Psychische Ansteckung bei Lange
(1927, S. 188-192)
Ein Beitrag zu Epidemiologie, Werbung und Marketing der Syndrom- und Methodenkreation in der Psycho-Lobby
Mitgeteilt und kommentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Internet-Erstausgabe TT.MM.JJ, Letztes Update TT.MM.JJ
Lange, Johannes (1927). Allgemeine Psychiatrie Bd. I. Leipzig: Barth.
"Psychische Ansteckung. Zum Schlusse haben wir noch des Vorganges der uneigentlich sogenannten "psychischen Kontagion" zu gedenken, der Ausbreitung psychischer Störungen durch "Ansteckung". Daß gewisse einfache unwillkürliche Bewegungen, das Gähnen, Lachen, Räuspern, Husten, Erbrechen, durch Nachahmung, d. h. durch Erzeugung der mit peinlicher Erwartung verbundenen Vorstellung dieser Bewegungen hervorgerufen werden, ja daß sogar Ohnmachten (Soldaten beim Impfen), Zittern und Krämpfe (Mädchenschulen) auf gleiche Weise ausgelöst werden können, ist eine sehr bekannte Tatsache. Das Bindeglied bildet überall die gemütliche Erregung und der durch sie geweckte Nachahmungstrieb. Ereignisse und Einwirkungen, die das Denken und Fühlen in lebhaften Aufruhr bringen, drängen bei willensschwachen Menschen auch zum Handeln; so ist es bekannt, daß nicht nur der Tollkühne, sondern auch der Selbstmörder, namentlich bei der Wahl sehr auffallender Mittel, bald Nachahmer zu finden pflegt [FN01]. Auf religiösem und politischem Gebiet mit ihren stark gefühlsbetonten Vorstellungen vermag das von Begeisterung getragene Schlagwort Leidenschaften von außerordentlicher Tragkraft zu entfesseln, wie wir es besonders in der Zeit nach der Revolution gesehen haben. Schließlich ist ja die gegenseitige Beeinflussung durch Gefühlserregungen die Grundlage aller Erziehung und Gesittung. Mode und Sitte verdanken der ausgleichenden Wirkung des Nachahmungstriebes ihre Gewalt über die Menschen; auch an der ungeheuren Verbreitung der Genußgifte, des Alkohols, des Opiums und Morphiums, hat die psychische Ansteckung hervorragenden Anteil.
Den erregenden Einfluß des Beispiels zeigen in sehr schlagender Weise die Erfahrungen über das Verhalten großer Volksmassen, die durch aufreizende Reden und Taten zu Handlungen getrieben werden können, welche jeder einzelne für sich niemals begehen würde. Von der unwiderstehlichen Flut der allgemeinen Aufregung wird [>189] das Verantwortlichkeitsgefühl, das den einzelnen zurückhalten würde, rücksichtslos fortgeschwemmt. Endlich berichtet uns die Geschichte der Medizin von großen geistigen Epidemien [FN02], vorzugsweise religiösen Gepräges, die weite Kreise ergriffen und zu widersinnigem Denken und Treiben geführt haben. Ganz ähnliche Vorgänge werden unter verschiedenen Bezeichnungen noch heute bei gewissen leicht erregbaren Völkerstämmen und religiösen Sekten beobachtet. Die letzten derartigen Epidemien in der Gegend von Kiew hat Sikorski [FN03] eingehend beschrieben. In einem Falle handelte es sich um einen Mann mit religiösem Größenwahn, dem sich zunächst einige unzweifelhaft kranke Personen, weiter aber eine große Schar einfach unwissender und leichtgläubiger Bauern hinzugesellten. Sie alle glaubten an die göttliche Sendung des Sektenstifters, an die von ihm getanen Wunder, den von ihm ausgehenden himmlichen Geruch. In einer zweiten Epidemie, bei der eine Bäuerin die Hauptrolle spielte, kam es dazu, daß sich in vier Gruppen 25 Personen lebendig begraben ließen, weil sie den Weltuntergang für bevorstehend hielten. Auch der abenteuerliche Zug der Duchoborzen in Kanada [FN04] gehört zu diesen Erscheinungen. Birnbaum hat eine große Fülle von hierher gehörenden Vorkommnissen zusammengetragen. In der jüngsten Zeit hat sich in Deutschland eine ziemlich weitgehende religiöse Bewegung an den von Reiß [FN05] eingehend beschriebenen hypomanischen Wanderapostel Häußer und einen seiner Schüler angeschlossen, die weniger abenteuerlich ist als die Geschehnisse in früherer Zeit, wohl weil sie weniger aufwühlbare Menschen betrifft, aber doch in das gleiche Gebiet gehören dürfte. Bei den großen geistigen Volksseuchen handelt es sich natürlich nur in beschränktem Umfange um wirkliches Irresein; die Mehrzahl der Teilnehmer befindet sich in Zuständen stärkster gemütlicher Erregung, von denen wir wissen, daß sie die Besonnenheit trüben und die Selbstbeherrschung aufheben. [>190 ]
Es gibt aber andererseits auch gar nicht selten Fälle, in denen mehrere miteinander in Berührung lebende Personen gleichzeitig oder kurz nacheinander unter ihrem gegenseitigen Einflusse psychisch erkranken (induziertes Irresein [FN06]), folie à deux); so hatte ich Gelegenheit, im Zeitraum von acht Tagen drei mit religiöser Aufregung und Sinnestäuschungen erkrankte Geschwister in die Anstalt aufzunehmen. Die Geistesstörung kann dabei entweder einfach durch die gemütliche Erregung, die sie bei der Umgebung erzeugt, als Gelegenheitsursache krankmachend wirken; es handelt sich dann meist um Anfälle des hysterischen, gelegentlich wohl auch des manisch-depressiven Irreseins. Die klinischen Erscheinungen können hier einander gleichen oder nicht. Weiterhin aber scheinen einzelne Störungen, unter Umständen auch ganze Krankheitsbilder, durch eine Art von Suggestion dauernd oder vorübergehend von einer Person auf die andere übertragen werden zu können ("folie imposée"). Nur in diesem letzteren Falle hat man das Recht, von einer psychischen Ansteckung zu reden. In erster Linie kommt dabei die Übertragung hysterischer Störungen in Betracht. Sodann aber macht man, namentlich bei religiös Verrückten und bei Querulanten, aber auch bei anderen paranoiden Kranken, ferner bei konstitutionell Erregten und pathologischen Schwindlern, nicht selten die Beobachtung, daß sie die eine oder andere Person ihrer nächsten Umgebung gänzlich in ihre Wahnideen hineinziehen und von der Berechtigung ihrer Ansprüche und ihres Auftretens vollständig überzeugen. Offenbar haben wir es hier nicht eigentlich mit einer geistigen Erkrankung zu tun, die derjenigen des Ersterkrankten an die Seite zu setzen wäre; dem entspricht die Erfahrung, daß meist auch keine selbständige weitere Verarbeitung der Wahnideen stattzufinden pflegt. Die Beeinflußten sind vielmehr regelmäßig krankhaft veranlagte, beschränkte Personen mit sehr geringer psychischer Widerstandsfähigkeit, vorzugsweise Frauen. Sie nehmen einfach urteilslos auf, was eine stärkere Persönlichkeit ihnen aufdrängt, und sie finden sich wieder in ihr altes Geleise zurück sobald sie deren übermächtigem Einflusse entzogen werden. Es kommt auf diese Weise [>191] noch heute nicht selten zur Bildung kleiner Sekten und Gemeinden, die an die höhere Sendung eines von Wahnvorstellungen erfüllten Oberhauptes glauben und für ihn Opfer bringen. Grohmann hat eine solche Gemeinde beschrieben, und ich selbst hatte Gelegenheit, einen Schuhmacher zu sehen, der sich für den "himmlischen Hochzeitsmahlgeber" [FN07] aus dem biblischen Gleichnisse hielt, durch Sendboten zweimal seine Einladungen in einer Anzahl von bayrischen Städten ergehen ließ und eine Reihe von Anhängern besaß. Einer derselben, ein noch heute im Dienste stehender Briefträger, versicherte mir, daß der in der Tat sehr schreib- und redegewandte Kranke viel gescheiter sei, als alle Theologen; ihm war für das künftige Leben der Adelsstand des Reiches Gottes nebst Standarte und Petschaft, der Ritterschlag mit dem Schwerte des Lichtes, der Orden beider himmlischen Bräute, ein Ordensgehalt von 43 000 Gulden Reichsgotteswährung, ein Fideikommiß und der Name Anakletus, Ritter zur Burg Morgenthau, versprochen worden. Auch in der Irrenanstalt werden oft genug unselbständigere Kranke durch die Äußerungen ihrer Genossen beeinflußt.
Ganz selten endlich sieht man wohl einmal eine wahre Geistesstörung mit den gleichen, von außen aufgenommenen Wahnbildungen, aber in durchaus selbständiger Entwicklung zustande kommen (folie communiquée). Diese Fälle sind es, wie Schönfeldt zutreffend ausgeführt hat, welche im engsten Sinne als Irresein durch psychische Ansteckung zu bezeichnen wären. Doch wird man, wo es sich um Blutsverwandte handelt, zunächst an eine gleichartige Erkrankung aus inneren Gründen denken. Der Ausbruch manisch-depressiver, hebephrenischer, katatonischer oder paranoider Störungen bei mehreren Mitgliedern einer Familie, auch ohne persönliche Berührung, ist so häufig, daß wir aus der Gleichzeitigkeit keineswegs berechtigt sind, auf ursächliche Beziehungen zu schließen. Wenn wir auf der einen Seite auch die erschütternde Wirkung nicht verkennen wollen, die das Auftreten einer geistigen Störung auf das gemütliche Gleichgewicht der nächsten Umgebung ausübt, so werden wir doch annehmen dürfen, daß nur solche Personen selbständig erkranken, die den Keim des Leidens schon in sich tragen. Über die Auslösung einer im Keim vorhandenen Psychose und deren Bildgestaltung hinaus dürfte also die Wirkung der [>192] ersten Erkrankung nicht reichen, auch dort nicht, wo es sich bei den Betroffenen nicht um Blutsverwandte handelt.
Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Vorgange der psychischen Ansteckung zeigen die in der neueren Zeit mehr beachteten Erfahrungen von geistigen Störungen im Anschlusse an hypnotische und spiritistische [FN08] Sitzungen. Die Aufregungen, die damit verbunden sind, die abergläubischen Deutungen, die sich an die geheimnisvollen Vorgänge knüpfen, die massensuggestiven Einflüsse des Kreises von Gläubigen, bilden für empfängliche und haltlose Naturen eine entschiedene Gefahr. Natürlich ist von ursächlichen Beziehungen nicht die Rede in den zahlreichen Fällen, in denen bei Geisteskranken einfach die Wahnvorstellung hypnotischer oder spiritistischer Beeinflussung auftaucht; der Inhalt des Wahnes spiegelt hier nur die landläufigen Erklärungsversuche von Fernwirkungen wider. Dagegen kann namentlich die Entwicklung von autohypnotischen Zuständen sehr ernste Folgen nach sich ziehen, wie ich in einem zum Selbstmorde führenden Falle erlebt habe. Im allgemeinen handelt es sich um hysterische Aufregungs- und Dämmerzustände, um das Ausspinnen abergläubischer Vorstellungskreise, weiterhin aber auch um die Züchtung gemütlicher Erregbarkeit und willenloser Abhängigkeit vom Hypnotiseur oder Medium. Ohne Zweifel spielt auch hier die Veranlagung eine wesentliche Rolle, zumal von vornherein nur solche Menschen sich mit großem Eifer spiritistischen oder hypnotischen Sitzungen hinzugeben pflegen, die dafür besonders empfänglich sind. Nachdem seit dem Kriege die Beschäftigung mit dem Spiritismus erheblich zugenommen hat, sehen wir geistige Störungen, die im Zusammenhang mit langdauernder tätiger Teilnahme an diesen Fragen auftreten, immer häufiger. Kehrer hat solche Erkrankungen vor allem im Anschluß an das Psychographieren gesehen, die durch szenenhafte, halluzinatorische, aus dem Geisterschreiben gewissermaßen herauswachsende Erlebnisse gekennzeichnet waren, aber nur bei Frauen auftraten, die anlagegemäß eine ausgesprochene Neigung zu pseudohalluzinatorischen Vorgängen aufwiesen.
kontrolliert:irs 10.05.02