Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=25.08.2001 Internet Erstausgabe, letzte Änderung 14.9.13
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Wissenschaftsgeschichte zur Medizinischen Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie, Bereich Symptome, und hier speziell zum Thema:

    Fixe Ideen

    von Friedrich Wilhelm Hagen

    Aus: Hagen, Friedrich Wilhelm. (1870). Fixe Ideen.
    In: Studien auf dem Gebiete der aerztlichen Seelenkunde. Gemeinfassliche Vortraege. Erlangen: Besold. Seiten 39-85. Querverweise


    Vorbemerkung von Rudolf Sponsel: Hagen [zu seiner Wissenschaftsbiographie] war einer der Gutachter, die unter der Federführung von Guddens, die Entmündigung Ludwigs II., König von Bayern, zu verantworten hatten. Von ihm selbst kennen heute nur noch wenige den Namen, obgleich er ein bedeutender Psychiater seiner Zeit war, mit heute noch sehr lesenswerten Arbeiten. Er war von den vier Gutachtern wahrscheinlich der psychologisch und psychopathologisch und auch wissenschaftlich Kompetenteste, wenngleich von Gudden berühmter war als er. Ich habe diese Arbeit als erste ausgewählt, weil die fixen Ideen und der Wahn immer noch - unabhängig von der Diskussion um das Gutachten über Ludwig II. - ein brandaktuelles Thema sind.   Andere Querverweise. Redaktioneller Hinweis: Fettungen in diesem Text sind in der Originalarbeit gesperrt gedruckt. 
    Neben vielen Vorzügen dieser Arbeit ist jedoch besonders seine selbstverständliche Kenntnis und Einbeziehung des Unbewußten zu erwähnen - zu einer Zeit, da Freud kaum 14 Jahre alt war (Zielmarken "unbewußt"): 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10

        Eine der häufigsten Formeln, unter welchen der Irrenarzt nach dem Zustande eines Geisteskranken gefragt wird, ist die: welches denn wohl dessen fixe Idee sei? Eine Frage, die gar oft nicht zu beantworten ist, weil sie von der irrigen Voraussetzung ausgeht, daß zu dem Begriffe der Geisteskrankheit fix gewordene Wahnvorstellungen als wesentliche Erscheinungen gehören. Sie können aber sowohl im acuten als chronischen Irresein fehlen, ohne dass darum die Existenz einer Seelenstörung in Zweifel gezogen werden dürfte.

        Auf der anderen Seite werden krankhafte Wahnideen aber auch oft wieder zu gering geschätzt; man betrachtet das Hegen fixer Ideen dann als einen besonderen Zustand, der noch gar nicht in das Bereich der psychischen Krankheit gehöre. Familienglieder, welche durch das Zugeben von Geisteskrankheit des Kranken Ehre gefährdet wähnen, oder gute Freunde, welche in wohlfeiler Sympathie nothwendig befundene Massregeln hintertreiben wollen, sagen dann wohl: Geisteskrank sei der X nicht, er habe weiter nichts als eine fixe Idee. Und damit glaubt man den Kranken von den Tobsüchtigen und Verwirrten als den eigentlich Geisteskranken mit Glück geschieden und jeden Versuch, ihn einer ähnlichen Behandlung wie diese zu unterwerfen, mit Recht abgewiesen zu haben. Nicht so der Sachverständige; für ihn hat ein solcher Kranker gar oft nicht nur, sondern leider schon eine fixe Idee, und was Jene als tröstlich ansehen, ist ihm höchst bedenklich; denn die Erfahrung lehrt, dass gerade solche Kranke, welche in der That keine andere abnorme Erscheinung darzubieten scheinen, als die fixe Idee, in der Regel für diese Welt geistig rettungslos verloren sind.

        Das Vorhandensein dieser beiden Vorurtheile und die praktische Wichtigkeit, welche dieselben erlangen können und nicht selten wirklich erlangen, ist der Beweggrund für mich, heute vor [>42] Ihnen einige Betrachtungen über fixe Ideen anzustellen. Betrachtungen sage ich, und will damit von vorn herein angedeutet haben, dass Sie nicht ganze 13 Erzählungen und nicht blos ein Register seltsamer Einbildungen zu erwarten haben, sondern Reflexionen und Theorie. Es sind die Fragen nach der Entstehung der fixen Ideen bei den Geisteskranken, nach ihren Beziehungen zu dem übrigen Gedankenkreis des Individuums und ihrer Bedeutung für sein Gesammtleben, welche ich zu beleuchten gedenke.

        Das Erste, was wir zu diesem Zwecke zu thun haben, ist, dass wir unser Feld umgränzen. Wir haben es mit fixen Ideen Geistesgestörter zu thun, also mit krankhaften Wahnideen, nicht mit anderen fixen Ideen, wie sie auch bei Geistesgesunden vorkommen. Die unbewusste und unwillkührliche Verwechslung beider ist eine Hauptquelle des einen von den beiden Irrthümern, welche ich erwähnt habe. Das Vorherrschen einer Idee bei einem Geistesgesunden ist etwas Anderes als die Beherrschung eines Kranken durch seinen Wahn.

        Gewisse Gedankenkreise können vorwalten und mit unwiderstehlicher Gewalt immer wiederkehren, und Richtungen auf gewisse Ideen können sich fixiren, ohne dass eine psychische Krankheit vorhanden wäre. Der sinnende Forscher hat eine Idee erfasst, sie erscheint ihm in ihrem ersten Aufspringen als eine neue Sonne, die einen weiten Kreis bisher zusammenhangsloser Thatsachen plötzlich hell beleuchtend sie in ihrer natürlichen Gruppirung erscheinen lässt; mit dem Schwinden der Neuheit und der ersten Begeisterung wird daraus das zweifelhafte Licht einer Hypothese. Aber die erweckte Hoffnung lässt sich nicht so leicht wieder dämpfen; immer und immer wieder kehrt der Gedanke, das erste Entzücken kann nicht getrogen haben, die Hypothese muss doch wahr sein - und dann ist keine Ruhe mehr - ihr Beweis muss gefunden werden - da und dort werden Gründe für sie gesehen - neue wird und muss die Zukunft noch bringen - in ihrer Erwartung lebt und strebt der Mensch ihnen entgegen - sie bildet den Mittelpunkt seines Sinnens und Trachtens- sie ist ihm zur fixen Idee geworden. Dieser Zustand kann stattfinden bei voller Gesundheit, ja bei der eminentesten Geisteskraft - und die Idee, wenn sie im Menschen auch feststehend geworden ist, ist darum keineswegs eine irrige, sondern sie kann die volle, die ganze Wahrheit enthalten.[>43]

        Aber allerdings ist die Gefahr des Irrthums gross, und es kann Zeit, Kraft und Lebensfreude aufgeopfert werden, lediglich um einem Phantom nachzujagen; die grossen Talente sind zwar mehr, aber keineswegs ganz davor gesichert, dergleichen falsche Fährten zu verfolgen. Dass die festgehaltene Idee falsch ist, ist daher kein Beweis für die Geistesschwäche ihres Pflegers, sonst müsste so ziemlich jeder grosse Naturforscher dümmer sein als irgend ein hundert Jahre später lebender Student, und Jeder, der sich heut zu Tage die grossen Fortschritte in der Lehre vom Licht angeeignet hat, klüger als Göthe, der sich in seine Farbenlehre verrannt hat. Da nun überdiess die Wahrheit oder Falschheit einer Lehre sich nicht immer schon bald herausstellt, sondern die Welt oft lange Zeit die eine für die andere nimmt, so begreift sich leicht, wie wenig an und für sich das hartnäckigeVerfolgen einer absonderlich erscheinenden Idee als ein Symptom von Krankheit angesehen werden kann.

        Aehnliches wiederholt sich in vielen anderen Verhältnissen, daher es genügt, nur kurz darauf hinzuweisen. Der Schuldbeladene, an dem die Reue über eine That nagt, die Mutter, welche immer an das ihr durch den Tod entrissene Kind denken muss, der Aengstliche, der in einer Epidemie den Gedanken angesteckt zu werden, nicht losbringen kann, haben in ihrer Art auch fix gewordene Ideen. Gewisse Heilsysteme haben eine Zeit lang, aller Erfahrung zum Trotz, die Köpfe beherrscht; ein Genie wie Friedrich II. verfiel dem Geschick, in Finanzsachen eigensinnig eine verkehrte Idee durchzuführen, und von fixen Ideen auf dem Gebiete der Philosophie und Dogmengeschichte Belege anzuführen erlassen Sie mir ohnehin.

        Mit dergleichen Grillen und Schrullen nun haben wir es hier nicht zu thun, sondern mit Wahnideen, die das Erzeugniss einer Geisteskrankheit sind. Dieselben sind zwar mannigfaltiger Art, aber doch nicht so vielfältig verschieden, als man glauben sollte; vielmehr findet man gewisse Typen überall wieder. Ich führe Ihnen, damit Sie doch von den Erscheinungen, deren Wesen besprochen werden soll, vorher einige empirische Kenntniss erlangen, die gewöhnlichsten derselben vor. Um des Verständnisses willen ist es dabei nöthig, die Beispiele nicht blos von jenen Formen herzunehmen, wo die Wahnidee scheinbar isolirt dasteht, sondern auch von solchen, wo die psychische Gesammterkrankung noch deutlicher [>44] ist, daher auch von acutem Wahnsinn, namentlich aber der frischen Melancholie. Ein Melancholiker kann von der Vorstellung nicht loskommen, dass er ein schweres Verbrechen begangen habe und ihm jede Stunde die Bestrafung oder Hinrichtung bevorstehe; oder er ist von dem Gedanken erfüllt, dass er die ewige Seligkeit verscherzt habe und in die Hölle werde verstossen werden. Oder er glaubt die schwersten absonderlichsten Leiden zu haben, todt zu sein u. dergl. Daneben sind seine übrigen Vorstellungen derWirklichkeit entsprechend und seine Reden verständlich. In anderen Fällen, in Zuständen manischischer Art, ist der Wahn fröhlicher, beglückender Natur. Der Kranke hat das grosse Loos gewonnen, oder es liegt irgendwo eine ungeheuere Erbschaft für ihn deponirt, oder er ist General, oder es ist kein Zweifel, dass die Prinzessin X oder Y zum Sterben in ihn verliebt ist. Am häufigsten und pathognomisch ist aber der fixe Wahn als Hauptsymptom jener chronischen Seelenstörung, welche wir die partielle Verrücktheit nennen. Die bereits angeführten Wahnideen können auch in ihr vorkommen, nur dass der melancholische Wahn selten mehr den Inhalt der Selbstunterschätzung, des Selbstvorwurfes, sondern mehr den der ungerechten Behandlung hat. Es ist fixer Wahn, wenn ein Mensch, dem Niemand Leid's zu thun Veranlassung hat, sich für das Opfer systematischer Verfolgung hält, wenn er in allen Speisen und Getränken, solchen selbst, die er mit Anderen zusammen geniesst, Gift findet, wenn er Beschimpfungen und Drohungen zu vernehmen glaubt, die Niemand ausgestossen hat, und wenn Einer, der nie ein Wasser trübte und sonst wenig Bedeutung hat, sich für das ausersehene Ziel geheimer Verfolgung der Jesuiten hält. Der Eine glaubt, dass der Teufel seine Seele ausgetrieben habe und nun in Kopf, Hals, Brust und allen Gliedern sitze, von ihm zehre und ihn quäle, ein Anderer, dass er auf unsichtbare Weise magnetisirt und galvanisirt werde, dass ihn seine geheimen Feinde mittelst ihrer Apparate überallhin verfolgen, ihm den Schlaf rauben, ihn zum Gegenstand ihrer ausgesucht bübischen Experimente machen, ihm in Kopf und Gliedern nach Gefallen die unsäglich peinigendsten Empfindungen verursachen. Aber der Inhalt des Wahns kann auch angenehmer, erhebender Natur sein und zwar ist dies öfter der Fall. Der Kranke fühlt sich im Besitze besonderer Weisheit, sei diese nun durch eigene Anstrengung errungen [>45] oder durch höhere Begnadigung; durch Inspiration, durch geheimen wunderbaren Verkehr mit Geistern ihm zu Theil geworden. Er kennt die Geheimnisse der Schöpfung und Weltregierung besser als alle anderen Menschen; was diese darüber gelehrt und geschrieben, ist ihm unnöthig und überflüssig zu wissen; er ist berufen, die Welt zu lehren, zu reformiren, und neue Gesetze zu verkünden. Ein Schritt weiter und er ist Prophet, Messias, Gott, oder wenn Patient weiblichen Geschlechtes ist, Himmelskönigin, Mutter Gottes, die etwa auch berufen ist, noch einmal einen Heiland zu gebären. Das neue Glück, in welchem der Kranke schwelgt, bezieht sich aber oft auch auf weltliche Dinge. Er ist im Besitze grosser Reichthümer, die ihm bisher vorenthalten wurden und auf deren Auszahlung er täglich wartet; er hat Schlösser und Paläste, in denen Alles von Silber und Gold strahlt, oder er ist von vornehmer Abkunft, aus fürstlichem Geblüt, mit Kaisern und Königen verwandt, Prinz oder Prinzessin, ja wohl selbst Kaiser (entweder der von Oesterreich oder Frankreich oder der bereits erwählte deutsche).

        Alle diese partiell Verrückten leben, sofern sie nicht durch verschiedene Anlässe von Zeit zu Zeit aufgeregter werden, im Ganzen ruhig dahin, verrathen für gewöhnlich und so weit ihr Wahn nicht berührt wird, keinen besonderen Affect, und äussern sich über gewöhnliche Lebensverhältnisse mit richtigem, nicht selten sogar mit scharfem Urtheil und in geordneter Rede. Der Wahn imponirt als ein isolirtes Phänomen, das von dem übrigen Verhalten des Individuums wie abgelöst erscheint, das man sich nicht zurechtzulegen vermag, dessen unrichtige Beurtheilung daher manche schlimme Folge hat. Es ist daher auch in praktischer Beziehung von Wichtigkeit, dass man diese Formen der Seelenstörung im rechten Lichte betrachtet.

        Versuchen wir es nun, uns eine Einsicht in die Vorgänge zu verschaffen, welche so seltsamen Einbildungen zu Grunde liegen müssen. Was der Kranke wähnt, kann er begreiflicher Weise nicht wirklich erfahren haben, sondern er muss sich die Vorstellungen, deren Inhalt er für einen reell vorhandenen hält, selbst geschaffen haben. Nun sind aber diese Vorstellungen keine absolut neuen, noch niemals da gewesenen; auch die kranke Seele kann so wenig wie die gesunde etwas ganz Neues schaffen, sondern hat ihre Vorstellungen ebenfalls nur aus er Erfahrung; der Kranke könnte [>46] sich nicht einbilden, Gott oder Kaiser zu sein oder auf's Schaffot geführt zu werden, wenn er niemals gehört hätte, dass es einen Gott, einen Kaiser, ein Schaffot gibt. Das Neue und das mit der Wirklichkeit nicht Uebereinstimmende liegt also in der Zusammenordnung und in der Beziehung der Vorstellungen auf das Subject.

        Mit dieser Betrachtung sind wir gleich von Anfang an vor einem Abweg behütet, nämlich vor dem, in der Erklärung des fixen Wahns das Hauptgewicht statt auf den Wahn auf die Fixität zu legen. So denkt man sich wohl, derselbe bestehe einfach in einer fix, stabil gewordenen Vorstellung von grosser Lebhaftigkeit, welche dem inneren Auge und Ohr des Kranken fortwährend vorschweben. Es wäre diess etwas Aehnliches, wie wenn auch Gesunde eine gewisse Vorstellung lange nicht los werden können, eine gehörte Melodie uns Tage lang im Kopfe summt oder gewisse Phrasen und Verse uns immer wieder einfallen. So ist es aber, wie schon eine kurze Beobachtung von Verrückten lehrt, bei der Wahnidee nicht, diese ist nicht eine sinnliche uns immer vorgaukelnde Vorstellung, welche uns etwa dadurch hinderte, andere Vorstellungen zu haben und mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, sondern sie ist nur ein leicht und gern wiederkehrender Gedanke. Dergleichen kommt, wie wir sahen, schon bei Geistesgesunden vor; wir finden die Erscheinung auch als Krankheitssymptom bei manchen Irren, welche einem Denkzwang unterworfen sind. Sie müssen in Folge desselben immerfort über gewisse Dinge nachdenken, ohne dass gerade das Resultat oder der Stoff dieses Denkens schon im Widerspruch mit der Wirklichkeit sein müssen; oder sie sind zu Gedanken genöthigt, welche sie sich selbst zum Vorwurf machen, z. B. Gotteslästerungen oder menschenfeindliche Wünsche. Alles das ist zwar ein fixirtes Denken, aber noch kein fixer Wahn; denn zu diesem gehört nothwendig der Irrthum. Der Wahn ist eine Art des Irrthums  1).

        Es würde mich zu weit führen, hier tiefer in das Wesen und die Entstehung des Irrthums einzugehen. Was uns interessirt, ist nur die Frage, wie sich der Begriff des Irrthums verwerthen lässt für die Entstehung der Wahnidee des Geisteskranken. Irrthum ist ein falsches Urtheil. Sitzt nun der Wahn im Urtheil und besteht er in einer Erkrankung des Urtheilsvermögens? Dann müssten alle Urtheile falsch werden, während es gerade das Auszeichnende [>47] der fixen Idee sein soll und es in der partiellen Verrücktheit auch oft genug ist, dass der Kranke in jeder anderen Beziehung gut und richtig urtheilt. Und wollte man auch beim acut Wahnsinnigen auf dessen allzu rasche Urtheilsfällung oder Leichtgläubigkeit verweisen, so blieben doch noch so viele Melancholische übrig, welche ausser ihrem Wahn durchaus keine Urtheilsschwäche verrathen, ja oft scharfsinnig genug da- und dorther Beweise für die Richtigkeit desselben erholen. Oder soll es speciell der Mangel an Kritik sein, welcher hindert, die falschen Vorstellungen von wahren zu unterscheiden? Es ist kein Zweifel, den Kranken fehlt die gehörige Kritik; aber, wenn in ihrer Ermangelung eine falsche Vorstellung als wahre hingenommen wird, so muss die falsche doch schon erzeugt sein, und ein Schneider, der glaubt, er könne der Kaiser sein, ist sicherlich schon krank, indem er diess denkt und nicht erst, sofern er die Kritik dieser Vorstellung unterlässt.

        Also auf einer Krankheit des Vorstellens oder Denkens überhaupt kann der fixe Wahn nicht beruhen. Das Kranksein äussert sich ja in der Richtung vorzugsweise auf einen Gegenstand, bezieht sich auf ein irrig aufgefasstes Verhältniss. Wo der Wahn ohne deutliche, auffällige Betheiligung anderer psychischer Affectionen das Hauptsymptom bildet, da hat man aus diesem Grunde einen solchen Zustand Monomanie genannt. Man kann diesen Namen wohl zulassen behufs der Verständigung über Classification, nur darf man nicht glauben, durch denselben etwas zur Erklärung des fixen Wahns selbst gethan zu haben, besonders da solcher eben ganz entschieden auch in Zuständen von mehr allgemeinem psychischen Ergriffensein vorkommt. Es ist überhaupt nicht recht klar, was man sich unter dem Ausdruck: die Seele ist nur in Bezug auf einen einzigen Punct krank, zu denken hat. Da wir es hier zunächst nur mit Ideen (nicht mit Handlungen) zu thun haben, so kann diess doch wohl nur heissen: in Bezug auf einen Gedanken; die Seele wird für krank erklärt in ihrer Eigenschaft, diesen Gedanken hegen und glauben zu können. Wenn sie nun aber ausserdem gesund ist, wie wir denn gesehen haben, dass die Vorstellungsthätigkeit und das Denken im Allgemeinen, namentlich in formeller Hinsicht, keine Abweichungen darbieten kann, so muss sich die Theorie der Monomanie (sofern sie eine Erklärung anstrebt) auf ein engeres Gebiet zurückziehen; sie muss ein Erkranken des [>48] einzelnen psychischen Actes in Hinsicht auf seinen Inhalt annehmen. Das Individuum muss nach ihr erkranken können lediglich in seiner Fähigkeit, sich für magnetisirt oder sich für den Kaiser von Russland zu halten; nur diese einzelne Seelenkraft wäre hienach in ihm die erkrankte, d. h. die exzessiv und gegen den Antagonismus der anderen überwiegend thätige. Diess ist absurd, aber die Theorie kann, in ihre Consequenzen verfolgt, zuletzt nirgends anders anlangen; und es hilft ihr auch nichts, wenn sie sich zum Zwecke der Erklärung in gewisse Hirnorgane flüchtet, welche bei der Monomanie gereizt sein sollen. Man denkt sich heut zu Tage wohl, es sei Alles bereinigt, sobald man nur einmal die Idee habe und festhalte, dass es sich hier um »Reizungen« von »Zellengruppen« handle, wobei es nichts zur Sache thue, dass diese noch Niemand kennt. Aber wir kommen damit um kein Haar breit weiter. Diese Lehre, welche sich auch ihrerseits gern auf die Monomanie stützt und im Principe mit der Phrenologie (abgesehen von deren kraniologischen Deutungen) zusammenfällt, müsste doch ebenfalls erst nachweisen, dass es für jede fixe Idee ein specielles Hirnorgan gibt; ferner müsste sie, da nach ihr psychische Gesundheit im Gleichgewichte sämmtlicher Organe besteht, zugleich auch annehmen, dass sämmtliche übrige Hirnorgane, weil sie unfähig sind, durch ihre compensirend antagonistische Thätigkeit die Wirkung der einzigen krankhaft gereizten zu  neutralisiren, ebenfalls krank sind; und endlich begreift man nicht, warum eine Krankheit, die lediglich ein so kleines einzelnes Hirnorgan betrifft, so oft eine viel ungünstigere Prognose darbietet als eine allgemeine acute Psychose. Die Phrenologie oder so gestaltete und gedachte Hirnorganenlehre kann uns höchstens eine Vorstellung davon gewähren, wie es zugeht, dass wir gewisse Gedanken immer denken müssen; sie kann aber, ohne die Partialität der Störung wieder aufzuheben, nicht erklären, warum der Gedanke gerade ein falscher, ein widersinniger geworden ist (es müsste dann in der That jeder Irrthum auf Gehirnstörung beruhen), und warum wir an die Realität dieses falschen Gedankens glauben müssen, warum also Alles, was in anderen Organen (Gedankenreihen) diesem Glauben entgegensteht, annullirt und verwischt ist 2).

        Wir sind hiemit an einen Punct gelangt, an welchen ich meine eigenen Ansichten über die Entstehung der Wahnideen an- [>49] knüpfen will. Indem wir sagen: die Kranken glauben an das, was sie sich einbilden, sagen wir fast noch zu wenig. Dieselben halten nämlich nicht etwa das, was sie wähnen, für das Wahrscheinlichste, für das sie sich nach ihrem Gefühl oder auf eine Autorität hin entscheiden, sondern sie glauben zu wissen; ihr Glaube, ihre Meinung erscheint ihnen als ein Wissen. Sie haben es, wenigstens nach ihrem Bewusstsein und ihrer Darstellung zu urtheilen, nicht durch Schlüsse ermittelt, nicht auf dem Wege des Calkuls und langer Reflexionen zu Wege gebracht. Vielmehr lehrt gerade die partielle Verrücktheit, bei welcher man noch am ehesten von den Kranken Aufschlüsse über die Entstehung ihrer Ideen erlangen kann, dass zwar im Laufe der Krankheit sich der Patient allerlei Combinationen erklügelt und sich ein System schafft, in welchem Einzelheiten durch Urtheile und Schlüsse verbunden sind, dass diess aber nicht der Vorgang beim Beginne der Krankheit ist. Wäre diess so, so müsste der Versuch, dem Kranken seinen Irrthum auf dialektischen Wege zu benehmen, weit öfter gelingen. Sie werden aber, wenn Sie bei einem solchen Versuche den Quellen seines Irrthums nachgehen, bald auf gewisse Puncte kommen, die der Kranke festhält, und auf welche als auf unumstössliche Voraussetzungen er alle seine Behauptungen stützt. Diese Voraussetzungen sind nicht logisch gefundene Resultate, sondern wenn man nach der Weise forscht, wie der Kranke darauf gekommen sei, woher er Diess und Jenes wisse, wer es ihm gesagt habe, so stösst man immer auf eine angebliche Erfahrung. Diese vermeintliche Erfahrung kann eine Hallucination oder Illusion, also eine förmliche Sinnestäuschung sein, es ist diess aber durchaus nicht nothwendig. Illusionen, so wie auch Hallucinationen können in allen Krankheiten, die mit Wahnbildung einhergehen, vorkommen, sind aber nicht eben sehr häufig, und andererseits können Illusionen und Hallucinationen, wenn die Täuschung vorübergehend ist, statthaben, ohne dass ein fixer Wahn daraus entsteht. Damit es zu diesem, zu einer irrigen Meinung des Individuums von seiner Stellung in und seiner Beziehung zu der Welt komme, braucht die Empfindung und daraus gebildete Objectanschauung durchaus nichts an sich Falsches zu liefern, nichts, was der Gesunde sinnlich nicht eben so wahrnähme. Ich hatte einmal auf der weiblichen Abtheilung nicht weniger als drei Patientinen, welche (unabhängig von einan- [>50] der, denn sie waren auf verschiedenen Abtheilungen) die Gartenbeete und Mistbeete im Gemüsegarten für Gräber erklärten. Eine von ihnen behauptete zugleich (eine Einbildung, die überhaupt nicht selten ist), das Fleisch welches sie zu essen bekomme, sei abscheulich, es sei Ratten-, Katzen-, Menschenfleisch, und Waschlumpen, welche sie in der Ferne aufgehängt sah, seien abgezogene Menschenhäute. Unmöglich ist es in solchen Fällen nicht, dass Illusionen mitspielen, aber doch nur dann, wenn aus der Ferne gesehen wird, wobei die Vorstellung das undeutlich Gesehene wirklich umzugestalten vermag; sicherlich aber ist eine solche Deutung unstatthaft bei dem Nahesehen; also des nächsten Gartenbeetes, des Fleisches auf dem Tisch. Keine von unseren Kranken hatte jemals Ratten- oder Menschenfleisch, namentlich gekocht, gesehen, so dass sie es etwa wegen der Aehnlichkeit verwechselte. Das Falsche ist vielmehr das An sich, das Wesen, der Sinn, den sie in dieWahrnehmung hineinlegen, der Gedanke an die Herkunft des Gegenstandes oder an die Absichten der Menschen dabei. Es wird etwas hinter den Phänomenen gesucht, etwas gemerkt, und diess sofort als wirkliche Wesenheit genommen, dessen Ausdruck das Wahrgenommene ist, wobei sich der Kranke um die nähere Beschaffenheit, exacte Untersuchung dieses letzteren nicht weiter bekümmert, so wenig als ein speculativer Philosoph von reinem Wasser um genaue Constatirung von Thatsachen. Gleichwohl behauptet der Kranke hinterher, wirklich Gräber, Menschenfleisch, Menschenhäute gesehen zu haben.

        Eine an einer heftigen acuten Psychose leidende Kranke hatte zwar auch Gefühlshallucinationen und ihr Geplauder trug auf der Höhe oft den Charakter des vagen Wahnsinns. Aber schon durch ihn ging das, was sich im Stadium der Abnahme deutlicher zeigte, als rother Faden hindurch, nämlich das Argwöhnen falscher Absichten, die Behauptung, dass man uunatürliche Dinge mit ihr treibe, in ihrem Bette, im Nachtstuhl allerlei Dinge versteckt halte, ja in sie selbst hinein stecke, sie vergifte u. dgl. Dass hier wenigstens nicht blos Hallucinationen zu Grunde lagen, zeigte sich an weiteren Erscheinungen. Bei ihrer geschärften Beobachtungsfahigkeit nahm sie die geringsten Bewegungen der Leute um sich her wahr und fragte immer gleich: was thut denn Die jetzt wieder? Von mir verlangte sie öfters, ich solle den Rock öffnen, oder, wenn [>51] ich zufällig die Hände auf den Rücken gekreuzt hielt, ich solle sehen lassen, was ich da verberge. Also beherrschte sie der Gedanke, dass hinter den Dingen etwas Feindseliges für sie stecke; aber dieser Gedanke wurde nicht als solcher für sich formulirt und nackt hingestellt, sondern er wurde nur unwillkührlich zu jeder Wahrnehmung hinzugedacht, so wie beim körperlichen Sehen die dritte Dimension immer nur hinzugedacht wird.

        Solche Gedanken fliegen, namentlich um die Entwicklungszeit und den Ausbruch des Wahnsinns, den Wahrnehmungen gewissermassen an, ohne dass der Kranke sich darüber weitere Rechenschaft gibt. Mit gewissen Körperempfindungen verbindet sich plötzlich der Gedanke des Vergiftetseins; eine Tasse Kaffe, ein Glas Wein war es, wodurch man es ihnen angethan hat; durch eine bestimmte Prise Schnupftabak zu einer bestimmten Zeit ist plötzlich das Gehirn metallisirt worden. Durch den Blick von Diesem und Jenem wurden oder werden sie noch bezaubert, behext oder magnetisirt. Die Mienen der Leute erscheinen bedeutungsvoll, Diess und Jenes aussagend, sie drücken Vorwürfe aus - die Leute munkeln allerlei unter einander, es wird geredet u. s. f. Der sich für einen Fürsten hält, ist darüber etwa einmal durch eine plötzliche innere Erleuchtung, während er in der Kirche betete, aufgeklärt worden, oder die Worte eines Freundes haben diesen Sinn gehabt, der Fürst oder auch eine Prinzessin haben ihn bei ihrer Spazierfahrt mit vielsagendem Lächeln gegrüsst. Oder die Kranken haben die Empfindung des Klarsehens, Hellsehens, des tiefen Einblickes in die Dinge und Verhältnisse. Diese, in denen sie leben, machen den Eindruck, mehr hinter sich zu haben, als die gemeine äussere Wirklichkeit anzugeben scheint, sind daher nicht die wahren. Sie selbst sind ganz andere Leute als sie scheinen, reich, mächtig, vornehm; und auch diess wird durch die angeblichen Mienen und Blicke der Anderen bekräftigt.

        In allen Fällen glauben die Kranken das, was sie bei gewissen Anlässen gedacht haben, auch erfahren zu haben. Der Kranke hat also eine vermeintliche, eine verfälschte Erfahrung; die Hauptpuncte seines Wahnes sind ihm erlebte oder geoffenbarte Thatsachen, welche für ihn die ganze Realität und Unumstösslichkeit des Erfahrungswissens haben, daher ist es denn auch unmöglich, den Kranken auf logisch demonstrativem Wege von seinem Irrthum zu überzeu- [>52] gen. Ist es schon im gewöhnlichen Leben.bekanntlich oft schwierig, sich gegenseitig zu verständigen, wenn man von verschiedenen Standpunkten ausgeht, so ist diess völlig unmöglich, wenn man sich gegenseitig sogar die Erfahrungen bestreitet. Auf diese Erfahrungen macht der Kranke nun weiter Schlüsse, die richtig sind, sobald man nur ihre Prämissen zugibt, bringt alle seine Gedanken, so weit sie in den Bereich des Wahnes kommen, mit ihnen in Verbindung, und macht sich allmählich ein System daraus. Die fixe Idee, die schiefe Auffassung der Welt in gewissen Beziehungen wird durch diese häufigen Wiederholungen und durch die Verknüpfung mit dem ganzen Gedankensystem immer kräftiger und hartnäckiger, sie verwächst mit dem Ich des Kranken so vollständig, dass er ihre Nichtrealität nur im Widerspruch mit seinem ganzen sonstigen Sein denken kann; sie ist ihm wahr, so wahr er lebt. Wir werden von dieser Befestigung des Wahns später noch ausführlicher handeln und haben nun seine erste Entstehung noch näher zu betrachten.

        Wie also kommt die Verfälschung der Erfahrung ursprünglich zu Stande? Wir haben gesehen, dass die Sinnesthätigkeiten nicht alterirt zu sein brauchen; der Wahnsinn setzt nicht nothwendig Sinnenwahn voraus. Wir fanden auch, dass keine formale Verstandesabweichung statt findet. Die Hauptsache und das Grundphänomen ist vielmehr, dass das Urtheil über Sinn und Bedeutung eines Vorkommnisses, sei es ein äusseres oder ein inneres, schon in die Wahrnehmung hinein gelegt wird, und dass der Kranke glaubt, jene mit wahrgenommen zu haben. Um diess zu verstehen, müssen wir, wie bei aller pathologischen Theorie, auf die Vorgänge in der Gesundheit zurückgehen. In der Erfahrung finden wir da ganz analoge Erscheinungen. Wir reihen irgend welche Eindrücke nicht blos nach ihrer sinnlichen Beschaffenheit, sondern vermöge einer Abkürzung des Denkprocesses in unsere Gedankenwelt sogleich nach ihrer Bedeutung und ihrem inneren Zusammenhang ein. Wenn wir einen Postboten auf der Strasse sehen, so glauben wir ihn die Briefe austragen zu sehen, obgleich er vielleicht zufällig einen anderen Gang hat; wir sehen Jemand fliehen oder verfolgen, obgleich wir sonst Niemand, sohin nur das Laufen sehen. Leidenschaftliche oder ungebildete Menschen vermögen Begebenheiten, bei welchen ihr Interesse in Spiel ist oder ihr [>53] Gemüth in Erregung kommt, durchaus nicht objectiv zu erzählen, sondern mischen immer ihre subjectiven Erklärungen für gewisse Handlungen in die Beschreibung dieser selbst hinein, so dass es aussieht, als hätten sie gerade diesen Zusammenhang wirklich erfahren. Bei etwas beschränkten und doch sich für gescheidt dünkenden Bauersleuten hat der Arzt oft grosse Schwierigkeiten, eine einfache Schilderung des Thatbestandes ihrer Leiden zu erfahren, weil sie ihm statt dieses ihre Anschauung von der Entstehung und dem Fortschritt des Leidens gebe, in der festen Meinung, damit etwas Objectives gesagt zu haben 3).

        Spielt nun schon im gesunden Leben unser Denken so vielfach bereits in unsere ersten Auffassungen von den Dingen hinein, so ist dies in weit höherem Grade bei dem Geisteskranken der Fall, welcher in Folge seiner Befangenheit die Dinge und Menschen um ihn her immer nur in Beziehung auf sich und sich auf jene setzt. Der fixe Wahn drückt aus, wie das Individuum die Dinge und Ereignisse versteht, was es ihnen für eine Bedeutung zuschreibt. Die Nöthigung zu ihm kann nach allem bisher Erörterten, da es sich hier um Krankheit handelt, in nichts Anderem bestehen als darin, dass in Folge der veränderten Gehirn- und Nervenstimmung sowohl die Sinneswahrnehmungen als die eigene Vorstellungsthätigkeit einen ganz anderen, fremdartigen, ungewohnten Eindruck auf den Menschen machen.

        Wir wissen, dass wir, indem wir empfinden, nicht die objectiven Eigenschaften der Dinge allein gewahr werden, ihre Farbe und Gestalt, ihre Schwere und Glätte, die Schallwellen, die von ihnen ausgehen, sondern dass jede Empfindung zugleich noch ein Gefühl mit sich führt, durch welches wir inne werden, wie wir als Subject in Ansehung auf Lust und Unlust davon berührt werden. Wir unterscheiden Beides aber nur auf dem Wege der Abstraction, nicht für gewöhnlich; für gewöhnlich legen wir den Dingen den subjectiven Werth, den sie für uns haben, auch als etwas Objectives bei; es wird die Eigenschaft des Angenehmen oder Unangenehmen, des Zusagenden, Freundlichen, oder des Widerwärtigen, Feindseligen ihnen selbst als etwas ihnen Adhärirendes zugetheilt; es riecht etwas gut oder schlecht, sieht hübsch oder garstig aus, und ist daher scheinbar selbst objectiv bös oder gut. Wenn uns dies auch im Drange des Lebens und weil wir entweder von der objectiven [>54] Seite der Dinge oder von anderen Interessen gefesselt sind, meistens nicht zum Bewusstsein kommt, so können wir doch bei einiger Aufmerksamkeit uns bald überzeugen, namentlich an neuen und ungewohnten Eindrücken oder wenn wir irgendwie in erhöhter Stimmung oder Verstimmung sind, dass in der That ein solches zu sofortiger unbewusster {ubw1}objectiver Werthschätzung führendes Gefühl mit jeder Wahrnehmung verbunden ist. Dasselbe Gefühl der Billigung oder Missbilligung, der Befriedigung und Nichtbefriedigung, der Schätzung des Werthes ihres Inhalts für unsere Persönlichkeit begleitet alle unsere Gedanken 4), allerdings meist flüchtig und unbemerkt; denn wir haben durch die Lebenserfahrung und die Ausbildung unseres reflectirenden Verstandes gelernt, um unseres eigenen Interesse willen, die Dinge möglichst unbefangen zu betrachten, und uns dabei über uns selbst hinweg zu setzen, andererseits aber auch ein Interesse über das andere zu stellen. So lernen wir eine Menge von Vorkommnissen, inneren und äusseren Erlebnissen, als für unser persönliches Wohl oder Wehe indifferente ansehen; das sich sonst an sie knüpfende Gefühl kommt nicht zur Ausbildung, wir werden wegen seiner Flüchtigkeit und Verkümmerung uns seiner nicht bewusst, und vergessen die Dinge selbst oder sehen sie wie aus der Ferne, wie als solche an, die uns nichts angehen.

        Anders wird es in der Krankheit. Mit der veränderten Stimmung der Nervenfaser bildet sich auch eine neue Erregbarkeit der mit Wahrnehmungen und Vorstellungen verknüpften Gefühle, und diese selbst erhalten einen dem Individuum selbst bisher ganz unbekannten, fremdartigen Charakter, wodurch sie sich seinem Ich mit unwiderstehlicher Macht aufdrängen. Sie wuchern und legen sich um jede Wahrnehmung und Vorstellung schon in deren Entstehen herum, verwachsen, so zu sagen, mit derselben schon in statu nascenti, so dass der Kranke nicht mehr fähig ist, sie von einander zu trennen und selbst die ganze Lebenserfahrung sammt dem gesunden Menschenverstand gegen diesen organischen Zwang nichts mehr auszurichten vermag. So bekommt denn jede äussere Wahrnehmung nicht nur, sondern auch die Selbstempfindung des Körpers von dessen verschiedenen Theilen aus durch die damit verbundenen Gefühle und Stimmungen eine gewisse Nota, eine starke des Absonderlichen, Wichtigen. Die erste und allgemeinste Wirkung hievon ist immer, dass die Wahrnehmungen eine besondere Beziehung [>55] zum Ich erhalten, den Charakter des Auffallenden, persönlich Bezüglichen annehmen, wodurch das Individuum genöthigt wird, sich damit besonders zu befassen. Es ist ähnlich, wie wenn die Wichtigkeit eines Satzes und dessen besondere Empfehlung an die Berücksichtigung des Lesers durch gesperrte Schrift, ja durch blosses Unterstreichen erreicht wird, obgleich durch Letzteres an den Worten selbst gar nichts geändert wird. Und diess gilt, wie gesagt, nicht blos für Wahrnehmungen, sondern auch für Körperempfindungen (jede Sensation kann sich mit Angst verbinden) und für die eignen Gedanken, welche dem Individuum von grösster Bedeutung und von wichtigen Folgen erscheinen, es mag sie nun für blasphemisch und schlecht oder für sehr klug und scharfsinnig halten. In Folge dieser steten Gefühlseinmengung erscheint dem Kranken Alles in bestimmter Weise gefärbt: es überrascht ihn das Unbedeutendste, ihn eigentlich nichts Angehende, es berührt ihn Alles entweder feindselig und widrig oder kitzelnd, Lust erregend. Er müsse nicht ein denkender Mensch sein, wenn er diese immer so bestimmt gearteten Eindrücke nicht in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen versuchte, wobei es das Natürlichste ist, dieselben wegen ihrer Ungewöhnlichkeit und Fremdartigkeit für beabsichtigte Wirkungen zu nehmen. Es wird ihm und ist ihm, als ob diese Wirkungen absichtlich in besonderer Richtung auf ihn dirigirt worden, die Dinge gerade um seinetwillen so geschehen, und selbst bei den gleichgültigsten Anlässen regt sich in ihm ein Tua res agitur. Die Kranken können nicht sagen wie das eigentlich zugeht; sie merken nur etwas - es geht wie sie sagen, etwas vor, sei es Schlimmes oder Gutes; es gehört entweder Alles ihnen oder es wird ihnen fortwährend Alles genommen, oder Beides ist gemischt, wie bei Jenen, deren aus widrigen Sensationen und Angst entstandener Wahn verfolgt zu werden, verbunden ist mit dem Kitzel der Eitelkeit, der Gegenstand einer Verfolgung zu sein.

        So weit ist der Wahn noch mehr vag, unentschieden, es kommt dem Kranken nur mehr überhaupt vor, als ob die Welt oder er selbst anders geworden sei, Alles einen anderen Schein erlangt habe. Selbst bei der paralytischen Geistesstörung, deren so häufiges Symptom sonst der Grössenwahn ist, kommt es doch zuweilen nicht zu diesem, sondern nur zu einer sehr heiteren, mit den äusseren Umständen nicht harmonierenden Vergnügtheit, in welcher der [>56] Kranke mit Allem zufrieden ist und Alles im besten Lichte sieht. Alle Möglichkeiten der Erklärung in bestimmterer Weise sind noch offen. »Man weiss nicht, was noch werden mag.« Wodurch wird nun dieser noch halbwüchsige, unbestimmte Wahn zum festbestimmten fixen? Kann diess in äusseren, vielleicht zufälligen Verhältnissen liegen? Manchmal wohl. Eine ganz specielle Kränkung, zuweilen aber auch nur eine geringe oder vermeintliche Beleidigung, oder etwas Widerwärtiges in der Physiognomie eines Anderen richtet sofort die Spitze auf diesen, ein vermeintlicher verliebter Blick oder ein schlechter Spass lustiger Gesellen, welche eine Freude daran haben, dem Anderen etwas aufzureden und denselben zum Narren zu haben, leitet sofort im Geiste des Kranken einen Roman ein, der ihm die volle Wirklichkeit vertritt; häufiger aber liegt die Nothwendigkeit der Fixierung im Subject selbst und dessen Bedürfniss; ja jene eben erwähnten Zufälle vermögen ohne dieses Moment eigentlich gar nicht so wirksam zu werden. Gerade die Unsicherheit, in welche der Kranke durch die geschilderte Lage versetzt ist, das Ungewohnte theils blos Fremdartige theils Unheimliche derselben treibt ihn und zwingt ihn, sich nicht passiv dem Strudel hinzugeben, sondern feste Stellung in ihm zu nehmen. Wer nur halbwegs Phantasie oder theoretischen Sinn hat, den drängt es instinctiv, hinter alle Dem Zusammenhang, Einheit und festbestimmten Zweck zu suchen. Wie wir auch im gesunden Leben für unser Verhalten und unsere Entschlüsse einen Stützpunkt nothwendig haben, welcher in dem Bewusstsein unserer Stellung in der Welt, unserer Lebenszwecke, unserer Persönlichkeit besteht und wie dieses Bewusstsein, das aber oft noch auf der Stufe des dunkeln Gefühles stehen bleibt, uns Leitstern bei der Schätzung aller Ereignisse, die irgendwie Bezug auf uns haben und bei unseren Handlungen ist 5), so sucht sich auch der Kranke einen solchen, und er muss ihn erst suchen, weil er den natürlichen Stützpunct und damit das instinctive Gefühl der Sicherheit verloren hat. Die Panphobie z. B., wo eine unbestimmte Furcht vor allem Möglichen waltet und sich bei jedem Ereigniss regt, ist ein viel zu unerträglicher Zustand, als dass er lange bestehen könnte. Das Dunkle wird klar zu machen gesucht, dem Wunsch nach Entfernung des Leidens muss dieses erst selbst fassbar entgegentreten. Denn nur so kann der kranke Mensch das auf ihn Eindringende einigermassen bewältigen, die [>57] verlorene Objectivität zum Theil wieder gewinnen. Es ist diess keine bewusste Bestrebung, kein absichtlicher Erklärungsversuch, sondern ein unwillkührlicher, dem Individuum selbst unbewusster {ubw2} Act  6), das Erwachsen eines neuen Gedankens unmittelbar aus dem Geist der Krankheit heraus. In dem Individuum sind alle Bedingungen gegeben, sich einen Vorgang, ein Verhältniss, das die jüngsten Erfahrungen zu einer Einheit verbindet, als nothwendig und hiemit auch als wirklich zu denken. Es füllt mittelst seiner Phantasie 7) die Lücke aus, welche im Ring der Erfahrungen und Begebenheiten noch fehlt, um sie abzuschliessen und Position zu ihnen nehmen zu können; eine Thätigkeit, welche derjenigen analog (nicht identisch) ist, welche das Sehfeld an der Stelle des blinden Flecks unbewusst {ubw3} ausfüllt. Ist diess nun aber einmal geschehen, so wird der Gedanke, welcher als verbindende Einheit den Wahrnehmungen zu Grunde gelegt wurde, diese mag als Absicht, Plan, Sinn oder Zweck erscheinen, später wiederum aus Allem herausgelesen, und dieses wird zum Beweise von jenem.

        Man könnte nun fragen, welches denn jene Modification in der Nerventhätigkeit sei, auf welche ich alles Gewicht lege und von welcher als dem Mittelpunct und der Wurzel aus ich alle Erscheinungen ableite. Ich hätte das Recht die Beantwortung dieser Frage abzulehnen, weil es hier, in einem psychologischen Vortrag, nur darauf ankommt, die Entstehung der Wahnidee von der psychologischen Seite aufzuklären und diese Erklärung bis zu dem Punkte zu führen, wo die physische beginnt und sich anknüpfen muss. Ich will von diesem Rechte keinen Gebrauch machen, aber nur, um offen zu gestehen, dass wir die fragliche Störung des Nervensystems ihrem Wesen nach noch nicht kennen. Alles muss hier noch der künftigen Forschung mit allen schon vorhandenen oder noch zu entdeckenden Hülfsmitteln überlassen bleiben 8). Wenn wir aber erwägen, wie die minimalsten Gaben gewisser Gifte so furchtbare Wirkungen ausüben können, und dass manche Farbstoffe selbst in kleinsten Mengen noch grosse Massen von Flüssigkeit zu färben vermögen, so werden wir uns darauf gefasst machen müssen, dass die Störungen in der Nervensubstanz von einer Feinheit sind, welche ihrer Ergründung noch lange die grössten Schwierigkeiten bereiten wird. Einstweilen mögen wir uns genügen lassen, zu wissen, dass sie vorhanden sind. Und dafür haben wir unzweifel- [>58] hafte Beweise. Die verschiedenartigsten und sonderbarsten Sensationen, über welche derartige Kranke, Verrückte namentlich, klagen, oder deren sie sich wohl auch rühmen, sprechen dafür 9). Mehr als ein Kranker hat mir sogar gesagt, er spüre den neuen Geist, der in ihn gefahren, im ganzen Leib, bis in die Fingerspitzen hinaus. Instinctiv drücken Andere das fremdartige Etwas, das in ihren Nerven haust, dadurch aus, dass es ihnen angethan worden sei. Und das Gefühl, welches ihr Vorstellen begleitet, bezeichnen wieder Andere je nach der Qualität bald dadurch, dass ihnen die Gedanken gehemmt oder entzogen würden, bald dadurch, dass sie hellsehend oder somnambül geworden seien.

        So ist nun im Wesentlichen der Vorgang bei der Bildung der fixen Wahnideen. Wir sehen, dass diese nicht in einem Verstandesirrthum beruhen, und desshalb können sie auch nicht durch verstandesmässige Belehrung umgestossen werden. Sie sind ein Product der Phantasie, aber kein reines, für sich bestehendes, sondern ein durch die Bearbeitung der Wirklichkeit entstandenes und mit der Vorstellung von dieser vermischtes. Der Kranke beruft sich auf seine Erfahrung, diese Erfahrung ist eine falsche; aber er hat kein Bewusstsein davon, weil schon der Act der Verfälschung selbst ihm unbewusst {ubw4}von Statten gegangen ist; er muss daher seine Erfahrung für so rein, sicher und beweiskräftig halten, wie irgend eine andere. Er muss an seine Wahnideen glauben.

        Obgleich wir nun hierin die Hauptsache und den Kern der Wahnbildung zu sehen haben, so dürfen wir uns doch nicht verhehlen, dass die Macht der Wirklichkeit und zum Theil auch, namentlich in den frischeren Fällen, die Reaction des gesundgebliebenen Theiles des Seelenlebens den Wahn, auch wenn die angegebenen Bedingungen gegeben sind, gar oft entweder bereits im Keime ersticken oder seine Weiterentwicklung verhindern und seine Lebensdauer abkürzen müssen. Es wäre von grossem Interesse, diese Umstände weiter zu verfolgen, ihre Kenntniss müsste von den weittragendsten Folgen für Prophylaxis und Therapie dieses so oft unheilvollen Symptomes sein. Wir müssen uns aber versagen, in diese Gebiete hier, wo wir es nicht mit der Verhütung, sondern mit der Erzeugung des fixen Wahne zu thun haben, tiefer einzudringen, sondern haben im Gegentheil die Umstände aufzusuchen, welche die Entstehung und das Wachsthum desselben be- [>59] fördern. Wir fassen zu diesem Zwecke die Formen von Seelenstörung, in welchen er auftritt, nach ihren zwei Hauptgruppen, den acuten und den chronischen, ins Auge.

        In sehr acuten Fällen kann der Wahn plötzlich, mit einem Schlag entstehen. Diese ist wohl nur bei sehr plötzlich, in der Nacht, unmittelbar nach dem Aufwachen ausbrechenden activen Melancholieen der Fall, wo die Kranken unter unsäglicher Angst mit einem Male von dem Gedanken befallen werden, dass ihnen Mörder oder Gespenster oder dergl. drohen. Meistens liegt hier eine aus dem Traum mit herübergenommene Vorstellung zu Grunde, die ihnen dann Alles als Schrecken erregend vorkommen lässt. Hie und da kommt dasselbe auch in anderen Fällen von sog. transitorischer Manie, besonders wenn durch einen heftigen Schrecken eine momentane Sinnesverwirrung eingetreten ist, dann bei den Paroxismen Hysterischer und Epileptischer vor. In allen diesen Fällen ist das Individuum in einem halben Traumzustand, und das Bewusstsein noch mehr allgernein gestört.

        Viel häufiger ist aber die Entwicklung des Wahnes auch in den acuten Formen der Manie und der Melancholie eine allmälige, und es ist bei ihnen vorzugsweise die Leidenschaft und der Affect, in deren Brutwärme er rasch wächst und gross gezogen wird. Wir können uns davon eine annähernde Vorstellung machen, wenn wir die Wirkung der Stimmung auf die Geistesgesunden in Betracht ziehen. Wer in zornmüthiger Stimmung ist, dem erscheint Alles feindselig, selbst die Heiterkeit Anderer ärgert ihn, er fasst die harmlosesten Aeusserungen schief auf; als anspielerisch, höhnisch, ja er ist geneigt, seinen Zorn auch an unschuldigen Dingen oder Personen auszulassen, wenn diese ihn nur irgendwie stören (»du kommst mir gerade recht«). Instinctartig suchen manche Leute ihres Aergers dadurch los zu werden, dass sie nach Etwas oder nach Einem suchen, an dem sie ihn auslassen können, bei jedem Unangenehmen, das ihnen widerfährt, sofort nach einem Thäter spähen, und womöglich nicht den Zufall gelten lassen, sondern immer schlechte Absicht, Eigensinn und dergl. wittern, diess dann sofort als gewiss annehmen und Scheltworte oder Züchtigung darauf setzen, alles oft in rapider Schnelligkeit. Andererseits erscheint dem freudig Gestimmten, demVerliebten, der geliebt wird, dem, der eine Erbschaft gemacht hat, oder dem, dessen Eitelkeit oder Ehr- [>60] geiz befriedigt worden ist und dem ein Plan nach dem anderen glückt, Alles freudig, Alles rosig, er nimmt Unangenehmes auf die leichteste Achsel, es tangirt ihn nichts. Indem er alle Leute mit freundlichem Gesicht anschaut, ärntet er wieder freundliche Mienen dafür, und so nimmt er auch Alles, was er hört oder gewahr wird, in bestem Sinne. Es begreift sich leicht, dass alle diese Einflüsse der Stimmung auf die Auffassung und Werthschätzung der Dinge in der Geisteskrankheit, wo vor Allem das Gemüth tief und intensiv ergriffen ist, sich um so stärker geltend machen werden. Manche Tobsüchtige, besonders solche, welche im Uebergang von der acuten zur chronischen Manie begriffen sind, sind immer in zornmüthiger Stimmung, und kommen aus dem Schimpfen und Spucken nicht heraus. In den geringeren Graden wüthen sie nur gegen gewisse Personen, und es ist hier, da ihnen diese in der Regel nichts gethan haben, nichts anderes denkbar, als dass dieselben etwas Feindseliges, Gehässiges für sie haben, dass ihnen deren Blick, ja ihr Wesen überhaupt., eine Beleidigung und ein Vorwurf zu sein scheint. Sie schimpfen auf sie blind darauf los und wählen zum Inhalt. ihrer Schmähungen das nächste Beste, wie wenn man einen Stein oder sonst etwas aufrafft, um damit zuzuschlagen - daher vor Allem Gebrechen, oder irgend eine Möglichkeit, woraus sofort eine Lüge gemacht und dem Anderen an den Kopf geworfen wird. Dabei wird zugleich diesem Anderen die eigene Stimmung, die eigene aggressive Absicht, untergeschoben. Schliesslich dehnt sich diess in den höheren Graden auf alle Menschen aus, die Kranken verhüllen sich wohl zuweilen, nur um Niemanden zu sehen und nicht zum Zorn gereizt zu werden. Ein ganz anderes Bild stellt der heitere Maniaker dar; aber auch er beurtheilt, wenn ihm Alles leicht und glückverheissend oder auch als lächerlich und seines Muthwillens würdig erscheint, die Dinge falsch. Der Melancholiker endlich braucht noch gar keine fixe Wahnidee zu hegen, um doch im Allgemeinen sich für werthlos oder missachtet zu halten, Alles in düsterem Licht zu sehen und immer nur möglichst Unangenehmes, wenn es auch nicht irrig ist, zu denken. Es begreift sich, dass in solchen Gemüttsverfassungen der Wahn, wenn er auf die früher besprochene Weise im Keim gebildet ist, den günstigsten Boden findet, auf welchem er wie ein Parasit auf schon erkrankten orga-[>61] nischen Gebilden sich in üppigster Weise rasch vollends entwickeln kann.

        Was nun in acuten Seelenstörungen in mehr oder minder kurzer Zeit geschieht, das vollzieht sich in den chronischen, soferne sie sich nicht aus acuten herausbilden, mehr allmälig. Die Umstimmung im Nervenleben macht sich auch hier durch mancherlei Erscheinungen bemerklich. Ein allgemeines tiefes Unwohlsein, bald mit schmerzhaften oder widerlichen örtlichen Sensationen, bald mit unbestimmtem Weh, Zustände, welche meistens für Hypochondrie erklärt werden, gehen zuweilen der Gestaltung der Krankheit als partielle Verrücktheit längere Zeit vorher. Die beim Ausbruche dieser selbst in ihnen stattfindenden Vorgänge bezeichnen die Kranken sehr oft mit einem der schon früher angegebenen Ausdrücke. Und auch während des späteren Verlaufes äussert sich die Nervenstörung noch oft genug durch allerlei Symptome. Obgleich nämlich die Verrückten im Allgemeinen körperlich gesund erscheinen, so ist doch in der That ein völliges Freisein derselben von leiblichem Unwohlsein eine Seltenheit. Manche leiden zuweilen an allgemeiner Ermattung und Abgeschlagenheit bis zu dem Grade, dass sie Tage lang im Bett liegen bleiben, oder sie haben öfters Gastricismen; oder es verschlimmern sich von Zeit zu Zeit asthmatische Beschwerden; besonders häufig sind aber Nervenschmerzen und unangenehme Empfindungen aller Art, welche freilich eben so, wie die ebenfalls von innen heraus entstehenden angenehmen Sensationen sofort irrig gedeutet werden.

        Zu dieser einen Grundlage für die Wahnbildung kommt nun aber bei den auf dem Wege zur Verrücktheit Befindlichen noch eine Umwälzung im Gemüthsleben. Jene intensive Angst, welche bei dem Melancholiker, jenes überschwängliche Gefühl von Wohlsein und Ueberlegenheit, welches bei dem Manischen Keimstätte des fixen Wahnes ist, finden wir zwar hier nicht. Aber gleichwohl ist die Unversehrtheit der Gemüthssphäre bei den Verrückten theils überhaupt selten, theils nur scheinbar vorhanden und bei nur einigermassen schärferer Nachforschung immer zu entdecken. Wo die Umgebungen des Kranken auf diesen achtsam und fähig zur Beobachtung waren, findet man immer, dass entweder mehr oder minder lange Zeit die Erscheinungen einer auffallenden Veränderung im Gemüthsleben vorhergegangen waren, sich kundgebend [>62] in überspannt lebensfroher oder gedrückter Stimmung, Empfindlichkeit, vagen Misstrauen, oder dass durch seine nervösen hypochondrischen Sensationen in dem Kranken selbst der deprimirende Gedanke bevorstehender geistiger Erkrankung erregt und unterhalten worden war. Aber auch, wenn die Verrücktheit sich schon ausgebildet hat, so entgeht dem aufmerksamen Beobachter nicht, dass Gefühle und Bestrebungen auch unabhängig von ihrer Erregung durch den Wahn sich verändert haben. Die Lust zur eigentlichen Arbeit verliert sich, auch ohne dass man in der ersten Zeit schon lediglich die Befangenheit des Interesses durch die fixe Idee allein als Ursache beschuldigen könnte; und Liebe und Zuneigung zu Frau, Aeltern, ja Kindern verwandeln sich zuweilen nicht blos in Gleichgültigkeit, sondern selbst in Abneigung. Dass dieses Mitleiden des Gemüthslebens nicht immer deutlich in die Augen fällt, hat ausser der anfänglichen Selbstbeherrschung der Kranken und der Unachtsamkeit der Umgebung noch einen dritten Grund, den nämlich, dass dasselbe durch den Wahn selbst so zu sagen, maskirt ist. Da dieser nämlich das Blendende, leichter Aufzufassende ist, so nimmt er alle Aufmerksamkeit in Anspruch, und es gewinnt leicht den Anschein, als ob er das Primäre, die Gemüthsaffection aber lediglich das Secundäre, erst in seinem Gefolge Entstandene wäre. Diess ist nun zwar zuweilen so, in der Hauptsache aber nicht, wie eine sorgfältigere Betrachtung und Erwägung des Gesammtverlaufes der Störung lehrt.

        Vor Allem muss man sich vor der falschen Anschauung hüten, dass der fixe Wahn etwas Ruhendes, ein für allemal Fertiges sei, das im Hirn etwa so eingebettet sei wie ein Tuberkel. Diess ist in der That, wenn auch unbewusst {ubw5}, die landläufige, so ziemlich Jedem unwillkührlich geläufig werdende Vorstellung; wenn man von Jemand sagt, er habe eine fixe Idee, so denkt man sich dieselbe nun so fest in die Seele hineingedrungen, dass sie darin steckt wie ein eingeschlagener Nagel. Eine Idee ist aber niemals etwas Todtes, sondern immer eine lebendige Function, die, wie auch andere nicht blos auf die Ernährung bezügliche, sich durchaus nicht immerfort äussern muss. Nicht allein, dass der Wahn keineswegs in Einem fort kundgegeben wird, so denkt ihn auch der Kranke nicht anhaltend. Man kann manche partiell Verrückte, wenn man vorsichtig zu Werke geht, im Gespräch so führen, dass lange [>63] Zeit ihr fixer Wahn gar nicht zum Vorschein kommt; die Arbeiten, welche die Kranken verrichten, sind gar oft von der Art, dass dieselben, um sie recht zu machen, an etwas Anderes dabei nicht denken dürfen; sie spielen Schach und Karten ganz gut, womit sich ein gleichzeitiges fortwährendes Denken des Wahnes nicht vertrüge. Wäre Letzteres der Fall, so müsste die anhaltende Einförmigkeit der Gedanken den Blödsinn ohne allen Vergleich viel rascher herbeiführen als es der Fall ist. Aus alle Dem geht hervor, dass der fixe Wahn des partiell Verrückten nicht immerfort in Wirklichkeit besteht, sondern dass unter seiner Fixität nur ein sehr häufiges und leichtes Auftauchen desselben verstanden werden kann. Der Wahn wird immer wieder, durch bedeutende oder geringe Anlässe, erzeugt, weil in der chronischen Seelenstörung selbst die Ursachen gegeben sind, dass unter gewissen Bedingungen der Vorstellungslauf immer wieder denselben Gang nimmt. Wir beobachten hienach, dass in der Häufigkeit der Aeusserung des fixen Wahns bei den einzelnen Verrückten eine sehr grosse Verschiedenheit herrscht. Während ihn die Einen nur auf schriftlichem Wege verrathen, sprechen ihn die Anderen lieber in der Conversation aus; und während die Einen Wochen lang von ihm stille sind, und ihn nur in ihren Paroxysmen aussprechen, kann man Andere ihn alle Tage zum Besten geben hören. Dazwischen gibt es natürlich viele Mittelstufen; vor Allem aber sind es ausserordentliche Ereignisse, der Besuch eines Fremden in der Anstalt, Veränderungen, die im Personal vorgehen, Unzufriedenheit über das Essen oder über ein Kleidungsstück u. dgl., wodurch der Erguss der wahnhaltigen Aeusserungen hervorgerufen wird. Diese Thatsachen sind uns der Leitfaden, an welchem wir das Verhältniss des Gemüthszustandes der Wahnsinnigen zu ihren fixen Ideen auffinden können. Wir sahen, wie bei den acuten Formen der Geisteskrankheiten die Bildung des Wahns aus den veränderten die Empfindungen und Vorstellungen begleitenden Gefühle mittelst der symbolisch ausdrückenden Phantasie durch die Gemüthslage des Kranken eine mächtige Förderung empfängt. Der Uebergang von ihnen zu den chronischen Seelenstörungen bilden die periodischen, und so werden wir vermuthen dürfen, dass hier die vermittelnden Glieder zwischen dem acuten Wahnsinn und dem fixen Wahn der partiellen Verrücktheit zu finden sein werden. Nun ist es bei diesen periodischen Seelenstörungen eine häufige Beobachtung, dass bei jedem [>64] Rückfall oder Paroxysmus sich immer dieselbe Gedankenreihe und damit dieselbe Gruppe von Wahngebilden einstellt wie im ersten Anfall. Nicht anders wird es sich im Wesentlichen da verhalten, wo die zeitenweisen Aufregungen weniger reine Zwischenräume zwischen sich haben, sondern wo eine gewisse Unfreiheit auch die ruhigeren Perioden charakterisirt und den Paroxysmus mehr als eine temporäre Steigerung der chronischen Seelenstörung erscheinen lässt. Wir haben gesehen, wie bei den partiell Verrückten der Wahn oft sehr zurücktritt und sich wenig oder gar nicht verräth; wir wissen aber auch, wie von Zeit zu Zeit, wenn ein körperliches Unwohlsein oder ein psychischer Anlass, eine Zumuthung, Ablehnung oder Zurechtweisung eine Gemüthsregung setzt, in dem dadurch bewirkten Sturm aller verborgener Unsinn aufgewirbelt wird. Dass es der Gemüthsaffect ist, welchem in solchen Fällen die Wiedererneuerung des Wahnes zuzuschreiben ist, geht aus zwei Thatsachen hervor. Erstens kann der Verrückte manchmal zufällig oder absichtlich an seinen Wahn erinnert werden, ohne dass er sonderlich darauf reagirt oder sich vermüssigt fühlt, denselben weitläufiger auseinanderzusetzen; und zweitens kann die Ursache, welche den Affect erregte, eine dem Wahne selbst ganz fremde sein und doch dieser augenblicklich hervortreten. Die Wahngedanken sind eben bei dem Kranken eine innige Verbindung mit leidenschaftlichen Gefühlen eingegangen; jeder Affect ruft auf dem Wege der Erinnerung frühere ähnliche Gemüthslagen und mit ihnen die mit ihnen verbunden gewesenen Vorstellungen wach. Es können aber auch, ebenso wie durch einen Aerger oder Schrecken oder selbst durch eine plötzliche Freude, Kopfweh, Zahnschmerz, Kriebeln in den Extremitäten oder sonst eine dem Individuum habituelle Neuralgie erregt werden kann, beim Verrückten durch einen auf irgend einen Anlass entstehenden Affect seine abnormen Sensationen erregt oder wenigstens seine sensible Nerventhätigkeit so afficirt werden, dass deren gewöhnliche Function sich ihm in abnormem Modus fühlbar macht, woran sich dann die Wahnvorstellungen anreihen. So erklärt es sich, dass diese oft längere Zeit latent sein können, so lange eben keine leidenschaftliche Aufregung da ist. Tritt aber eine solche, sei es in Folge einer temporären Steigerung der Reizbarkeit oder durch einen bedeutenden äusseren Anlass ein, so bringen die aus dem dunkeln Grund aufsteigenden Gefühle allemal die [>65] fixen Ideen mit herauf; und die Aufregungen entstehen daher in der Regel nicht desshalb, weil der Patient an seine Wahnideen denkt, sondern wenn er aufgeregt ist, denkt er mehr an seine Wahnideen. Zuletzt wird alle Leidenschaft der Idee dienstbar, d. h. es kann keine leidenschaftliche Aufregung mehr entstehen, ohne dass sich auch der fixe Wahn einmischt, ihr seinen Inhalt und Sinn substituirt, kurz sie in ihren Dienst nimmt und für sich thätig sein lässt. Es lässt sich leicht denken, wie dadurch nach und nach die Empfänglichkeit des Gemüthes für andere Interessen abgestumpft und die Fähigkeit der Begeisterung für andere Ideen ganz erlöschen kann.

        Wenn uns nun so die Erfahrung gelehrt hat, dass die Affecte auch in chronischen Seelenstörungen ihren reichen Beitrag zur Entstehung und Unterhaltung des Wahnsinns liefern, so ist doch damit nicht gesagt, dass sie dazu durchaus nothwendig sind. Das die Wahnbildung bedingende abnorme Empfindungs- und Denkgefühl kann auch ohne Affect existiren. Dann thut hier die Gewohnheit sehr viel. Ist dem Individuum einmal das Eingleiten auf gewisse Vorstellungs- und Ideengeleise recht geläufig geworden, so braucht das betreffende Gefühl gar keine sonderliche Höhe zu erreichen, sondern, sobald es nur im Keim, im Anklang, erregt ist, so stellt sich schon die Wahnidee ein. Wenn es daher zwar nicht richtig ist, Affectlosigkeit schlechthin als Charakteristicum der partiellen Verrücktheit aufzuführen, so lehrt doch im Allgemeinen die Erfahrung, dass in ihr die fixen Ideen nicht mehr unter solchen Gemüthstürmen auftreten wie in den acuten Formen. Oft genug üben daher die verrückten Ideen auch in den relativ besseren Zeiten ihren Einfluss aus und geben nach und nach dem gesammten Vorstellungskreis des Individuums eine einseitige Richtung und Färbung.

        Je allmäliger der Wahn sich ausbildet, desto deutlicher kann man gewahr werden, wie er aus einem Keime heraus wächst. Im Anfang spielt dann der Kranke noch mit der Möglichkeit des Gedankens, er hat an ihr sein Gefallen, und verspürt dabei einen, wenn auch zuweilen zugleich schaurigen, Kitzel der Productivität; in den Perioden der Ernüchterung erscheint ihm das Wahnbilden dabei noch als eine Schwäche 10), er kann sich dessen noch schämen und die Aeusserung seines Wahnes Anderen gegenüber noch unterdrücken. Je häufiger er aber den Gedanken reproducirt, desto wahrscheinlicher wird er ihm. Wie es überhaupt nach einer ge-[>66] meinen Erfahrung nur nöthig ist, den Menschen gewisse Sätze recht oft ausschliesslich vorzusagen, um sie schliesslich zum Glauben derselben zu bringen, es macht die stete Repetition des Lieblingsgedankens dieselbe Wirkung. Diess um so mehr, wenn in entsprechendem Maasse die mit dem Wahn in Widerspruch stehenden Vorstellungen seltener reproducirt werden. Allerdings befestigt sich der Wahn dadurch, dass diese Contrastvorstellungen, wie man sie zu nennen pflegt, zurücktreten. Aber man darf diesem Umstand keine zu grosse Wichtigkeit beilegen und etwa gar den fixen Wahn aus dem (mehr oder weniger zufälligen) durch die Gehirnkrankheit bewirkten Auslöschen der entgegengesetzten Vorstellungen erklären wollen. Leute, welche sich für Kaiser und Prinzen erklären, haben desshalb noch nicht ihren Namen vergessen, lassen sich bei demselben nennen, und gestehen willig zu, dass sie Buchdrucker und Metzger sind. Ein solches Auslöschen und Obliteriren von Contrastvorstellungen könnte ja an und für sich nur partiellen Blödsinn hervorbringen; und andererseits müsste man dann den Wahnsinn durch das stete Vorsagen der Wahrheit, durch immerwährendes Wiedereinprägen dessen, was der Patient vergessen zu haben scheint, neutralisiren können. Der Wahn selbst wird immer die Hauptsache und das Primäre sein; blassen ihm gegenüber die contrastirenden Vorstellungen ab, so wird er allerdings ungestörter wachsen können.

        Er wächst aber nicht blos dadurch, dass er die ihm entgegenstehenden Erinnerungen abschwächt, sondern auch dadurch, dass er indifferente verfälscht. Diess kann auf verschiedene Weise geschehen. Es kann für die jüngste Vergangenheit eine Umsetzung der Aufeinanderfolge stattfinden, so dass, was Wirkung war, als Ursache erscheint. So behauptete einer unserer Kranken, welcher in besonders innigem Verkehr mit Gott zu stehen erklärt, es habe einmal, als er während eines Gewitters im Garten war, immer gerade dann gedonnert und geregnet, wenn er es gerade gewollt; ein andermal, es seien morgens die Gaslaternen draussen auf der Strasse in dem Angenblick ausgelöscht, wo er daran dachte. Es mag hiebei der Zufall das Meiste gethan haben; gewiss aber wurde auch hinterher in der Erinnerung der Gedanke öfters auch an Zeitstellen eingeschoben, wo er in der Wirklichkeit nicht stattgefunden hatte. Manche Kranke, die Nachts viel plaudern und dadurch Andere [>67] stören, behaupten hartnäckig, durch Andere geweckt und erst dadurch unruhig geworden zu sein. In den meisten Fällen ist es jedoch die weiter zurückliegende Vergangenheit, welche durch Einmischung von Wahnideen verfälscht wird, entweder so, dass gewisse Begebenheiten umgewandelt, im Sinne des Wahnes in einzelnen ihrer Bestandtheile verändert werden oder ganz und gar erdichtete Begebenheiten in sie eingeschoben werden. Eine Taglöhnerin hat viel mit einem Geist zu thun, der oft Stunden, ja ganze Nächte lang in sie hineinredet, bald Angenehmes, bald Widerwärtiges, namentlich aber auch sie zu manchen Handlungen, zu Schimpfen und Zuschlagen, auffordert; als mir dieselbe nun einmal ihre Lebensgeschichte erzählte, kam sie auch darauf, dass sie einmal (aber schon viele Jahre vor ihrer Erkrankung) einen Käselaib gestohlen und behauptete, nach dem Motive gefragt, diess sei ihr schon damals von ihrem Geist befohlen worden. Eine andere weibliche Kranke, welche Misstrauen gegen eine Wärterin hegte, erklärte, ihr Bruder habe ihr schon zu Hause gesagt, dass diese (die beide vorher gar nicht kannten, die er aber mit Namen genannt haben sollte) sie vergiften werde. Ein Metzger, seit 1857 in der Anstalt, der vor 30 Jahren längere Zeit in Wien war, will damals schon öfters mit seinem »Herrn Bruder« Louis Napoleon zusammengewesen sein; bei einer dieser Gelegenheiten habe ihm N. anvertraut, dass er eine Spanierin heirathen werde. Ein anderer Kranker erzählt, er habe schon als Knabe mit seinem Vater den hiesigen Irrenhausbau besprochen, und es mag nun noch in und an der Anstalt zugebaut werden was will, von Allem war auch schon im älterlichen Hause die Rede gewesen; der Erzherzog Max von Oesterreich sei schon vor Jahren zu ihm nach Nürnberg gekommen und habe ihn nach Mexico engagiren wollen, während der Kranke doch in Wirklichkeit schon lange vor dem mexicanischen Handel in die Anstalt gekommen ist. So manche Fälle, wo Kranke behaupten, uns schon früher in dieser Eigenschaft da und dort gesehen und gekannt zu haben und uns den entsprechenden Titel und Namen geben, dürften ebenfalls in diese Kategorie gehören 11).

        In Fällen dieser Art wird irgend eine Wahrnehmung oder eine Begebenheit, die erzählt wird, sofort oder kurze Zeit danach für eine schon einmal dagewesene, für eine Erinnerung gehalten, entweder in der Art, dass es sich dabei um einen Gedanken, etwa  [>68] sogar eine Entdeckung, handelt oder um etwas Besonderes, das dem Betreffenden widerfahren ist 12). Dieser kann es im Gefühl seiner eigenen Weisheit nicht vertragen, dass er nicht schon im Besitze dieses Wissens gewesen sein soll. Das Neue ist für Bewusstsein gewissermassen eine Verneinung seines Wissens, seines Selbstgefühles, und muss als solches beseitigt werden. Er sucht daher (alles nicht mit bewusster Absicht, etwa um Andere zu täuschen, sondern instinctiv) in seiner Erinnerung herum, bis er irgend welche Umstände aufgetrieben hat, unter welchen er jene Ideen zuerst gehabt oder ausgesprochen oder jene Erfahrung, jene Bekanntschaft gemacht haben, bis er gewissermassen ein Nest oder  einen nestähnlichen Platz gefunden hat, worin ganz gut ein Ei liegen könnte, das er dann darin als von ihm selbst wirklich gelegt in der eingebildeten Erinnerung sieht. Mit der Wiederholung befestigt sich diese wahnhafte Erinnerung dann immer mehr, und ist ein Analogon hievon die bekannte Erfahrung, dass alle Lügner zuletzt ihre Lügen selbst glauben; nur mit dem Unterschied, dass beim Geisteskranken schon von Anfang eine unbewusste {ubw6} Selbsttäuschung, kein absichtliches Lügen stattfindet.

        Scheinbar etwas ganz Anderes, in Wirklichkeit aber eine verwandte Erscheinung ist es, wenn der Patient dieses schon früher Gedachthaben und Erfahrenhaben nicht sich selbst, sondern Anderen zuschreibt, und nicht in die fernere sondern in die unmittelbare Vergangenheit verlegt. Die Wahnsinnigen oder Verrückten glauben dann, Andere wüssten ihre Gedanken oder hörten dieselben gar. Dieses Hören ist offenbar kein wirkliches, sondern nur eine Folgerung. Es ist den Kranken nur so, als ob die Leute ihre Gedanken wüssten, und diess wiederum ist nur eine Variation des Pseudowissens von Dem, was Andere überhaupt denken, eine Variation, welche durch das Gefühl entsteht, beeinträchtigt, beherrscht zu werden, nicht entrinnen zu können; woraus dann zugleich unter Missdeutung der Mienen, die Idee sich bildet, als ob Andere dadurch über den Kranken Gewalt hätten, dass sie seine Gedanken wissen. Indem nun diess sofort als wirkliche Erfahrung genommen wird, wird darin eine Bestätigung der Wahnideen gesehen, und so ist ein weiteres Element und Bindemittel in dem Truggewebe des Wahnsinns fertig.

        In so ferne der Wahn auf die bisher besprochene Weise sich [>69] allmählig entwickelt, ist derselbe jedenfalls im Anfang weniger ausgebildet als später. Die ihm angehörigen Vorstellungen stehen an Kraft und so zu sagen hinsichtlich des Raumes, welchen sie im Bewusstsein einnehmen, noch zurück gegen diejenigen, welche durch den Lauf des gewöhnlichen socialen und bürgerlichen Lebens, durch Studien u. dgl. erregt werden. Aber mit der Dauer und der Zunahme der Krankheit kommen sie, wie wir sahen, häufiger und schon bei geringen Anlässen. Wenn man früher jene gewöhnlichen, dem Stand und den Verhältnissen des Individuums natürlichen Gedanken seine Hauptgedanken nennen konnte, können diese krankhaften, deren der Mensch sich anfangs noch schämt und zu erwehren sucht, als Nebengedanken betrachtet werden, welche mit jenen oft zugleich ausgelöst werden, sich wie ein Schatten an dieselben hängen. Mitgedanken, Mitvorstellungen hat man sie genannt 13). Sie sind aber jedenfalls nicht eine Nebensache, sondern die Hauptsache bei der fixen Idee, sie sind diese selbst. Nur sind sie in ihrer Embryonalzeit oft noch unscheinbar und stellen sich nur mehr als Begleiter dar. Aber durch ihre häufige Wiederholung, und  indem sie sich allmälig mit immer mehreren psychischen Acten verbinden, werden sie zuletzt das Bindemittel für diese und erscheinen als der gemeinschaftliche Hintergrund, auf welchen dieselben spielen. Dem Menschen selbst unbewusst {ubw7} durchsetzen sie seine gesammte Vorstellungsthätigkeit, geben den Einschlag zum Gewebe und bestimmen seine Auffassungsweise und sein Verhalten. Auch dafür haben wir Analoga im gewöhnlichen Leben. Wir sind unzählige Male in der Lage, während der Ausführung von Handlungen, welche an und für sich die Aufwerksamkeit schon für sich allein in Anspruch zu nehmen scheinen, noch andere Gedanken mit uns zu führen, um im Bedürfnissfalle von ihnen Gebrauch zu machen, Gedanken, welche an sich keine grosse Lebhaftigkeit haben, ja nicht haben dürfen, aber doch stark genug sind, gegebenen Falles sich sofort geltend zu machen. Ein Beispiel dieses steten Denkens an die Situation oder besondere Umstände der Situation ist das Musiciren. Wir denken beim Spielen eines Musikstückes nicht blos an die Noten und deren Werth und an das Tempo, sondern auch fortwährend an den Tact, namentlich aber an die Tonart, so dass wir nicht fehlgreifen, obgleich das # und das b keiner Note mehr extra vorgedruckt ist, und obgleich wir fast [>70] keine Zeit zu haben scheinen, bei Sechszehnteln und Zwei und Dreissigsteln uns der Tonart allemal erst zu erinnern, uns das # und das b neben der Note vorzustellen. Das, was man im Leben Tact und Lebensart nennt, besteht hauptsächlich in der Anerziehung dieser Mitgedanken, welche in jedem Fall, wo sie zur Anwendung zu kommen haben, sich sofort einstellen und so, indem sie zur anderen Natur werden, dem so gewöhnten Menschen einen Vortheil vor jenem geben, welcher sich die zweckmässigste Art des Benehmens in jedem Falle erst aus seinem eigenen Ingenium bilden muss. Solche die gesammte psychische Thätigkeit influirende Mit- und Nebengedanken nun können auch die durch krankhafte Stimmung erzeugten, die Wahngedanken im Anfang sein. Da sie aber, weil sie theils Zwangs, theils Lieblingsgedanken sind, sehr oft reproducirt werden und eine Menge von Associationen in unserer Seele unbewusst {ubw8} vor sich gehen, so beeinflussen sie unsere Gedanken, Urtheile und Handlungen, ohne dass wir es wissen. Statt der normalen oder unseren wirklichen Interessen entsprechenden Association entsteht eine durch diesen krankhaften Hintergrund bedingte, und die ganze Vorstellungswelt erscheint nun in dieser Beleuchtung. Allmälig wuchern nun aber die Wahnideen so, dass sie, namentlich wenn sie einmal zu einem System vereinigt sind, nicht mehr blos im Gefolge von anderen Wahrnehmungen und Vorstellungen als deutende und lückenfüllende, sondern als selbstständige auftreten; das Individuum lebt dann ganz in ihnen und sieht in ihnen Inhalt und Aufgabe seines Lebens. Auch gewöhnliche Vorurtheile, Gewohnheit, eigenthümliche Neigungen können gewisse Lieblingsgedanken fixiren; aber diese Befangenheit des Gesunden unterscheidet sich von der des Geisteskranken dadurch, dass sie nicht von excessiv krankhafter Stimmung und Selbstempfindung getragen ist, und dass daher die vorherrschenden Gedankenkreise nicht den Umfang und die Selbsständigkeit erlangen, um die Besonnenheit zu rauben.

        Nachdem wir nun so die Bildungsweise der fixen Ideen bei den Verrückten kennen gelernt haben, werden wir uns auch die Frage beantworten können, wie es zugehe, dass der Kranke trotz aller Collisionen, in welche er durch seinen Wahn mit der Welt geräth, trotz der Freiheitsbeschränkung, die er in Folge davon erfährt, dennoch so hartnäckig an ihm festhält, dass er sie fast nie- [>71] mals verläugnet, ja dass er sich im Besitze seiner Idee selbst heiter und beruhigt fühlen kann (wiewohl Letzteres nicht so häufig ist als man glaubt). Hat die Verrücktheit den melancholischen Charakter, wie das in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in der ersten Zeit ihrer Entwicklung der Fall ist, so fühlt sich der Kranke in Folge der unheimlichen Gefühle und Sensationen, über welche er nicht Herr werden kann, wie einer fremden dunklen Macht preisgegeben. Es entsteht dadurch in ihm ein Gefühl der Haltlosigkeit und der Unsicherheit, welches ihn instinctartig treibt, nach einem festen Punct zu suchen, an welchem er sich halten und anklammern könne. Diese Ergänzung, diese Stärkung und Tröstung findet er nur in einer Idee, ganz ähnlich wie auch der Gesunde unter analogen Umständen. In allen Lagen des Lebens, in welchen wir uns gedrückt, beängstigt und rathlos fühlen, hat das plötzliche Bewusstwerden eines klaren Erkennens, dieses mag in Wirklichkeit ein wahres oder ein falsches sein, an sich schon eine beruhigende Wirkung und das durch jene Lage in uns erregte Gefühl verliert caeteris paribus oft schon dadurch sehr an seiner Stärke, dass das Urtheil über sie an Klarheit gewinnt; wie umgewendet kein Grauen grösser ist als das vor einer noch unbestimmten Gefahr. Ist nun vollends oder scheint wenigstens die Erkenntniss zugleich die Bestätigung einer Lieblingsidee, gelingt es uns, unsere Lage aus ihr zu erklären, so fühlen wir uns schon sicherer; wir sind orientirt; wir haben nun den Instinct, dass wir an dem rechten Gedanken auch eine Waffe und einen Schild haben uns zu behaupten. So nun auch beim Verrückten in seiner so eben geschilderten Lage. Indem ihm diese, in der ihm bisher Alles dunkel, unheimlich, grauenhaft erschien, durch die gefasste Wahnidee plötzlich wie durch einen Blitz erhellt erscheint, sieht er in seinen Empfindungen, Gefühlen und Erlebnissen nicht allein einen Zusammenhang überhaupt, sondern den einzig möglichen und wirklichen Zusammenhang, und Alles hat jetzt erst einen Sinn. Es ist hienach wohl erklärlich, dass der Kranke, auch nachdem die Aufregung, in welcher er den Wahngedanken erzeugt hat, vorüber ist, doch nicht so schnell wieder von ihm zu lassen geneigt ist. Es kommt aber dazu noch ein Anderes. Ist uns etwas Widerwärtiges zugestossen, oder finden wir uns überhaupt in unserer Lage unglücklich, so unterlassen wir es nur gar zu oft die Ursache des [>72] Ungemaches da zu suchen, wo sie zu suchen wäre, nämlich in unserer Unbesonnenheit, Thorheit oder wenigstens Eigenheit, sondern schieben gar zu gerne die Schuld auf Andere oder auf das Geschick; wenn nur der X oder Y andere Leute wären, oder wenn sich nicht zufällig Diess oder Jenes ereignet hätte, dann wäre Alles in der Ordnung. So kann sich ohne alle Krankheit der Wahn ausbilden, dass die Missgunst, welche man erfährt, nur Ausfluss eines feindseligen Princips oder Systems sei; eine Annahme, welche nicht a priori widersinnig, weil nicht überhaupt unmöglich, ist, welche aber eben in dem betreffenden Falle auf  Täuschung beruht. In viel höherem Grade macht sich diess bei der Geisteskrankheit geltend, wenn dieselbe chronisch, zur Verrücktheit wird. Vermöge einer Art Naturheilkraft erwacht hier der Selbsterhaltungstrieb, welcher nun nicht mehr, wie in der Melancholie, die Ideen von Selbsterniedrigung und Selbstverdammung zulässt; der Kranke ergeht sich darüber immer nur in Ideen der Beeinträchtigung von aussen; es entsteht der Verfolgungswahn, wobei das Individuum oft schon befriedigt ist, wenn es sich die Feindseligkeiten, welchen es ausgesetzt ist, nur recht lebhaft denken und systematisirt vorstellen kann, meistens aber einzelne Personen besonders heraushebt, denen es heillose Absichten und Motive unterschiebt.
        Die organisch-psychische (nicht moralische) Selbstsucht, in Folge deren der Kranke wegen der Aufdringlichkeit seiner Gefühle Alles auf sich beziehen muss, und welche sich in der melancholischen Abart der Verrücktheit in der eben geschilderten Weise äussert, gestaltet sich in der expansiven Art derselben natürlich in entgegengesetzter Weise. Das kitzelnde Wohlgefühl, welches den Kranken erfüllt und die bedeutungsvollen Beziehungen, welche derselbe in den Mienen und Reden Anderer sowie in den gewöhnlichsten Begebenheiten auf sich selbst findet, haben die Idee in ihm erregt und genährt, dass er eine bedeutende Persönlichkeit sein müsse. Durch was, ist dabei ziemlich zufällig, und richtet sich nach der natürlichen Sinnesart des Individuums. Hat dasselbe Neigung zum Denken und Grübeln und erscheint ihm in Folge der Krankheit sein eigenes Denken immerfort als wichtig und imposant, so wird er sich für einen grossen Weisen, Propheten u. dgl. halten; in anderen Fällen, wo mehr die Sehnsucht nach dem Besitz irdischer Güter vorwaltet, gestaltet sich der Wahn, eine bedeutende [>73]  Persönlichkeit zu sein, in der Weise, dass man es sei durch hohe Geburt, Rang, Macht, Reichthum. Alles Das wird zwar dem Individuum nur zu verstehen gegeben oder es beruft sich auf eine Eingebung oder eine angebliche frühere Erfahrung, und die Sache ist zwar gewiss, ja wir wissen selbst davon, aber doch ist sie noch verhüllt und zwar durch die objective Wirklichkeit, die aber im Sinne des Kranken die scheinbare ist, während sein Wahn nach seiner Meinung die eigentliche Wirklichkeit ausdrückt, weil er als der allein würdige, entsprechende und mögliche Ausdruck für den Inbegriff neuer Verhältnisse gilt, die jetzt die Summe der Existenz des Kranken bilden. Daher vermag die mit seinem Irrthum selbst in schreiendstem Widerspruch stehende Wirklichkeit denselben nicht zu entkräften. Vielmehr hat er sich, wenn er einmal grossgewachsen ist, so mit dem den Kranken beherrschenden Wohlgefühl verbunden, dass dieses demselben als die natürliche Folge seines Gedankens oder vielmehr des Sachverhaltes, welchen dieser ausdrückt, erscheint. Und da jenes Wohl- und Glücksgefühl mit seinem gesammten Daseins- und Lebensgefühl eine unzertrennliche Verbindung eingegangen hat, so ist es ihm, ohne sich selbst seinen innersten Lebensnerv abzuschneiden, unmöglich den Gedanken aufzugeben. Er würde dadurch in ein bodenloses Nichts versinken, er kann ihn nicht fahren lassen, auch wenn er wollte; seine Idee muss wahr sein, so wahr er lebt, weil er eben sonst nicht leben könnte. Da ihm nun überdiess, wie wir sahen, falsche Thatsachen als vollgültige Beweise gelten, so wird es wohl einigermassen begreiflich geworden sein, warum selbst die gewandteste Dialektik den Kranken seinen Wahn nicht auszureden im Stande ist 14).

        Beiderlei Arten von Wahnsinn oder Verrücktheit, die mehr leidenden und die beglückten können auf einander folgen, und es ist möglich, dass zuweilen schon während der ersten die zweite sich im Geheimen entwickelt. Oft sind sie aber auch überhaupt und während der ganzen Dauer der Störung mit einander gemischt oder wechseln mit einander ab. So bei jenem fixen Wahn, wo die Kranken glauben, dass Alles ihnen gehöre, dass sie ein Recht des Befehles hätten, und sie daher höchlich beleidigt sind, wenn etwas vorgenommen wird, ohne dass sie vorher davon gewusst haben oder danach gefragt worden sind. Dann ist es aber überhaupt vielleicht eine Seltenheit, dass das vom fixen Wahn befallene Individuum ein [>74] vollkommen seliges Gefühl der Befriedigung hat (mit Ausnahme der paralytischen Wahnsinnigen). Es erwartet vielmehr meistens eine Zukunft, künftige Anerkennung, künftige Erbschaft u. s. f., womit immer zugleich mehr oder weniger Unmuth über die dermalige Beeinträchtigung verbunden ist. Damit ist nicht gesagt, dass der Kranke etwa noch zweifelte; sein Recht, sein ihm gebührender Rang u. s. f. sind ihm an und für sich ganz gewisse Dinge, in deren Ausmalung er seine Phantasie sich ergehen lässt; aber er ist keineswegs so völlig verblendet, dass er bereits in actuellem Besitz und in wirklichem Genuss zu sein glaubte, sondern diese Dinge sollen erst, werden aber ganz bestimmt noch kommen. Bei manchen Kranken sind endlich auch ihre widrigen Sensationen selbst für sie mit einem gewissen Reiz verbunden; Verrückte, welchen angeblich solche Empfindungen von aussen her gemacht werden, verrathen bei ihrem Sprechen davon oft durch ein schmunzelndes Lächeln, dass ihnen dieses Leiden und diese geheime Einwirkung selbst innerliche Freude macht, weil es ihnen den Gedanken einer gewissen Wichtigkeit und insoferne Bevorzugung erregt. Noch erinnere ich mich eines hauptsächlich an theosophischer Verrücktheit leidenden Kranken, welcher an Wassersucht starb; in den letzten Tagen hatte er wegen der Wasseransammlung in der Brusthöhle häufige Athembeklemmungen und auch Schmerzen, welche ihn zum: Fussstampfen und Schreien nöthigten; er erklärte diese Schmerzen für dämonisch und magnetisch, lächelte aber dabei zugleich sehr selbstzufrieden und mit der Miene der Schlauheit über diese Entdeckung.

        Unter allen Umständen aber ist es dem Verrückten mit seinen Ideen voller Ernst; und weil ihm Alles an der Zusammenstimmung seiner Wünsche mit seinem Denken und an der Wirklichkeit seiner Aufstellungen liegt, so kann er, namentlich wenn der Wahn beglückender Natur ist, selbst wenn er sein baarster Vortheil wäre, es fast niemals über sich gewinnen, denselben zu verschweigen oder zu verläugnen, und es ist daher im Ganzen ein seltenes Vorkommniss, dass der Arzt bei partiell Verrückten dieser Art erheuchelte Geistesgesundheit und absichtliches Zurückhalten der fixen Idee angewöhnen muss.


    Anmerkungen und Zusätze.

    1) Aus diesem Grunde erscheint es bedenklich, die fixen Wahnideen, wie es wohl zuweilen zu geschehen pflegt, mit »Zwangsvorstellungen« synonym zu gebrauchen. Soferne ein Individuum, welches fixe Ideen hat, nicht als frei betrachtet werden kann, sind dieselben allerdings als ihm aufgenöthigte anzusehen, allein der Ausdruck »Zwangsvorstellung« schliesst nicht den Wahn in sich, ausser secundär, wenn der Kranke das Gefühl, dass er nicht über seine Gedanken Herr ist, sich übersetzt in die Einwirkung eines dämonischen Wesens, einer fremden Persönlichkeit, welche ihm die Gedanken machen. Das Denkenmüssen gehört an und für sich, eben so wie das Thunmüssen, als eine Beschaffenheit unserer Willensrichtung zum Kapitel der Narrheit. Ich hätte gleichwohl nichts dagegen, den Terminus als generelle Bezeichnung für solche Ideen anzuwenden, welche dem Individuum durch die Wirkung der Krankheit aufgezwungen werden, wobei dann die wahnhaften Ideen eine Unterart bilden würden. Man müsste aber übereinkommen, darunter eben nur krankhafte Ideen zu verstehen, damit nicht auch solche Ideen, zu denen auch ein Gesunder immer wieder hingezogen wird, damit bezeichnet werden können. Dann sagt mir aber auch ein gewisses Sprachgefühl, dass es gut wäre, das Wort zu beschränken auf gewisse Wahnvorstellungen Melancholischer, welche von diesen stereotyp und monoton geäussert werden, so dass man fast kein anderes Wort mit ihnen reden kann, und dann auch bei solchen Kranken, denen das Denken- und Vernehmenmüssen eine Pein ist. Dagegen widersteht es, den heiteren Höhenwahn von grossem Besitz, Ehren, Weisheit und dergl. mit demselben Namen zu belegen.



    2) Diese Gründe gelten auch gegen die Bestrebungen, die Lehre von den Seelenkrankheiten auf die Principien der Phrenologie zu stützen. Wer nur einige Zeit sich mit Beobachtung und Behandlung von Geisteskranken befasst hat, kommt schon bald zu der Einsicht, dass er mit jener Lehre nichts anfangen kann, wesshalb denn meines Wissens kein namhafter Irrenarzt Phrenolog gewesen ist.


    3) Um diesen für die Erklärung der Erfahrungsfälschung so wichtigenVorgang, die unzertrenuliche Vermischung der Wahrnehmung [>76] und der hinzugedachten Ursache, noch mehr zu beleuchten, führe ich noch einige Beispiele an. Wir hören Pferdegetrappel oder das Schlagen der Glocken und nehmen dabei unwillkührlich an, die Vorstellung des Pferdes und der Glocke liegen schon in der Gehörempfindung, und doch beweisen die Locktöne des Jägers, die täuschende Nachahmung von Thierstimmen oder auch von fremder Menschenrede, dann das Bauchreden (Drobisch, Psychologie, S. 127, 129) wie sehr wir uns hierin täuschen können. Wir sehen und hören eine Person auf dem Theater ein Lied zur Guitarre singen und können glauben, es sei wirklich so während die Guitarre im Orchester gespielt und das Lied hinter den Coulissen vorgetragen wird, und glauben ein schreiendes Kind zu hören, während es doch nur eine Katze war (Meyer, Vortrag über Sinnestäuschungen. Berlin 1866. S. 10 u. 11). Wer sich durch irgend etwas eine Entzündung der Bindehaut des Auges zugezogen hat, hat genau dieselbe Empfindung, wie wenn ihm ein kleiner fremder Körper ins Auge gefalllen wäre. Derjenige, welcher noch keine Erfahrung hievon hat, lässt es aber nicht bei diesem Vergleich, sondern geht sofort unwillkührlich in der Vorstellung weiter, und glaubt das als Ursache des Schmerzes vorgestellte Sandkorn auch wirklich, in einer gewissen Grösse und Gestalt, im Auge zu fühlen. Lange kann der Hypochonder erklären, dass es ihm sei, als ob Mäuse in seinem Leib herumsprängen, als ob man ihm Drath durch den Kopf zöge; in dem Augenblick, wo er ein melancholisch Verrückter wird, behauptet er wirklich, Mäuse im Leib und Dräthe im Kopf zu haben. (Ein Beispiel hievon s. bei Krauss, der Sinn imWahnsinn, allg. Zeitschr. für Psychiaitie.Bd.XVI. S, 32 *).
        *) Indem ich diess zum Druck gebe, kommt mir noch die Abhandlung von Freese »Zur Theorie der Gefühle« im ersten Doppelheft des Bd. XXVII. der allg. Zeitschrift für Psychiatrie zu, woselbst S. 64 und 67 diese »Versuche organischer Empfindungen durch Vergleichungen und Vermuthungen genetisch an irgend einen anderen Gegenstand oder an Bewegungen eines solchen zu knüpfen« ebenfalls besprochen sind.


    4) Man vergleiche hierüber die vortrefflichen Ausführungen von Lotze in dessen Mikrokosmus. Erster Band (erste Auflage) S. 264 ff. und II. Bd. S. 178 - 185. Ich will nur ein paar Stellen davon ausheben. »Man wird vor Allem sich entwöhnen müssen, die Gefühle als Nebenereignisse zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zustände zuweilen eintreten, während der grössere Theil der letzteren in einer Reihe leid- und lustloser Veränderungen bestände. Ausser der völligen Ruhe würden wir uns keinen Zustand denken können, der nicht mit den eigenen Entwicklungsbedingungen der Seele entweder übereinstimmte oder in [>77] irgend einer Weise ihnen zuwider wäre. Welche Erregung daher die Seele auch immer erfahren mag, von jeder werden wir einen Eindruck der Lust oder Unlust erwarten müssen, und eine genauere Selbstbeobachtung, soweit sie die verblassten Farben dieser Eindrücke zu erkennen vermag, bestätigt diese Vermuthung, indem sie keine Aeusserung unserer geistigen Thätigkeit findet, die nicht von irgend einem Gefühle begleitet wäre. Verblasst sind jene Farben allerdings in dem entwickelten Gemüth vor dem übermächtigen Interesse, das wir einzelnen Zwecken unserer persönlichen. Bestrebungen zuwenden, und nur eine absichtliche Aufmerksamkeit findet sie wieder auf, ebenso wie unsere mikroskopische Beobachtung die regelmässige Bildung unscheinbarer Gegenstände, über die unser Blick gewöhnlich unachtsam hinwegsieht. Jeder einfachen sinnlichen Empfindung, jeder Farbe, jedem Ton entspricht ursprünglich ein eigener Grad der Lust oder Unlust; aber gewöhnt, diese Eindrücke nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegenstände aufzulassen, deren Sinn und Begriff uns wichtig ist, bemerken wir den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit gesammelter Aufmerksamkeit uns in seinen Inhalt vertiefen. Jede Form der Zusammensetzung des Mannichfaltigen erregt neben ihrer Wahrnehmung in uns einen leisen Eindruck ihres Uebereinstimmens mit den Gewohnheiten unserer eigenen Entwicklung, und diese oft unklaren Gefühle sind es, welche für jedes einzelne Gemüth jedem einzelnen Gegenstand seine besondere Färbung geben, so dass er mit demselben Thatbestand der Merkmale für alle, doch für jeden von uns ein anderer scheint. Aber selbst die einfachsten und scheinbar trockensten Gefühle des Denkens sind nie von diesem nebenhergehenden Gefühle ganz entblösst; wir fassen den Begriff der Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu geniessen, das sein Inhalt einschliesst, den des Gegensatzes nicht, ohne zugleich die Unlust der Feindseligkeit mit zu empfinden, Ruhe, Bewegung und Gleichgewicht beobachten wir weder an den Dingen, noch entwickeln wir uns ihre Vorstellungen, ohne uns mit unserer ganzen Lebendigkeit in sie hinein zu versetzen und den Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, die für uns aus ihnen hervorgehen könnte.« Dann:
        »Wie widerwärtig auch immer, und am nächsten an thierisches Leben erinnernd uns die besondere Ausbildung des Geschmacksinnes vorkommen mag, so ist doch wahr, dass selbst in der vollkommensten Schwelgerei nicht blos die Lust des Gaumens als eine wohlthuende Anregung unseres Leibes gesucht wird, sondern dass die prüfende Zunge in dem Geschmacke der Speisen ein ihnen eigenthümliches Verdienst anerkennt, dessen annehmliche Nebenaffecte sie sich freilich gerne gefallen lässt. Nur das Thier frisst und säuft; d. h. es verwendet die äusseren Mittel lediglich zur Tilgung eines unlusterzeugenden Bedürf- [>78] nisses oder zur Herbeiführung einer egoistischen Empfindungslust; es verweilt nicht bei diesen Mitteln, sondern beeilt esch, dieselben zu consumiren; es vertieft sich in keiner Weise boobachtend, kostend und überlegend in die Natur derselben; es kennt sie eben nur als Mittel für seinen Nutzen. Der essende und trinkende Mensch kann es dagegen nicht lassen, die Süsse als die eigene Freundlichkeit der Dinge freundlich anzunehmen, ihre Herbigkeit als  ihre eigene innere charakteristische Bosheit zu fassen; er kann in Rührung gerathen über die innere Vortrefflichkeit der Naturstoffe, zu der sein Geschmacksinn ihm nur den Zugang zeigt. Nicht dass es ihm auf seinen eigenen Genuss ankäme; es gibt nur kein Anderes Mittel, dieses Gute der Dinge anzuerkennen und dahinter zu kommen, als ihren sinnlichen Genuss. Schon in der zweideutigen Vorliebe der menschlichen Sinnlichkeit für die flüssige Form der Geschmackreize zeigt sich ihre Befreiung von dem gröbsten Interesse ihres körperlichen Wohles; noch deutlicher lässt das Gefallen an Wohlgerüchen diese Neigung zum Versenken in eine objective Lieblichkeit des Materiellen hervortreten. Das Thier scheint diese Neigung nicht zu theilen; wie kräftig auch der Geruchsinn einzelner Klassen zum Dienst ihrer Lebenszwecke entwickelt ist, so finden wir doch nirgends ein bestimmtes Beispiel eines Wohlgefallens, das mit dem Duft der Dinge zufrieden wäre. Die menschliche Cultur dagegen umgibt sich mit ihm schon bei ihrem Beginne, zuerst in feierlichen Augenblicken religiöser Stimmung, bald auch zur Verschönerung des täglichen Lebens. Auf der unbedeutenden Grösse der sinnlichen Lust, die so erzeugt wird, kann diese Gewohnheit nicht beruhen; sie wird bedeutsam erst durch die Phantasie der menschlichen Sinnlichkeit, die sich in eine andere Atmosphäre des Daseins nicht versetzt, ohne neben der Lust, welche sie erfährt, den eigenen inneren Werth derselben ahnungsvoll anzuerkennen. Sollen wir hinzufügen, dass auch die Empfindungsinhalte der ührigen Sinne, dass selbst Wärme und Kälte weder blos als gleichzeitig Verschiedenes, noch blos als lust- und schmerzerregende Kräfte von uns aufgefasst werden; das wir vielmehr auch in ihnen eine eigene unabhängige Schönheit oder Hässlichkeit finden deren Vortheil und Nachtheil nur nebenbei uns zufällt?
        Sollen wir endlich zu den höheren Sinnen zurückkehrend erinnern, wie im Klang und der Farbe fast jede Spur egoistischen Interesses ausgelöscht ist, und wir uns völlig derAnschauung einer auf sich beruhenden Trefflichkeit hingeben? So gross ist der eigene Werth dieser Eindrücke, dass bei aller übrigen Armuth des Lebens wir doch immer dem gütigen Schicksal zu danken hätten, das Tag für Tag diese schöne Welt vor unseren Sinnen aufthat und uns gestattete, in die lebendige ahnungsvolle Tiefe der Farben, der Töne und Düfte niederzutauchen.«


    5) Diess ist auch schon bei den Bewegungen überhaupt der Fall. [>79] Zenker (in Königslutter) hebt in seiner Abhandlung Über Dysphagieen bei Geisteskranken (allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd, XXVI. S. 484), hervor, »dass jeder vom ganzen Körper oder von einzelnen Gliedern auszuführenden Bewegung die Sorge um den Unterstützungspunct für die beabsichtigte Kraftäusserung vorausgehen muss, dass zu dem Ende entsprechende Positionen eingenommen und die bewegten Glieder fixirt werden. Da nun eine während des Ablaufes der Bewegung eintretende Verrückung des Unterstützungspunctes auf der Stelle Unsicherheit, Beeinträchtigung der gewollten Bewegung, selbst Vereitelung des Zweckes hervorruft, so ist umgekehrt sobald Unsicherheit und Störung einer Bewegung Platz greift, die erste Frage nach dem Unterstützungspunct, das erste Bestreben, ihn zu sichern.« Die Paralytischen haben mit dem Bewusstsein der Unsicherheit der ausgeführten Bewegungen das Gefühl des fehlenden Festen, sie greifen und tasten nach diesem umher, und so entstehen Mitbewegungen.


    6) Vgl. über die instinctive Erkenntniss als Gefühl, als aus unbewussten {ubw9} Processen sich entwickelndes Resultat, das bloss als Resultat zum Bewusstsein komme, Wundt's Vorlesungen über Menschen und Thierseele. Zweiter Band, Leipzig 1863. 43. und 49. Vorlesung. - So geschieht denn auch die erste Bildung der Wahnideen aus dem Gefühl heraus im Unbewussten {ubw10} (desshalb aber doch schon Psychischen); in dem Augenblick, wo Vorstellung und Gedanken entstanden ist, wird uns das Ergebniss erst bewusst; wir sehen diess am ängstlichen Traum. Alles, was nun folgt, so besonders die Rückwirkung des Gedankens auf die Gefühle, bleibt uns allein im Bewusstsein, und wir halten nun den letzten Vorgang für den einzigen und ursprünglichen, während er in der That der secundäre ist.


    7) Die Phantasie dürfte überhaupt in der psychologischen Erklärung der Geisteskrankheiten wieder mehr berücksichtigt werden, als es eine Zeit lang, zum Theil unter dem Einflusse einer gewissen Philosophie, zum Theil aus einer eigenthümlichen Furcht, dadurch selbst als zu phantastisch zu erscheinen, geschehen ist. Früher hat ihr besonders Ideler (namentlich in: »der Wahnsinn«, Bremen 1848) ihr Recht widerfahren lassen. Es lassen sich auch manche Analogieen zwischen den Phantasiegebilden der Kunst und des Wahnsinnes nachweisen, und gewiss wird Jedermann leicht die Aehnlichkeit finden, wenn er z. B. folgende Stelle aus Vischer's Aesthetik II, S. 341 liest: »Wird aber der Stoff, die Fabel auch vermeintlich ganz ersonnen, so wird bei genauerer Selbstprüfung der Dichter immer finden, dass die einzelnen Personen, Scenen, Bilder, die er auf der Grundlage der Anschauung gebildet hat und nur einzuflechten meint, es vielmehr sind, die den Gedanken der Fabel durch Entfaltung der in ihm liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein Dichter sieht eine Gestalt, eine Scene [>80] daran schiesst ihm, wie an einem Magnet seine innere Welt an, er erneuert den unscheinbaren Keim des Kunstwerkes, aber der Keim, der Magnet war gegeben.«


    8) Ich will hiemit nicht gesagt haben, dass ich nicht allerdings darüber schon gewisse Gedanken habe. Aber sie sind noch nicht so nach allen Seiten gereift, dass ich sie schon öffentlich aussprechen möchte, und man darf nicht Alles auf einmal erklären wollen, wenn man nicht Gefahr laufen will, auch das wirklich Gewonnene wieder aufs Spiel zu setzen.


    9) Um die Würdigung dieser Sensationen in Hinsicht auf die Entstehung des Wahnsinns hat sich (allerdings in einer von der meinigen etwas abweichenden Auffassungsweise) besonders verdient gemacht Schuele durch seine Schrift: Die Dysphrenia neuralgica. Carlsruhe 1867, deren Resultate er später noch einmal übersichtlich zusammenstellte in der allg. Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. XXIV S. 689.


    10) Wie einen solchen Fall Tuke  in Bucknill and Tuke's Manual of psychological Medicine. London 1862, S. 178 erzählt.


    11) Weitere Beispiele für die symbolische Umdeutung aller Erlebnisse s. bei Sander, über originäre Verrücktheit in Griesinger's Archiv für Psychiatrie, I. Band, 1868, S. 387; für das rückläufige Erfinden von Begebenheiten Brierre de Boismont, des Hallucinations. 3e. edition. Paris 1862. Obs. 30. p. 91.


    12) Zur Erklärung solcher Fälle wurde auch (Jensen) ein Doppelbewusstsein angenommen, und die Duplicität der Hirnhemisphären dafür in Anspruch genommen. Nun möchte ich zwar einige derselben sowie diejenigen, welche Huppert in der allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie Bd. XXVI, S. 529 ff. von Doppelwahrnehmungen und Doppeldenken berichtet, ebenfalls mit letzterem auf eine Incongruenz beider Hemisphären, sowie er S. 543 diesen Gedanken formulirt, beziehen, aber nicht diejenigen, von welchen ich vorn im Texte gesprochen habe. Es ist hier zuweilen der Schein einer Erinnerung vorhanden, wo es sich in Wirklichkeit gar nicht um eine Erinnerung handelt. Es liegt vielmehr schon in dem Act des betreffenden gegenwärtigen Vorstellens selbst etwas, was ein Wiedererkennen ausdrückt; dem Wahrnehmen ist schon während seines Geschehens die Siguatur des Wiedererkennens aufgedrückt, weil das Individuum das Gefühl des Bestätigens, Anerkennens dabei hat, welches sich in verschiedener Weise äussern kann. Betrifft es lediglich eigene Gedanken, so verknüpft sich mit jedem oder vielen derselben auch der von deren untrüglicher Wahrheit, ihrer grossen Bedeutung und in Folge der Selbstliebe, zugleich der der Neuheit. Wird der Gedanke hingegen von einem Anderen geäussert, eine interessante Beobachtung erzählt u. s. f., so regt sich in dem Kranken das Gefühl, dass er das nicht so hinnehmen könne, ohne sich auch [>81] einen activen Antheil daran zu vindiciren; es kommt ihm gewissermassen als eine Beeinträchtigung vor, dass Jemanden eine Ehre von etwas zufallen soll, ohne dass er auch ein Stück davon hat. Wo er daher nothgedrungen einem Anderen die Ehre geben muss, etwas erlebt, gethan zu haben, travestirt er sich sein Anerkennen dahin, dass dasselbe seinerseits eine Erinnerung ist, d. h. er behauptet, es ist schon einmal dagewesen.


    13) Griesinger im Archiv für Heilkunde 1866 S. 345. 357. Griesinger legte sich diese Mitempfindungen und Mitvorstellungen als Ausbreitung von Erschütterungskreisen der Empfindungen auf ganz entfernte Vorstellungsfelder im Gehirn aus.


    14) Wie ich im Verlaufe meiner Darstellung schon öfter die krankhaften Vorgänge durch Analogieen aus dem gesunden Leben zu erläutern suchte, so will ich zum Schlusse noch eine solche Verwandtschaft der Wahnbildung erörtern, welche von Interesse für den theologischen Theil meiner Leser sein wird. In dem Leben jedes Menschen, dessen geistiges Leben kräftig angelegt ist und in dem der Wahrheitstrieb mächtig ist, kann es zu einer Periode kommen, wo er sein wirkliches Sein im schmerzlichen Widerspruch mit dem findet, was es sein könnte. Unbefriedigt sowohl von dem, was er bisher für Genuss gehalten hat als von dem, was er leistet, findet er zuletzt, dass er durch und durch ein Anderer werden, dass ein anderer Geist ihn durchdringen muss. Wenn dieser geistige Entwicklungsprocess, der zur Umwandlung des Menschen führt, im Sinne der Religion und unter Beziehung auf einen göttlichen Einfluss stattfindet, so nennt ihn die Kirche Wiedergeburt.
        Indem ich die Vorstellung von diesem Geschehen mit den psychischen Krankheiten in Verbindung bringe, ist es, da diess noch nie geschehen ist, wohl kaum anders möglich, als dass dabei der Eindruck des Ungewohnten und Seltsamen entsteht. und zwar nach zwei Seiten hin, indem es sowohl den Theologen als den Medicinern scheinen könnte, als ob hier in ganz ungehöriger Weise versucht werden wollte, heterogene Gebiete zu vermischen. Dass dem aber nicht so ist, sondern dass gerade diese Frage mit dazu dienen wird, die Gebiete dieser Wissenschaften scharf von einander abzugränzen, ohne eine derselben in ihrem Rechte zu verkürzen, das hoffe ich sofort zu zeigen.
        Die Kirche versteht unter Wiedergeburt eine Umwandlung des inneren Menschen, durch welche er in ein anderes, innigeres und lebendigeres Verhältniss zu Gott tritt. Ihre Vorbedingungen sind die Busse, die Bekehrung und der Glaube, ihre Wirkungen die Rechtfertigung und die Beteiligung, und die Gesammtheit dieser Zustände kommt dem Subject zum Bewusstsein, wenn sich dieses auch von der Art, wie sie [>82]zu Stande komme, als von einem Mysterium, eine deutliche Vorstellung nicht machen kann. Damit nun dieses Alles vor sich gehen kann, ist erstens überhaupt ein Subject erforderlich, in welchem es geschieht, und zweitens ein Subject mit bestimmten Kräften und Vermögen. Denn da es eine Heiligung, eine Bekehrung an und für sich, gewissermassen abstract, ohne einen Menschen, welcher bereut, welcher glaubt, nicht geben kann, so muss der Mensch dieser Zustände, wenn er in sie versetzt werden soll, überhaupt fähig sein, er wird nur in sie treten können, sofern gewisse Vermögen und Kräfte, die ihm von Natur zukommen, in Wirksamkeit gesetzt werden. Ich will die Summe dieser Voraussetzungen, ohne welche das ganze subjective von Statten gehen, nicht blos bei der Wiedergeburt, sondern bei der Religion überhaupt, nicht gedacht werden kann, die anthropologische Grundlage desselben nennen.
        Ist nun diese einmal vorhanden, so müssen nach allgemeinen psychologischen und physiologischen Gesetzen, welche unter allen Umständen ihre Geltung behalten müssen, die zu ihr gehörigen Vermögen durch alle Anlässe, welche mit ihnen eine Verwandtschaft haben, ihnen adäquat sind, also nicht etwa nur durch eine, in Thätigkeit gesetzt werden können. Andererseits vermag der kräftigste äussere Anreiz den Erfolg, den man sonst von ihm gewöhnt ist, nicht hervorzurufen, wenn die Fähigkeit, welche ihm zu antworten hätte, abgestumpft oder erloschen ist. Ich will diess durch ein paar Beispiele erläutern.
        So sehr auch die Kirche von ihrem Standpuncte aus im Rechte sein mag, wenn sie den Glauben als eine Wirkung der göttlichen Gnade bezeichnet, so wird doch auch Niemand zu läugnen im Stande sein, dass der Glaube überhaupt, auch der religiöse, spontan und von selbst durch die natürliche Entwicklung des Menschen in diesem zu Stande kommen könne. Die vor-christlichen und die nicht-christlichen Religionen sowie die mannichfaltigen Arten des Aberglaubens beweisen diess zur Genüge. Wo diese allgemeine Glaubensfähigkeit nicht vorhanden ist, da kann auch der Glaube im Sinne des Dogmas keinen Boden finden, es ist kein Gefäss da, in das er sich ergiessen könnte. Das beweisen die psychischen Krankheiten. Ein Melancholischer, der an seinem Seelenheil verzweifelt, kann  nicht glauben, und so lange er in diesem Zustande ist, ist alle geistliche Zusprache, sind alle Mittel der Heilsordnung vergeblich. Und wenn Dr. Guggenbühl erzählt, dass seine Cretinen auf dem Abendberge beim Anblick der von der aufgehenden Sonne beschienenen Jungfrau von Gottesgedanken ergriffen und zur Anbetung hingerissen wurden - wer Cretinen kennt, wusste von jeher, was er davon zu halten hatte.
        So ist es auch mit der Bekehrung. Dass allmählich oder plötzlich durch einen erschütternden Eindruck oder durch eine gefundene [>83] Wahrheit eine Umwandlung der ganzen Lebensanschauung eines Menschen eintreten kann, auch ohne dass ein religiöses Moment im Spiele ist, wer möchte das bezweifeln? Kann nicht auch irgend ein Indifferentist oder ein Atheist durch irgend eine Enttäuschung oder durch die Resultate seines Denkens, zu einer völligen Umänderung seiner Grundsätze, seiner Lebensweise, seiner Schätzung der Mitmenschen gelangen? Sind nicht solche Epochen, wenn auch wenig deutlich nach aussen hervortretend, am Ende in dem Leben der meisten Menschen nachweistar, entweder als Läuterungsperioden oder als Perioden tieferen Verfalls, wenn auch nur in dem vulgären Lebensegoismus?
        Die Psychologie als Naturwissenschaft nun muss, indem sie diese Thatsachen auf Gesetze zurückzuführen strebt, eine solche conversio als Wirkung bestimmter theils im Individuum theils in den dasselbe umgebenden Einflüssen liegenden Umständen und Verhältnissen ansehen, sie mag nun dabei mehr den allmählichen Einfluss neuer Umgebungen oder den Eindruck erschütternder Lebensereignisse auf das Gemüth oder mit den Herbartianern die Umgestaltung der alten die Apperception besorgenden Vorstellungsmassen durch eine neue fremdartige Vorstellung in den Vordergrund stellen. All das lässt sich denken, ohne dass der Vorgang eine religiöse Färbung in christlichem Sinne hat. Die religiöse Wiedergeburt kann nun noch hinzutreten, sie kann aber auch ausbleiben. Wo sie hinzutritt, wird die Kirche jene ihr vorhergehenden Umwandlungsprocesse als die Wirkungen der vorbereitenden Gnade ansehen und somit schon zum Processe der Wiedergeburt in ihrem Sinn rechnen. Die Psychologie hat kein Interesse, ihr diess abzustreiten, wenn ihr nur andererseits das Recht vorbehalten bleibt, den Vorgang in ihrer Weise nach natürlichen Gesetzen zu erklären. Missverständnisse ergeben sich nur dann, wenn die beiderseitigen Gebiete vermengt werden und dieWissenschaften in einander übergreifen. So gut diess die Theologie thun würde, wenn sie jede Möglichkeit einer inneren Umwandlung, welche nicht zugleich Wiedergeburt in geistlichem Sinn wäre, abläugnen würde, so sehr würde auch die Psychologie im Irrthum sein, wenn sie die Existenz einer christlichen Palingenesie deshalb verwerfen würde, weil sie derartige Umwandlungsprocesse schon anthropologisch hinreichend erklären zu können glaubt.
        Kehren wir nun zu unserem eigentlichen Gegenstand zurück. Der Zweck dieser Digression war der Nachweis und die Anerkennung, dass eine geistige Umwandlung, eine Regeneration des inneren Menschen möglich und wirklich ist innerhalb der Gränzen anthropologlscher Vorgänge und insofern auch dem Studium mittelst der naturwissenschaftlichen Methode zugänglich. In vielen Menschen kommt es zu diesem Umschwung gar nicht, in anderen nur zu schwachen Anwandlungen, in wieder anderen bleiben die Blüthen ohne Frucht, und vielen schlägt [>84] der innere Kampf gar zum Unheil aus, indem sie fortan zum Princip ihres künftigen Lebens den nackten Egoismus wählen und dem Ideal abschwören. Eine krankhafte Ausartung hingegen, eine Nachahmung des Vorgangs, bei welcher die Natur sich zu einem Afterproduct verirrt, ist der fixe Wahn der Verrücktheit.
        Wie der innerlich Erneute als Ausdruck des Geistes, von welchem durchweht er künftig alle seine Beziehungen zu Gott und Welt anschauen und durchleben soll, die Idee erkennt, die ihm nun Mittelpunct seines Denkens und Bestrebens wird, so schafft sich der Verrückte seine fixe Idee, und findet in ihr ebenso eine Ergänzung, eine Ausfüllung der Lücken, eine Tröstung und Stärkung wie jener; er hat ebenso nunmehr einen Inhalt und Ausdruck für sein ganzes jetziges Sein und Denken gefunden. Desshalb ist er denn auch durch sie so beruhigt. Obgleich der Ausbau seines inneren Menschen nur ein scheinbarer ist, so täuscht ihn doch darüber das Gefühl subjectiver Befriedigung vollkommen, und zwar um so mehr, je dringender durch die Gewalt seiner ins Psychische reflectirten Nervenverstimmung und des dadurch gesetzten Gefühles der Haltlosigkeit sein Bedürfniss nach einem Schwerpunct geworden war. Gleich dem Wiedergeborenen hat er nun den Grund gefunden, der seinen Anker hält, und so fest wie jener steht er im Glauben, dass er sich von diesem Grunde um keinen Preis verdrängen lassen dürfe, wenn er nicht in den Abgrund versinken wolle.
        So ähnlich nun hienach auch subjectiv für den Kranken die Processe der Verrücktheit und der Wiedergeburt sind, so sind doch natürlich beide Vorgänge im Grunde ihres Wesens verschieden, indem, wie ich schon bemerkte, jener nur die krankhafte Nachäffung, die Carricatur von diesen ist. Was sie unterscheidet, ist daher nicht die Form, sondern der Stoff, an welchem sich der Vorgang vollzieht. In beiden Fällen handelt es sich um eine geistige Gährung; aber die eine führt zum Leben und die andere zum Tode. Die Wiedergeburt ist eine normale Entwickelung geistigen Lebens aus dem alten heraus, die Verrücktheit ein abnormer Vorgang, dessen Produot aber, bei der Aehnlichkeit des inneren Eindruckes von dem Kranken falsch beurtheilt wird. Ja, der Kranke kann sogar glauben, er sei wiedergeboren im Sinne der Kirche, und dieser Glaube kann doch nichts Anderes sein als ein krankhafter Wahn, und wird diess um so mehr sein, je mehr und lauter sich der Kranke dessen rühmt. Es ist mir mehr als ein verrückter Bauer vorgekommen, welcher predigte und Lehren derWeisheit vortrug und alle Zurechtweisungen mit der Erwiderung abfertigte, davon verstünden wir nichts, wir steckten noch im Fleisch, er aber sei wiedergeboren aus dem Geist. Eine alte Patientin, welche auch behauptete, dass sie niemals sterben werde (sie wurde nahezu 80 Jahre alt) motivirte ihre öfteren Entlassungsgesuche damit, dass sie nicht [>85] hierher gehöre, weil sie ein erneuerter Mensch sei. Eine andere noch in der Anstalt befindliche Kranke war um die Zeit, wo ihr anfänglicher melancholischer Verfolgungswahn sich in Verrücktheit umsetzte, öfters bettlägerig, sehr unwohl und von allerlei peinlichen Empfindungen gequält; aber öfters waren diese Empfindungen auch von einem süssen Schauer begleitet und sie erklärte ausdrücklich, sie spüre, wie der alte Mensch ausgezogen werden solle und das neue Leben überall, unter der Haut, in den Fingern und Zehen, im Gesicht, ja in der Mundhöhle durchzubrechen sich anschicke. Einer der eben erwähnten Bauern wusch sich öfters nicht gehörig, und darüber zur Rede gestellt, sagte er allen Ernstes, der Schmutz auf seiner Haut sei ja nur die Schlacke des alten Menschen, und das Waschen werde so lange nichts helfen, als dieser Erneuerungs- und Läuterungsprocess noch im Gange sei. Ein alter Verrückter, der sich für den erwählten Präsidenten der deutschen Republik hält und seit Jahren nicht mehr am Abendmahl Theil nimmt, erwidert, darüber befragt, gewöhnlich, ihm sei diess nicht mehr nöthig; warum? er habe die Religion bereits so erfasst, dass er gar nicht mehr sündigen könne, und also auch nichts zu beichten habe. Meinen Zweifel schlug er mit der Aufforderung nieder, ihm einmal eine bestimmte Sünde nachzuweisen. Ich konnte es nicht.


    Querverweise
    Standort: Hagen: Fixe Ideen (1870).
    Querverweis-1: Die vier Gutachter - wiss. Kurzbiographien mit Literatur.
    Querverweis-2: Die Zeit und der Zeitgeist im Deutschen Reich und in Bayern unter König Ludwig II..
    Querverweis-3: Methodische Probleme, Fallstricke und Fehlschluß-Varianten in wissenschafts-geschichtlichen Fragestellungen und die Kunstfehler in der Wissenschaftsberichterstattung.
    Überblick Ludwig II., König von Bayern.
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Hagen: Fixe Ideen (1870). Historische und psychiatrie-historische Probleme und Grundsätze ihrer Handhabung. Aus unserer Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie.  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/wisms/geswis/psychiat/hagenfi.htm
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    14.09.13    Layout, Erg., Korr.