Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=06.06.2005  Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TMJ
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_

    Anfang_Geschichte des Atheismus I_Überblick_Rel. Aktuelles_Rel. Beständiges_ Titelblatt_Konzept_ Archiv_Region_ Service_iec-verlag_Zitierung  &  Copyright_ Anmeldung _

    Willkommen in der Abteilung Metaphysik - von den letzten und großen Dingen jenseits der Wissenschaft, hinter der wahrnehmbaren Welt, Logik und Erfahrung - hier speziell zum Thema:

    Geschichte des Atheismus
    von den Anfängen bis zur Gegenwart.
    Von Georges Minois (2000). Weimar: Böhlaus Nachfolger.

    von Rudolf Sponsel, Erlangen
    Erste Präsentation von mehreren Teilen

    Zur Präsentation und Bewertung. Georges Minois hat mit seinem 740 Seiten-Buch ein umfassendes Werk zur Geschichte des Atheismus vorgelegt, das auch eine umfassende Präsentation erfordert, die mit dieser ersten Ausgabe, dem Inhaltsverzeichnis und Aus der Einführung beginnt und dann in mehreren Teilen fortgesetzt wird. Die Kapitelinhalte finden Sie hier: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, Schlußfolgerung, Literatur. Neu präsentierte Teile werden im Inhaltsverzeichnis jeweils verlinkt, so daß diese Seite neben dem Gesamtüberblick auch Verteilerseite zu den einzelnen Teil-Präsentationen ist. Wie man der ersten Präsentation bereits entnehmen kann, handelt es sich hier um ein ausgezeichnetes Werk, das den Atheismus auch konstruktiv als positive Weltanschauung und echte metaphysische Alternative darstellt. Detail- und kenntnisreich erfahren wir verdichtet und im Zusammenhang Erkenntnisse, die man sonst kaum wo findet. Als Beispiel sei nur der Abschnitt "Die klandestinen atheistischen und deistischen Manuskripte" herausgehoben. Hier erfahren wir z.B. (S. 383) daß die Sammlung des Abbé Sephér (1710-1781) 6993 klandestine Titel umfaßte. Ich gehe später noch ausführlicher auf dieses interessante und aufregende Kapitel der 'Untergrundliteratur' der französischen Frühlaufklärer ein.



    Inhaltsverzeichnis.

    EINFÜHRUNG 3.

    ERSTER TEIL
    DER ATHEISMUS IM ALTERTUM UND IM MITTELALTER 11

    1. Kapitel: Am Anfang: Glaube oder Unglaube?  13
    Problem des ursprünglichen Atheismus 13 Die primitive Mentalität: das Mana 16 Weder Glaube noch Unglaube am Anfang: das mythische Bewusstsein 19 Vom gelebten Mythos zum konzeptualisierten Mythos: die Religion und ihre Derivate 22 Vom gelebten Mythos zur Magie: die abergläubische Haltung und ihre Derivate 25 Vom theoretischen Atheismus zum praktischen Atheismus: eine Arbeitshypothese 28 Der Atheismus bei den primitiven und antiken Völkern 30

    2. Kapitel: Der griechisch römische Atheismus  35
    Bis zum 5. Jahrhundert: Anerkennung eines materiali~tischen Pantheismus 35 432 v. Chr.: das Dekret des Diopeithes, Beginn der Prozesse wegen Atheismus und Gottlosigkeit 39 Vom Agnostiker Sokrates zu Diagoras und Theodoros Atheos 41 Platon, Vater der Intoleranz und der Unterdrückung des Atheismus 46 Die Entmystifizierungen: Euhemeros und der stoische Pantheismus 51 Der Epikureismus, ein moralischer Atheismus 54 Der Skeptizismus der griechisch römischen Welt im 2. und 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung 59 Der antike Atheismus und seine Grenzen 62

    3. Kapitel: Ein mittelalterlicher Atheismus? 68
    »Jahrhunderte des Glaubens«? 68 Der arabisch moslemische Beitrag zur Ungläubigkeit 72 Das Problem der doppelten Wahrheit 76 Die Verlockungen der Vernunft 79 Milieus von Ungläubigen 82 Das Bedürfnis nach »Beweisen«beweist den Zweifel 85 WunderundSkeptizismus 89 »Hinter der Biederkeit grinst der Frevel« 92 Die Zeugnisse des Unglaubens 95 Der materialistische Naturalismus der Bauern 99 Schwäche der klerikalen Kontrolle 102 Die Welt der Exkommunizierten, potentieller Atheisten 105

    ZWEITER TEIL
    DER SUBVERSIVE ATHEISMUS DER RENAISSANCE 109

    4. Kapitel: Der Kontext des Unglaubens in der Renaissance 111
    Lucien Febvre und »Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert 111. Padua und Pomponazzi 114. Der Gebrauch des Zweifels in Italien 117 Ein neuer, dem Glauben weniger förderlicher soziokultureller Kontext 120 Die großen Reisen und das Problem der atheistischen Völker 124. Die Bedeutung des Vokabulars 126. Die Unreinheiten des Glaubens. Sinn der Blasphemie 129. Der Teufel und der Atheismus 132. Ein verworrener Kontext 135.

    5. Kapitel: Die Zeugnisse des Atheismus im 16. Jahrhundert 140
    Calvin, Enthüller des Unglaubens 140 Zeugnisse des Atheismus vor 1570 144. Ein europäisches Phänomen 147 Zunahme des Unglaubens nach 1570 150. Ein Atheismus des Protests 153. Vom Mittelmeer bis England: Der Skeptizismus im Volk 156.

    6. Kapitel: Ein kritischerAtheismus (1500 1600) 161
    Das Credo der Ungläubigen 161. Die Atheisten in der Apologetik: Duplessis-Mornay 164. Charrons Huldigung 168. Der Unglaube in Italien von Aretino bis Bruno 169. Dolet und Servet: die Märtyrer des freien Denkens (1546 1553) 174. Der Unglaube als existentielle Revolte 179. Die agnostische Botschaft des »Cymbalum mundi" (1537) 181 Der praktische Atheismus der Randgruppen 184.

    DRITTER TEIL
    VONEINER BEWUSSTSEINSKRISE ZUR ANDEREN (1600-1730) 191

    7. Kapitel: Die erste Krise des europäischen Bewusstseins die skeptischen Libertins (1600 1649)  193
    Das Denken der Freigeister 194 Ein neuer verworrener kultureller Kontext 198. Besorgnis über die Zunahme des Unglaubens: die Zeugnisse 201. Das Denken der Libertins in den Augen von Pater Garasse (1623) 206. Haltung und Herkunft der Libertins nach Garasse 211. Die Kontroversen um die Doctrirle curiense 214. Das Milieu der Libertins 217. Die zweifelhaften Fälle: Gassendi, Patin 222. Der skeptische Pessimismus von Naude und Le Vayer 223. Der epikureische Pessimismus von Vauquelin, Des Barreaux und Viau 226.

    8. Kapitel: Die ungläubige Kehrseite des Großen Jahrhunderts (1640 1690)  231
    Die wachsenden Gefahren und Bossuets Besorgnis 231. Die literarischen Zeugnisse 234. Die Zeit der Scheinheiligen 238. Die Epikur Welle 241. Bedeutung der Libertins der zweiten Generation 244 Die dualistische Mentalität 246. Der Cartesianismus, ein Element des Unglaubens? 247. Spinoza, Hobbes, Huet: der Glaube in der Defensive 252. Die Atome
    und der Unglaube 256. Die Umwege des Unglaubens im 17. Jahrhundert: Vanini 258. Cremonini und der italienische Atheismus 263 Holland und England: ein zur Schau getragener Unglaube 265. Der Agnostizismus des 17. Jahrhunderts: der Theoprastus von 1658  272.

    9. Kapitel: Die zweite Krise des europäischen Bewusstseins: Vernunft und Atheismus (1690-  ca.1730)  274
    Alle Wege führen zum Atheismus 274. Das Zeitalter des Argwohns und des Zweifels 279. Die Reisen erzeugen den Unglauben 283. Vergleichende Geschichte und Bibelkritik: zwei neue Mittler des Unglaubens 288. Bayle und die Verteidigung der Atheisten 294 England, Heimat des freien Denkens 297. Collins, Toland und Shaftesbury 300. Der Kampf gegen den Atheismus 302.

    VIERTER TEIL
    DAS 18. JAHRHUNDERT — EIN JAHRHUNDERT DES UNGLAUBENS  307

    10. Kapitel: Das Manifest des Abbe Meslier (1729)  309
    Der Skandal 309. Gott existiert nicht 312. Das einzige Sein ist die Materie 314. Die Kritik der Offenbarung 318. Jesus, der »Erzfanatiker 320. Eine Irrsinnsgeschichte 322. Leben und Geheimnis des Jean Meslier 325. Die Verbreitung von Mesliers Ideen im 18. Jahrhundert 330. Meslier, von der Revolution bis zur UdSSR 333. Mesliers Nacheiferer 336. Dom Deschamps und seine atheistische Theologie« 339.

    11. Kapitel: Irreliglosität und Gesellschaft 342
    Bilanz der Pastoralvisitationen: Beginn einer Entfremdung 342. Das Unverständnis der moralischen Autoritäten: Massillon 346. Schwäche der Apologetik: Alionso de Liguori 348 Die Bestürzung des Klerus in Frankreich (1750 1775) 351. Von der Bestürzung zur Panik (1775 1782) 353. Paris, Hauptstadt des Unglaubens: das Zeugnis von Mercier 357. Fortschritte des Unglaubens in Mitteleuropa 360. Das Beispiel kommt von oben: Hochadel, hoher Klerus, Großbürgertum 362. Kleinbürger, Handwerker, Schiffer, Matrosen 366. Der Atheismus: ein Produkt des Christentums? Die Trennung zwischen Profanem und Heiligem 370. Verantwortung der dogmatischen Exzesse und des Jansenismus 374. Verbreitung des Unglaubens: Cafes, Clubs, Zeitungen 377. Die klandestinen atheistischen und deistischen Manuskripte 381.

    12. Kapitel: Die Infragestellung der Grundlagen des Christentums und die Unschlüssigkeit des Deismus  389
    Der Deismus oder die Angst vor der Leere 389. Ein unbeweisbarer, aber präsenter Gott: Hume, Kant und die deutsche Philosophie 392. Die Ablehnung der Vernichtung 396. Tod des Atheisten und Tod des Gläubigen 399. Pessimismus von Gläubigen wie Ungläubigen 404 Die Uneinigkeit der Verteidiger des Glaubens 406. Die Seele, die Moral, die Natur: Unschlüssigkeit und politisches Problem 410. Deimus, Atheismus und Antiklerikalismus: Morelly 415. Antirationalismus und Skepsis 418. Voltaire und der »Bürgerkrieg zwischen den Ungläubigen 421.

    13. Kapitel: Die Erhärtung des atheistischen Materialismus  426
    Der Mythos des atheistischen Komplotts 426. Ursprünge und allgemeine Merkmale des Materialismus 428. Skeptischer Atheismus (d'Alembert) und praktischer Atheismus (Helvetius) 431. Vom Maschinen Menschen zum gewöhnlichen Atheisten 434. »Was ist ein Atheist?« (Sylvain Marechal, 1800) 439. Die Abweichungen: nihilistischer Atheismus in Deutschland und sadistischer Atheismus 441. Diderot, der besorgte Atheist, und d'Holbach, der heitere Atheist 444 »Was ist ein Atheist?« (d'Holbach, 1770) 447.

    FÜNFTER TElL
    DAS JAHRHUNDERT DES TODES GOTTES (19. JAHRHUNDERT)  451

    14. Kapitel: Die revolutionäre Entchristianisierung: Durchbruch des Atheismus im Volk  453
    Der Antiklerikalismus 453. Rote Pfarrer und atheistische Pfarrer: Mesliers Nacheiferer 456. Die Missionare des Atheismus 462. Die dörflichen Atheisten 464. Noch immer das Dilemma Atheismus Deismus bei den Führern 467.  Ersatzreligionen? 471. Bilanz der Entchristianisierung 475.

    15. Kapitel: Der Aufstieg des praktischen Atheismus und seine Kämpfe  479
    »Tour de France« der Irreligion 479. Ein Beispiel: die Bretagne 482. Die Besorgnis der religiösen Autoritäten 487. Die sozialen Schwankungen des Unglaubens 489. Die Rolle des Antiklerikalismus 494. Die Faktoren der Ungläubigkeit. Der posttridentinische Glaube 498. Das Freidenkertum, Speerspitze des Unglaubens 501. Das Freidenkertum, eine Gegenkirche? 504. »Krieg gegen Gott« (Paul Lafargue) 506. Die verschiedenen Aspekte des Kampfs 510

    16. Kapitel: Vom Glauben zum Unglauben: die Ersatzcredos  515
    Die Kirche im Bruch mit der modernen Welt 515. Unzulänglichkeiten der Theologie und der Exegese 520. Vom Glauben zum Unglauben durch das Seminar und die Bibel: Renan, Turmel, Loisy, Alfaric 524. Die Religionsgeschichte, Schule des Unglaubens 528 Die Wege des Atheismus, oder wie man im 19. Jahrhundert den Glauben verliert 531 Die Nostalgiker Gottes 534. Die große Konfusion der Credos 537. Die neuen Kirchen

    17. Kapitel: Der systematische Atheismus oder die Ideologien des Todes Gottes   545
    Der Hegelsche Rationalismus und seine idealistische Nachkommenschaft 546. Feuerbach und der anthropologische Atheismus 549. Marx, Lenin und der sozioökonomische Atheismus 553. Der historizistische Atheismus 556. Der verzweifelte psychologische und individualistische Atheismus von Stirner, Schopenhauer und Hartmann 560. Nietzsche, vom Tod Gottes zum Wahnsinn 564. Der psychophysiolologische und psychoanalytische Atheismus 567.

    SECHSTER TEIL
    DAS ENDE DER GEWISSHEITEN (20. JAHRHUNDERT)  573

    18. Kapitel: Atheismus und Glaube: vom Krieg zum Waffenstillstand   575
    Die Bewegung der »Gottlosen« in der UdSSR (1925 1935) 576. Erschöpfung der »Gottlosen« und politische Wende (1935) 580 Der militante Atheismus in den marxistischen Ländern nach 1945  583. Die nichtmarxistischen atheistischen Bewegungen 585. Die rationalistischen Kämpfe zwischen 1950 und 1980  587. Auf dem Weg zu einem Waffenstillstand? 590. Die »Vereinnahmung« der Atheisten durch die Kirche 592. Läßt sich die Existenz Gottes beweisen? 596 Die Theologie kommt dem Atheismus entgegen 598

    19. Kapitel: Gott als Hypothese: ein überholtes Problem?   604
    Der Existentialismus: Ablehnung Gottes im Namen der Freiheit 604. Widersinn der Gottesfrage für die analytische Philosophie 607 Die Wis¬senschaft: Gott verneinen oder den Begriff revidieren? 609. Lockerung des Marxismus 614. Die soziologischen Untersuchungen und das Ausmaß des Unglaubens 615. Das Ende der Kategorien (Atheisten, Ungläubige, Agnostiker, Gleichgültige) 618. Im 20. Jahrhundert den Glauben verlieren: einige Beispiele 621 Psychologie und Soziologie des Atheismus der Umwelt 624.

    20. Kapitel: Bilanz des Unglaubens nach zweitausend Jahren Christentum   628
    Bedeutung des Unglaubens und Schwierigkeiten des militanten Atheismus 628. Die Zersplitterung des Glaubens: von Gott zum Geist 632. Zusammenbasteln der Glaubensvorstellungen und Vereinnahmungsversuche 633. Die parawissenschaftliche Versuchung und ihre Zweideu¬tigkeiten 636 Vom Atheismus zur Gleichgültigkeit 638. Die Jugend und Gott: eine massive Abkehr 641. Die »Wiederkehr des Religiösen«: eine Illusion 646. Auf dem Weg zum Sinnverlust 649

    SCHLUSSFOLGERUNG   652
    Wird das 21.Jahrhundert irreligiös sein?  652

    Anmerkungen  659
    Auswahlbibliographie 706
    Personenregister  719



     
    »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? (...) Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? (...) Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.«

    Friedrich Nietzsche, DIE FRÖHLICHE WISSENSCHAFT, 1II, 125.

    Aus der Einführung.

    "Eine Geschichte des Unglaubens und des Atheismus vorzulegen in einer Zeit, da allenthalben die »Wiederkehr des Religiösen«, die »Vergeltung Gottes«, die »Wiederverzauberung der Welt« verkündet wird   ist das Provokation, Leichtsinn, ein Archaismus, ein Traum? Natürlich nicht.
        Zum einen, weil alle diese Formen einer Pseudowiederkehr ziemlich suspekt sind und die Wirklichkeit bei näherer Betrachtung nicht entfernt einem religiösen Frühling entspricht. Gewiss, die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter historischen Werken: Geschichte der Kirche, der Religionen, des Protestantismus, des Christentums, des Glaubens, der Gläubigen, der Spiritualität; es wimmelt von Ratgebern, Enzyklopädien, Wörterbüchern der religiösen Welt. Die Religion lockt zwar nicht mehr viele Menschen in die Kirchen, aber sie verkauft sich gut. Pater Decloux, der 1995 darüber klagte, dass die Autoren sich darin gefielen, »ständig die Frage des Atheismus aufzugreifen und immer mehr Bücher über den Atheismus zu verfassen« [EN1], hatte wahrscheinlich die Regale »Atheismus« und »Religion« in den Bibliotheken nicht genau verglichen. Ich selbst habe mehrere religionsgeschichtliche Werke geschrieben und mich an Gemeinschaftsarbeiten über dieses Thema beteiligt. Und gerade diese Flut von Büchern über den Glauben hat mein Interesse für das Gebiet des Unglaubens geweckt, das nur selten in einer historischen Perspektive untersucht wird.
        Seit dem unauffindbaren Buch von Spitzel, Scrutinium atheismi historico aetiologicam, das vor fast dreieinhalb Jahrhunderten, 1663, erschienen ist [EN2], sind historische Werke über den Atheismus eine Seltenheit, und das vollständigste bleibt bis heute das von 1920 bis 1923 veröffentlichte vierbändige Werk von Fritz Mauthner [RS: 1,2,3,] , Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. [EN3]
        Der Atheismus war Gegenstand zahlreicher philosophischer, soziologischer, psychologischer oder psychoanalytischer Studien; auch ist er für ganz bestimmte Epochen und in begrenzten Regionen untersucht worden, aber die einzigen vollständigen Synthesen sind sowjetische, oft tendenziöse Arbeiten. [<3]
        Es klafft hier also eine historiographische Lücke, die gefüllt zu werden verdient, denn der Atheismus hat seine eigene Geschichte, die nicht einfach das Negativ der Geschichte des religiösen Glaubens ist. Dass es so wenige Werke über dieses Thema gibt, liegt gerade an der negativen Konnotation, die sich mit dem Unglauben verbindet. Alle zu seiner Bezeichnung verwendeten Termini haben eine negierende Vorsilbe: A-theismus, Un-glaube, A-gnostizismus, In-differenz. »Dies zeugt«, so liest man in L'Etat des religions, »von einer Geschichte, einem Kampf, den Menschen aus der Welt des Göttlichen herauszureißen, es zeugt auch von der Schwierigkeit, ein freies, autonomes, verantwortliches Dasein wenn nicht zu leben, so doch positiv auszudrücken, ohne Wehmut, ohne Bezugnahme auf ein Universum, von dem man sich befreien möchte. Als bestünde ein Unbehagen oder ein Rest von Provokation darin, ohne Gott und ohne Tenfel einfach unter Menschen zu existieren.« [EN4]
        Der Terminus »Atheist« hat noch heute eine leicht pejorative Konnotation und macht noch immer etwas Angst: Erbe jahrhundertelanger Verfolgung, Verachtung und Gehässigkeit gegenüber allen, die die Existenz Gottes leugneten und sich unwiderruflich verdammt sahen. Unbewusst spukt noch heute die Idee der Verwünschung herum: »Gott sei Dank, Gott existiert nicht. Wenn aber, was Gott verhüten möge, Gott doch existiert?« sagt ein russisches Sprichwort. Kann es in diesem Bereich je absolute Gewissheit geben? Ist die Wette nicht riskant? Viele überzeugte Ungläubige zögern noch heute, sich als Atheisten zu bezeichnen. Das Wort ist nicht neutral, und es riecht noch immer nach dem Scheiterhaufen. Auch das Wort »Materialist«, das ihm oft beigegeben wird, bewahrt einen verächtlichen Unterton: da mit einer »gemeinen«, »niederen«, »primitiven« Lehre verbunden, wurde es lange als Anklage oder Schimpfwort benutzt.
        Es lastet also ein schweres affektives Erbe auf dem Atheismus, einem sowohl für seine Anhänger als auch für seine Gegner mit Aggressivität geladenen Begriff, denn es handelt sich um die Negation schlechthin, die Negation Gottes. Wie lässt sich die Geschichte einer negativen Haltung nachzeichnen? Die Geschichte »derer, die sich widersetzen« wird meist vom gegnenschen Lager in die Hand genommen und mit allen gängigen Vorurteilen behandelt. Der Unglaube taucht in der Geschichte der Religionen haufiger auf als in Werken, die sich mit ihm selbst befassen, und die Gefahr einer Geschichte des Unglaubens besteht gerade darin, indirekt eine Geschichte des Glaubens zu schreiben.
        Lange Zeit stammten die einzigen Zeugnisse bezüglich des Unglaubens von den religiosen Autoritäten, die ihn unterdrückten, insbesondere im 16. und 17. Jahrhundert. Noch im 20. Jahrhundert zögerte ein so aufgeschlossener Geist wie Gabriel Le Bras nicht, die Geschichte der Gottlosig[<4]keit, wenn auch mit wohlwollendem Blick, der Religionssoziologie einzuverleiben: »Der Atheismus der modernen Kreise zwingt uns, alle gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie das gesamte Geistesleben zu untersuchen: denn die Soziologie des Unglaubens ist eines der wichtigsten und bewegendsten Kapitel der Religionssoziologie.« [EN5]
        Nicht geringer ist die Schwierigkeit in der heutigen Zeit: Wie soll man, abgesehen von den sehr minoritären militanten atheistischen Bewegungen, die Geschichte einer Haltung nachzeichnen, die keinen positiven Inhalt zu haben scheint? Würde man beispielsweise auf den Gedanken kommen, die Geschichte derer zu schreiben, die nicht an die Ouni glauben?
        Ein weiteres Problem: das Vokabular, das eine Vielzahl von Nuancen zum Ausdruck bringt. Zwischen dem strengen und reinen materialistischen Atheisten und dem fundamentalistischen Gläubigen ist Raum für den Agnostiker, den Skeptiker, den Indifferenten, den Pantheisten, den Deisten - sie alle sind in denAugen der Gläubigen mehr oder weniger Atheisten. Dabei bestehen zwischen ihnen erhebliche Unterschiede. Sogar die Termini »Atheist« und »Ungläubiger« sind nicht völlig synonym. Also Geschichte des Atheismus oder Geschichte des Unglaubens? Lauter methodologische Fragen, die gleich zu Anfang gestellt werden müssen.
        Die ungläubige Haltung ist ein fundamentaler, ursprünglicher, notwendiger und daher unausweichlicher Bestandteil jeder Gesellschaft. Insofern hat sie zwangsläufig einen positiven Inhalt und beschränkt sich nicht auf den Nicht Glauben. Sie ist eine Affirmation: die Affirmation der Einsamkeit des Menschen im Universum, die Stolz und Angst erzeugt. Allein vor seinem Rätsel, leugnet der atheistische Mensch die Existenz eines übernatürlichen Wesens, das in sein Leben eingreift, aber sein Verhalten stützt sich nicht auf diese Negation; er nimmt sie als eine Grundgegebenheit (theoretischer Atheismus) oder unbewusst (praktischer Atheismus) auf sich." ...

    [<5] "Wie Georges Hourdin in Erinnerung ruft:
     

      'Der Atheismus ist historisch sehr viel älter als die christliche Kultur. Er besitzt Autonomie. Einige Philosophen des Altertums wie Epiktet und Epikur waren Atheisten. Andererseits ist der Atheismus geographisch weiter verbreitet als die Kenntnis des Evangeliums. Was man zum Beispiel die fernöstlichen Religionen zu nennen pflegt, wie der Buddhismus, der Konfuzianismus, sind oft bloß Weis¬heiten und Rationalismen. Christus, der Sohn Gottes, ist also Fleisch geworden als es bereits Atheisten gab. Die Kirchen, die ihm nachfolgten, haben dem Atheismus kein Ende bereitet.' [EN6]


    Der von den Religionen unabhängige Atheismus lässt sich als der grandiose Versuch des Menschen auffassen, einen Sinn für sich zu finden, seine Anwesenheit im materiellen Universum zu rechtfertigen und sich einen unbezwingbaren Platz in ihm zu schaffen. Der religiöse Mythos vom Turm zu Babel kann hierin eine unerwartete Deutung finden, die sich von der gläubigen Exegese krass unterscheidet." ....
    ....
    [<7] "Die Geschichte des Atheismus ist nicht nur die Geschichte einer Idee, sondern auch die Geschichte eines Verhaltens. Deshalb werde ich im Rahmen des Möglichen die soziologischen und religiösen Untersuchungen heranziehen. Es gilt zu verstehen, wie und warum ein Teil der europäischen Gesellschaft von Anfang an gelebt hat, ohne sich auf irgendeinen Gott zu beziehen. Das erlaubt es, unserer kulturell zerrütteten Zeit in Erinnerung zu rufen, auf welche Weise die Menschen von einst haben leben können, indem sie ihrem Dasein einen Sinn außerhalb des religiösen Glaubens gaben.
        Mehr als jeder fünfte Mensch in der Welt ist heute Atheist; und wie viele Gleichgültige, Sektierer, Agnostiker enthalten die vier anderen Fünftel? Die Geschichte des Atheismus ist nicht die Geschichte einer kleinen Minderheit. Sie betrifft Hunderte Millionen Menschen, die nicht an Gott glauben können. Denn der Glaube lässt sich nicht verordnen, nicht beweisen, nicht von außen aufzwingen. Immerhin müssten die Gläubigen sich fragen, woher es kommt, dass sie selbst glauben und so viele andere nicht glauben. Die Geschichte der Ungläubigen sollte die Gläubigen nachdenklich stimmen.
        Dieses Buch verfolgt keine apolegetische Absicht, weder für noch gegen den Atheismus, für oder gegen den Glauben. Sein Hauptmotiv ist eine Sinnsuche, die a priori keine Haltung verwirft. Wir alle sind in ein seltsames Abenteuer verstrickt. Geboren, ohne darum gebeten zu haben, leben wir, ohne zu wissen warum, und sterben, ohne eine Entschuldigung zu erhalten; und wir alle müssen denselben Weg gehen, ohne die geringste Erklärung beanspruchen zu dürfen. Viele stellen sich die Frage nicht. Das sind wahrscheinlich die glücklichsten. Andere haben fix und fertige, schlichte, unumstößliche Antworten parat, die sie übernommen oder selbst erarbeitet haben; sie glauben daran und haben sicherlich Recht, es dabei bewenden zu lassen: zumindest wissen sie, wie sie sich zu verhalten haben. Schließlich gibt es jene, die nichts von alledem begreifen, die Besorgten, die Verängstigten, jene, die sich bei der Betrachtung dieser grotesken und grandiosen Welt seit ihren Anfängen fragen: warum? und sich mit keiner Antwort zufrieden geben. Der Historiker ist es sich schuldig, die Vergangenheit dieser drei Haltungen mit Verständnis und Mitgefühl [<8] zu erforschen, wohl wissend, dass er selbst in einer dieser drei Strömungen treibt, die ihn übersteigen. Da ich zur dritten Gruppe gehöre, beneide ich jene, die keine Fragen haben, sowie jene, die nur Antworten haben, da ich selbst nur Fragen ohne Antworten habe.
        Dieses Buch spricht von der Geschichte der Ungläubigen, zu denen alle gehören, die die Existenz eines persönlichen Gottes, der in ihr Leben eingreift, nicht anerkennen: Atheisten, Pantheisten, Skeptiker, Agnostiker, aber auch Deisten, wobei es zwischen diesen Kategorien unendlich viele Nuancen gibt. In ihrer Gesamtheit bilden sie vermutlich die Mehrheit der Menschheit. Im Grunde ist es die Geschichte der Menschen, die nur an die Existenz der Menschen glauben."

    wird fortgesetzt



    Anmerkungen und Endnoten
    ___
    Andere Besprechungen: * Die Zeit * Literaturkiritik *  Perlentaucher: Frankfurter Rundschau vom 17.03.2001,
    Süddeutsche Zeitung vom 27.12.2000, Die Zeit vom 14.12.2000, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.12.2000. *  Sonntagsblatt *
    ___



    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    tt.mm.jj
     


    Querverweise
    Standort Präsentation Geschichte des Atheismus von G. Minois Erster Teil
    Atheismus. Die Grundlagen und metaphysischen Vorteile des Atheismus.
    * Traktat über die drei Betrüger * Zeitalter der Aufklärung * * In memoriam: 200 Jahre Ludwig Feuerbach
    * Überblick und Kritik der Metaphysik, Religion, Sekten, Ideologie und Weltanschauung *
    Metaphysische Bedürfnisse * Beweis und beweisen in Metaphysik, Esoterik und Grenzwissenschaften.
    *  Sinn-1 * Sinn-2 * Toman: Keine Auferstehung? Nur endloser Tiefschlaf? *
    * Auserwählt im Names Jahwes, Gottes und Allahs  * Gott *
     * Menschenrechte * Vorschläge für eine bessere Welt *
    Externe Querverweise:
     * * Attac * Transparency * Greenpeace * Amnesty International *  Human Right Watch
    *
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    *
    <suchbegriff site:www.sgipt.org> Beispiel: <Atheismus site:www.sgipt.org>
    Hier gibt Ihnen die Suchmaschine aus, auf welchen IP-GIPT Seiten der Suchbegriff "Herrscher" vorkommt.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Buchpräsentation: Minois, Georges (2000). Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Weimar: Böhlaus Nachfolger. Erlangen: IP-GIPT. https://www.sgipt.org/sonstig/metaph/atheis/Minois/minois0.htm
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