzip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, sondern auf eigenen Füßen stehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten, sondern im Vernunftgesetze, von welchem jene, soweit sie noch gültig bleiben sollen, zu ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten müssen. Im Vernunftgesetze bestimmt sich der Mensch aus sich selbst, denn »der Mensch« ist vernünftig, und aus dem »Wesen des Menschen« ergeben ich jene Gesetze mit Notwendigkeit. Frömmigkeit und Sittlichkeit scheiden sich darin voneinander, daß jene Gott, diese den Menschen zum Gesetzgeber macht.

    Von einem gewissen Standpunkte der Sittlichkeit aus räsonniert man etwa so: entweder treibt den Menschen seine Sinnlichkeit, und er ist, ihr folgend, unsittlich, oder es treibt ihn das Gute, welches, in den Willen aufgenommen, sittliche Gesinnung (Gesinnung und Eingenommenheit für das Gute) heißt: dann beweist er sich als sittlich. Wie läßt sich von diesem Gesichtspunkte aus z.B. die Tat Sands gegen Kotzebue unsittlich nennen? Was man so unter uneigennützig [63] versteht, das war sie doch gewiß in demselben Maße als unter anderem die Diebereien des heiligen Crispin zugunsten der Armen. »Er hätte nicht morden sollen, denn es stehet geschrieben: du sollst nicht morden!« Also dem Guten zu dienen, dem Volkswohl, wie Sand wenigstens beabsichtigte, oder dem Wohl der Armen, wie Crispin, das ist sittlich; aber der Mord und Diebstahl ist unsittlich: der Zweck sittlich, das Mittel unsittlich. Warum? »Weil der Mord, der Meuchelmord etwas absolut Böses ist.« Wenn die Guerillas die Feinde des Landes in Schluchten verlockten und sie ungesehen aus den Büschen niederschossen, so war das etwa kein Meuchelmord? Ihr könntet dem Prinzip der Sittlichkeit nach, welches befiehlt, dem Guten zu dienen, doch nur fragen, ob der Mord nie und nimmer eine Verwirklichung des Guten sein könne, und müßtet denjenigen Mord anerkennen, der das Gute realisierte. Ihr könnt die Tat Sands gar nicht verdammen: sie war sittlich, weil im Dienst des Guten, weil uneigennützig; sie war ein Strafakt, den der einzelne vollzog, eine mit Gefahr des eigenen Lebens vollzogene – Hinrichtung. Was war am Ende sein Unterfangen anders gewesen, als daß er Schriften durch rohe Gewalt unterdrücken wollte? Kennt ihr dasselbe Verfahren nicht als ein »gesetzliches« und sanktioniertes? Und was läßt sich aus eurem Prinzip der Sittlichkeit dagegen einwenden? – »Aber es war eine widergesetzliche Hinrichtung.« Also das Unsittliche daran war die Ungesetzlichkeit, der Ungehorsam gegen das Gesetz? So räumt ihr ein, daß das Gute nichts anderes ist als das – Gesetz, die Sittlichkeit nichts anderes als Loyalität. Es muß auch bis zu dieser Äußerlichkeit der »Loyalität« eure Sittlichkeit heruntersinken, bis zu dieser Werkheiligkeit der Gesetzerfüllung, nur daß die letztere zugleich tyrannischer und empörender ist als die einstige Werkheiligkeit. Denn bei dieser bedurfte es nur der Tat, ihr aber braucht auch die Gesinnung: man soll das Gesetz, die Satzung in sich tragen, und wer am gesetzlichsten gesinnt ist, der ist der Sittlichste. Auch die letzte Heiterkeit des katholischen Lebens muß in dieser protestantischen Gesetzlichkeit zugrunde gehen. Hier endlich erst vollendet sich die Gesetzesherrschaft. Nicht »ich lebe, sondern das Gesetz lebt in mir«. So bin ich denn wirklich so weit gekommen, nur das »Gefäß seiner (des Gesetzes) Herrlichkeit« zu sein. »Jeder Preuße trägt seinen Gendarmen in der Brust« sagt ein hoher preußischer Offizier.

    Die These eines Gegensatzes ist für mich nicht nachvollziehbar, zumal sich Frömmigkeit und Sittlichkeit nicht ausschließen.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Sinnlich leben und "gut" sein, muss sich nicht ausschliessen. 
     
     
     
     
     
     
     
     

    Ich kann in einem leidenschaftlichen Mordmotiv, das die eigene Position verabsolutiert, keinerlei Uneigennützigkeit erkennen. 
     
     
     
     
     

    Dieses Beispiel trifft die Sache viel besser. Ob etwas "gut" oder "schlecht" bewertet wird, hängt ganz davon ab, in wessen Auftrag und zu welchen Zielen und Zwecken eine Tötungshandlung durchgeführt wird. Natürlich findet im Krieg sehr häufig hinterhältiger Mord statt. Doppelmoral und zweierlei Recht ist Obrigkeitsprinzip. 
     

    Ja, siehe oben.

    So handhaben es Obrigkeiten, Staat und "Recht".
     
     
     

    Das ist eine gute Idee: gut ist, wer aus eigener Überzeugung richtig handelt. 
     

    Dass ich ein Sittengesetz in mir aufnehme, heisst ja noch nicht, dass es mich völlig beherrscht und alles in mir bestimmt. Es heißt nur: das Sittengesetz wirkt dort, wo der Anwendungstatbestand greift.
     
     
     
     

     

    Sittliche Konflikte
     
    Warum wollen gewisse Oppositionen nicht gedeihen? [64] Lediglich aus dem Grunde, weil sie die Bahn der Sittlichkeit oder Gesetzlichkeit nicht verlassen wollen. Daher die maßlose Heuchelei von Ergebenheit, Liebe usw., an deren Widerwärtigkeit man sich täglich den gründlichsten Ekel vor diesem verdorbenen und heuchlerischen Verhältnis einer »gesetzlichen Opposition« holen kann, – In dem sittlichen Verhältnis der Liebe und Treue kann ein zwiespältiger, ein entgegengesetzter Wille nicht stattfinden; das schöne Verhältnis ist gestört, wenn der eine dies und der andere das Umgekehrte will. Nun soll aber nach der bisherigen Praxis und dem alten Vorurteil der Opposition das sittliche Verhältnis vor allem bewahrt werden. Was bleibt da der Opposition übrig? Etwa dies, eine Freiheit zu wollen, wenn der Geliebte sie abzuschlagen für gut findet? Mit nichten! Wollen darf sie die Freiheit nicht; sie kann sie nur wünschen, darum »petitionieren«, ein »Bitte, bitte!« lallen. Was sollte daraus werden, wenn die Opposition wirklich wollte, wollte mit der vollen Energie des Willens? Nein, sie muß auf den Willen Verzicht leisten, um der Liebe zu leben, auf die Freiheit – der Sittlichkeit zuliebe. Sie darf nie »als ein Recht in Anspruch nehmen«, was ihr nur »als Gunst zu erbitten« erlaubt sei. Die Liebe, Ergebenheit usw. heischt mit unabwendbarer Bestimmtheit, daß nur ein Wille sei, dem die andern sich ergeben, dem sie dienen, folgen, den sie lieben. Ob dieser Wille für vernünftig oder für unvernünftig gelte: man handelt in beiden Fällen sittlich, wenn man ihm folgt, und unsittlich, wenn man sich ihm entzieht. Der Wille, der die Zensur gebietet, scheint vielen unvernünftig; wer aber sein Buch im Lande der Zensur dieser unterschlägt, der handelt unsittlich, und wer ihr's vorlegt, handelt sittlich. Quittiere einer sein sittliches Urteil, und errichte z.B. eine geheime Presse, so müßte man ihn unsittlich nennen, und unklug obenein, wenn er sich erwischen ließe? Aber wird ein solcher Anspruch darauf machen, in den Augen der »Sittlichen« einen Wert zu haben? Vielleicht! – Wenn er sich nämlich einbildete, einer »höheren Sittlichkeit« zu dienen. Nein, sicher nicht. Es gibt viele Gründe, die noch dazu zusammenwirken können. 

    Die Verbreitung allgemeiner Heuchelei ist wohl richtig beobachtet. Aber rät nicht Stirner selbst zu List und Täuschung, wenn die Verhältnisse für den Einzelnen dies nützlich erscheinen lassen?
     

    Wieso nicht? Ist das nicht gerade der typische dramatische Konflikt, in dem wir alle des öfteren stecken?
     
     
     

    Stirner hat recht, das bloße Bitten wird nicht viel helfen, daher kommt es ja - Gottseidank - immer wieder zu grenzüberschrei- tenden Bewegungen bis hin zu Revolutionen. Wozu sollte man sich auch an Gesetz und Recht halten, wenn es parteiisch und ungerecht verfasst und angewendet wird?
     
     
     

    Man liebt nicht unbedingt, woran man sich hält.

    Es gibt nicht entweder nur das ANDERE (Staat, Kirche, Gemeinwohl) oder MICH. Ich kann das ANDERE - teilweise oder bedingt - in mich aufnehmen und unter bestimmten Bedingungen zu meinem Eigenen machen. 

    Wer erwischt wird, ist nicht unbedingt unklug, er kann Pech haben oder es kann Verrat im Spiel sein. Aber es kann manchmal sogar gut sein, sich  erwischen lassen, weil ein Modell oder sogar ein Vorbild geschaffen und Öffentlichkeit hergestellt wird. 

    Schwanken zwischen Heuchelei und Egoismus: Nichts Halbes und nichts Ganzes.
     
    Das Gewebe der heutigen Heuchelei hängt an den Marken zweier Gebiete, zwischen denen unsere Zeit herüber und hinüber schwebt und ihre feinen Fäden der Täuschung und Selbsttäuschung anklebt. Nicht mehr kräftig genug, um zweifellos und ungeschwächt der Sittlichkeit zu dienen, noch nicht rücksichtslos genug, um ganz dem Egoismus zu leben, zittert sie in dem Spinnennetze der Heuchelei bald zur [65] einen, bald zum andern hin, und fängt, vom Fluche der Halbheit gelähmt, nur dumme, elende Mücken. Hat man's einmal gewagt, einen »freien« Antrag zu stellen, gleich verwässert man ihn wieder mit Liebesversicherungen und – heuchelt Resignation; hat man anderseits die Stirne gehabt, den freien Antrag mit sittlichen Verweisungen auf Vertrauen usw. zurückzuschlagen, gleich sinkt auch der sittliche Mut, und man versichert, wie man die freien Worte mit besonderem Wohlgefallen usw. vernehme: man – heuchelt Anerkennung. Kurz man möchte das eine haben, aber das andere nicht entbehren: man möchte einen freien Willen haben, aber den sittlichen beileibe nicht missen. – Kommt nur zusammen, ihr Liberalen, mit einem Servilen. Ihr werdet jedes Wort der Freiheit mit einem Blick des loyalsten Vertrauens versüßen, und er wird seinen Servilismus in die schmeichelndsten Phrasen der Freiheit kleiden. Dann geht ihr auseinander, und er wie ihr denkt: Ich kenne dich, Fuchs! Er wittert an euch so gut den Teufel, als ihr an ihm den alten finstern Herrgott.
     
     
     

    Stirner beschreibt hier den Konflikt, den einer hat, wenn er die Verhältnisse ändern will, aber noch nicht so recht weiß, was er sich trauen kann und darf, und wie man es verpackt und deklariert. Er spricht hier die Kunst praktischer Politik an. 
     
     

    Lüge, Täuschung, Heuchelei sind ganz normales politisches Alltagsgeschäft. Daher wird nur ein naiver Narr den Worten von PolitikerInnen eine besondere Bedeutung beimessen. Man kann und darf PolitikerInnen nur an ihrem Tun und Lassen  bewerten. 
     
     
     
     
     

     

    Nero oder von Relativität des Guten und Bösen
     
    Ein Nero ist nur in den Augen der »Guten« ein »böser« Mensch; in den meinigen ist er nichts als ein Besessener, wie die Guten auch. Die Guten sehen in ihm einen Erzbösewicht und delegieren ihn der Hölle. Warum hinderte ihn nichts in seinen Willkürlichkeiten? Warum ließ man sich so viel gefallen? Waren etwa die zahmen Römer, die von einem solchen Tyrannen sich allen Willen binden ließen, um ein Haar besser? Im alten Rom hätte man ihn augenblicklich hingerichtet, wäre nie sein Sklave geworden. Aber die jetzigen »Guten« unter den Römern setzten ihm nur die sittliche Forderung entgegen, nicht ihren Willen; sie seufzten darüber, daß ihr Kaiser nicht der Sittlichkeit huldige wie sie: sie selber blieben »sittliche Untertanen«, bis endlich einer den Mut fand, die »sittliche, gehorsame Untertänigkeit« aufzugeben. Und dann jauchzten dieselben »guten Römer«, die als »gehorsame Untertanen« alle Schmach der Willenlosigkeit ertragen hatten, über die frevelhafte, unsittliche Tat des Empörers. Wo war denn bei den »Guten« der Mut zur Revolution, den sie jetzt priesen, nachdem ein anderer ihn gefaßt hatte? Die Guten konnten diesen Mut nicht haben, denn eine Revolution, und gar eine Insurrektion, ist immer etwas »Unsittliches«, wozu man sich nur entschließen kann, wenn man aufhört, »gut« zu sein, und entweder »böse« wird, oder – keins von beiden. Nero war nicht schlimmer als [66] seine Zeit, in der man nur eins von beiden sein konnte, gut oder böse. Seine Zeit mußte von ihm urteilen: er sei böse, und zwar im höchsten Grade, nicht ein Flauer, sondern ein Erzböser. Alle Sittlichen können nur dieses Urteil über ihn fällen. Schurken, wie er war, leben heute noch mitunter fort (siehe z.B. Memoiren des Ritters von Lang) inmitten der Sittlichen. Bequem lebt sich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens ist man da ebensowenig sicher, nur daß man »im Wege Rechtens« gehängt wird, seiner Ehre aber ist man am wenigsten sicher, und die Nationalkokarde fliegt im Umsehen davon. Die derbe Faust der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Wesen des Egoismus um. Das ist richtig. Es gibt natürlich keine absolut gültige Ethik und Moral. Unterstellte man, dass Nero Stirners Lehre vom Einzigen kannte, dann hat er nach dieser Lehre nichts falsch gemacht. Stirner erkennt nur an dieser Stelle zum wiederholten Male nicht, dass auch er selbst ein Besessener ist, denn die Ethik des Egoisten und Einzigen, ist auch eine Ethik und damit Spuk und fixe Idee.

    Das ist wohl richtig. Herrscher und Politiker sind durch Worte wenig zu beeindrucken.

    Ja, der Opportunismus hat eine jahrtausendealte Tradition. Hinterher war nie jemand bei den Falschen, im Nachhinein hat man es gleich gewußt und den neuen Mächtigen wird allenthalben zugejubelt. Stirner beschreibt hier ziemlich scharfsinnig, vermutlich zeitlose massen- soziologische Phänomene.

    Und er beschreibt auch richtig, dass die Weiterentwicklung des Guten meist bedeutet, dass man bestehende Gesetze - die die Herrschenden einseitig zu ihren Gunsten eingerichtet haben - übertreten muss. Wer erst eine Bahnsteigkarte lösen muss, um an der Revolution teilzunehmen, hat gute Chancen, zu scheitern. Verändern wollen heißt Kampf gegen die Herrschaft, die sich natürlich wehrt und ihre Vorteile (Polizei, Militär, Presse, Geld, Recht und Gesetz) nutzt. 

    Man kann nicht nur entweder gut oder böse sein und wir sind das auch nicht. Fast jeder Mensch trägt Gut und Böse in sich, leidet mehr oder weniger darunter und lebt es unterschiedlich aus.
     
     

    Die derbe Faust der Sittlichkeit ist nicht selten nur eine besondere (versteckte) Form des Egoismus etwa die Mordlust der Fundamentalisten.
     

    Der Schurke und der Ehrliche
     
    »Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen ehrlichen Mann auf gleiche Linie stellen!« Nun, kein Mensch tut das öfter als ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das, einen ehrlichen Mann, der offen gegen die bestehende Staatsverfassung, gegen die geheiligten Institutionen usw. redet, den sperrt ihr ein als Verbrecher, und einem verschmitzten Schurken überläßt ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge. Also in praxi habt ihr mir nichts vorzuwerfen. »Aber in der Theorie!« Nun, da stelle ich beide in der Tat auf eine Linie als zwei entgegengesetzte Pole: beide nämlich auf die Linie des Sittengesetzes. Sie haben beide nur Sinn in der »sittlichen« Welt, gerade so, wie in der vorchristlichen Zeit ein gesetzlicher Jude und ein ungesetzlicher nur Sinn und Bedeutung hatten in bezug auf das jüdische Gesetz, dagegen vor Christus der Pharisäer nicht mehr war als die »Sünder und Zöllner«. So gilt auch vor der Eigenheit der sittliche Pharisäer so viel als der unsittliche Sünder. Nun, wenn man die "fixe Idee" vertritt, dass vor dem Gesetz - zumindest grundsätzlich - alle gleich sein sollen, erscheint das das Gebot.

    Stirner kritisiert hier das Gegenteil seiner obigen Klage ungerechter Gleichbehandlung, indem er ausführt, ehrliche Leute, die ihre kritische Meinung vertreten würden bestraft, verschmitzten Schurken vertrauen man aber sogar wichtige Dinge an. 
     
     
     
     

    Für Stirner ist es offenbar kein Fortschritt, nicht mehr so sehr auf die Hülle, sondern auf die Sache zu schauen.

    Nur Bettler betteln, Eigene nehmen
     
    Nero wurde durch seine Besessenheit sehr unbequem. Ihm würde aber ein eigener Mensch nicht albernerweise das »Heilige« entgegensetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann des Heiligen nicht achtet, sondern seinen Willen. Wie oft wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menschenrechte den Feinden derselben vorgehalten und irgendeine Freiheit als ein »heiliges Menschenrecht« erwiesen und vordemonstriert. Die das tun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirklich geschieht, wenn sie nicht eigentlich doch, sei's auch unbewußt, den zum Ziele führenden Weg einschlügen. Sie ahnen es, daß, wenn nur erst die Mehrzahl für jene Freiheit gewonnen ist, sie auch dieselbe wollen und dann nehmen [67] wird, was sie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle möglichen Beweise dieser Heiligkeit werden sie niemals verschaffen: das Lamentieren und Petitionieren zeigt eben nur Bettler. Es ist - wie ja schon mehrfach ausgeführt  - sicher richtig, Tyrannen nicht mit Worten zu bekämpfen.

    Worte sind aber auch nicht völlig und von vornherein wirkungslos, da mit ihnen auch symbolisches Handeln ausgedrückt werden, Menschen- und Weltbilder beeinflusst werden. 
     
     
     
     
     

    Stirner verkündet hier eine Philosophie der Tat, die wohl von kaum jemandem bestritten wird. Wirkliche Veränderungen erfordern wirkliche Handlungen. 

    Falsche Vereinfachungen
     
    Der Sittliche ist notwendig darin borniert, daß er keinen andern Feind kennt als den »Unsittlichen«. »Wer nicht sittlich ist, der ist unsittlich!«, mithin verworfen, verächtlich usw. Darum kann der Sittliche niemals den Egoisten verstehen. Ist nicht unehelicher Beischlaf eine Unsittlichkeit? Der Sittliche mag sich drehen, wie er will, er wird bei diesem Ausspruch bleiben müssen; Emilia Galotti ließ für diese sittliche Wahrheit ihr Leben. Und es ist wahr, es ist eine Unsittlichkeit. Ein tugendhaftes Mädchen mag eine alte Jungfer werden; ein tugendhafter Mann mag die Zeit damit hinbringen, sich mit seinen Naturtrieben herumzuschlagen, bis er sie vielleicht verdumpft hat, er mag sich um der Tugend willen verschneiden, wie der heilige Origenes um des Himmels willen: er ehrt die heilige Ehe, die heilige Keuschheit dadurch als unverletzlich, es ist – sittlich. Unkeuschheit kann nie zu einer sittlichen Tat werden. Mag der Sittliche den, der sie beging, auch noch so nachsichtig beurteilen und entschuldigen, ein Vergehen, eine Sünde wider ein sittliches Gebot bleibt sie, es haftet daran ein unauslöschlicher Makel. Wie die Keuschheit einst zum Ordensgelübde, so gehört sie zu sittlichem Wandel. Keuschheit ist ein – Gut. – Dagegen für den Egoisten ist auch Keuschheit kein Gut, ohne das er nicht auskommen könnte: es ist ihm nichts daran gelegen. Was folgt nun für das Urteil des Sittlichen hieraus? Dies, daß er den Egoisten in die einzige Klasse von Menschen wirft, die er außer den sittlichen Menschen kennt, in die der – Unsittlichen. Er kann nicht anders, er muß den Egoisten in allem, worin dieser die Sittlichkeit nicht achtet, unsittlich finden. Fände er ihn nicht so, so wäre er eben schon der Sittlichkeit abtrünnig geworden, ohne sich's zu gestehen, er wäre schon kein wahrhaft sittlicher Mensch mehr. Man sollte sich durch solche Erscheinungen, die heutigentags allerdings nicht mehr zu den seltenen gehören, nicht irreführen lassen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergibt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Parabel die christliche Religion, so gut als die mohammedanische und jüdische, einem »unechten Ringe« vergleicht, ein frommer Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich's zu gestehen getrauen. [68] – Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit gewesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil Sokrates – ein sittlicher Mensch war. Die »sittenlosen, ruchlosen« Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue geschworen, und dekretierten seine Absetzung, ja seinen Tod, die Tat war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden. "Der Sittliche" hat nicht nur die "Unsittlichen" als Feind, sondern die Anderssittlichen als Konkurrenz, die Zwiespältigen, Launischen und Wechselhaften. 
    Das hängt doch ganz von den Vereinbarungen und den Rechtsverhältnissen ab - wie wir inzwischen ganz genau wissen. 
     
     

    Hier ist Stirner ein ziemliches Opfer seiner Zeit und ein wenig blind, wenn er nur die kleinbürgerlichen und kirchlichen Lehren sieht. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Ich denke, man braucht sich nur einem Sittengesetz verpflichtet fühlen, wenn dies auch die anderen in der Gemeinschaft und Gesellschaft tun. Einseitige Bindungen und Verpflichtungen kann, aber muss man nicht eingehen. Warum soll ich zu meinem Staat gut sein, wenn der mich austrickst und betrügt, wie es ihm gefällt? Warum soll ich einem Prinzip treu sein, dem meine MitspielerInnen untreu sind? Wieso soll ich ehrlich sein, wo mir das zum Schaden gereicht? Die zahlreichen Bedingungen und Umstände, die das eigene sittliche Verhalten beeinflussen und bewirken können, werden von Stirner überhaupt nicht differenziert und berücksichtigt. 

    Die human entwickelte "reine" Sittlichkeit
     
    Mehr oder weniger trifft jedoch dies alles nur die »bürgerliche Sittlichkeit«, auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbständige Lehren zu erzeugen. Ganz anders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein ihrer Würde gelangt, und ihr Prinzip, das Wesen des Menschen oder »den Menschen«, zum einzigen Maßgebenden erhebt. Diejenigen, welche so zu entschiedenem Bewußtsein sich durchgearbeitet haben, brechen vollständig mit der Religion, deren Gott neben ihrem »Menschen« keinen Platz mehr findet, und wie sie (s. unten) das Staatsschiff selbst anbohren, so zerbröckeln sie auch die im Staate allein gedeihende »Sittlichkeit« und dürfen folgerichtig nicht einmal ihren Namen weiter gebrauchen. Denn, was diese »Kritischen« Sittlichkeit nennen, das scheidet sich sehr bündig von der sogenannten »bürgerlichen oder politischen Moral« ab und muß dem Staatsbürger wie eine »sinn- und zügellose Freiheit« vorkommen. Im Grunde aber hat es nur die »Reinheit des Prinzips« voraus, das, aus seiner Verunreinigung mit dem Religiösen befreit, nun in seiner geläuterten Bestimmtheit als – »Menschlichkeit« zur Allgewalt gekommen ist. Deshalb darf man sich nicht wundern, daß auch der Name Sittlichkeit neben andern, wie Freiheit, Humanität, Selbstbewußtsein usw., beibehalten und nur etwa mit dem Zusatze einer »freien« Sittlichkeit versehen wird, gerade so wie auch, obgleich der bürgerliche Staat Unglimpf erfährt, doch der Staat als »freier Staat«, oder, wenn selbst so nicht, doch als »freie Gesellschaft« wieder erstehen soll. Stirner räumt hier endlich ein, dass er sich oben vor allem in der "bürgerlichen" Sittlichkeit verfangen hat. Mit Recht er kennt er noch eine große Nähe zur religiös motivierten Sittlichkeit.
     
     

    Stirner arbeitet nicht klar heraus, weshalb die auf Humanität gegründete Sittlichkeit der Religion gleichzusetzen ist. Tatsächlich werden von der auf Humanität gegründeten Sittlichkeit die meisten metaphysischen Bedürfnisse, die die Religion befriedigt, gerade offen gelassen und eben nicht befriedigt. 
     
     
     
     
     
     

    Die Schilderung einer entwickelten Sittlichkeit unabhängig von der Religion folgt den philosophischen und politischen Entwicklungen seiner Zeit.
     
     
     
     
     
     

     

    Die bürgerlich humane Sittlichkeit als Religion
     
    [69] Weil diese zur Menschlichkeit vollendete Sittlichkeit mit der Religion, aus welcher sie geschichtlich hervorgegangen, sich völlig auseinandergesetzt hat, so hindert sie nichts, auf eigene Hand Religion zu werden. Denn zwischen Religion und Sittlichkeit waltet nur so lange ein Unterschied ob, als unsere Beziehungen zur Menschenwelt durch unser Verhältnis zu einem übermenschlichen Wesen geregelt und geheiligt werden, oder so lange als unser Tun ein Tun »um Gottes willen« ist. Kommt es hingegen dahin, daß »dem Menschen der Mensch das höchste Wesen ist«, so verschwindet jener Unterschied, und die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur – Religion. Es hat dann nämlich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und wir verhalten uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d.h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun ebenso synonym als im Anfang des Christentums, und nur weil das höchste Wesen ein anderes geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein »heiliger«, sondern ein »menschlicher«. Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger – Herrenwechsel eingetreten. Die Idee einer religionsunabhängigen Sittlichkeit setzt nicht unbedingt voraus, dass der Mensch selbst als das höchste Wesen angesehen wird. Besser würde passen, wenn die Idee einer Menschlichkeit und Humanität als eine Art höchsten Wesen angesehen würde. Es ist natürlich ein geistesgeschichtlicher und moralischer Fortschritt, wenn die Idee der Humanität und Sittlichkeit keinen furchterregenden Gott mehr braucht. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

     

    Kritik an Feuerbachs Leitidee der Liebe zum Menschen
     
    Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. »Das höchste und erste Gesetz muß die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte«12. Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe, ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist mir – heilig. Und alles »wahrhaft Menschliche« ist mir – heilig! »Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei dir die Freundschaft, heilig das Eigentum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst«13. Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch! Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat nur in Subjekt verwandelt, und statt des Satzes »Gott ist die Liebe« heißt es »die Liebe ist göttlich«, statt »Gott ist Mensch geworden« – »der Mensch ist Gott geworden« usw. Es ist eben nur eine neue – Religion. »Alle sittlichen Verhältnisse sind nur da moralische, sie werden [70] nur da mit sittlichem Sinne gepflogen, wo sie durch sich selbst (ohne religiöse Weihe durch den Segen des Priesters) als religiöse gelten.« Feuerbachs Satz: die Theologie ist Anthropologie, heißt nur »die Religion muß Ethik sein, die Ethik ist allein Religion.«

    Überhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und Prädikat, eine Bevorzugung des letzteren. Da er aber selbst sagt: »Die Liebe ist nicht dadurch heilig (und hat den Menschen niemals dadurch für heilig gegolten), daß sie ein Prädikat Gottes, sondern sie ist ein Prädikat Gottes, weil sie durch und für sich selbst göttlich ist,« so konnte er finden, daß der Kampf gegen die Prädikate selbst eröffnet werden mußte, gegen die Liebe und alle Heiligkeiten. Wie durfte er hoffen, die Menschen von Gott abzuwenden, wenn er ihnen das Göttliche ließ? Und ist ihnen, wie Feuerbach sagt, Gott selbst nie die Hauptsache gewesen, sondern nur seine Prädikate, so konnte er ihnen immerhin den Flitter noch länger lassen, da ja die Puppe doch blieb, der eigentliche Kern. Er erkennt das auch, daß es sich bei ihm »nur um die Vernichtung einer Illusion handelt«14, meint jedoch, sie »wirke grundverderblich auf die Menschen, da selbst die Liebe, an sich die innerste, wahrste Gesinnung, durch die Religiosität zu einer unscheinbaren, illusorischen werde, indem die religiöse Liebe den Menschen nur um Gottes willen, also nur scheinbar den Menschen, in Wahrheit nur Gott liebt.« Ist dies anders mit der sittlichen Liebe? Liebt sie den Menschen, diesen Menschen um dieses Menschen willen, oder um der Sittlichkeit willen, um des Menschen willen, also – denn homo homini Deus – um Gottes willen?
    ___
    12) Das Wesen des Christentums. 2., vermehrte Aufl. Leipzig 1843. S. 402 [O 3.A]
    13) S. 403 [O 3.A]
    14) S. 408

    Die Leitidee Feuerbachs klingt sehr vernünftig im Sinne eines wohlverstandenen Egoisten, der um die Bedeutung des Sozialen und  Zwischenmenschlichen für sich selbst weiß. 
     
     
     
     
     

    In der Tat liest sich Feuerbach beim Thema Liebe sehr schwärmerisch wie ein quasi-religiöses Bekenntnis zur Liebe ohne Gott und Christentum. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Stirner kritisiert hier zu Recht, dass Wertschöpfer dazu neigen, ihre Grundwerte zu glorifizieren, mit dem Nimbus einer Überwelt zu versehen und darin gleicht dieses Vorgehen dem Religiösen. Solcherart begründete und gepriesene Ethik ähnelt religiöser Schwelgerei und Schwärmerei. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Aus der offenbar einvernehmlichen Tatsache, dass die Liebe wunderbare Wirkungen hat, lässt sich nicht ableiten, dass hier von Feuerbach eine - ungewollte - wesensmäßige Gleichsetzung mit Gott vorgenommen wird. Feuerbach nimmt zu Recht an, dass dies eine genuin der Liebe eigene Wirkung ist.
     
     
     

     

    Formelle Seiten des Sparrens
     
    Der Sparren hat noch eine Menge von formellen Seiten, deren einige hier anzudeuten nützlich sein möchte.

    So ist die Selbstverleugnung den Heiligen gemein mit den Unheiligen, den Reinen und Unreinen. Der Unreine verleugnet alle »besseren Gefühle«, alle Scham, ja die natürliche Furchtsamkeit, und folgt nur der ihn beherrschenden Begierde. Der Reine verleugnet seine natürliche Beziehung zur Welt (»verleugnet die Welt«) und folgt nur dem ihn beherrschenden »Verlangen«. Von Gelddurst getrieben verleugnet der Habgierige alle Mahnungen des Gewissens, alles Ehrgefühl, alle Milde und alles Mitleid; er setzt alle [71] Rücksichten aus den Augen: ihn reißt die Begierde fort. Gleiches begeht der Heilige. Er macht sich zum »Spotte der Welt«, ist hartherzig und »strenggerecht«; denn ihn reißt das Verlangen fort. Wie der Unheilige vor dem Mammon sich selbst verleugnet, so verleugnet der Heilige sich vor Gott und den göttlichen Gesetzen. Wir leben jetzt in einer Zeit, wo die Unverschämtheit der Heiligen täglich mehr gefühlt und aufgedeckt wird, wodurch sie zugleich gezwungen ist, sich selbst täglich mehr zu enthüllen und bloßzustellen. Übersteigt nicht die Unverschämtheit und Dummheit der Gründe, mit denen man dem »Fortschritt der Zeit« entgegenwirkt, längst alles Maß und alle Erwartung? Aber es muß so kommen. Die Selbstverleugnenden müssen als Heilige denselben Gang nehmen wie als Unheilige, und wie diese nach und nach ins vollste Maß selbstverleugnender Gemeinheit und Niedrigkeit versinken, so müssen jene zur entehrendsten Erhabenheit aufsteigen. Der Mammon der Erde und der Gott des Himmels fordern beide genau denselben Grad der – Selbstverleugnung. Der Niedrige wie der Erhabene langen nach einem »Gute«, und beide ergänzen zuletzt auch einander wieder, indem der »materiell Gesinnte« einem ideellen Schemen alles opfert, seiner Eitelkeit, der »geistlich Gesinnte« einem materiellen Genüsse, dem Wohlleben.


     

    Es ist belegt, dass die Selbstverleugnung als allgemein menschliches Phänomen angesehen werden muss. Aber es gibt hier viele Grau- und Grenzzonen, Unter- und Übertreibungen. Stirner nimmt hier die später von Freud erdachten Abwehrmechanismen vorweg. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Diese scharfsinnigen Gedanken Stirners treten aber nicht nur als interpsychische Gegensätze zwischen (Ideal-) Typen hervor, sondern sie finden sich auch intrapsychisch als unterschiedlich ausgeprägte Gegensätze in einer einzigen Seele. 
     

     

    Analyse der Uneigennützigkeit - ein regelrechter "Modeartikel der zivilisierten Welt"
    Die innere Notwendigkeit - hier stehe ich und kann nicht anders.
     
    Ungemein viel glauben diejenigen zu sagen, welche den Menschen »Uneigennützigkeit« ans Herz legen. Was verstehen sie darunter? Wohl etwas Ähnliches als unter »Selbstverleugnung«. Wer aber ist dieses Selbst, das verleugnet werden und keinen Nutzen haben soll? Du scheinst es selber sein zu sollen. Und zu wessen Nutzen empfiehlt man dir die uneigennützige Selbstverleugnung? Wiederum dir zu Nutzen und Frommen, nur daß du durch Uneigennützigkeit deinen »wahren Nutzen« dir verschaffst.

    Dir sollst du nutzen, und doch sollst du deinen Nutzen nicht suchen.

    Für uneigennützig hält man den Wohltäter der Menschen, einen Franken, welcher das Waisenhaus stiftete, einen O'Connell, der für sein irisches Volk unermüdlich arbeitet; aber auch den Fanatiker, der, wie der heilige Bonifacius, sein Leben für die Heidenbekehrung einsetzt, oder wie Robespierre alles der Tugend opfert, wie Körner für Gott, König und Vaterland stirbt. Daher versuchen unter andern die Gegner O'Connells, ihm eine Eigennützigkeit oder Gewinnsucht unterzuschieben, wozu ihnen die O'Connell-Rente Grund [72] zu geben schien; denn gelänge es, seine »Uneigennützigkeit« zu verdächtigen, so trennten sie ihn leicht von seinen Anhängern.

    Was könnten sie indes weiter beweisen, als daß O'Connell auf einen andern als den vorgeblichen Zweck hinarbeite? Ob er aber Geldgewinn oder Volkbefreiung erzielen mag, daß er einem Zwecke, und zwar seinem Zwecke zustrebt, bleibt doch im einen wie im andern Falle gewiß: Eigennutz hier wie da, nur daß sein nationaler Eigennutz auch andern zugute käme, mithin gemeinnützig wäre.

    Ist nun etwa die Uneigennützigkeit unwirklich und nirgends vorhanden? Im Gegenteil, nichts ist gewöhnlicher! Man darf sie sogar einen Modeartikel der zivilisierten Welt nennen, den man für so unentbehrlich hält, daß man, wenn er in solidem Stoffe zu viel kostet, wenigstens mit seinem Flitterschein sich ausputzt und ihn erheuchelt. Wo beginnt die Uneigennützigkeit? Gerade da, wo ein Zweck aufhört, unser Zweck und unser Eigentum, mit dem wir als Eigentümer nach Belieben schalten können, zu sein; wo er ein fixer Zweck oder eine – fixe Idee wird, wo er anfängt, uns zu begeistern, enthusiasmieren, fanatisieren, kurz, wo er zu unserer Rechthaberei ausschlägt und unser – Herr wird. Man ist nicht uneigennützig, solange man den Zweck in seiner Gewalt behält; man wird es erst bei jenem »Hier steh' ich, ich kann nicht anders«, dem Kernspruche aller Besessenen, man wird es bei einem heiligen Zwecke durch den entsprechenden heiligen Eifer. 

    Ich bin nicht uneigennützig, solange der Zweck mein eigen bleibt, und ich, statt zum blinden Mittel seiner Vollführung mich herzugeben, ihn vielmehr allezeit in Frage lasse. Mein Eifer braucht darum nicht geringer zu sein als der fanatischste, aber ich bleibe zu gleicher Zeit gegen ihn frostig kalt, ungläubig und sein unversöhnlichster Feind; ich bleibe sein Richter, weil ich sein Eigentümer bin.

    Die Uneigennützigkeit wuchert üppig, soweit die Besessenheit reicht, gleich sehr auf Teufelsbesitzungen wie auf denen eines guten Geistes: dort Laster, Narrheit usw.; hier Demut, Hingebung usw.

    Hier greift Stirner etwas sehr Richtiges an, nämlich die seit Urzeiten weit verbreitete moralische Rhetorik.
     

    Man redet dem Menschen ein, Uneigennützigkeit sei der wahre Nutzen, doch dies steht oft im Widerspruch zum Erleben und zur Erfahrung der Menschen.
     
     
     
     
     

    Diesen Widerspruch spießt Stirner gut auf. Aber er berücksichtigt hierbei nicht, dass der Mensch zwar logisch und widerspruchsfrei denken kann, aber selbst in seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht logisch und widerspruchsfrei organisiert ist. Der Mensch hat viele Strebungen und bezieht man diese etwa durch verschiedene ICH-Konstruktionen (Vital-Ich, Real-Ich, Norm-Ich, Ideal-Ich, Super-Ich) ein, so macht es durchaus Sinn zu sagen, was dem einen ICH nutzte, kann dem andern schaden. Solche Konflikte gehören zu fast jedem Leben dazu, egal wie "normal" oder "unnormal" es gelebt wird. 

    Alle von Stirner beispielhaft Genannten für vermeintliche Uneigennützigkeit sind es sicher nicht, wenn man eine differenzierte ICH-Analyse durchführt. Wozu sollte man auch "uneigennützig" handeln? Meist wird dann das Norm- oder Ideal-Ich befriedigt. Richtig ist aber, dass man jemand mehr Glaubwürdigkeit zubilligt, der Opfer für seine Sache bringt. 
     

    Diese Analyse ist wohl richtig: ein Ziel kann mehreren Herren dienen, sowie Altruismus sehr gute Wirkungen für den Egoisten haben kann.
     

    Das ist eine wirklich wichtige Frage, die Stirner aber gar nicht beantwortet. Stattdessen schweift er auf seine Lieblingsidee der fixen Idee ab. Ein Mensch erreicht nach Stirner den Höhepunkt uneigennützigen Handeln wenn er von inneren Normen so wie Luther - hier stehe ich, ich kann nicht anders - zwanghaft getrieben wird, wenn er die Souveränität der freien Wahl verloren hat, wenn er handeln muss. 

    Affektbeteiligung, Überwertigkeit und Zwang beherrschen Stirners Charakterisierung. Die übliche Charakterisierung bestimmt hingegen: Uneigennützigkeit liegt gewöhnlich dann vor, wenn der Nutzen für den Handelnden nicht so erkennbar ist wie für andere, die Nutznießer seines Handelns. 
     

    Eifrigkeit und frostig kalt bleiben ist ein psychologischer Widerspruch. Wer Anteil nimmt und eifrig ist, der ist eben nicht "frostig kalt". Stirner kann hier nur sinnvoll meinen, dass man, wie oben schon herausgearbeitet, die Wahlfreiheit behält. Eine solche Bestimmung ist auch mit Leidenschaft verträglich. 

     

    Das Hohe Lied Stirners auf Kurtisanen und freie Frauen gegenüber entsagenden Jungfern
     
    Wohin könnte man blicken, ohne Opfern der Selbstverleugnung zu begegnen? Da sitzt mir gegenüber ein Mädchen, das vielleicht schon seit zehn Jahren seiner Seele blutige Opfer bringt. Über der üppigen Gestalt neigt sich ein todmüdes Haupt, und bleiche Wangen verraten die langsame Verblutung [73] ihrer Jugend. Armes Kind, wie oft mögen die Leidenschaften an dein Herz geschlagen, und die reichen Jugendkräfte ihr Recht gefordert haben! Wenn dein Haupt sich in die weichen Kissen wühlte, wie zuckte die erwachende Natur durch deine Glieder, spannte das Blut deine Adern, und gössen feurige Phantasien den Glanz der Wollust in deine Augen. Da erschien das Gespenst der Seele und ihrer Seligkeit. Du erschrakst, deine Hände falteten sich, dein gequältes Auge richtete den Blick nach oben, du – betetest. Die Stürme der Natur verstummten, Meeresstille glitt hin über den Ozean deiner Begierden. Langsam senkten sich die matten Augenlider über das unter ihnen erloschene Leben, aus den strotzenden Gliedern schlich unvermerkt die Spannung, in dem Herzen versiegten die lärmenden Wogen, die gefalteten Hände selbst lasteten entkräftet auf dem widerstandslosen Busen, ein leises, letztes Ach stöhnte noch nach, und – die Seele war ruhig. Du entschliefst, um am Morgen zu neuem Kampfe zu erwachen und zu neuem – Gebete. Jetzt kühlt die Gewohnheit der Entsagung die Hitze deines Verlangens, und die Rosen deiner Jugend erblassen in der – Bleichsucht deiner Seligkeit. Die Seele ist gerettet, der Leib mag verderben! O Lais [W], o Ninon [W], wie tatet ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette [W] gegen tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern! Hier gibt Stirner eine beinah lyrische Einlage zum klassischen Konflikt der Sehnsucht nach leidenschaftlicher Hingabe und dem moralischen Verbot, aktiv und frei die Liebe zu leben. 
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

    Stirner spricht sich hier poetisch-enthusiastisch für die Lebensform der Hetären und freien Frauen (Beispiel Grisetten) aus und bedauert die in der Tugend grau gewordenen Jungfern.
     

    Die Verdächtigkeit der Worte "Grundsatz, Prinzip, Standpunkt"
     
    Auch als »Grundsatz, Prinzip, Standpunkt« u. dergl. läßt sich die fixe Idee vernehmen. Archimedes verlangte einen Standpunkt außerhalb der Erde, um sie zu bewegen. Nach diesem Standpunkte suchten fortwährend die Menschen, und jeder nahm ihn ein, so gut er vermochte. Dieser fremde Standpunkt ist die Welt des Geistes, der Ideen, Gedanken, Begriffe, Wesen usw.; es ist der Himmel. Der Himmel ist der »Standpunkt«, von welchem aus die Erde bewegt, das irdische Treiben überschaut und – verachtet wird. Sich den Himmel zu sichern, den himmlischen Standpunkt fest und auf ewig einzunehmen, wie schmerzlich und unermüdlich rang danach die Menschheit. Der Kritik Stirners an der Suche nach einem Standpunkt vermag ich nicht zu folgen. Er hat ja auch einen - gesucht und gefunden.
     

    Das klingt doch schon sehr "eigen". 
    Der plötzliche Sprung zum "fremden" Standpunkt ist nicht nachvollziehbar, aber auch nicht unbedingt von vornherein falsch. Stirner scheint mit seiner grundsätzlichen Ablehnung alles Fremden - das man sich doch auch zu eigen machen kann - selbst einer fixen Idee aufzusitzen. Aber er merkt es nicht. 
     

    Wodurch soll der Mensch bestimmt sein ?
     
    Es hat das Christentum dahin gezielt, uns von der Naturbestimmung (Bestimmung durch die Natur), von den Begierden als antreibend, zu erlösen, mithin gewollt, daß der Mensch sich nicht von seinen Begierden bestimmen lasse. Darin liegt nicht, daß er keine Begierden haben solle, sondern daß die Begierden ihn nicht haben sollen, daß sie nicht fix, unbezwinglich, unauflöslich werden sollen. Was nun [74] das Christentum (die Religion) gegen die Begierden machinierte, könnten wir das nicht auf seine eigene Vorschrift, daß uns der Geist (Gedanke, Vorstellungen, Ideen, Glaube usw.) bestimmen solle, anwenden, könnten verlangen, daß auch der Geist oder die Vorstellung, die Idee uns nicht bestimmen, nicht fix und unantastbar oder »heilig« werden dürfe? Dann ginge es auf die Auflösung des Geistes, Auflösung aller Gedanken, aller Vorstellungen aus. Wie es dort heißen mußte: Wir sollen zwar Begierden haben, aber die Begierden sollen uns nicht haben, so hieße es nun: Wir sollen zwar Geist haben, aber der Geist soll uns nicht haben. Scheint das Letztere eines rechten Sinnes zu ermangeln, so denke man z.B. daran, daß bei so manchem ein Gedanke zur »Maxime« wird, wodurch er selbst in dessen Gefangenschaft gerät, so daß nicht er die Maxime, sondern diese vielmehr ihn hat. Und mit der Maxime hat er wieder einen »festen Standpunkt«. Die Lehren des Katechismus werden unversehens unsere Grundsätze und ertragen keine Verwerfung mehr. Der Gedanke derselben oder der – Geist hat die alleinige Gewalt, und keine Einrede des »Fleisches« wird weiter gehört. Gleichwohl aber kann ich nur durch das »Fleisch« die Tyrannei des Geistes brechen; denn nur, wenn ein Mensch auch sein Fleisch vernimmt, vernimmt er sich ganz, und nur, wenn er sich ganz vernimmt, ist er vernehmend oder vernünftig. Der Christ vernimmt den Jammer seiner geknechteten Natur nicht, sondern lebt in »Demut«; darum murrt er nicht gegen die Unbill, welche seiner Person widerfährt: mit der »Geistesfreiheit« glaubt er sich befriedigt. Führt aber einmal das Fleisch das Wort und ist der Ton desselben, wie es nicht anders sein kann, »leidenschaftlich«, »unanständig«, »nicht wohlmeinend«, »böswillig« usw., so glaubt er Teufelsstimmen zu vernehmen, Stimmen gegen den Geist (denn Anstand, Leidenschaftlosigkeit, Wohlmeinung u. dergl. ist eben – Geist), und eifert mit Recht dagegen. Er müßte nicht Christ sein, wenn er sie dulden wollte. Er hört nur auf die Sittlichkeit und schlägt die Sittenlosigkeit aufs Maul, er hört nur auf die Gesetzlichkeit und knebelt das gesetzlose Wort: der Geist der Sittlichkeit und Gesetzlichkeit hält ihn gefangen, ein starrer, unbeugsamer Herr. Das nennen sie die »Herrschaft des Geistes« –, es ist zugleich der Standpunkt des Geistes. Hier geht Stirner sehr milde mit dem Christentum um. So tolerant gegenüber den Begierden war es nie. Leider stellt Stirner die wichtige Grundfrage nicht, was es denn heißen soll, sich nicht von seinen Begierden bestimmen zu lassen? Hier ist ja zu unterscheiden zwischen dem Augenblick, der Gegenwart und einer mittleren und längeren Zukunfts-Sicht. Wie oben schon ausführlich erörtert, hat der Mensch ja ganz verschiedene Strebungen, Wünsche und Bedürfnisse, so dass die Aufgabe  für jeden ist, mit Hilfe seines Super-Ichs, einen Ausgleich herzustellen. Dies bedeutet natürlich in manchen Fällen Bedürfnisaufschub, aber nicht unbedingt Verzicht. 

    All unser Tun und Lassen ist letztlich von Wünschen, Bedürfnissen, Motiven oder Interessen bestimmt. Der Geist, genauer unser Denken war immer nur ein "Hilfssheriff" im Dienste unserer Strebungen. 
    Das kann man schon vernünftig interpretieren, nämlich dass ein durch Denken gefundenes Werturteil einer Ich-Dimension ohne Berücksichtigung anderer Wertgrundlagen nicht dominieren soll. Weitergehend bekräftigt er, dass Maximen schnell zu fixen Ideen werden können.
     

    Hier ist es auch nicht der Geist oder der Gedanke, der einen Menschen gefangen nimmt, sondern eine Norm, ein Wert oder ein Ideal. Das Wesentliche ist dabei, dass Normen, Werte, Ideale gefühlsmäßig besetzt sein müssen, um wirken zu können (> siehe bitte Grundlagen des Werterlebens; > allgemeine Übersicht Werte). 
    Stirners Wertung, dass zur Vernunft auch gehört, sich ganz wahrzunehmen, ist gut und nicht zu beanstanden (> Super-Ich). 

    Das stimmt dann, wenn es sich um eine "geglückte", d.h. gut abgerichtete neutestamentliche ChristIn handelt. 

    Das ist eine interessante für nicht wenige Fälle bis ins 20. Jhd. hinein stimmige Theorie, wie es zu Wahnbildungen und Halluzinationen kommen kann. 
     
     
     

    Das ist nicht die Herrschaft des Geistes, sondern des Norm-Ichs (Über-Ich), dem Real-Ich und Super-Ich nicht gewachsen sind.
     

    Welche Freiheit sucht und braucht der Mensch ?
     
    Und wen wollen nun die gewöhnlichen liberalen Herrn frei machen? Nach wessen Freiheit schreien und lechzen sie [75] denn? Nach der des Geistes! Des Geistes der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Frömmigkeit, Gottesfurcht usw. Das wollen die antiliberalen Herren auch, und der ganze Streit zwischen beiden dreht sich um den Vorteil, ob die letzteren das Wort allein haben oder die ersteren einen »Mitgenuß desselben Vorteils« erhalten sollen. Der Geist bleibt für beide der absolute Herr, und sie hadern nur darum, wer den hierarchischen Thron, der dem »Statthalter des Herrn« gebührt, einnehmen soll. Das Beste an der Sache ist, daß man dem Treiben ruhig zusehen kann mit der Gewißheit, daß die wilden Tiere der Geschichte sich ebenso zerfleischen werden, wie die der Natur; ihre verwesenden Kadaver düngen den Boden für – unsere Früchte.

    Auf manchen andern Sparren, wie den des Berufes, der Wahrhaftigkeit, der Liebe usw., kommen wir später zurück.

    Stirner erkennt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den Strebungen der Liberalen und der Antiliberalen (Kleriker). Beide streiten nur um die Macht der gesellschaftlich gültigen Werte, aber beide sind sich eben darin gleich, eine Wertordnung vorzugeben und ihre Anerkennung zu verlangen.
     

    Stirner findet den Kampf der Ideologien gut und wähnt seine Ideologie als lachenden Dritten, wenn sich Liberale und Christen zerfleischt haben. Er sieht nicht, dass seine Lehre den Kampf jedes gegen jeden bedeutet und dass hierbei die Skrupellosesten und Stärksten jeweils bestimmen, wo es lang gehen soll, d.h. es mündet in Vulgäranarchie, Chaos und  Tyrannis, einzig und allein den Gesetzen des Sozialdarwinismus unterliegend. 
     

     

    Das Eigene und das Eingegebene
     
    Wenn das Eigene dem Eingegebenen entgegengestellt wird, so will der Einwurf nichts verschlagen, daß wir Isoliertes nicht haben können, sondern alles im Weltzusammenhange, also durch den Eindruck des um uns Befindlichen empfangen, mithin als ein »Eingegebenes« haben; denn es ist ein großer Abstand zwischen den Gefühlen und Gedanken, welche durch anderes in mir angeregt, und denen, welche mir gegeben werden. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Menschlichkeit usw. werden uns von Kindheit an als Gedanken und Gefühle eingeprägt, die kräftiger oder flauer unser Inneres bewegen, und entweder unbewußt uns beherrschen, oder in reicheren Naturen zu Systemen und Kunstwerken sich darlegen können, immer aber nicht angeregte, sondern eingegebene Gefühle sind, weil wir an sie glauben und an ihnen hängen müssen. Daß ein Absolutes sei und dieses Absolute von uns aufgenommen, gefühlt und gedacht werden müsse, stand als Glaube bei denen fest, die alle Kraft ihres Geistes darauf verwandten, es zu erkennen und darzustellen. Das Gefühl für das Absolute besteht da als ein eingegebenes und kommt fortan nur zu den mannigfaltigsten Offenbarungen seiner selbst. So war in Klopstock das religiöse Gefühl ein eingegebenes, das sich in der Messiade nur künstlerisch verkündete. Wäre hingegen die Religion, welche er vorfand, für ihn nur eine Anregung zu Gefühl und Gedanke gewesen, und hätte er sich ganz eigen dagegen zu stellen gewußt, so ergab sich statt religiöser Begeisterung eine Auflösung und [76] Verzehrung des Objektes. Dafür setzte er im reifen Alter nur seine kindischen, in der Kindheit empfangenen Gefühle fort und verpraßte die Kräfte seiner Mannheit in dem Aufputz seiner Kindereien. Drei entscheidende Fragen erörtert Stirner leider gar nicht: 1) Kann Fremdes zu Eigenem werden? 2) Wie kann Eingegebenes zu Eigenem werden? 3) Und welches Fremde steht im Dienste des Ego und Einzigen und sollte daher wie zu berücksichtigen sein? Immerhin: wenigstens unterscheidet er Eingegebenes von Anregungen, wobei er letztere wohl gelten lässt, aber man vermisst alle Kriterien, wie man das eine vom andern unterscheidet. So verrichtet Stirner an dieser Stelle nur etwa 10% der Arbeit, die nötig wäre.
    Das "Eingegebene" scheint bei Stirner mit der Erziehung und Kindheit zusammenzuhängen. Die Ausführung von "unbewusst beherrschen" und es in Systemen oder Kunstwerken darlegen, ist nicht nachvollziehbar und auch nicht recht vergleichbar. Es werden hier sozusagen zwei Umgangsformen mit "Eingegebenen" postuliert: man lebt unbewusst danach oder drückt das Eingegebene durch Schaffung von Systemen oder Kunstwerken aus. 
     
     

    Das Beispiel Klopstock spricht für die oben gemachte Interpretation: Eingegebenes geht auf die Erziehung in der Kindheit zurück. 
     
     

    Dieser Gedankengang ist mir unverständlich.
     

    Der Unterschied zwischen "anregen" und "eingeben"
     
    Der Unterschied ist also der, ob mir Gefühle eingegeben oder nur angeregt sind. Die letzteren sind eigene, egoistische, weil sie mir nicht als Gefühle eingeprägt, vorgesagt und aufgedrungen wurden; zu den ersteren aber spreize ich mich auf, hege sie in mir wie ein Erbteil, kultiviere sie und bin von ihnen besessen. Wer hätte es niemals, bewußter oder unbewußter gemerkt, daß unsere ganze Erziehung darauf ausgeht, Gefühle in uns zu erzeugen, d.h. sie uns einzugeben, statt die Erzeugung derselben uns zu überlassen, wie sie auch ausfallen mögen. Hören wir den Namen Gottes, so sollen wir Gottesfurcht empfinden, hören wir den der fürstlichen Majestät, so soll er mit Ehrfurcht, Ehrerbietung, Untertänigkeit aufgenommen werden, hören wir den der Moral, so sollen wir etwas Unverletzliches zu hören meinen, hören wir von dem und den Bösen, so sollen wir schaudern usw. Auf diese Gefühle ist's abgesehen, und wer z.B. die Taten der »Bösen« mit Wohlgefallen vernähme, der müßte durch die Zuchtrute »gezüchtigt und erzogen« werden. So mit eingegebenen Gefühlen vollgestopft, erscheinen wir vor den Schranken der Mündigkeit und werden »mündig gesprochen«. Unsere Ausrüstung besteht aus »erhebenden Gefühlen, erhabenen Gedanken, begeisternden Grundsätzen, ewigen Prinzipien« usw. Mündig sind die Jungen dann, wenn sie zwitschern wie die Alten; man hetzt sie durch die Schule, damit sie die alte Leier lernen, und haben sie diese inne, so erklärt man sie für mündig. Man erkennt hier, dass Stirner mit Eingegebenem etwas Fremdes, von außen Übergestülptes meint. Im Grunde ist Stirner wie Johann Christian Reil schon vor ihm in der Erziehungsfrage ein früher Vorgänger Jungs, der Humanistischen Psychologie und Psychotherapiebewegung, namentlich von Carl Rogers, wo die Idee der Selbstentfaltung eine große Rolle spielt. Sein Grundverständnis von Erziehung ist Hegels Autoritätsdiktatur entgegengesetzt und zeigt einen grundlegenden Respekt vor dem kindlichen Selbst und seiner Eigenart. Damit vertritt er im Sinne seiner Lehre aber auch selbst einen Spuk oder eine fixe Idee, nämlich den hohen pädagogischen und humanistischen Wert der Selbstentfaltung. Und damit widerspricht er sich wieder selbst, wenn er allen Spuk, alle Gespenster, alle fixen Ideen verbannen will. Denn dann verbannt er auch seine eigenen guten Werte: entwickeln, entfalten lassen, Begabungen und Neigungen fördern. 

    Die Kritik an der Hegelschen Antipädagogik seiner Zeit ist vollkommen berechtigt. Abrichten bis zur reibungslosen Fügsamkeit erzieht keine selbstbewussten Menschen, sondern Marionetten, die sich für fremde "höhere" Zwecke natürlich bestens missbrauchen lassen. 
     

     

    Sinn der Seelsorge - Vorschriften für "fühlen" und "denken"
     
    Wir dürfen nicht bei jeder Sache und jedem Namen, der uns vorkommt, fühlen, was wir dabei fühlen möchten und könnten, dürfen z.B. bei dem Namen Gottes nichts Lächerliches denken, nichts Unehrerbietiges fühlen, sondern es ist uns vorgeschrieben und eingegeben, was und wie wir dabei fühlen und denken sollen.

    Das ist der Sinn der Seelsorge, daß meine Seele oder mein Geist gestimmt sei, wie andere es recht finden, nicht wie ich selbst möchte. Wie viele Mühe kostet es einem nicht, wenigstens bei dem und jenem Namen endlich sich ein eigenes Gefühl zu sichern und manchem ins Gesicht zu lachen, der von uns bei seinen Reden ein heiliges Gesicht und eine unverzogene Miene erwartet. Das Eingegebene ist [77] uns fremd, ist uns nicht eigen, und darum ist es »heilig«, und es hält schwer, die »heilige Scheu davor« abzulegen.

    Heutigestags hört man auch wieder den »Ernst« anpreisen, den »Ernst bei hochwichtigen Gegenständen und Verhandlungen«, den »deutschen Ernst« usw. Diese Art der Ernsthaftigkeit spricht deutlich aus, wie alt und ernstlich schon die Narrheit und Besessenheit geworden ist. Denn es gibt nichts Ernsthafteres als den Narren, wenn er auf den Kernpunkt seiner Narrheit kommt: da versteht er vor großem Eifer keinen Spaß mehr. (Siehe Tollhäuser.)

    Ja, so sehen es die Auserwählten und danach führen sie sich auch auf.
     
     
     

    Ja, so war und so ist es. 
     
     
     
     

    Hier vermisse ich die Einsicht, das Fremdes, von anderen kommendes, Eingegebenes auch zu Eigenem werden kann. 
     
     

    Bei unseren hohen Werten und Empfindlichkeiten verstehen wir allesamt nicht so viel Spaß. Besonders grausam und brutal sind hier aber sicher die auserwählten Fundamentalisten aller Farben und Schattierungen. 
     

     



    Zusammenfassung - Abstract - Summary zu "Der Sparren".
    Einen "Sparren" haben hat bei Stirner eine geistige und eine Lebensweise-Komponente. Im Geistigen bedeutet es, Universalien (z.B. Freiheit, Gemeinwohl, Vaterland, Gesetz) als Realität anzuerkennen. In der Lebensweise bedeutet es, sich nach solchen als Realität anerkannten Universalien zu richten, d.h. nach Idealen und Werten zu streben. Einen "Sparren" hat man nach Stirner erst, wenn man Ideale und Werte nicht nur als Realität anerkennt, sondern seine Lebensweise danach richtet, sich von allgemeinen Normen, Idealen und Werten lenken und leiten lässt. Dies tun nach Stirner die allermeisten Menschen auf dieser Welt. Daher kommt er zu dem Ergebnis, dass die allermeisten Menschen einen "Sparren" haben, weil sie sich von solchen fixen Ideen lenken und leiten lassen.
        Die zunächst überwiegend beschreibende Theorie Stirners enthält mehrere Teile, nämlich: 1) die weitere These, dass allgemeine geistige Konstruktionen (Universalien?), die in der äußeren Welt keine direkte Entsprechung, haben, als Produkt fixer Ideen angesehen werden müssen. 2) die engere These, dass Normen, Werte, Ideale, Gebote und Verbote als geistige Konstruktionen keine wirklichen Entsprechungen in der Außenwelt haben und so gesehen ebenfalls als fixe Ideen angesehen werden müssen. 3) Man kann nun durch 1) oder 2) fremden Interessen ausgesetzt sein, die versuchen, einen dazu zu bringen, 1) oder / und 2) zu denken. Das ist in der Regel durch die Erziehung in der Kindheit gegeben. Dies führt dann zu einem fremd bestimmten Welt- und Menschenbild, das beantwortet, was ist real, wahr, richtig ist oder was so angesehen werden soll. 4) Und fremde Interessen können einen nach 1) oder / und 2) zu entsprechendem Verhalten veranlassen. 5) Durch Erziehung und Erfahrung kann es schließlich so weit kommen, dass man sich selbst, von sich aus fremden Sicht- und Sollweisen unterwirft. 6) Die ego-ethische Hauptnorm Stirner besteht nun darin, sich auf das eigene, einzigartige ICH zu besinnen und genau das zu tun oder zu lassen, was diesem eigenen, einzigartigen ICH am besten entspricht, möglichst frei von allen fremden, nicht ich-gemäßen Einflüssen. Damit landet Stirner in einer Aporie, d.h. in der ethisch-philosophischen Ausweglosigkeit, einerseits jedes Ideal, jeden Wert, jede Norm als eine fixe Idee zu verwerfen, andererseits erhebt er das eigene, einzigartige Wollen zum höchsten Ideal und Wert und zur höchsten Norm. 7) Aus psychologischer Sicht ergibt sich weiterhin das Problem, dass wir alle, notgedrungen, Erzogene, Geprägte, Beeinflusste sind und uns auch teilweise mit durch fremde Interessen herbeigeführten geistigen und moralischen Inhalten identifizieren, d.h. etwas ursprünglich Fremdes und von anderen stammendes, kann ich mir zu eigen gemacht haben. 8) Scharf formuliert: wie kann ich wissen, was mein eigenes, einziges ist und was fremd, eingegeben und nicht ichgemäß? Diese Frage stellt sich besonders dann, wenn wir annehmen, dass ursprünglich fremdes als eigenes anerkannt und integriert werden kann? 9) Zu 1) und 2) stellt sich die Frage, ab wann geistige oder / und ethische Konstruktionen zu fixen Ideen werden? Bekanntlich ist die Frage, ob ein - vielleicht sogar gefährlicher - Wahn vorliegt, eine schwierige diagnostische Frage. 10) Stirner erkennt nicht, dass es nicht nur ein einziges, "homogenes" ICH gibt. Der Mensch kann zwar logisch und oft auch widerspruchsfrei denken, aber er ist in sich selbst nicht widerspruchsfrei, sondern er besteht aus vielerlei unterschiedlichen Strebungen, für die sich z.B. aus psychotherapeutischer Sicht folgende Konstruktionen gut eignen: Vital-Ich, Real-Ich, Norm-Ich, Ideal-Ich, Super-Ich. 11) Die Integration wichtiger Normen der Gemeinschaft und Gesellschaft ist wahrscheinlich auch psychoökonomisch sinnvoll und nutzz dem Egoismus, soweit dieser für seine Selbstverwirklichung die Interessen anderer berücksichtigen muss.
        Grundlegende Fehler Stirners sind: die Nicht-an-erkenntnis bzw. Leugnung ideeller Konstruktionen und ihrer positiven Bedeutung für die Selbstverwirklichung, aber auch ganz realer Erscheinungen wie der Gesellschaft, ihrer Institute und Gruppierungen. Wir sind alle Egoisten und es gibt im Prinzip nur zwei Arten davon: kluge und dumme. Der dumme Egoist denkt vermeintlich nur an sich und vernachlässigt die Interessen anderer. Kluge Egoisten sind hingegen sozial, weil sie berücksichtigen, dass andere Egoisten nur dann nachhaltig ihre eigenen Interessen berücksichtigen werden, wenn sie deren Interessen ebenfalls respektieren. Sozial sein heißt eben auch, den eigenen Interessen dienen, sofern man nämlich die anderen braucht. Stirner verkennt auch, wenn er die anthropologischen, zoologischen und historischen Erfahrungen und Beobachtungen seit vielen Jahrtausenden ignoriert, dass Gemeinschaften und Gesellschaften Regeln ausbilden müssen. Diese Regelungen dienen auch dem Egoismus der einzelnen. Sie geben Sicherheit, Berechenbarkeit und Vertrauen und ermöglichen die Ausbildung von Erwartungen.
        Die Verrücktheit kommt aber dann berechtigt ins Spiel, wenn wunschgeleitete Fantasien und geistige Konstruktionen nicht nur für Schöpfungen des menschlichen Geistes, sondern für von Menschen unabhängige Realität gehalten werden. An dieser Stelle greift Max Stirners Diagnose globaler menschlicher Verrücktheit. Berechtigt ist auch seine Kritik des vielfältigen Missbrauchs von Menschen, insbesondere von Kindern, durch religiöse, ideologische und politische Verführer, Herrschaft und Obrigkeit. Sehr zu begrüßen ist auch seine humanistisch orientierte Selbstentfaltungspädagogik, wenn er eine solche nach seiner eigenen Lehre auch gar nicht fordern dürfte. Auch dies  zeigt einen der zahlreichen Widersprüche bei Stirner: Obwohl er bestimmte Ideen, Normen, Werte und Ideale für fixe Ideen hält, denen keine Realität entspricht, redet er andererseits auch wieder so, als ob diesen Begriffen eine Realität entspräche, wenn er z.B. ziemlich am Anfang seines Buches ausführt (S. 4): "Wie steht es mit der Menschheit, deren Sache Wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines anderen und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, lässt sie Völker und Individuen in ihrem Dienste sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine - rein egoistische Sache?"
        Stirner ist in seiner Radikalität ein interessanter Denker. Psychologisch ist nach wie vor die interessanteste Frage und Aufgabe, die er uns immer noch stellt: warum, wann und wie wird Fremdes zu Eigenem?
        Studiert man sein Leben, so sieht es so aus, als habe er versucht, seine Lehre zu leben. Betrachtet man seine 10 letzten Jahre nach Veröffentlichung des EINZIGEN und seinen Wunsch steinalt zu werden - er starb noch nicht 50jährig - , so ist er ziemlich sicher gescheitert, womit er seine Lehre mit seinem Leben widerlegt hat.

    Biographisches. [nach Mackay > Online und Engert (2001)]
    Max Stirner, mit bürgerlichen Namen Johann Caspar Schmidt, wurde 1806 in Bayreuth geboren und er starb mit noch nicht ganz 50 Jahren 1856 in Berlin. Sein Vater, Instrumentenbauer, stammte aus Ansbach und starb ein halbes Jahr nach seiner Geburt, worauf seine Mutter 1809 nochmals heiratete und mit ihrem zweiten Mann in der Not der Zeit nach Kulm in Westpreußen zog. 1818 Gymnasium in Bayreuth. Unstetes Studium in Berlin, Erlangen, Königsberg, mehrere Jahre unterbrochen u.a. wegen einer längeren Reise durch Deutschland. 1835 und 1836 Referendarzeit an einer königlichen Realschule in Berlin. 1839 Lehrerexamen in Berlin. Die Mutter stammte aus Erlangen und litt an "fixen Ideen", die sie für Jahrzehnte in die Heilanstalt brachten. 1834 taucht sie plötzlich - mitten in den Prüfungsvorbereitungen - bei Stirner in Berlin auf, 1835 kommt sie in die Charité bis 28. Juli 1836 und ab 17.10.1837 in die Privatanstalt Schönhauser Allée (Frau Dr. Klinsmann), wo sie am 17.3.1859, drei Jahre nach Stirners Tod, starb.
        1839 wurde Stirner Lehrer an einer Mädchenschule in Berlin. Anschluß an die Gruppe der "Freien" (überwiegend damalige Linke), die jahrelang tagtäglich hauptsächlich in Wirtshäusern tagte (Stammsitz Weinstube Hippel in der Friedrichstraße nach der Bierstube Zum Kronprinzen und der Weinwirtschaft Walburg in der alten Post um die Nikolaikirche herum). Die "Freien" waren nur eine lose Verbindung mit Kontakten zur Rheinischen Zeitung, zur Allgemeinen Litteratur-Zeitung und politisch avantgardistischen Zirkeln. Friedrich Engels ging dort einige Zeit ein und aus und von diesem gibt es auch - eine wenig ähnliche Zeichnung - von Stirner. Die zentrale Figur der "Freien" war Bruno Bauer; weitere Stammgäste waren sein Bruder Edgar Bauer und Ludwig Buhl. Von Marx und Engels wurde gegen die "Freien" 1845 das Pamphlet "Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer und Consorten" verfasst. Von Marx stammt auch eine umfangreiche Kritik des "Der Einzige und sein Eigentum", "Sankt Max", das er aber zurückhielt und erst posthum veröffentlicht wurde.
        Seine erste Ehefrau starb mit dem Kinde bei der Geburt. Seine zweite Ehefrau (Kneipenname: Marius Daehnhardius)  lernte er bei den "Freien" -  genauer im Hause Dr. Zabels - bei denen auch viele Frauen waren, kennen. Sie heirateten am 21. Oktober 1843 in der Wohnung Stirners, Neu Cölln, am Wasser 23. Stirner arbeitete in Buhls Berliner Monatsschrift mit und gab seine Stellung als Lehrer am 1.10.1844 auf. Ende Oktober 1844 erscheint "Der Einzige und sein Eigentum". 1845 scheitert das Gelderwerbsprojekt "Milchwirtschaft". Seine zweite Frau war schwer enttäuscht von Stirner und trennte sich von ihm im April 1846, nachdem ihr Vermögen in wenigen Jahren durchgebracht war und Stirner keine Anstalten zeigte, sich wieder um eine finanziell tragfähige Arbeit zu bemühen. Mackay berichtet zur Kündigung und zu dieser Zeit:

      "Er hatte seine Stelle an der Töchterschule der Mme. Gropius noch [>183] ein ganzes Jahr nach seiner Verheiratung mit Marie Dähnhardt inne; ausserdem muss er in diesem Jahre noch vollauf mit der letzten Vollendung seines Werkes beschäftigt gewesen sein. Nun sollte es erscheinen. Da entschloss er sich zu der Aufgabe seiner Stellung und meldete seinen Austritt bei den Fräulein Zepp, die damals die Schule übernommen hatten, auf den 1. Oktober 1844 an. Da diese den Grund nicht ahnten, waren sie sehr überrascht; auch verloren sie ungern die tüchtige und beliebte Kraft. Marie Dähnhardt hatte ihren Mann gebeten, zu bleiben, da es doch eine "kleine Hilfe" bei ihren Einnahmen bedeuten würde. "Er war zu stolz und träge, für sie zu arbeiten", sagt sie. Aber Stirner blieb bei seinem Entschluss. Das Erscheinen seines Werkes hätte ihn doch, wie er wusste, in unentwirrbare Konflikte mit seiner Stellung gebracht, und ausserdem wollte er wohl seine Person keinerlei Missdeutungen aussetzen."
        Nach der Trennung von Stirner ging sie erst nach London und schloss sich einer Auswanderungsgruppe um Techow nach Australien an, wo sie u.a. als Wäscherin bittere Zeiten durchlebte, bis sie durch ein kleines Erbe wieder nach London zurückkehren konnte. Dort - inzwischen zum Christentum zurückgekehrt - leugnete sie, Stirner je geliebt und geachtet zu haben und wollte von ihm weder etwas erinnern noch wissen, wie der Stirner-Biograph, Zeitzeuge und Interviewer Mackay ausführte. Mit Stirner ging es nach der Trennung vor allem wirtschaftlich immer mehr bergab. Bereits 1846 ersucht er öffentlich um ein Darlehen von 500 Thalern. 1853 landete er, wie erneut 1854, im Schuldgefängnis. Ein entlastender Erbvertrag Ende 1854 über das Haus seiner Mutter kam wahrscheinlich zu spät für den angeschlagenen Körper. Er zog sich im Mai 1856 einen handtellergroßen Karbunkel im Nacken zu. Nachdem der erste erfolgreich behandelnde Arzt verreiste und ein Rückfall auftrat, neigte sich Stirners Leben vermutlich als Folge nicht sachgemäßer Behandlung in 14 Tagen zu Ende. Er, der steinalt werden wollte, starb nicht 50jährig an "allgemeiner Geschwulst" und dem dadurch ausgelösten "Nervenfieber". Seine Mutter überlebte ihn um drei Jahre in der "Privatirrenanstalt"  an der Schönhauser Allée, in der sie seit 1837 lebte.

        Für den Psychologen besonders interessant sind Schilderungen zu Charakter, Wesensart, Persönlichkeit. Mackay berichtet (Online):
     
    "Wer nun war Max Stirner? - Wie sah er aus? - Wie war sein Wesen? - Und welches war sein Charakter? -

    Mit einem Worte: wie war der Mensch? - Das ist die Frage, die bisher so völlig unberücksichtigt bleiben musste, weil sich keine Zeugen für ihre Beantwortung finden konnten, die nun aber, wo der, dem sie gilt, für uns in den "Kreis der Lebenden" tritt, vor allen anderen mit Recht die erste und eingehendste Beachtung beansprucht.
         Äusserlich von Mittelgrösse - eher unter, als über ihr - war Max Stirner ein gut gewachsener, schlanker, fast hagerer Mann, unauffällig in jeder Weise. Einfach, aber stets mit peinlicher Sorgfalt und Sauberkeit gekleidet, war seine gedrungene Erscheinung durchaus die eines Menschen ohne jede äussere Prätension, und wenn er hier und da für einen Dandy erklärt wurde, so mag daran erinnert werden, dass manche schon jeden ordentlichen, wenn auch noch so einfach gekleideten Menschen für einen Stutzer halten, was Stirner ganz gewiss nicht war. Er hatte vielmehr etwas von einem höheren Lehrer an sich, "einem höheren Mädchenlehrer besserer Art", und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die silberne Brille - als Lehrer bei der Frau Gropius soll er eine "dünne Stahlbrille mit [>86] kleinen Gläsern" getragen haben, - die, wenn er sie abnahm, was er öfters tat, den durch sie verursachten starken Einschnitt über der Nase zeigte.
       Nie erschien er vernachlässigt, wenn er auch in späteren Jahren, als Not und Vereinsamung ihn bedrängten, nicht mehr die alte Genauigkeit auf sein Äusseres verwandt haben mag.
       Er trug einen kurzen blonden Backen- und Schnurrbart, während das Kinn stets glattrasiert war, und das blonde, ins Rötliche spielende, leichtgelockte und kurzgeschnittene weiche Haar liess die mächtige, gewölbte, ganz auffallend hohe und bedeutende Stirn völlig frei.
       Hinter der Brille blickten helle, blaue Augen ruhig und sanft, weder träumerisch noch durchbohrend, auf Menschen und Dinge. Den feinen, schmallippigen Mund umspielte gern ein freundliches Lächeln, das sich indessen mit den Jahren verschärfte und die innerliche Ironie verriet, wie überhaupt von manchem eine "stille Geneigtheit zum Spott" bei Stirner bemerkt wurde. Dieser Zug, von anderen wieder als Verbitterung ausgelegt, hatte ihn aber in den Jahren, in denen er uns hier erscheint, sicher noch nicht ergriffen, und hat sich noch weniger jemals gegen irgendjemand verletzend gewandt.
       Die Nase war mässig gross, kräftig, spitz auslaufend; das Kinn ebenfalls von energischer Form. Besonders schön waren Stirners Hände: weisse, wohlgepflegte, schlanke, "aristokratische" Hände ...
       Alles in allem war so seine stattliche Erscheinung durchaus sympathisch. Selbstbewusst, ruhig, ohne hastige und eckige Bewegungen, soll ihr ein leiser Zug von Pedanterie nicht gefehlt haben.
       So schmerzlich es ist, es existiert doch kein Bild, das die Schilderung zu bekräftigen und zu vertiefen im Stande wäre.
    Seinem Äusseren entsprach durchaus Stirners Wesen und Charakter, deren Grundzug der einer unerschütterlichen Ruhe und Gelassenheit war.
       Von unbedingter, gleichmässiger Liebenswürdigkeit allen gegenüber, mit denen er verkehrte; nie vom Zorn hingerissen oder gar von ihm übermannt; gefällig, wo er es sein konnte - so wenig er sonst [>87] besagt, gibt doch von seiner Hilfsbereitschaft gerade der eine der beiden von seiner Hand noch erhaltene Brief einen Beweis - ; unaufdringlich in jeder Weise, in Wort wie in Tat; ohne Überhebung und ohne Eitelkeit, genoss er die allgemeinste Achtung und Sympathie, und nie, aber auch nie, soll es vorgekommen sein, dass er irgendjemandem einen Vorwurf gemacht und ihn ermahnt, oder etwas Missliebiges hinter dem "Rücken des Nächsten" gesagt hätte - ein Zeugnis innerlicher Vornehmheit, wie es gewiss nur wenige Menschen für sich in Anspruch nehmen dürfen.
        So hatte Stirner keinen einzigen persönlichen Feind. Da er selbst durch seine Person und sein Leben das Urtheil nicht herausforderte und keinem Menschen zu nahe trat, fiel es nicht auf ihn.
        Aber wie er keinen Feind hatte, so hat er auch keinen einzigen intimen Freund besessen. Durchaus geschmackvoll, wie er war, mussten ihm die brüderlichen Umarmungen ebensowohl wie die sentimentalen Herzensergiessungen der jugendlichen Freundschaft ein Greuel gewesen sein, und in späteren Jahren brauchte er offenbar keinen Vertrauten für das, womit er selbst fertigzuwerden sich zutrauen durfte. Das Beste und Tiefste hat er trotzdem mit verblüffender Offenherzigkeit gesagt, aber er hat sein Wort nicht gerichtet an die ihn Umgebenden und Nahestehenden, die ihm nicht folgen konnten, sondern über sie hinaus an die, die er nicht kannte und in denen er doch vielleicht seine besten Freunde gesehen hat ... Wer auch wohl hätte ihm eine geistige Freundschaft bieten können, die er nicht hinter sich gelassen hätte auf seinem langen Gang? - Die Vorgeschrittensten seiner Zeit hatte er in fast täglichem Verkehr um sich: sie waren alle mehr oder minder stecken geblieben, so weit sie auch schon gegangen sein mochten, in der Kritik dessen, das er bereits vernichtet. Ausser dem Verkehr mit ihnen aber verlautet nichts von anderweitigen Bekanntschaften Stirners, und es darf mit Recht angenommen werden, dass, da seine sämtlichen anderen persönlichen Beziehungen unverfolgbar sind und keine Anhaltspunkte irgendeiner Art sich ergeben, er weitere überhaupt nicht angeknüpft hat; dass er einsam wie seine Gedanken durch das Leben gegangen ist.
       Diese eigentümliche Verschlossenheit seines Charakters erstreckt sich auch auf sein ganzes privates Leben. Man wusste nichts von [>88] ihm: von seinem Leben, seinem Erwerb, seinen Neigungen, seinen Freuden und Leiden. Er verbarg sie, indem er nie über sie sprach, sie nie äusserte. Es muss in der Art seines Wesens ein schweigend-abweisender Zug gelegen haben, der vorlaute und neugierige Fragen nicht herankommen liess. Und ausserdem hatte von den Hippelianern ja jeder so viel mit sich zu tun!
       Gewiss hat Stirner nur wenige Menschen in seinem Leben geliebt und wirklich geachtet und sicherlich hatte er ein Recht dazu. Die Masse muss ihm so gleichgültig gewesen sein wie ihr ganzes Gebaren, und er muss nur zu oft das Gefühl empfunden haben, von dem er einmal spricht: sich in einem Tollhause unter lauter Narren zu befinden. Er wählte das einzige Mittel, das sich ihm bot: er ging den Narren möglichst aus dem Wege. Er kümmerte sich nicht um sie. Daher denn die freundliche und abweisende Ruhe, die zwar in lebhaftem Gedankenaustausch gern und oft einem offenbaren Interesse am Gegenstand der Unterhaltung wich, und doch zugleich nie eine gewisse Grenze der Vertraulichkeit zu überschreiten erlaubte.
       Stirner muss im Grunde eine äusserst sensible und ungewöhnlich feinfühlige Natur gewesen sein. Eine Äusserung, die er einmal einem Freunde gegenüber getan hat, ist viel zu charakteristisch, und eine solche viel zu selten aus seinem Munde, als dass sie hier übergangen werden dürfte. Er erzählte jenem Freunde, dass sich seine erste Frau einmal unbewusst im Schlaf entblösst habe, und dass es ihm unmöglich gewesen sei, sie von dem Augenblick an wieder zu berühren. - Das Rätsel, wie er so lange Jahre in dem lauten, oft rohen Kreis bei Hippel aushalten konnte, müssen wir später noch zu lösen versuchen.
       Seine Gleichgültigkeit gegen so viele kleine Dinge, die andere Menschen lebhaft erregten, wurde oft als Schwäche, seine Passivität als Energielosigkeit und Mangel an Widerstandskraft ausgelegt. Dass er für den lärmenden und aufreibenden Kampf des Tages um das Dasein zu ungeeignet war, um aus ihm immer als Sieger hervorzugehen, dass er die Dinge oftmals so gehen liess, wie sie gingen und sich vor ihren groben Forderungen in die Stille seines Innern flüchtete, steht ausser Frage; er folgte eben seiner Natur. Dass er aber glücklicher gewesen wäre, wenn er "gegen sich" angegangen wäre, [>89] das ist eine Behauptung, die bei einem Manne, der wie kein anderer in die Gründe dessen, was die Menschen treibt, eingedrungen ist, durchaus des Beweises bedarf. Stirner hat die Zügel seines Lebens nie aus den Händen verloren; aber er hat sie oft locker gehalten und liess die Tage meistens laufen, wie sie wollten.
       Man hielt den äusserlich so leidenschaftslosen Mann keiner Leidenschaft für fähig und nichts spricht dafür, dass er es war - von einigen Stellen seines Werkes abgesehen. Vielleicht war er ohne Leidenschaft. Jedenfalls war er ohne alle Brutalität.
       Wie ohne Leidenschaft, so soll Stirner auch ohne Ehrgeiz gewesen sein und ohne Ehrgefühl. Nun, da die Ansichten der Menschen über Ehre nicht die seinen waren, so konnten es auch seine Gefühle nicht sein; und wenn sein Ehrgeiz auch nie nach kleinen Zielen gegeizt hat, so hat er ihm doch einmal in so erschöpfender Weise Genüge getan, wie es nur wenigen beschieden ist. Die Erfolge des Tages konnten ihm nichts sein, und der eine, grosse bei der Nachwelt war ihm gewiss. Und das wird er gewusst haben.
        Bedürfnisse waren ihm fast unbekannt. Mässig im Essen und Trinken lebte er in offenbarer Zufriedenheit in der Einfachheit, in der er erzogen war, und der einzige Luxus, den er sich gestattete, waren gute Zigarren. Denn er rauchte viel, fast den ganzen Tag. Wie er "seine Sache auf Nichts gestellt hatte", so hat er nie sein Herz so vollständig an etwas gehängt, dass es sein Leben hätte vernichten oder auch nur bis zur Unerträglichkeit hätte belasten können: weder an einen Menschen, noch an die kleinen Dinge des täglichen Lebens. Und wenn er keinen Menschen direkt glücklich gemacht hat, so hat er noch weit mehr auch niemals einen Menschen allein durch eigene Schuld, und sei es für eine Stunde, unglücklich gemacht. Man nannte in früheren Zeiten einen solchen Menschen einen Weisen.
       Ein Mensch, wie wenige dazu geschaffen, ein Freier unter Freien und verdammt dazu, ein Glied in der Kette der Herren und Knechte zu sein! - Und doch ein Mensch, stolz und sicher wie wenige andere, diese Kette der Menschen von sich streifend, und unter ihnen gehend ohne Verachtung und Hass, aber auch ohne Mitleid und Liebe, und so die Notwendigkeit des Lebens erfüllend, die er als solche erkannt. [>90] 
       So steht Stirner da, ohne inneren und äusseren Widerspruch, einfach, schlicht und gross, und nichts beunruhigt in seiner Erscheinung, es sei denn ihre Seltenheit. Alles lebt in dem Menschen, was in seinem Werk lebt: die unerschütterliche Erkenntnis dessen, was das Leben hält - die Erkenntnis der Selbstbewahrung!
       Er ruft nicht nach lärmender Liebe und lauter Bewunderung. Aber wer die Freiheit liebt, wird auch den Menschen lieben müssen, der, ihre Gesetze befolgend und so sich selbst behauptend, so sympathisch vor uns steht, wie er uns erscheint unter den "Anderen", zu denen wir ihm nun folgen.
       Wann Stirner in den Kreis der "Freien" trat, lässt sich mit Bestimmtheit kaum sagen: der Berechnung nach mag es Mitte oder Ende 1841 gewesen sein, denn er kannte Karl Marx nicht, der Berlin zu Anfang dieses Jahres verlassen hatte.
       Jedenfalls war er schon bei den regelmässigen Zusammenkünften bei Walburg in der Poststrasse, der "alten Post", um dann Jahre hindurch einer der regelmässigsten Besucher der Hippel'schen Tafelrunde zu bleiben.
       Er gehörte durchaus zu dem engeren Kreise: mit den Bauers, besonders mit Bruno, mit Buhl, Meyen, Engels, Rutenberg, Mussak und anderen war er gut befreundet und bekannt, und stand mit den meisten von ihnen auf Du und Du.
       Besonders liiert soll er mit C. F. Köppen und mit Hermann Maron gewesen sein; ebenso mit Dr. Arthur Müller. Eigentlich intim war Stirner, wie bereits erörtert, mit keinem von allen.
       Auch auf welche Art und Weise er zuerst mit dem Kreise in Berührung kam, ist nicht mit Gewissheit zu sagen. Ob es durch Bruno Bauer selbst geschehen war, den er schon als Studenten kennengelernt haben mochte, denn auch dieser hatte 1827 zu Füssen Hegels gesessen? - Ob seine ersten Arbeiten die nähere Bekanntschaft mit sich brachten, oder ob er vielmehr durch die scharfen Geister selbst erst dazu veranlasst wurde, die Feder zu ergreifen zur Mitarbeiterschaft an denselben Zeitungen?
       Genug, dass es der einzige Kreis geblieben, dem er sich je enger angeschlossen hat; in ihm fand er die Geselligkeit, die er brauchte, und [>91] auf manche hat es den Eindruck gemacht, als ob er sich mehr dieser Geselligkeit, als einer inneren geistigen Gemeinschaft wegen zu ihm hingezogen fühlte. Die letztere Vermutung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn wir uns erinnern, wie feinfühlig auch in Bezug auf Äusserlichkeiten er war. Wie wir gesehen haben, war übrigens dieser Kreis wie kein anderer dazu angetan, ihm zwanglos alle jene Persönlichkeiten zu und wieder an ihm vorüber zu führen, an denen er ihrer Ansichten wegen das meiste Interesse nehmen musste.
       So laut und lärmend es sonst bei Hippel zuging, so still und zurückhaltend verhielt sich Stirner. Ganz selten beteiligte er sich an den leidenschaftlichen Diskussionen, und nie verfiel er in die zynischen, sich selbst überbietenden Redensarten, mit denen sie so oft endeten. Nie hat jemand ein heftiges, rohes oder gar gemeines Wort von ihm gehört, wie sie bei Hippel gerade keine Seltenheit waren. Ruhig, lächelnd, "behaglich", wie ein "Genussmensch", sass er da in dem ewig bewegten Kreise, warf ab und zu eine treffende Bemerkung oder ein Scherzwort, die bewiesen, wie genau er trotz alledem zuhörte, in die allgemeine Unterhaltung, und sah dem Rauch seiner Zigarre nach.
       Dabei war er durchaus nicht eigentlich schweigsam. Im Gegenteil, er unterhielt sich gern mit seinem zufälligen Nachbarn, und dieser hatte oft Gelegenheit, innerlich das ausgebreitete sichere Wissen, mit dem Stirner die verschiedensten Gebiete beherrschte, die das Gespräch betrat, als der Gelehrte ersten Ranges, für welchen er bei seinen näheren Bekannten galt, zu bewundern. Er soll ungern philosophiert haben, sagt der eine; wenn er es tat, geschah es sicherlich über Feuerbach, sagt der andere.
       Von sich sprach Stirner selten, fast nie, und völlig fern lag ihm jede Art von Geschwätzigkeit. Die meisten, die gar keinen Begriff von seiner eigentlichen Bedeutung hatten, hielten den "stillvergnügten", einfachen, peinlich-bescheidenen Mann für einen harmlosen, wenig bedeutenden Menschen, ohne zu ahnen, was hinter ihm steckte, und sahen über ihn hinweg, bis er dann später die Aufmerksamkeit aller in so hohem Grade auf sich ziehen sollte.
       Bei den tollen Streichen der "Freien" wird sein Name nicht genannt, doch wird er auch ihnen mit derselben stillen Vergnügtheit zugesehen [>92] haben, wie dem ganzen Treiben, da er alles andere als ein Spassverderber war. Dagegen nahm er Teil an den sommerlichen Ausflügen, nach dem Spandauer Bock, nach Treptow, wohin es gerade ging.
       Auch sonst war er keineswegs ungesellig und er verschmähte es nicht, bei dem einen oder dem anderen seiner jugendlichen Bewunderer auf deren Studentenbuden eine Tasse selbstgemachten Kaffee zu trinken und Pfannkuchen dazu zu essen, wie wir ihn auch in der Sylvesternacht des Jahres 1847 einer Einladung des ungarischen Übersetzers und Schriftstellers Kertbeny Folge leisten sehen, die zu einer "ziemlich langen débauche" auf dessen Stube führte; und so mag er noch mancher anderen Einladung mit der bei ihm eigenen, grossen Liebenswürdigkeit, die er auch gegen alle seine Besucher hatte, gefolgt sein - immer ein unauffälliger, nie störender, gern gesehener Gast, der umgänglich-heiter war und gern über einen guten Witz lachte, ohne selbst je den Mittelpunkt zu bilden und dies auch nur zu wünschen.
       Bis 1846 war Stirner übrigens auch regelmässiger Kaffeegast in der berühmten "roten Stube" der Stehely'schen Konditorei am Gendarmenmarkt, wo sich alles zu versammeln pflegte, was Berlin damals an unruhigen, aufgeregten, geistreichen Köpfen, vor allem unter den Zeitungskorrespondenten besass, und wo er viele traf, die er noch denselben Abend bei Hippel wiedersehen sollte. Auch das Bernstein'sche Lesekabinett in der Behrensstrasse wird er in früheren Jahren oft besucht haben.
       Aber immer wieder von neuem treffen wir ihn nur bei Hippel. Hier liegen die Fäden, die ihn an die Aussenwelt knüpften: hier haben ihn alle gesehen, die sich seiner noch in späteren Jahren erinnerten; hier fand er die Menschen, die er "verbrauchte", ohne ihnen wehe zu tun ...
       So war Max Stirner nach aussen in der Zeit, als ihn innerlich rastlos die Gedanken bewegten, mit denen er rang, bis er sie bezwungen und gebunden: zunächst nur in vorbereitenden Studien; und so war er später: immer sich selbst gleich."

       Zur zweiten, gescheiterten Ehe äußert sich Mackay (S. 181f): "Die Ehe Stirners mit Marie Dähnhardt schien nach aussen hin gefesteter, als sie es innerlich war. Ohne Leidenschaft, wie sie geschlossen war, nährte sie keine sich stets erneuernde Liebe und war, nach den eigenen Worten der Frau, "mehr ein Zusammenleben in demselben Hause als eine Ehe".
    Der Mann sass tagsüber in stiller Arbeit auf seinem Zimmer, die Frau beschäftigte sich für sich, und nur abends waren sie zusammen in der Gesellschaft bei Hippel und anderswo.
        In bürgerlichen Kreisen verkehrten sie nicht; Theater und Konzerte wurden fast nie besucht. Es war das denkbar einfachste Leben, das sie in der Wohnung in Neu Kölln, Am Wasser, führten.
        Die Ehe blieb kinderlos. Sie war jedenfalls auch in dieser Beziehung eine grosse Enttäuschung für die junge Frau, die in der - auch in diesem Punkte mannigfach missdeuteten - eigentümlichen Zurückhaltung, die Stirners ganzes Wesen charakterisiert, nicht die erhoffte Befriedigung fand.
        Dazu kam noch ein anderer, schwerwiegender und schliesslich ausschlaggebender Umstand: das Vermögen, das die Frau in die Ehe gebracht hatte, schmolz rasch, nur allzu rasch dahin ...
        Die Schuld hieran schob die Frau später ausschliesslich und einzig ihrem einstigen Gatten zu. Mit dürren Worten beschuldigte sie ihn, direkt ihr Vermögen "verspielt und verschwiemelt" (ein spezifisch norddeutscher Ausdruck, für den in anderen Gegenden Deutsch- [>182] lands das Wort "verjuckt" wohl das passendste Synonym ist) zu haben. Noch nach langen Jahren stimmte es sie "sehr traurig" und machte es ihr Blut kochen, zu denken, "dass ein Mann von Bildung und Erziehung Vorteil aus der Lage eines schwachen Weibes ziehen konnte, indem er ihr Vertrauen betrog, mit dem sie ihm alle ihre Mittel anvertraut" hatte.
       So, sagte sie, erkaltete sie und verlor die Achtung vor ihm."

       Weitere Quellen, die über Mackay hinausgehen:  (1) Antworten zum Fragebogen Mackays an die 2. Ehegattin, dokumentiert von Laska [O]. (2) Äußerungen "Rings um Stirner", hrsg. von Rolf Engert (2001). 
     

    ___
    Psychopathographische Skizze Max Stirners.
    Nach vorläufigen Eindrücken meiner Stirner-Rezeption entwickelte sich bei mir die Hypothese, dass Stirner seinen 'Einzigen' gelebt haben könnte. Aber es ist ausgesprochen schwierig, auch nur eine psychopathographische Skizze Stirners zu wagen, weil nur sehr wenig authentisch verwertbares Material Stirners vorliegt, im wesentlichen schon von Mackay besorgt. Man könnte daraus aber auch folgern, dass er bestrebt war, sein Inneres, das ganz im Sinne seiner Lehre nur ihm gehörte, zu verbergen. Wer nichts von einem weiß, kann dieses Nichts auch nicht gegen einen verwerten.
        Dass Stirner seinen 'Einzigen' lebte, wäre eine gute Erklärung dafür, weshalb er scheiterte und die letzten 10 Jahre seines Lebens ein gutes Stück damit beschäftigt war, seinen Gläubigern zu entkommen. Er konnte und wollte auf seine Umwelt und die Realität nicht so eingehen, dass er eine ausreichende wirtschaftliche Basis bilden konnte.
        Äußere Erscheinung. Dies bestätigt, wenn auch mit großer Vorsicht zu genießen, die 2. Ehegattin im Fragebogen rund 45 Jahre später. " Er sah aus wie ein "Dandy", wie jemand, der durch ein gefälliges Äusseres sein Inneres verbergen möchte." Zum Äußeren Stirners findet sich noch eine Bemerkung in einem Brief Turgenjews, der seinerzeit 4 Semester in Berlin weilte und studierte, vom 1.3.1847: "Neulich traf ich in einem Konzert einen gelekten, trübselig resignierten Menschen - Max Stirner!" In einer anderen Quelle (Aufbau Verlag 1979) heißt es: "Dieser Tage traf ich in einem Konzert einen gestriegelten und traurig-devoten Mann ... Es war Max Stirner." Damit gibt zwei völlig unabhängige Quellen zum äußeren Erscheinungsbild eines Stutzers oder Dandy.
        Zum Liebes- und Sexualleben macht Mackay einige wichtige Mitteilungen: "Eine Äusserung, die er einmal einem Freunde gegenüber getan hat, ist viel zu charakteristisch, und eine solche viel zu selten aus seinem Munde, als dass sie hier übergangen werden dürfte. Er erzählte jenem Freunde, dass sich seine erste Frau einmal unbewusst im Schlaf entblösst habe, und dass es ihm unmöglich gewesen sei, sie von dem Augenblick an wieder zu berühren." Diese Mitteilung spricht für ein Problem im psychosexuellen Bereich.
        Rudolf von Gottschall - nach Engert (2001, S. 43) beschreibt Stirner in seinen Jugenderinnerungen als einen der Stillsten, was für einen schizoiden Charakter spricht. Mackay spricht (S. 181) allgemein vom "zurückhaltenden Wesen" Stirners. Dazu passt auch sein großes Lebensthema Autonomie, Eigen, Einzigartig, Selbstbestimmung, Selbstentfaltung.
        Kann "Der Einzige ..."  eine Reaktion auf die Erfahrung der geistigen Erkrankung der Mutter sein? Jordens (2008, S.18) berichtet: "1828/29 folgte ein Semester in Erlangen, 1829/30 war Schmidt in Königsberg (Ostpreußen) immatrikuliert, besuchte dort aber keine Vorlesungen. Häusliche Verhältnisse, Familien-Angelegenheiten waren es, die ihn zwangen, sein Studium zu unterbrechen und sich nach Kulm zu begeben - möglicherweise die ersten Symptome einer Gemütskrankheit bei seiner Mutter. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, daß es auch ihm selbst bald darauf gesundheitlich schlecht ging. Sein 1832 mit viel Ehrgeiz wiederaufgenommenes Studium in Berlin wurde immer wieder unterbrochen: durch eigene Krankheitspausen und durch die Notwendigkeit, seine Mutter zu betreuen, die 1834 ganz zu ihrem Sohn nach Berlin zog. Das aussichtslose Schicksal seiner Mutter, die bedrückende Pflicht, sie zu pflegen, muß schwer auf Stirner gelastet haben. In seinem Hauptwerk 'Der Einzige und sein Eigentum' wurde die Wendungen fixe Idee - neben dem nicht minder „einschlägigen" Wort Besessenheit -  zu einer der „leitmotivischen" Formulierungen: Es war die Diagnose, die die Nervenärzte seiner Mutter gestellt hatten ..."
        Das Buch und sein gewagter Inhalt war sicher 1845 eine außergewöhnliche Provokation und damit auch Sensation. Und so war Stirner auch über ein Jahr lang in aller Munde. Ich fragte mich beim Lesen des öfteren, wie war es nur möglich, dass dieses Buch nicht sofort verboten und sein Autor ins Gefängnis gesteckt wurde? Mackay berichtet (S. 127): "Aber die Beschlagnahme wurde schon wenige Tage später von dem Ministerium des Innern wieder aufgehoben: weil das Buch "zu absurd" sei, um gefährlich zu sein." Trotzdem musste Stirner damit rechnen. Aber er traute sich zu, den Publikationskampf zu gewinnen.
        Stirner war ein mutiger, eigenständiger und einzigartiger Kopf und äußert scharfsinnig und sensibel für - besonders anmaßende - Fremdeinflüsse. Persönlichkeitstypologisch war er vermutlich ein schizoider Typ; nach heutigen Standards würde er wahrscheinlich eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert bekommen - auch wegen seiner abwegigen und skurril anmutenden Ansichten. Die Bedeutung der psychosexuellen Abwendungsreaktion beim nächtlichen Anblick seiner entblößten ersten Ehefrau ist schwer einzuschätzen, auch weil man nicht weiß, ob und wie weit die Schwangerschaft fortgeschritten war.
    _
    Exkurs III: Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Einzigen.
    Mackay berichtet (S. 125ff): "Im Kreise der "Freien" hatte sich im Laufe der Zeit das Gerücht verbreitet, dass Max Stirner an einem umfangreichen Werk arbeite, zu dem er "bereits Blatt auf Blatt gehäuft" und das immer noch, "das ganze eigentümliche Gewebe seiner Gedanken in sich aufnehmend", anwachse.
        Aber niemand hätte etwas näheres über dieses Werk zu sagen gewusst. Nie ging Stirner auf diesbezügliche Fragen ein, nie liess er irgendjemand auch nur eine einzige Seite seiner Arbeit sehen oder gar lesen. Nur insofern verriet er das "Geheimnis seines Lebens" selbst, als er zuweilen auf sein Pult zu deuten pflegte, wo sein "Ich" verborgen liege.
        Die Existenz des Werkes "konnte auch eine Fabel sein", und wurde bereits von manchen als eine solche betrachtet, als es plötzlich, in den letzten Tagen des Oktober 1844, unter dem Titel "Der Einzige und sein Eigenthum" an das Licht der Öffentlichkeit trat.
        Ursprünglich sollte dieser Titel - und die oben angeführte Bemerkung Stirners spricht dafür - "Ich" lauten. Er wurde fallen gelassen, um über der zweiten Hauptabteilung des Werkes zu stehen.
        Als Autor nannte Stirner den Namen, unter dem er seine ersten Arbeiten geschrieben und den er im Kreise seiner Bekannten führte; als Verleger stand auf dem Titelblatt eine der angesehensten buchhändlerischen Firmen Deutschlands, Otto Wigand in Leipzig, der unerschrockene und weithin bekannte Verleger der meisten und bedeutendsten radikalen Erscheinungen jener Zeit, der Verleger der Ruge'schen Unternehmungen und der Feuerbachs, selbst innig mit Herz und Geist an den Kämpfen seiner Zeit beteiligt. Als Jahreszahl war 1845 angegeben. Stirner und Wigand verband ein freundschaftliches Verhältnis; dieser hielt grosse Stücke auf seinen neuen [>126] Autor und hat stets mit hoher Achtung von ihm gesprochen. Stirner war übrigens 1844 in Leipzig gewesen, wahrscheinlich um das Nähere über das Erscheinen seines Lebenswerkes mit Wigand zu besprechen.
        Das Vertrauen, das dieser in das Werk setzte, bewies er am besten durch die durchaus gediegene Ausstattung, die er ihm angedeihen liess. Die erste Ausgabe des "Einzigen" ist eines der bestgedruckten Werke seines Verlages: ein stattlicher Band von fast fünfhundert Seiten, auf bestem Papier splendid mit breitem Rande und in grosser, klarer Schrift, fast fehlerfrei bei J. B. Hirschfeld in Leipzig gedruckt, übertrifft die heute selten gewordene, deren damaliger Preis für das in hellen Umschlag broschierte Exemplar zwei und einen halben Taler betrug, ihre beiden späteren in jeder Beziehung.
        Das Buch trug die Widmung "Meinem Liebchen Marie Dähnhardt". Das Liebchen war seit einem Jahre Stirners Frau.
        Wir gehen kaum fehl, wenn wir annehmen, dass der erste Plan zu dem Werk in das Jahr 1842 fällt, in die Zeit also, als sich Stirner so manche seiner Gedanken zu kürzeren Arbeiten rundeten, Arbeiten, die dann im nächsten der einen grossen selbst weichen mussten und daher aufhören. Sie selbst geht mit ihren Zusätzen und wohl auch teilweisen Umarbeitungen dann gewiss noch bis in die Mitte von 1844, wo sie abgeliefert und gedruckt wird, so dass angenommen werden kann, dass das Werk in dem Zeitraum von anderthalb Jahren - von 1843 bis etwa Mitte 1844 - entstanden ist.
        Es ist von jeher das Bestreben der Gewalt gewesen, ihr feindliche Gedanken zu unterdrücken und ihre Verbreitung zu hindern. Waren in Preussen seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV die Zügel einer frechen und unsinnigen Zensur etwas weniger straff gehalten, so hatte die Herrlichkeit mit der Veröffentlichung des Herwegh'schen Briefes an den König bald ein Ende, und es wurde schlimmer gewirtschaftet als vorher. Auch in Sachsen hatte eine Reaktion sondergleichen begonnen. Zwar wurden auch dort 1844 Schriften über zwanzig Bogen frei, d.h. sie brauchten nicht zur Zensur vorgelegt zu werden. Aber um so näher lag dafür die Gefahr der Beschlagnahme und Konfiskation, gegen die es keinen richterlichen Schutz gab. [>127]
        Um dem wenigstens teilweise zu entgehen, nahmen die Leipziger Verleger ihre Zuflucht zu einem drastischen Mittel. Während auf der Kreisdirektion das gleichzeitig mit der Ausgabe einzureichende Pflichtexemplar abgeliefert wurde, stand an der nächsten Strassenecke schon der mit den versandfertigen Exemplaren beladene Wagen, und sowie der Empfangsschein der Behörde in den Händen des Verlegers war, ging es im Galopp von Sortimenter zu Sortimenter, so dass die Beamten, wenn sie das Buch eingesehen und beschlagnahmen wollten, meist das Nachsehen hatten.
        Auch dem Stirner'schen Werke ist es so ergangen. Die Kreisdirektion in Leipzig verfügte sofort die Beschlagnahme und es sollen ihr noch 250 Exemplare in die Hände gefallen sein.
        Aber die Beschlagnahme wurde schon wenige Tage später von dem Ministerium des Innern wieder aufgehoben: weil das Buch "zu absurd" sei, um gefährlich zu sein. Die "sehr interessanten" Entscheidungsgründe, die die Brockhaus'sche Allgemeine Presszeitung vom 8. November 1844 mitzuteilen versprach, sind leider nie veröffentlicht worden, und die tiefe Weisheit der hochwohllöblichen Behörden wird nie in ihrer ganzen Grösse erfasst werden können. Genug, dass Stirner, der sich mit der Frage der Pressfreiheit so eingehend beschäftigt und sein Werk mit der vollen Vorsicht geschrieben hatte, den Staat zu "betrügen", seine Absicht glänzend gelungen war. "Mag ein Volk der Pressfreiheit entbehren, Ich suche Mir eine List oder Gewalt aus, um zu drucken - die Druckerlaubnis hole Ich Mir nur von - Mir und meiner Kraft." Er hat sie sich geholt, und während das harmloseste Geschreibsel in Acht und Bann getan wurde, durfte das radikalste und "gefährlichste" Buch jener und jeder Zeit ungehindert von Hand zu Hand gehen - damals und so noch heute.
        Ob sich je einer an dieser Tatsache innerlicher gaudiert hat als der, der sein köstliches Gut, so kühn und klug zugleich, über die Grenze geschmuggelt, die die Willkür dem freien Gedanken gezogen? ...
        In Preussen wurde der "Einzige" übrigens noch vor Weihnachten, wie auch in Kurhessen und Mecklenburg-Schwerin, verboten, und das Verbot ist, so weit festgestellt werden konnte, nie [>128] aufgehoben worden. Das hinderte natürlich nicht, dass die neue Erscheinung überall, besonders unter der studierenden Jugend, eifrig gelesen wurde und von Hand zu Hand ging, und auch hier wird die Klage von Savignys, des Justizministers, beim König, sich bestätigt haben: dass die verbotenen Schriften gerade am meisten verbreitet und gelesen würden, und dass die Verbote und Konfiskationen also genau das Gegenteil ihrer beabsichtigten Wirkung hervorriefen.
        Mit der Polizei ist Stirner, wie gleich hier gesagt werden mag, nie in irgendeinen Konflikt gekommen. Sie führte nicht einmal, wie über die meisten des Kreises, Akten über ihn, und wenn sie ihn gelegentlich in solchen, so in denen über Buhl, schlecht unterrichtet erwähnte, schrieb sie den Namen nur dem Hörensagen nach auf echt berlinisch "Styrna". Als gelegentlich des "Gegenworts" Recherchen angestellt wurden, fand man nicht ihn, sondern infolge einer Namensverwechslung einen völlig harmlosen wirklichen Gymnasiallehrer Schmidt, der auf die Vorhaltungen seiner Behörde nur entsetzt seine völlige Unschuld zu beteuern vermochte. Über Stirner selbst, diesen "Herrn von gesetztem Alter", wusste die Polizei "nur Gutes in Erfahrung zu bringen". Man hat ihm natürlich auch das vorgeworfen. Als ob er nichts Besseres zu tun gehabt hätte, und als ob Mut dazu gehörte, sich mit den untergeordneten Organen der Gewalt herumzuschlagen, während man zum tödlichsten Streich gegen das innerste Wesen dieser Gewalt selbst ausholt!
        Die allgemeine Aufnahme, die das Werk fand, war eine durchschlagende; heute würde man sie "sensationell" nennen.
        Man beschäftigte sich sofort lebhaft mit der neuen Erscheinung, die so plötzlich aus völligem Dunkel heraus in das grelle Licht des lauten Tages trat. Zu Weihnachten 1844 war das Buch bereits in den meisten Händen, jedenfalls in den Händen derer, die dem radikalen Fortschritt ihrer Tage überhaupt Interesse entgegen brachten. Besonders die Jugend griff, wie gesagt, gierig nach der kühnen Tat.
        Aber die Aufnahme war so verschieden, wie sie überhaupt nur sein konnte bei einem solchen Werk. War den einen kein Ausdruck [>129] der Bewunderung zu gross, erwarteten sie von ihm den Anbruch einer neuen Zeit des Denkens und Lebens, und nannten sie den Verfasser mit Recht ein Genie, so warfen die anderen das Buch hohnlachend von sich, empört über solchen "Unsinn", denn nur Unsinn konnte sein, was so an den "Grundpfeilern alles sittlichen und sozialen Lebens" zu rütteln wagte. Die meisten aber wussten nicht recht, was sie sagen sollten, und viele von ihnen schwiegen ... Alle aber ahnten doch, dass sie hier vor einer aussergewöhnlichen Erscheinung standen.
        Suchten die einen, die Tiefbefangenen, die überhaupt nicht begreifen konnten, wie man es wagen könne, Begriffe, die "von Ewigkeit her" so fest standen, wie Recht, Pflicht, Sitte u.s.w., überhaupt einer menschlichen Kritik zu unterziehen, den, der sie nicht allein zu kritisieren, sondern sie zu vernichten sich unterfangen, als den "advocatus diaboli" zu kennzeichnen, so waren doch auch die anderen, die, welche diese Begriffe zwar nicht als ewig feststehende, aber doch immer den Untergrund unseres Handelns bildende betrachteten, fast nicht weniger entsetzt, diesen Grund plötzlich ihren Füssen entzogen zu sehen, und sie, die noch nicht wussten, wo nun stehen, konnten sich das Phänomen nur durch die Annahme erklären, dass der Verfasser sich mit ihnen einen Scherz habe machen wollen, und - sie wie sich selbst verspottend - nur gespielt habe.
        Seht, so teuflisch kann ein Mensch sein! - schrien jene; nein, so schlecht kann kein Mensch sein, trösteten diese. Die einen fanden in dem ätzenden Spott Stirners, die anderen in seiner heiteren Ironie die Bestätigung ihrer Annahme.
        Aber auch die Liberalen wichen zurück. Die Politiker lachten: welcher vernünftige Mensch konnte bezweifeln, dass der "Staat" nicht die "Ordnung" sei, und seine Notwendigkeit negieren? - ; die Sozialen schimpften: das "Lumpentum" hatte sie empfindlich getroffen; die Humanen endlich gerieten in ernstliche Unruhe: sie hatten sich "den Menschen" so schön, neu und herrlich, so gottähnlich, aufgebaut, und nun wurde ihr Kunstwerk so elend in Stücke geschlagen! Sie waren es vor allem, die ihr letztes Ideal zu verteidigen und zu retten suchten. Der Stolz der "Kritik", der "kritischen", der "absoluten" Kritik war es in all diesen Jahren gewesen, [>130] in rastlosem Vorwärtsschreiten einen Widerstand nach dem anderen zu überwinden; sich sagen zu lassen, dass sie so weit noch zurückgeblieben sei, das durfte sie nicht erlauben. So bäumte sie sich auf. - Aber die "Kritik" war damals schon in das Stadium der Selbstzersetzung eingetreten. Ihre Kräfte waren erschöpft und ihre Arbeit, die vorbereitende Arbeit, getan. Sie starb an dem Stosse, mit dem Stirner sie traf.
        So war es nur natürlich, dass die Meinungen auch unter den "Freien" sich sehr verschieden äusserten. Die Überraschung, den stillsten der ihren plötzlich so laut und vernehmlich reden zu hören, war allgemein, und wenn auch die nächsten Bekannten, die bereits Stirners erste Arbeiten verfolgt hatten, wussten, dass es sich nur um eine bedeutende Tat handeln konnte, so waren die anderen, ferner Stehenden umsomehr überrascht in dem einfachen Mann, den sie bisher wohl oft übersehen haben mochten, den grossen und scharfen Geist zu finden, der aus seinem Buche sprach. So mögen Stirner und seine Ideen in dieser Zeit oft genug den Mittelpunkt des Kreises und seiner Unterhaltung gebildet haben. Stirner selbst blieb sich natürlich völlig gleich: der äussere Ruhm konnte ihn nicht stolzer machen als er es innerlich gewesen war. Jedenfalls gehörte er jetzt zu den "Merkwürdigkeiten" des Kreises, und wie er von nun an mit den Bauers und den anderen zusammengenannt wurde, so kam man jetzt auch zu Hippel, um "den Einzigen" zu sehen und sich zu überzeugen, dass er 'in Wirklichkeit gar nicht so schlimm war, wie er sich in seinem Buche hingestellt hatte'."



    Literatur und Links (Auswahl: beachte)
        Veränderte URLs ohne Weiterleitung oder unzuverlässige Adressen wurden entlinkt.
    • Engert, Rolf (2001). Rings um Stirner. Beiträge zur Lebensgeschichte Max Stirners. Leipzig: Max-Stirner-Archiv.
    • Jordens, Paul (2008). Max Stirner. Einführung in ein Mißverständnis. Leipzig: Max-Stirner-Archiv.
    • Mackay, John Henry (1977). Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. Freiburg / Br.: Reprint Mackay Gesellschaft. [Online]
      • Der Fragebogen Mackays und die Antworten der 2. Ehegattin: [Online]


    Links zu Max Stirner, Leben und Werk
        Veränderte URLs ohne Weiterleitung oder unzuverlässige Adressen wurden entlinkt.

    • Max Stirner Gesellschaft (Lebenslauf aus Mackay).
    • Max Stirner Archiv Leipzig.
    • Vergleichende Online Präsentation Der Einzige und sein Eigentum.
    • Online Bibliographie zu Max Stirner.
      • Max Stirner (1834): Über Schulgesetze [Examensarbeit].
      • Max Stirner: (1841-42): Artikel und Gedichte. DIE EISENBAHN.
      • Max Stirner (1842): Kunst und Religion.
      • Max Stirner (1842): Christentum und Antichristentum.
      • Max Stirner (1842): Ueber B. Bauer's Posaune Des Juengsten Gerichts.
      • Max Stirner (1842): Das Unwahre Princip Unserer Erziehung, Oder Der Humanismus Und Realismus.
      • Max Stirner (1842): Korrespondenzen RHEINISCHE ZEITUNG.
      • Max Stirner (1842): Korrespondenzen LEIPZIGER ALLGEMEINE ZEITUNG.
      • Max Stirner (1843): Einiges Vorlaeufige vom Liebesstaat.
      • Max Stirner (1844): Die Mysterien Von Paris (Eugene Sue).
      • Max Stirner (1847): Die Philosophischen Reactionaere "Die Modernen Sophisten von Kuno Fischer".
      • Max Stirner (1848): Die Deutschen im Osten Deutschlands, 2,


    Links zum fixe Idee und Wahnproblem

    • Überblick Wahn in der IP-GIPT. *  Zum extremen Stirner (fast alle sind verrückt) gibt es eine extreme Gegenposition, die Antipsychiatrie (es gibt keine Verrücktheiten).
    • Massenwahnphänomene: Übersicht - Psycho-Moden, psychische Epidemien, Epidemiologie und systemimmanente Kunstfehler.
    • Psychische Ansteckung bei Lange (1927, S. 188-192).
    • Norm, Wert, Abweichung (Deviation), Krank (Krankheit), Diagnose. /g  "Normal", "Anders", "Fehler", "Gestört", "Krank", "Verrückt".
    • Die Politische Krankheit der Schuldentollwut - Rollenfunktionelle Verrücktheit.
    • Gleicht k/eine Schneeflocke der anderen? *  Zum Universalienstreit am Beispiel der Schneeflocke.
    • Definieren und Definition. * Welten *
    • Was ist Fragen in der Diagnostik * Überblick Diagnostik IP-GIPT.




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    ___
    Überblick: Altruismus * Anarchismusfrage nach Laska * Atheismus * Aufklärung * Besessenheit * Egoismus * Ethik *  Existenz * Existenzialismus * Fixe Idee * Freiheit, Verantwortung und Schuld * Goldene Regel * Ich, Identität, Selbst ... * Idealismus, philosophischer * Konstruktivismus * Kritik * Machiavellismus * Materialismus, philosophischer * Nihilismus * Nominalismus * Normale Verrücktheit * Platonismus * Pragmatismus * Realismus, naiver * Realismus, philosophischer * Recht * Relativismus * Schuld * Schizoid * Skeptizismus * Solipsismus * Spiritualität * Staat *  Stirner * Universalienstreit * Utilitarismus * Verantwortung  * Verrückt, normal,. krank, gestört  * Zusammenleben *
    ___
    Altruismus. Hilfsbereite Grundeinstellung und soziale Haltung gegenüber den Mitmenschen. Im Extrem: nur leben für andere, sich aufopfern für andere, das eigene Leben ganz in den Dienst für andere Menschen stellen. Beispiele: Jesus, Mutter Teresa, Ghandi, Albert Schweitzer. Gegenbeispiele: Herrscher, Diktatoren und Tyrannen, Egomanen. Gegenposition: Stirners Egoismus. Das sog. "Helfer-Syndrom" gehört auch hierher. Künstlerisch wurde das Problem u.a. von Brecht in Der gute Mensch von Sezuan eindrucksvoll dramatisiert.
    ___
    Anarchismusfrage nach Laska.
     [Online] Aus dem Artikel "Max Stirner" von Bernd A. Laska, erstmals in: Lexikon der Anarchie, hrsg. v. Hans Jürgen Degen. Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993ff (Loseblattsammlung), 3. Lieferung Sept. 1995, erschienen (leicht überarbeitet: April 1998): ....
        "Die Anarchisten und Stirner
    Stirner bezeichnete sich selbst nirgendwo als Anarchisten; er kritisierte vielmehr in seinem »Einzigen« (1844) den Mann, der sich 1840 als erster selbst einen Anarchisten genannt hatte: Proudhon - allerdings nicht deswegen, sondern wegen seiner moralisierenden Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Probleme. Proudhon, der sonst sehr an der Entwicklung der (jung-)hegelianischen Philosophie in Deutschland interessiert war, überging Stirners »Einzigen« mit Schweigen. Auch Bakunin, der andere massgebliche Anarchist des 19. Jahrhunderts, vermied es, sich zum »Einzigen« zu äussern. Diese offenkundige Berührungsangst der Anarchisten vor Stirner machten sich in den 1880er Jahren - nach dem Tode von Marx, der einst ebenfalls einer öffentlichen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen war - die Marxisten für ihre politische Polemik zunutze: Stirner sei "der Prophet des heutigen Anarchismus"; Bakunin sei nichts als Proudhon plus Stirner, so lautete die von Friedrich Engels 1886 ausgegebene Parole.
        Die ersten Historiker des Anarchismus, selbst keine Anarchisten, rechneten Stirner, der inzwischen im Kielwasser des Nietzscheanismus zu einer bekannten Figur geworden war, ebenfalls dem Anarchismus zu (Zenker 1895, Eltzbacher 1900, Zoccoli 1907). Die Anarchisten selbst hielten indes nach wie vor Distanz zu Stirner. Nur eine kleine Gruppe, die sich als "individualistische Anarchisten" von der eigentlichen anarchistischen Bewegung abgrenzte, bekannte sich demonstrativ zu Stirner (mit zweifelhafter Berechtigung).
        Die distanzierte Haltung der Anarchisten gegenüber Stirner änderte sich auch im 20. Jahrhundert nicht wesentlich. Landauer stand Stirner über längere Zeit sehr ambivalent, schliesslich aber eindeutig ablehnend gegenüber. Mühsam erwähnt Stirner nur einmal: in einer autobiographischen Skizze, in der er Landauer dafür dankt, dass er ihn als jungen Mann dem verführerischen Einfluss Stirners entrissen habe. Kropotkin, der über Jahrzehnte zu Stirner geschwiegen hatte, denunzierte ihn schliesslich, zu einer Stellungnahme gedrängt, als "Manchestermann" und damit Pseudo-Anarchisten (der sonst so milde Mann konnte, wie Nettlau überlieferte, sehr wütend werden, wenn im Gespräch auch nur der Name Stirner fiel). Nettlau, selbst Anarchist und wohl bester Kenner der anarchistischen Bewegung in ihrer Glanzzeit, stand eher ratlos vor dem Phänomen, dass die meisten Anarchisten Stirner ablehnten, und meinte, Stirner sei eben meist missverstanden worden. Dieses Urteil von 1927, aus der Endphase einer Epoche, in der sowohl das Interesse an Stirner als auch der Einfluss des politischen Anarchismus relativ gross gewesen waren, kann heute, nachdem beide in den 60er Jahren noch einmal auflebten, erneuert werden. Nur sollte ein so hartnäckiges "Missverstehen" - zumal es auch in der Stirner-Rezeption ausserhalb des Anarchismus vorherrscht - Grund zu intensiven Nachforschungen geben.
        In Übereinstimmung mit der vorherrschenden, meist ohne nähere Begründung und indirekt ausgedrückten Ablehnung Stirners durch die grosse Mehrzahl der Anarchisten - der allenfalls die oberflächliche, unspezifische Zustimmung durch wenige Einzelne gegenübersteht - stellen in zunehmendem Masse auch die Autoren neuerer Untersuchungen zum Anarchismus oder zu Stirner die überkommene Einordnung Stirners als Anarchisten in Frage bzw. in Abrede (Heintz 1951, Lösche 1977, Ritter 1980).
        Stirners potentielle Aktualität
    Die bevorzugte Methode, den Gehalt des »Einzigen«, Stirners "Philosophie" - gelegentlich in eingestandener Ratlosigkeit auch "Unphilosophie" genannt - darzustellen, war stets die epitomatische: kurze, prägnante Abschnitte aus dem Text wurden aneinandergereiht und sollten für sich sprechen. Einprägsame Sentenzen wie "Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt" und "Mir geht nichts über Mich" wurden weithin bekannt, stehen für einen rohen Nihilismus bzw. Egoismus und werden oft für die - so gesehen: dürftige - Quintessenz des »Einzigen« genommen. Selbstverständlich gab es auch genauere, solidere, gründlichere Darstellungen und Untersuchungen zu diesem oft mit Superlativen - "extremsten", "kühnsten", "fluchwürdigsten" etc. - bedachten Buch; doch kamen auch sie letztlich zu keinem grundsätzlich anderen Ergebnis.
        Die konventionellen Methoden, philosophische Texte zu interpretieren, haben im Falle des »Einzigen« versagt. Keinem Autor gelang es bisher, die oft gespürte, gelegentlich auch ausdrücklich festgestellte Sonderstellung Stirners in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, der Neuzeit, gar der gesamten Geschichte wirklich präzise zu bestimmen. Stirners »Einziger« blieb, was geflissentlich übersehen wird, ein hapax legomenon  im Text der abendländischen Philosophie.
        Die Richtigkeit dieser Behauptung lässt sich vorläufig am einleuchtendsten durch die doch äusserst erstaunliche Tatsache stützen, dass einige der grössten der heute allgemein anerkannten Denker (und die bedeutendsten anarchistischen Theoretiker!) einer sachlich gebotenen, argumentativen Auseinandersetzung mit Stirner ausgewichen sind. Die blosse Erkenntnis, das dauerhafte Fürwahrhalten und vor allem das philosophiehistorische Gewichten dieser Tatsache ist offenbar stets durch vielerlei Hindernisse äusserst erschwert gewesen (dies lässt sich anhand des massenhaften sekundären Ausweichens, des bequemen blinden Nachvollzugs jenes primären der Grosstheoretiker, demonstrieren, besonders eindrucksvoll am Beispiel der Marx-Forschung). Ein Abbau dieser gewaltigen Hindernisse scheint jedoch mit dem seit einiger Zeit voranschreitenden Geltungsverlust aller etablierten Doktrinen einherzugehen.
        Stirner hat sein Buch ausdrücklich als "einen Anfang" bezeichnet, als den Anfang einer Entwicklung, die er nach dem proklamierten "Ende der Philosophie" für möglich hielt. Der junge Karl Marx hielt den »Einzigen« für hochaktuell: er schrieb sich nach der Lektüre jenen später berühmt gewordenen Satz auf, wonach es darauf ankäme, die Welt zu verändern, und konzipierte in den folgenden Monaten den historischen Materialismus. Die Fortsetzung von Stirners "Anfang" war dies allerdings nicht; vielmehr eine offenbar sehr wirksame Verschüttung der von Stirner aufgeworfenen Problematik. So wie Marx - nicht im Detail, aber im Prinzip - reagierten bis in unsere Zeit eine Reihe hervorragender Denker auf die Konfrontation mit dem »Einzigen«. Daraus, nicht aus den überall nachzulesenden Urteilen über Stirner, ergibt sich seine nach wie vor potentielle Aktualität."
    ___
    Atheismus. > Feuerbach, Geschichte, Vorteile.
    ___
    Aufklärung. Ein grundlegender Irrtum Stirners war seine Einschätzung der Aufklärung ("....als man das Werk der Aufklärung, die Überwindung des Gottes, in unsern Tagen zu einem siegreichen Ende führte; ..."; Q170). Sie hat in den letzten 250 Jahren sogar Rückschritte gemacht - wie auch die neuen fundamentalistischen Strömungen zeigen - und ist so lange als nicht geglückt anzusehen, wie 1) theologische Fakultäten in staatliche Universitäten integriert sind, 2) kirchliche Funktionsträger von allgemeinen Steuergeldern bezahlt und 3) Kirchensteuern vom Staat erhoben werden oder 4) religiöse Symbole wie Kruzifixe sich in den öffentlichen Einrichtungen wie z.B. Schulzimmern oder Gerichtssälen finden. Die Trennung von Staat und Kirche war eine wichtige Idee und Forderung der Aufklärung. Sie ist bis heute nicht realisiert.
    ___
    Besessenheit. Zum besseren Verständnis des Begriffs Besessenheit seien hier zwei Quellen ungefähr zu Stirners Zeit genannt:
        "Besessene (Energumenen, daemoniaci, obsessi) sind Kranke, deren leibliche und seelische Thätigkeiten in höherem oder geringerem Grade im Dienste eines ihnen fremden dämonischen Willens stehen und wirken. Der Zustand der Besessenheit wird von der Schrift von allen Krankheiten scharf unterschieden. Christus beruft sich ausdrücklich auf seine Gewalt, böse Geister auszutreiben, als einen Beweis seiner göttlichen Sendung und die Kirche hat die Anwendung der Exorcismen bis heute beibehalten. Die B.heit hat von der Umsessenheit an viele Stufen bis zur eigentlichen B., welche sich durch die gewaltsamsten Störungen der körperlichen Functionen, in geistiger Beziehung aber manchmal durch plötzliche Kenntniß fremder Sprachen und Wissenschaften, Eindringen in die Gedankenwelt Anderer und ähnliche Erscheinungen offenbart. Wie es zu Christi Zeit auffallend viele B. gab, so soll es deren noch heute besonders viele bei Völkern geben, bei denen das Christenthum Eingang findet." [Lexikon: Besessene. Herders Conversations-Lexikon (1854-1857), (vgl. Herder Bd. 1, S. 512), [DB 133, S. 5938 ]
        "Besessene (Dämonische, Daemoniaci), Menschen, welche nach den Vorstellungen der Juden einen od. mehrere böse Geister (Dämon) in sich hatten, welche sie mit einer körperlichen od. geistigen Krankheit, mit Melancholie, Epilepsie, Tobsucht, Wahnsinn plagten. Es gab Beschwörer, welche diese Geister austrieben, u. auch Jesus wußte solche Kranke durch die Kraft seines Wortes u. Geistes zu heilen. Farmer (Versuch über die dämonischen Leute, aus dem Englischen 1776) u. Semler (De daemoniacis, 1779) haben diese Krankheiten zuerst aus natürlichen Ursachen abgeleitet. Die B-n sind Kranke, welche an Epilepsie, Veitstanz, Geisteskrankheit, Mondsucht (daher Lunatici) leiden. Ganz neuerlich hat man wieder versucht, in den B-n, vorzüglich Geisteskranken u. Mondsüchtigen, die Einwirkung böser Geister zu sehen. J. Kerner, Geschichte B-r neurer Zeit, Karlsr. 1834; Graf Ranzau, Briefe über die Geschichte B-r von J. Kerner, Heidelb. 1836. Der Gegensatz von Besessenheit ist Begeisterung od. Enthusiasmus (s. b.). [Lexikon: Besessene. Pierer's Universal-Lexikon,  4. Auflage 1857–1865, (vgl. Pierer Bd. 2, S. 672), [DB 115,  S. 27432].
    ___
    Egoismus. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird als Egoist angesehen, wer sich hauptsächlich nur um seine Interessen kümmert und die Interessen und Belange von Mitmenschen geringschätzt oder wenig bis gar nicht beachtetet und berücksichtigt. Es ist aber keineswegs so, dass Menschen, die die Interessen und Belange anderer Menschen berücksichtigen keine Egoisten wären. Sie sind es schon insofern, als sie mit ihrem Altruismus persönliche Werte und Ideale befriedigen oder ein Geschäft mit den Mächten des Jenseits anstreben, wenn sie sich durch ein sog. gottgefälliges Leben einen Platz im Paradies versprechen. In der Hauptsache lassen sich zwei Formen des Egoismus unterscheiden: der dumme und der kluge. Dumm ist ein Egoist, wenn er nicht erkennt, dass für seine Lebenszufriedenheit auch andere Menschen und wie sie zu einem stehen und einen behandeln, wichtig sind. Denn warum sollten andere Menschen auf Dauer die eigenen Interessen berücksichtigen, wenn man die ihrigen ständig vernachlässigt und ignoriert? Ein kluger Egoist ist daher schon deshalb sozial, weil er weiß, dass er zu seiner Lebenszufriedenheit andere braucht. Diese kluge egoistische Grundhaltung zeigt sich in allen Gesellschaften und Kulturen und wird mit dem Namen Goldene Regel benannt.
    ___
    Ethik. Lehre, was im zwischenmenschlichen Zusammenleben zu tun und zu lassen, was erlaubt, geboten und verboten ist unter diesen oder jenen Umständen. Sobald mehre Menschen in irgendeiner Form zusammenleben, stellt sich die Frage, wie dieses Zusammenleben reguliert, von welchen Regeln es bestimmt sein soll. Aber bereits für den einzelnen, für einen Robinson Crusoe, kann die Frage gestellt werden, wonach soll er streben, was soll er tun und lassen, was mag er nach Gutdünken mal so, mal anders tun oder lassen?
    ___
    Existenz. (> Welten; Stegmüller "ist"). Ein vieldeutiger, unklarer und seit Jahrtausenden umstrittener philosophischer und wissenschaftlicher Begriff. Was führt "Pegasus", der Begriff "nicht", die Zahl 0, der Begriff romantischer Liebe, der Begriff des Grünen, das Blaue des Himmels, der Begriff, "fixe Idee", Wahrheit, Möglichkeit,  Norm, sollen usw. für eine "Existenz"? Der menschliche Geist - und sein kommunikativer Ausdruck, die Sprache  - ersinnt viel. Doch was für eine Existenz führen all die geistigen Konstruktionen und Produkte? Mathematisch existiert auf jeden Fall, was widerspruchsfrei konstruiert- und kommunizierbar ist. Logisch gibt es z.B. die Werte wahr, falsch, unentscheidbar, unklar ... und je nach Werten diese oder jene richtigen, falschen, unentscheidbaren, unklaren ... Beziehungen.
    ___
    Existenzialismus. Lebensphilosophische Richtung, die die Sinngebung des menschlichen Lebens als konstruktiv-kreative Aufgabe begreift. Ursprünge werden in Kierkegaard, Formen bei Heidegger, Jaspers, Sartre, Camus gesehen, wobei das Lebensgrundgefühl als in die Welt geworfen und das Erleben des unfreiwillig zur Existenz gekommen seins mit Sinnlosigkeit und Auflehnung als tendenziell angstvoll-belastend erlebt wird.
    ___
    Fixe Idee. Überwertige Überzeugung, Wahnidee.
    • "Fixe Idee, festgewurzelte Vorstellung, so daß sie alle Geistesthätigkeiten beherrscht. [Lexikon: Fixe Idee. Herders Conversations-Lexikon (1854-1857), (vgl. Herder Bd. 2, S. 714); [DB 133, S. 16964]
    • "Die fixe Idee, ein Gedanke, welcher sich der Seele in dem Grade bemächtigt, daß sich alle anderen Gedanken an denselben ketten, sich auf ihn beziehen und nur durch diese Beziehung Lebhaftigkeit erhalten – der Hauptgedanke, welcher die Seele ununterbrochen beherrscht und alle übrigen verdunkelt. Fast alle Menschen haben mehr oder weniger fixe Ideen; je weniger eine solche Idee Realität hat, desto näher führt sie ans Tollhaus."

    • [Lexikon: Die fixe Idee. Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch (1809-1811), (vgl. CL Bd. 2, S. 29), [DB 131, S. 1596]
    Eine Auswahl Psychiatrischer Bücher zu Stirners Zeiten.
    • Heinroth, J. A. C. (1818). Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen. 2 Bde. Leipzig: Vogel.
    • Friedreich, Friedrich Johann Baptist (1832). Allgemeine Diagnostik der psychischen Krankheiten. Würzburg: Strecker.
    • Schneider, P. J. (1824). Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische Krankheiten oder Heilmittel in Beziehung auf psychische Krankheitsformen. Innentitel: Medicinisch-practische Adversarien. Zweite Lieferung. Tübingen: Laupp.
    • Leupoldt (1837). erkennt in seinem "Lehrbuch der Psychiatrie" (S. 27) weltweit einen Eklektizismus zwischen Psychischem und Somatischen und bekennt sich dazu.
    • Esquirol, Jean J.D.  (1838): Die Geisteskrankheiten in ihrer Beziehung zur Medizin, Hygiene und Gerichtsmedizin.
    • Braeunlich, F. G. Direktor der Privat-Heilanstalt Wackerbarthsruhe bei Dresden veröffentlicht 1839: Psychische Heilmittellehre für Ärzte und Psychologen.
    • Querverweis: Hagens Begriff "Fixe Idee" (1870).
    ___
    Freiheit, Verantwortung und Schuld. Freiheit bedeutet, die Fähigkeit und Möglichkeit, zu wählen. > Kausalitätsproblem.
    ___
    Goldene Regel. "Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu." Komplizierter drückt es Kant in seinem Kategorischen Imperativ aus.
    ___
    Ich, Identität, Selbst ...  Stirners Konzeption des ICH ist naiv. Er erkennt nicht, dass das ICH eine komplexe Konstruktion ist, die mehr oder minder starke widerstrebende, ja widersprüchliche Strebungen beinhaltet. Sein zweiter großer Fehler ist, dass er nicht erkennt, dass in der ICH-Entwicklung Fremdes zu Eigenem werden kann. Sein dritter großer Fehler ist, dass er nicht erkennt, dass soziale Rücksichten und die Verinnerlichung von Normen durchaus dem Egoismus nutzen kann. Kluge Egoisten sind sozial, weil sie andere für ihre Selbstverwirklichung brauchen.
    ___
    Idealismus, philosophischer. Die Welt ist "nur" eine Vorstellung, ein Gedankenbilde. Das "Ding an sich", so Kant, bleibt uns auf immer verschlossen, wir kennen nur seine Erscheinungen. Was genau die Realität und Wirklichkeit "ist", das wissen wir nicht. Gemessen an den Erfolgen der Naturwissenschaft, scheint es so, als brauchten wir die Kenntnis des "Dings an sich" auch gar nicht. Die Welt ist bislang auch trotz dieser Behinderung ziemlich gut erfassbar.
    ___
    Konstruktivismus. Auffassung, wonach wir uns die Welt notwendigerweise konstruieren müssen, aber auch konstruieren können im kritischen Bewusstsein, dass es sich um Konstruktionen und keine Abbilder der Wirklichkeit handelt.
    ___
    Kritik. Haltung, die nicht einfach etwas, so wie es präsentiert wird, an- oder übernimmt, sondern auf Stimmigkeit, Bedeutung oder Interessenlage prüft. > Skeptizismus.
    ___
    Machiavellismus.
    ___
    Materialismus, philosophischer. Die Überzeugung, dass alles Sein letztlich materieller Natur ist. Seelisch-Geistiges werden als Funktionen des Materiellen, Körperlichen angesehen und es wird ihm keine von der Materie unabhängige Existenz zuerkannt. Nach materialistischer Überzeugung (> Feuerbach) gibt es keine Götter, Teufel, Engel, Geister, kein Jenseits, Paradiese, Himmel oder Höllen. Nach Max Stirner sind das alles nur fixe Ideen unaufgeklärter Menschen.
    ___
    Nihilismus. Haltung und Ausdruck einer Verneinung. Nachdem vieles verneint werden kann, gibt es viele Nihilismen. Man kann Gott, Erkenntnismöglichkeiten, Werte, Ethik, Ideale, Ziele, einen Sinn des Lebens, Gebote oder Verbote verneinen oder ablehnen. Daher gibt es einen weltanschaulichen, erkenntnistheoretischen, ethischen, technischen, politischen, zwischenmenschlichen usw. usf. Nihilismus. Religiöser Nihilismus drückt sich z.B. in der Karl Marx'schen Sentenz aus "Religion ist Opium fürs Volk."
    ___
    Nominalismus. Erkenntnistheoretischer Standpunkt, wonach das, was Allgemeinbegriffe (z.B. Baum, rot, gerade Zahl) bezeichnen, keine eigenständige Existenz in der Realität hat, sondern geistige Konstruktionen und Abstraktionen repräsentieren. Es gibt in der Welt der Realität nur konkrete, individuelle Bäume, aber nicht die "Baumheit", den "Baum an sich". Kurz: die Allgemeinbegriffe und Abstrakta existieren "nur" in unserem Denken.
    ___
    "Normale" Verrücktheit. Diese Formulierung ist wörtlich betrachtet ein Widerspruch in sich, weil sich im üblichen Sprachgebrauch "normal" und "verrückt" ausschließen. Definition: Normale Verrücktheit heißt, dass es sich um eine Verrücktheit relativ zu inhaltlichen Kriterien handelt, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verbreitung und Bewertung aber nicht als verrückt, sondern als normal angesehen wird. Beispiele: Nationalsozialistische Rassentheorie, Hexenverfolgung, Staatsverschuldung, religiöse und esoterische Bewegungen und Rituale, Herrschaftsrituale (Vergöttlichung der Kaiser und Könige; "Im Namen des Volkes"), Psychomoden.
    ___
    Platonismus. Anerkennt für Allgemeinbegriffe und Abstrakta eine selbständige Existenz. Baumheit, Grünheit, Wahrheit, Klasse, Unendliches ... gibt es in der Realität.
    ___
    Pragmatismus. Orientierung am Praktischen, Nützlichen, Machbaren, Verzicht auf "grundsätzliche" Lösungen. Philosophische Vertreter: W. James,  Dewey, Peirce. Ludwig Marcuse (1959) hat eine Monographie zum amerikanischen Pragmatismus geschrieben: Amerikanisches Philosophieren. Reinbek: Rowohlt (rde).  [W]
    ___
    Realismus, naiver. Die Welt ist so, wie wir sie wahrnehmen und wie sie uns erscheint.
    ___
    Realismus, philosophischer. Es gibt eine Außenwelt außerhalb von uns selbst.
    ___
    Recht. Gesetze und Regeln, die im zwischenmenschlichen Umgang zu beachten sind. Das Recht ist gewöhnlich ein Diener des jeweiligen Herrschaftssystems und wird nach dessen Interessen vielfach gebeugt und verbogen. (> Unrecht im Namen des Rechts). Die Idee der Aufklärung, ein unabhängiges Recht zu verankern, vor dem alle Menschen wirklich gleich sind, ist noch in weiter Ferne und nur teilweise verwirklicht.
    ___
    Relativismus. Auffassung, dass alles von den Grundlagen, Postulaten, Axiomen, Voraussetzungen, vom Standort und der Perspektive, die man einnimmt, abhängt. Nach dem Relativismus gibt es keine ewigen Wahrheiten, Gebote und Verbote, alles gilt nur relativ zu einer Basis, einem Standort.
    ___
    Schizoid. Als erstes sollte man sich merken, dass der Persönlichkeitstypus des Schizoiden nichts mit der Psychose-Erkrankung Schizophrenie zu tun hat: Schizophrenien erscheinen auf allen Persönlichkeitsstrukturen. Ansonsten hat der Begriff zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen, die man streng auseinanderhalten sollte: 1) schizoid im normalpsychologischen Sinne der Persönlichkeitstypologie von Fritz Riemann (Grundformen der Angst); 2) schizoid als Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 oder DSM. Die diagnostischen Probleme in der Psychopathologie sind groß, mit den "operationalen Kriterienkatalogen" im Prinzip aber auf dem richtigen Weg, um Willkür und Zufall mehr und mehr zu überwinden. Gerade bei dem Wort "Schizoid" herrscht große Verwirrung und ein Durcheinander. Man sollte a) schizoid normalpsychologisch, b) schizoid persönlichkeitsgestört, c) schizothym und d) schizophren auseinanderhalten und nicht durcheinanderwerfen. Enger verwandt sind nur a) und b) mit dem Unterschied, dass b) ein Störungs- oder Krankheitswert zuerkannt wird und a) ein sowohl inhaltlich als auch statistisch-soziologisch gesehen "normaler" Persönlichkeitstypus ist.
     
      Im ICD-10 (2009) wird zur schizoiden Persönlichkeitsstörung ausgeführt (in der Online-Version fehlen die Kriterien):
      "F60.1 Schizoide Persönlichkeitsstörung
      Definition: Eine Persönlichkeitsstörung, die durch einen Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten mit übermäßiger Vorliebe für Phantasie, einzelgängerisches Verhalten und in sich gekehrte Zurückhaltung gekennzeichnet ist. Es besteht nur ein begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben.
      Exkl.:
          Asperger-Syndrom (F84.5)
          Schizoide Störung des Kindesalters (F84.5)
          Schizophrenie (F20.-)
          Schizotype Störung (F21)
          Wahnhafte Störung (F22.0)"
    _
    Allgemein wird zum Verständnis der Persönlichkeitsstörungen ausgeführt:
      "Kapitel V
      Psychische und Verhaltensstörungen
      (F00-F99)
      Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
      (F60-F69)
      Begleitender Text
      Dieser Abschnitt enthält eine Reihe von klinisch wichtigen, meist länger anhaltenden Zustandsbildern und Verhaltensmustern. Sie sind Ausdruck des charakteristischen, individuellen Lebensstils, des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen. Einige dieser Zustandsbilder und Verhaltensmuster entstehen als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen schon früh im Verlauf der individuellen Entwicklung, während andere erst später im Leben erworben werden. Die spezifischen Persönlichkeitsstörungen (F60.-), die kombinierten und anderen Persönlichkeitsstörungen (F61) und die Persönlichkeitsänderungen (F62.-) sind tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Sie verkörpern gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und der psychologischen Funktionen. Häufig gehen sie mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher."
      _
      Kriterien ICD-10: Die Huber-Verlag Ausgabe von 2008, S. 238 - auch im grünen Band Forschungskriterien - gibt folgende Kriterien an:

      "Diagnostische Kriterien
      A.  Die allgemeinen Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung (F60) müssen erfüllt sein.
      B.  Mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen müssen vorliegen:
      1.   wenn überhaupt, dann bereiten nur wenige Tätigkeiten Freude;
      2.   emotionale Kühle, Distanziertheit oder abgeflachter Affekt;
      3.   reduzierte Fähigkeit, warme, zärtliche Gefühle für andere oder Ärger auszudrücken;
      4.   erscheint gleichgültig und indifferent gegenüber Lob oder Kritik von anderen;
      5.   wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit einem anderen Menschen (unter Berücksichtigung des Alters);
      6.   fast immer Bevorzugung von Aktivitäten, die alleine durchzuführen sind;
      7.   übermäßige Inanspruchnahme durch Phantasien und Introvertiertheit;
      8.   hat keine oder wünscht keine engen Freunde oder vertrauensvollen Beziehungen (oder höchstens eine);
      9.   deutlich mangelhaftes Gespür für geltende soziale Normen und Konventionen; wenn sie nicht befolgt werden, geschieht das unabsichtlich."

       
      Allgemeine diagnostische Kriterien für Persönlichkeitsstörungen nach der Huber-Verlag Ausgabe von 2008, S. 234f :

      "F60 Spezifische Persönlichkeitsstörungen
      Persönlichkeitsstörungen sind schwere Störungen der Persönlichkeit und des Verhaltens der betroffenen Person, die nicht direkt auf eine Hirnschädigung oder -krankheit oder auf eine andere psychiatrische Störung zurückzuführen sind. Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit ausgeprägten persönlichen Leiden und sozialen Beeinträchtigungen einher. Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter.

      G1. Die charakteristischen und dauerhaften inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben («Normen») ab. Diese Abweichung äußert sich in mehr als einem der folgenden Bereiche:

        1.  Kognition (d.h. Wahrnehmung und Interpretation von Dingen, Menschen und Ereignissen; entscheidende Einstellungen und Vorstellungen von sich und anderen);
        2.  Affektivität (Variationsbreite, Intensität und Angemessenheit der emotionalen Ansprechbarkeit und Reaktion);
        3.  Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung;
        4.  Die Art des Umganges mit anderen Menschen und die Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen.
      G2. Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig ist (nicht begrenzt auf einen speziellen auslösenden Stimulus oder eine bestimmte Situation).
      G3. Persönlicher Leidensdruck, nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides sind dem unter G2. beschriebenen Verhalten zuzuschreiben.
      G4. Nachweis, dass die Abweichung stabil, von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen hat.
      G5. Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters erklärt werden. Es können aber episodische oder chronische Zustandsbilder der Kapitel FO-F5 und F7 neben dieser Störung existieren oder sie überlagern.
      G6. Eine organische Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche Ursache für die Abweichung ausgeschlossen werden (falls eine solche Verursachung nachweisbar ist, soll die Kategorie F07 verwendet werden).
      Schizotype Störung im ICD-10 [Dimdi]
      "F21   Schizotype Störung
      Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind. Es kommen vor: ein kalter Affekt, Anhedonie und seltsames und exzentrisches Verhalten, Tendenz zu sozialem Rückzug, paranoische oder bizarre Ideen, die aber nicht bis zu eigentlichen Wahnvorstellungen gehen, zwanghaftes Grübeln, Denk- und Wahrnehmungsstörungen, gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen, meist ohne äußere Veranlassung. Es läßt sich kein klarer Beginn feststellen; Entwicklung und Verlauf entsprechen gewöhnlich einer Persönlichkeitsstörung.
      Latente schizophrene Reaktion
      Schizophrenie:
      · Borderline
      · latent
      · präpsychotisch
      · prodromal
      · pseudoneurotisch
      · pseudopsychopathisch
      Schizotype Persönlichkeitsstörung
        Exkl.:    Asperger-Syndrom ( F84.5 )
                     Schizoide Persönlichkeitsstörung ( F60.1 )"

      Anmerkung: Die schizotype Störung wurde früher bei den Persönlichkeitsstörungen eingeordnet, seit einiger Zeit aber bei den  "Schizophreniespektrum-Störungen" angesiedelt.

      Querverweis: Überblick Diagnostik in der IP-GIPT.

    ___
    Schuld > Freiheit, Verantwortung und Schuld.  > Schuldgefühle.
    ___
    Skeptizismus. Skeptisch sein, heißt zweifeln, in Frage stellen. Grundlegende philosophische Skeptiker sind kritische Leute, die zweifeln an festen, dauerhaft oder gar ewig gültigen Wahrheiten. Für Skeptiker ist die Welt im Fluß, im Werden und Verändern.
    ___
    Solipsismus  heißt eine extreme Form der philosophischen Idealismus, der verkündet, die Welt existiere nur in unserem Kopfe. Demnach gäbe es keine Außenwelt außerhalb unseres Gehirns. Unser Gehirn gaukelt uns quasi nur eine Außenwelt vor. Ich habe bei Stirner keine Textstelle gefunden, die diesen Unsinn vertritt.
    ___
    Spiritualität.
      Dort findet sich das Glossar: Aberglaube, Aionen, Emanationen, Esoterik, Existenzielle Psychotherapie, Frömmigkeit: kritisch hierzu, Geister, Geistig / geistig, Glauben / glauben, Gott, Grenzwissenschaften, Heilkunde, Himmel und Hölle, Ideologie, Kult, Im Eisler (Spiritualität), Im Grimmschen Wörterbuch (spiritus), Logotherapie, Magie, Metaphysik, Mystik, Okkult / Okkultismus, Parapsychologie, Philosophie des Geistes, Placeboeffekt, Psychomoden, Psychoszene, Psychotherapie, Reflexivität, Religion, Ritual / Ritus, Seele, Seelsorge, Sekte, Sinn, Spiritismus, Sure 4,29 (Selbstmordverbot), Teufel, Voodoo (Tod), Weltanschauung, Zauberei.
    ___
    Staat. "Der Staat" ist eine Abstraktion, ein Spuk nach Stirner. Auch die Tatsache, dass vielfach vom Staat die Rede ist, dass er sprachlich so verwendet wird, als entspräche ihm ein Gegenstand, bedeutet für seine Existenzform nichts. Die meisten, die man fragt, ob es einen Staat gibt, würden mit ja antworten. Aber wie gibt es ihn? Wo und wie kann man ihn finden? Die Sprache erlaubt allzu leicht daherzureden. Stirner kritisiert: "Die Sprache oder »das Wort« tyrannisiert Uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt." (389). Doch was bedeutet eine Redeweise genau? Was soll heißen: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"? Auch auf das Volk kann man nicht zeigen? Wer ist das Volk? WählerInnen und NichtwählerInnen?
    ___
    Stirner. > Biographie. Das Pseudonym übernahm Johann Caspar Schmidt aus seiner Studentenzeit. Jordens (2008, S.18): "Das auffälligste an dem Studiosus Schmidt war damals offenbar seine hohe Stirn; ihr verdankte er den originellen Spitznamen, den ihm seine Kommilitonen verpaßten: „Max Stirner" - derjenige mit der größten, höchsten Stirn. Diese launige Benamsung vergaß er nicht und griff sie später, als er journalistisch und literarisch tätig wurde, als gleichsam maßgeschneiderten „nom de guerre" [Kampfnahme: W] auf."
    ___
    Universalienstreit. Er handelt von der Auseinandersetzung, ob Allgemeinbegriffen oder Abstracta eine eigene Existenz zukommt. Der Platonismus sagt ja, der Nominalismus nein (Zusammenfassung Stegmüllers). Analysiert man z.B. den Begriff "Staat" nach seiner Existenzweise, merkt man schnell, wie schwierig eine angemessene Bestimmung der Existenzweise ist.
    ___
    Utilitarismus. Ethische Grundhaltung, gut ist, was den Nutzen erhöht. Klassiker: Jeremy Benthams Formel: das größte Glück für die größte Zahl. [W]
    ___
    Verantwortung > Freiheit, Verantwortung und Schuld. > Schuldgefühle.
    ___
    Verrückt, normal,. krank, gestört, ... Links zu diesem Problemkomplex.
    ___
    Zusammenleben. Eine bleibend wichtige Grundfrage, wie die Menschen mit ihren verschiedenen Welt- und Menschenbildern, Weltanschauungen und Religionen zusammenleben können und sollen. Stirner meint hier offenbar, dass Normen und Regelungen dem Egoismus nicht dienlich wären. Die historischen, zoologischen und anthropologischen Erfahrungen sprechen eine andere Sprache.
    ___


    Querverweise
    Standort: Die Idee allgemeiner "normaler" Verrücktheit bei Max Stirner
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Organisation IP-GIPT site:www.sgipt.org. * 
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Die Idee allgemeiner "normaler" Verrücktheit bei Max Stirner dargelegt im Abschnitt Der Sparren aus dem Kapitel Die Besessenen in Der Einzige und sein Eigentum. Mit drei Exkursen u.a. einer psychopathographischen Skizze und einem philosophischen Glossar.  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/medppp/wahn/ANVbS.htm

    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten oder Rahmen ist nicht gestattet. Zitate und Links sind natürlich willkommen. Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden. Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus  ...  geht, sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.


    __Ende_Allgemeine bzw. "normale" Verrücktheit _Dastenschutz _Überblick__Rel. Beständiges _Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ English contents__ Service_iec-verlag__ Dienstleistungs-Info * Mail: sekretariat@sgipt.org_ Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    korrigiert: irs 12. / 13.09.09



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    04.04.15    Linkfehler geprüft und korrigiert.