Der Fanatiker - Eine Persönlichkeitsanalyse
von Dr. Otto Brosius, Berlin (1941)
Vorbemerkung: Wir danken dem Bernard & Graefe Verlag GmbH & Co
KG, Bonn, vormals Berlin, für die freundliche Erlaubnis vom 16.8.2000,
die differentielle Persönlichkeitsanalyse "Der Fanatiker" von Dr.
Otto Brosius, Berlin, hier abdrucken zu dürfen. In: Inspektion
des Personalprüfwesens des Heeres (1941, Hg.). Menschenformen. Volkstümliche
Typen. Teil III. Band 1 Die Lehre von der praktischen Menschenkenntnis
(Praktische Charakterologie). Berlin: Bernard & Graefe, Seiten 79-87.
[Originalseitenzahlen in eckigen Klammern].
Anmerkung:
Die differentielle Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik der deutschen
Wehrmachtspsychologen stand auf hohem Niveau. Es fällt auf, daß
bei aller verstehenden und typologischen Brillianz der Beschreibung, einerseits
die Erklärung und andererseits die Möglichkeiten der Veränderung
nicht erörtert werden.
„Der Fanatiker.
Von Dr. Brosius, Berlin.
"Fanatisch" und "Fanatismus" sind Lieblingsworte unserer Zeit. Nach dem heute geltenden Sprachgebrauch scheint "Fanatismus" lediglich eine Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu bedeuten die mannigfachen, ja schlechterdings jeden Inhalt in sich aufzunehmen vermag. In dieser weiten und umfassenden Bedeutung des Wortes spiegelt sich ein wesentliches Stück der neueren abendländischen Geistesgeschichte: mit der Differenzierung der einzelnen Gebiete des Geistes und ihrer Lösung aus dem religiös-kirchlichen Totalzusammenhang der mittelalterlichen Welt gewinnen sie die Möglichkeit und die Kraft, sich nicht nur autonom, sondern absolut zu setzen; aus allen, Staat, Wissenschaft, Kunst, leuchtet die gleiche unmittelbare Immanenz des Heiligen und Göttlichen, und jedes darf die letzte und unbedingte Hingabe des einzelnen fordern und erwarten, als ob es selbst schon das Absolute und der Gott wäre.
"Fanum" bedeutet den der Gottheit geweihten Ort, das Heiligtum, den Tempel(1), und vermutlich sind die Worte Fanatiker und Fanatismus im Zusammenhang der religiösen Kämpfe zu Beginn der sogenannten Neuzeit in die lebenden Sprachen der großen europäischen Völker eingedrungen. Nach Tiecks "Aufruhr in den Cevennen" (1826), einer Novelle, die den Kampf der hugenottischen Camisarden zu Beginn des 18. Jahrhunderts schildert, sind die Worte von den Ärzten des Collegium medicum in Montpellier angewandt worden, als sie die in Zeiten überregter religiöser Stimmung immer wieder auftretende Erscheinung der verzückten Prophetie in ihre herkömmlichen religiösen und medizinischen Schemata nicht einzuordnen wußten: "Es sei ihnen (den Ärzten) etwas ganz Unerhörtes und Neues, was man wohl auch neu benamen und daher wohl am besten Fanatismus und diese Leute Fanatiker nennen müßte." Wahrscheinlich sind die Worte in England schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts aufgekommen, in den Kämpfen Cromwells und seiner Independenten, und hier in engster Verquickung religiöser und politischer Zusammenhänge. In der maßvollen und milden Popularphilosophie der Aufklärung erfreuen sich Erörterungen über die "Schwärmerei" und deren Widerspiel, den "Skeptizismus", allgemeiner Beliebtheit; diese Betrachtungen sind kritisch- [79 Ende] polemischer Natur und bemühen sich, jene gefährlichen und verderblichen Fluten von den stillen und friedlichen Bürgergärten abzulenken. So schreibt Wieland (1775): ,,Ich nenne Schwärmerei eine Erhitzung der Seele von Gegenständen, die entweder gar nicht in der Natur sind oder wenigstens das nicht sind, wofür die berauschte Seele sie ansieht . . . Dem Worte Schwärmerei, in dieser Bedeutung genommen, entspricht das Wort Fanatismus ziemlich genau; wiewohl dies letztere, durch den Gebrauch, einer besondern Gattung von Schwärmerei, nämlich der religiösen, zugeeignet worden ist(2)." Wenige Jahre danach wird Europa von den Stürmen der französischen Revolution erschüttert, die die ursprünglich aus religiösen Wurzeln stammenden "Menschenrechte" rein politisch versteht und doch mit einem Fanatismus durchzusetzen sucht, der bisher nur der religiösen Sphäre vorbehalten schien. Wir können und brauchen hier die einzelnen Schritte der immer umfassenderen Wortübertragung durch das 19. Jahrhundert hindurch nicht weiter zu verfolgen und stellen nur noch einmal fest, daß wir nach dem heute geltenden Sprachgebrauch geneigt sind, jeder Leidenschaft, die, mit isolierter Alleinherrschaft im Individuum auftretend, alle seine Kräfte wie in eine stoßkräftige Spitze zusammendrängt und gleichsam verzehrt, das Beiwort "fanatisch" zuzuschreiben. Wir sprechen von dem Fanatismus des religiösen oder politischen Führers, der erfüllt, ja geradezu besessen von einer mit der Forderung der Unbedingtheit auftretenden Idee, diese rigoros einer Zeit und einer Menschengruppe aufzuzwingen sucht - und von seiner Gefolgschaft, die ihm in blind fanatischem Glauben folgt. Von dem Künstler, der, ohne Rücksicht auf seine Umwelt, schonungslos gegen sich selbst, ganz seinem Werk lebt, sagen wir, er schaffe mit wahrem Fanatismus. Wir kennen aber auch den Fanatiker gleichsam des Alltags, der etwa mit dem Vegetarismus die ganze Welt von allen Übeln erlösen will und doch nicht über die Tyrannisierung seiner nächsten Umgebung hinauskommt. Wir sprechen schließlich - hier vielleicht schon mit einem leisen Gefühl der Inadäquatheit - von einer fanatischen Jagd oder Spielleidenschaft.
Aus diesem vorläufigen und flüchtigen Überblick ergeben sich für unsere weitere Betrachtung zwei Folgerungen:
1. Wir gelangen bei einer vollständigen Erörterung der in Rede stehenden Phänomene auch bis zu extrem gesteigerten seelischen Zuständen und Haltungen, die zum Teil jenseits der Grenzen des mit den Mitteln der normalen Psychologie Verstehbaren liegen. Man denke etwa an die Ekstasen hysterischer und epileptischer Art, wie sie als Begleitzüge besonders des religiösen Fanatismus in der Bewegung der Einzel- oder Massenseele auf- [80 Ende] treten können. Die Betrachtung solcher Erscheinungen bleibt aus dem Zusammenhang unserer Untersuchung ausgeschlossen. Auch der Frage nach den unbewußten Motiven des Fanatikers können wir hier nicht in voller Systematik und Ausführlichkeit nachgehen, obwohl von einer solchen tiefenpsychologischen Betrachtung der Gegenstand hier und da ein neues und helleres Licht erhalten könnte. Unter den Fanatikern finden wir auch große weltgeschichtliche Persönlichkeiten. Die ihnen gegenüber angemessene Haltung ist weniger psychologische Sezierkunst als Ehrfurcht, mag sie auch mit einem Grauen untermischt sein. Es gibt auch im irdischen Zusammenhang Unerforschliches, das um seiner Größe willen unerforschlich ist; hier "ruhig zu verehren", gehört zum Ethos des Forschers. Wir halten es mit Hegel: Was ist damit getan, wenn der Nachweis gelingt, daß auch die großen historischen Menschen, oft heroische Gestalten von extremer Einseitigkeit, an dieser oder jener Stelle nicht frei von "Ressentiment" gewesen sind? Wenn der psychologische Kammerdiener dem Helden etwas am Zeuge zu flicken sucht, so sagt das nur einiges gegen den Kammerdiener, aber nichts über den Helden.
2. Fanatische Haltung kann vorübergehender seelischer Zustand sein oder auch nur in einem Teilbezirk der Seele auftreten, während andere Schichten unberührt bleiben. Dann ist der Träger dieser Haltung noch kein Fanatiker im eigentlichen Sinn. Wer ein wertbestimmtes Ziel mit unbedingtem Einsatz zu erreichen strebt und darüber vorübergehend sich und die Welt und die Fülle der Werte vergißt, braucht darum noch kein Fanatiker zu sein. Auch Bismarck, den großen, leidenschaftlichen, auf das politische Ziel ausgerichteten Menschen, werden wir kaum einen Fanatiker nennen; schon deshalb nicht, weil wir an ihm -- mit Seeckt -- auch "den schillernden Geist und die feinfühlige Hand" sehen, "die im Kampf den ewig ausweichenden, abweisenden, abwartenden und dann stahlhart treffenden Degen, nicht den geistlos zermalmenden Hammer führte". Vom Fanatiker im strengen Sinne sprechen wir erst da, wo der Fanatismus die bestimmende und prägende Kraft, das konstituierende Prinzip einer Persönlichkeit geworden ist. -- Auf der anderen Seite: wenn Fanatismus, wie wir gezeigt haben, nur eine formale seelische Haltung und Verhaltensweise ist, so ist von einem Menschen noch relativ wenig gesagt, wenn ich ihn einen Fanatiker nenne; ich müßte denn zuvor zeigen, in welches inhaltlichen Wertes Dienst er seinen Fanatismus entfaltet, was ihm sein eigentliches Fanum ist. Man kann hier geradezu fragen, ob die seelische Haltung des Fanatismus als solche zur Bildung eines gesonderten menschlichen Typus ausreicht und berechtigt - eine Frage, die vermutlich die Problematik der Typologie überhaupt betrifft, als welche immer aus der Lebensrolle rational-konstruktiv bestimmte Leitbilder heraussieht, die als solche und in [81 Ende] ihrer Isolierung nicht eigentlich "wirklich" sind. Jedenfalls würden wir bei einer Wesensbestimmung des Fanatikers als eines Lebenstypus nicht über ein dürftiges und kahles definitorisches Schema hinauskommen, wenn wir ängstlich darauf bedacht wären, nur solche Bestimmungsstücke in unsere Schilderung aufzunehmen, die rein logisch aus dem formalen Hauptwesenszug folgen. Der lebendige, von der Individualität beunruhigte Menschenforscher sucht deshalb in seiner Theorie nach der Fülle und Mannigfaltigkeit der Spielarten (die hier noch nicht in systematischer Vollständigkeit gegeben werden können), und er findet sie in unserem Falle nur dadurch, daß er auf Unterschiede der inhaltlichen Bestimmtheit oder auch des Formats achtet. Hier hilft nur die Anschauung des konkreten Lebens, zu dem auch und in hervorragendem Maße die Geschichte gehört, und eine bildhafte, konstruktiv geleitete Phantasie. Deshalb scheuen wir uns auch nicht, uns auf den Dichter zu berufen und uns von ihm raten zu lassen, weil er mehr als jede wissenschaftliche Psychologie des Ineinanderschauens von Individualität und Gesetzlichkeit mächtig ist(3).
Bestimmend für das Verständnis eines Menschen ist sein Verhältnis zur Welt und zu sich selbst: Weltbild und Ichbewußtsein.
1. Charakteristisch für den Fanatiker ist eine eigentümliche Enge des Wertblicks. Mit extremer Einseitigkeit ist sein Denken und Handeln auf die eine Idee gerichtet, die ihm eben sein Fanum bedeutet. Er ist der Mensch des rigorosen Entweder-Oder, des Alles oder Nichts. Er kennt keine Kompromisse und in der Sphäre dessen, was er als das Wertwidrige ansehen muß, keine Abstufungen. In eigentümlicher Blindheit geht er an der Fülle der Werte vorbei. Um einer abstrakten Idee willen wird die Wirklichkeit im Denken vergewaltigt, im Handeln zerstört. "Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält", so definiert Hegel den Fanatismus(4). Der Idealismus des Fanatikers läßt keine Erweiterung, keine Erfassung von etwas Neuem, keine Angleichung an eine lebendige Situation zu, er fährt sich fest in einer "fixen Idee", die er ernst, düster, humorlos vertritt. Ein großartig geradliniger Dualismus bestimmt sein Weltbild: hier Gott, das Gute, dort der Teufel, das Böse, und der leidenschaftliche, bis zur Entflammung gesteigerten Bejahung des einen entspricht die ebenso leidenschaftliche, bis zum Haß gehende Verneinung und Verwerfung des anderen, das mit Stumpf und Stiel, mit Feuer und Schwert ausgerottet werden muß. Denn mag sich der Fanatiker an manchen Stellen noch so eng mit dem grundsätz- [82 Ende] lichen Menschen berühren(5): während dieser sich unter Umständen damit begnügt, das Leben nach Grundsätzen zu betrachten oder es zu führen, um allgemeine Regeln daraus zu gewinnen, drängt jener leidenschaftlich nach Tat und Verwirklichung. Selbst wenn ihn das Schicksal ein Leben lang zur Untätigkeit verurteilte, nie wird er in der Theorie, in der bloßen Schau seine Bestimmung und Erfüllung finden, und wenn ihn die historische Stunde ruft, so wird die Unbedingtheit seines Tatwillens eruptiv aus ihm herausbrechen und ihn zum fraglosen Lebenseinsatz führen, mag auch seine kleine Persönlichkeit im Rausch einer Massenbewegung verschwinden.
Darin liegt zugleich seine Stärke und Schwäche, daß er in dem Einen unbedingten Halt findet, daß er aber innerlich zerbrechen würde, wenn er einmal die Fülle der Werte zu Gesicht bekäme. So wenig wie er Kompromisse kennt, so wenig kennt er eigentlich eine innere Wandlung und Entwicklung, es sei denn, daß eine Bekehrung im Stile des Damaskus-Erlebnisses ihn von einem Extrem zum anderen führt; fremd aber bleibt er jener Sphäre, in der sich die Vermittlung und Versöhnung der Gegensätze vollzieht; eher endet er im Nihilismus. In den Bewegungen fanatisch getriebener Massen steht das "Hosianna" dicht neben dem "Kreuzige". Bei Tieck, dessen Held im "Aufruhr in den Cevennen" mit einem Schlage vom katholischen zum hugenottischen Fanatiker bekehrt wird, heißt es: "Jede Schwärmerei ist ja doch nur die Zwillingsgeburt der scheinbar unähnlichsten und feindseligsten." Das Stehen zwischen den extremen Gegensätzen ist auch an anderen Stellen bezeichnend für den Fanatiker. Er gehört zu den schizothymen Konstitutionstypen(6): Glut und Kälte des Gefühls, Mystik und Rationalismus, Sünden- und Sendungsbewußtsein, «la liberté et la terreur», liegen oft in einer und derselben Seele dicht beieinander. Der Fanatiker ist exaltiert und zugleich vernagelt. Es gibt einen religiösen Fanatismus, der geradezu gottlos anmutet. Man kämpft für Gewissensfreiheit und knechtet zugleich das Gewissen der Andersdenkenden, und oft sind die weltbeglückenden Träume und Utopien der Fanatiker in dem Strom von Blut erstickt, das sie selbst vergossen haben.
Mit den letzten Ausführungen haben wir schon einige Züge für das innere Verhältnis und das praktische Verhalten des Fanatikers zur menschlichen Umwelt gewonnen. Er betrachtet und behandelt auch seinen Mitmenschen lediglich unter dem Gesichtspunkt seines Fanum. Er sieht ihn nicht als Individualität, geschweige denn als Person, sondern lediglich als Vertreter des guten oder bösen Prinzips. Alles, was sonst noch an Wert- [83 Ende] vollem oder Wertwidrigem im Genossen oder Feind seiner Gesinnung liegen mag, beachtet er nicht. So bleibt auch sein Kontakt abstrakt und eigentlich unlebendig. Und wo er sich einem Menschen als Führer und Autorität anschließt und unterwirft, besser noch: sich auf ihn festlegt, bleibt dieser Mensch als Persönlichkeit schlechthin gleichgültig. Er kennt nicht eigentlich Ehrfurcht vor der Person, und allen, die nicht der fixen Idee gehorchen, begegnet er mit Hochmut und Haß. An Stelle von Duldung und Anerkennung des anderen, die dem in sich ruhenden Menschen bei aller Strenge in der Sache durchaus möglich sind, tritt bei ihm eine prinzipielle, rigorose Intoleranz. Die Sekte, in der unter religiösem Eiferertum häufig der Egoismus verdeckt liegt, ist die Form seiner soziologischen Verbundenheit.
2. Enge und Spannung zwischen extremen Gegensätzen sind auch für das Ichbewußtsein des Fanatikers charakteristisch. Alles in ihm, was zur Fülle und Weite locken könnte, alle eigentlich lockernden Züge seines Inneren werden in einem bewußten und gewollten oder auch unbewußten und ungewollten Prozeß vergewaltigt, verdrängt, vernichtet. Nichts von dem nach freier, harmonischer Selbstentfaltung strebenden Menschen, alle Kräfte werden zusammengedrängt in eine affektgeladene Spitze der Subjektivität. Askese ist die einzig mögliche Form der Selbstgestaltung des Fanatikers. Er ist nichts für sich, sondern alles nur als Träger seiner fixen Idee, von der er geradezu besessen erscheint bis zur Ekstase und die alle individuellen Züge in sich aufzehrt. Daher sein eigentümliches Getriebensein, seine innere Unfreiheit, daher aber auch das dämonische Sendungsbewußtsein und das daraus resultierende Machtstreben des Fanatikers von weltgeschichtlichem Format, in dem die Grenzen von Freiheit und Notwendigkeit aufgehoben zu sein scheinen. Selbst bei dem rationalistisch bestimmten Fanatiker öffnet sich hier ein seltsamer Untergrund elementarer und dämonischer Kräfte, die neben der Geradlinigkeit seines Weltbildes und der Einseitigkeit seiner Idee seine die Massen bewegende Macht erklären mögen. Gerade weil hier die Individualität verschlungen wird in dem Schwung der Massenseele, vermag eine solche Bewegung umgestaltend auf die Welt zu wirken. Die eigentümliche Dialektik des fanatischen Selbstgefühls möge man sich daran verdeutlichen, wie der auf dem Sündenbewußtsein beruhende Prädestinationsglaube in die stärkste politische Aktivität und Energie umschlägt.
Mit diesem historischen Beispiel kommen wir zu der Frage nach den Inhalten des Fanatismus. Es liegt im Wesen der Sache und wird durch einen Blick auf die Geschichte bestätigt, daß die Religion selber in hervorragendem Maße dazu berufen ist, den unbedingten Einsatz für sie bis zum Fanatismus zu steigern. Das religiöse Bewußtsein des Fanatikers erfaßt die Gottheit nicht im stillen, sanften Sausen, sondern im Erdbeben und im Feuer. Steht er im christlichen Zusammenhang, so vernimmt er nicht die Stimme [84 Ende] des Deus caritatis; lieber versenkt er sich in die eschatologischen Visionen der Apokalypse. Keine der großen Weltreligionen scheint frei von fanatischen Zügen und Bewegungen zu sein. Hegel(7) sieht im Mohammedanismus den eigentlichen Fanatismus, aber auch die Geschichte des Christentums weiß in hervorragendem Maße von ihm. Savanarola ist hier vielleicht die eindrucksvollste Gestalt. Wiedertäufer und Bilderstürmer geben Beispiele für religiös fanatische Massenbewegungen. Neben Philipp II. und der Inquisition steht der Gegenspieler der katholischen Restauration, Calvin, der mit blutigem Schwert sein Sittengericht durchsetzte. Im Puritanertum finden wir alle Züge des Fanatismus wieder, von der Enge des Wertblicks bis zur weltgestaltenden Aktivität. Oliver Cromwell ist einer der größten Fanatiker der Weltgeschichte, mag auch sein Bild durch tragische Züge gemildert und erhöht sein.
Die Verquickung religiöser und politischer Motive im Puritanertum ist bekannt. Die reine Ausprägung des politischen Fanatismus finden wir in den Führern und Massen der französischen Revolution, die zugleich ein Beispiel dafür ist, wie gerade die ratio, abstrakt genommen, in ihr Gegenteil umzuschlagen vermag. Max Weber hat einmal die Menschenrechte "extrem rationalistische Fanatismen" genannt(8). Robespierre ist "ein tugendhafter Mörder, ein Unmensch aus Humanität. Ein Fanatiker kalter und dennoch toll gewordener Reflexion"(9)Kleist hat im "Michael Kohlhaas" den Fanatiker des Rechts geschildert.
Stellen also Religion und Politik einen besonders günstigen Nährboden für den Fanatiker dar, so fragen wir, ob es auch inhaltliche Wertgebiete gibt, die sein Aufkommen nicht nur nicht begünstigen, sondern die fanatische Haltung als inadäquat geradezu ausschließen. Mit dieser Frage kommen wir zu einer Korrektur unseres ersten Ansatzes, nach dem Fanatismus eine für alle Lebensinhalte in gleicher Weise mögliche Form des Erlebens und Handelns war, zu einer Korrektur allerdings auch des Sprachgebrauchs, der ja nicht nur unserem Denken hilft, sondern oft auch unserer Gedankenlosigkeit Vorschub leistet. Kann man im strengen Sinn und mit innerem Recht noch von einem Fanatismus der Schönheit oder von einem Fanatiker der Nächstenliebe sprechen? Diese Inhalte scheinen jene Form auszuschließen, und wo sie scheinbar dennoch vereint in einer lebendigen Seele auftreten, dürfte eine Selbsttäuschung vorliegen: der echte Fanatiker sucht etwas anderes als Schönheit oder Liebe, selbst wenn er diese Ideen auf seine Fahne schreiben sollte. Der musikalische Mensch Platos, der Erotiker im Sinne [85 Ende]
Goethes sind ebensowenig eines wahren Fanatismus fähig wie die soziale Natur eines Franziskus oder Pestalozzi. Kleists "Großer Kurfürst" ist trotz der von der preußischen Idee bestimmten Starrheit seiner äußeren Haltung kein Fanatiker, weil er auch den "lieblichen Gefühlen" in seiner Seele Raum gibt. Und die Helden von Langemarck sind Enthusiasten, aber keine Fanatiker(10).
Wir erwähnten zu Anfang schon den Fanatiker von kleinem Format, den wir den Fanatiker des Alltags nannten. Eine doppelte Inadäquatheit scheint für ihn charakteristisch: Entweder die Unangemessenheit seiner fixen Idee zu der Totalität des Lebens und der Welt der Werte - so wenn er der Menschheit ganzes Weh und Ach mit der Rohkost kurieren will -, oder das Mißverhältnis von Größe der Idee und Unzulänglichkeit der eigenen Person und ihrer Mittel: das sind dann diejenigen, die die Idee ins Menschlich-Allzumenschliche hinabziehen. Bei dem ersten Typus werden wir häufig Lebensneid und Lebensuntüchtigkeit als unbewußte Motivationsformen finden: man negiert die Fülle der Werte, weil man der Weite und des Aufschwungs zu ihnen nicht fähig ist; man sucht einen Halt im Gehäuse eines ganz eng begrenzten Fanums, einer fixen Idee, weil der Blick ins Unendliche zur inneren Haltlosigkeit fahren würde.
Verdeutlichen wir uns abschließend kurz noch einmal die Lebensform des Fanatikers an zwei konkreten Beispielen, die wir der dichterischen Gestaltung verdanken. Es gibt in der deutschen Literatur eine große und m. E. in ihrer Größe noch nicht genug gewürdigte Darstellung des großen historisch, d. h. politisch handelnden Menschen. Ich meine C. F. Meyers "Jürg Jenatsch". Ausgestattet mit einer urkräftigen Vitalität, einem leidenschaftlich lodernden Temperament und einer unwiderstehlichen Willenskraft, erfüllt von der Idee der Rettung und Befreiung seines Vaterlandes, geht er seinen Weg. Und mag er in der Wahl und im Einsatz seiner Mittel noch so klug und kalt rechnen, immer mehr erscheint er als ein dämonisch Getriebener und Besessener, als ein Werkzeug überindividueller Mächte. Schon als er sein Weib, die schöne Lucia, ins Grab legt, nimmt er Abschied nicht nur von seiner Jugend, sondern auch von der Schönheit und damit von der Wertfülle des Lebens. Mit dem Verrat an dem "guten" Herzog und mit dem Glaubenswechsel vernichtet er um seines Zieles willen die Wurzeln seiner Existenz; damit hat "eine übermenschliche Kraftanstrengung ihn aus dem Geleise und über die letzten seiner Natur gesetzten Marksteine hinausgeworfen". Ihm als Person bleibt nichts als die Maßlosigkeit der Hybris, an der er in düsterem Triumph zugrunde geht, vernichtet und vom [86 Ende] Schicksal verworfen, nachdem er sein Ziel erreicht hat. Wir denken von hier aus an jene deutsche Geschichtsphilosophie, nach der die großen weltgeschichtlichen Individuen mit ihren weltgestaltenden Leidenschaften nur Werkzeuge in der Hand des Weltgeistes sind, der sie wegwirft wie leere Hülsen, nachdem sie seine Zwecke erfüllt haben.
Stehe auch hier das Satyrspiel hinter der Tragödie: Den Fanatiker des Alltags hat mit weltweitem, ergötzlichem Humor Emil Strauß in seinem "Riesenspielzeug" in den Brüdern Siedentop geschildert, die mit apostelhaften Allüren die "Botschaft vom Reinen Leben", d. h. den Vegetarismus strengster und engster Observanz, verkünden. Sie sind rationalistisch, platt und vernagelt, dabei in ihrem Auftreten gespreizt bis zum Grotesken. Ihrer "reinen Obst- und Körnerdiät" folgend, lehnen sie Omelette, Salat und Milch ab und werden in ihrer öden Prinzipienreiterei der sinnlichen Fülle des Lebens ebensowenig gerecht, wie sie der geistigen Welt fernbleiben wenn sie dem Dichter "Schorsch" (d. i. Stefan George!) ein Lob erteilen, weil er mit dem lateinischen Druck, den kleinen Anfangsbuchstaben und den fehlenden Satzzeichen ihnen nachgemacht habe. Was bleibt übrig, als man ihnen die Maske ihres steifen Aposteltums abzieht? Faulheit, Lebensuntüchtigkeit und tierische Lüsternheit. -
Der deutsche
Mensch der Gegenwart, der im Zug und Schwung eines großen historischen
Geschehens drinsteht, ist weit davon entfernt den Fanatismus und den fanatischen
Menschen in der vorsichtig ängstlichen Art der Aufklärung zu
bewerten. Auch da, wo er in kontemplativer Haltung die Enge, das Negierende
und Zerstörende der fanatischen Haltung feststellen muß, bleibt
auf der anderen Seite die Unbedingtheit und Unerbittlichkeit des fanatischen
Wahrheits- und Tatwillens als eine ewige Komponente weltgeschichtlicher
Entwicklung bestehen. Die "Wahrheit" des Fanatikers liegt in Hegels
Wort,
daß "nichts Großes in der Welt ohne Leidenschaft vollbracht
wird"."[87 Ende]
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