Die Verwandlung
Eine Erzählung von Franz Kafka
Entstanden
im Spätherbst 1912 in Prag
Analyse und werkorientierte
Interpretation der Erzählung neben Eindrücken
aus der
Erlanger Inszenierung in der Garage
(Theaterinfo; PDF-Material).
von Irmgard Rathsmann-Sponsel und
Rudolf Sponsel, Erlangen
_
1. Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung.
Die Erzählung ist formal in drei Teile gegliedert:
Der I. Teil (17 Seiten) endet am Tag der Verwandlung
in ein "ungeheures Ungeziefer" vom Typ Käfer, der etwa 1/3 so groß
wie ein Mensch und damit auch innerhalb der Käferwelt ein surrealer
Riese ist, der kaum unter dem Kanapee Platz hat.
Der II. Teil mit ebenfalls 17 Seiten beginnt mit
dem Erwachen am Abend aus einer Art Erschöpfungsschlaf am Tag nach
der Verwandlung und endet rund 2 Monate später. Der erste Teil des
2. Teils beschreibt die wohlwollende Versorgung durch seine Schwester und
der zweite Teil des 2. Teils beschreibt die Entwicklung zu lästigen
Pflicht: der Anfang vom Ende des Gregor-Käfers.
Der 3. Teil (17 Seiten) beschreibt die Entwicklung
zum Tode Gregors und die "Auferstehung" der Familie.
In der Mitte der Erzählung (S. 25) wendet sich die Haltung seiner
Schwester und das Drama beginnt seine Vollendung; möglicherweise symbolisch
unterstrichen durch das Erscheinen der drei Herren, die zur Untermiete
eingezogen sind.
Der junge Handlungsreisende Gregor, der - in dem Betrieb arbeitet, bei dem der Vater durch seinen Konkurs Schulden hat - und damit seine Familie brav und loyal ernährt, verwandelt sich über Nacht in einen Käfer bei Erhalt seiner seelisch-geistigen Identität. Zu den Einstiegs-Paradoxien der Erzählung gehört, dass Gregor seine Verwandlung in einen Käfer zunächst ohne jede Emotion und anscheinend voller Gleichmut wie ein außenstehender Beobachter registriert. Seine erste Reaktion ist nüchtern - "»Was ist mit mir geschehen?« dachte er. Es war kein Traum." - , schicksalsergeben und vernünftig: "Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu erinnern, daß viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige und ruhigste Überlegung sei.". Die Geschichte spielt in Prag um 1900. Der Vater hat Konkurs gemacht, alle drei Familienmitglieder, Mutter, Vater und die 17jährige Schwester Grete, werden vom Handlungsreisenden Gregor seit 5 Jahren ernährt. Gregor geht davon aus, dass es weitere 5-6 Jahre dauern wird, bis die Schulden abgetragen sein werden. Gregor weiss nämlich nicht, dass der Vater ein bißchen Geld retten konnte und auch während der letzten 5 Jahre etwas von Gregors Verdienst gespart hat. (Das erfährt er erst nach seiner Verwandlung in einen Käfer, der sich zwar selbst nach einem Tag als Käfer den Menschen nicht mehr verständlich machen kann, aber sehr wohl alles versteht, was gesprochen wird.) Aber die Familie leistet sich ein Dienstmädchen, obwohl keiner der drei Angehörigen (Vater, Mutter, Schwester) arbeitet, was sich im Verlauf der Erzählung aber ändert, so dass am Ende unter dem vorherzusehenden Finanzdruck alle drei arbeiten. Zusätzliches Geld kommt durch die Untervermietung an drei Herren herein, die fristlos kündigen als sie Gregor, den Käfer, bemerken.
Die Familie reagiert verständlicherweise fassungslos, erschrocken, entsetzt und verstört auf die Verwandlung Gregors. Aber sie duldet den Gregor-Käfer zunächst weiterhin in seinem Zimmer und die Schwester, zu der Gregor eine besonders liebevolle Beziehung pflegte, übernimmt unter Abschirmung der Eltern und Schonung der Mutter wohlwollend und taktvoll seine Grundversorgung mit Nahrung und mobiliaren Umstellungen. Die Familie versucht das ungeheuerliche Geschehen nach außen zu verbergen. Sie verzichtet aber auch auf jeglichen Kommunikationsversuch und kommt auch nicht auf die Idee, sich Rat oder Hilfe zu holen. Nur ganz am Anfang, bevor Gregors Verwandlung in einen Käfer der Familie offenbar wurde, dachte man kurz daran, außer dem Schlosser (wegen der verschlossenen Tür) auch einen Arzt zu holen (ein Krankenhaus liegt auch direkt gegenüber dem Wohnhaus der Samsas).
Die Familie hatte sich nach dem Konkurs des Vaters
hängen lassen und passiv eingerichtet, wobei Gregor die gesamte finanzielle
Last und Verantwortung für die Familie trägt, was er einerseits
gern tut, weil es ihm Bedeutung verleiht, ihn wichtig und anscheinend unentbehrlich
macht, womit er sich andererseits aber auch behindert, eigene Lebensvorstellungen
zu entwickeln. Aber die ausdrückliche Anerkennung und noch mehr die
Herzenswärme fehlt - die Gregor nur für kurze Zeit nach dem geschäftlichen
Unglück des Vaters gespürt hatte, als er zur Rettung der Familie
seine Lebensplanung vollständig geändert hatte und "fast über
Nacht aus einem kleinen Kommis ein Reisender geworden, der natürlich
ganz andere Möglichkeiten des Geldverdienens hatte, und dessen Arbeitserfolge
sich sofort in Form der Provision zu Bargeld verwandelte, das der erstaunten
und beglückten Familie zu Hause auf den Tisch gelegt werden konnte"
war. Übrig geblieben ist so etwas wie Stolz, wenn er sich seine Leistung
vergegenwärtigt. Er geht sogar noch weiter, wenn er spekuliert, seiner
Schwester Grete das Konservatorium zu ermöglichen. Ich kann für
Euch sorgen, also bin ich wer, lautet sein Motto, worin auch viel Lebensrealität
steckt. Er bezieht seinen Selbstwert nahezu ausschließlich aus seiner
Tüchtigkeit, das Geld, wenn auch unter sehr schwierigen und ungeliebten
Bedingungen heranzuschaffen. Dies wird ihm und seiner Familie über
Nacht durch die Verwandlung genommen. In der ersten Zeit ist die Beziehung
zwischen Gregor und seiner Schwester, die seine Versorgung übernommen
hat, durch eine vorsichtige und wechselseitig taktvolle Haltung gekennzeichnet.
Während Gregor seine selbst gewählte Existenzgrundlage
verloren hat, wächst die Familie durch die Herausforderung. Alle entdecken
zunehmend ihre Kräfte und Fähigkeiten, werden aktiv und gewinnen
durch diese Aktivität an Vitalität. Der alte Gregor ist nicht
nur nicht mehr da und nicht mehr nötig, der neue Gregor-Käfer
wird für die Familie zunehmend zur Bürde und Last. War die Schwester
fast den ganzen ersten Monat nach der Verwandlung noch mitfühlend
und taktvoll, so kommt es im zweiten Teil zu einem Wandel ihrer Haltung:
sie verrichtet die Gregor-Versorgung zunehmend nachlässig und lieblos.
Das entwickelt sich ca. einen weiteren Monat so.
Die Dramaturgie der Erzählung ergibt sich aus dem Kontrast, dass Gregor - so wird der Käfer in der Erzählung auch immer genannt - seine persönliche Identität behält, er viel von dem mitbekommt, was mit den anderen los ist und wie sie zu ihm stehen. Aber seine Familiengehörigen wissen das nicht, nehmen es nicht an, ja halten es nicht einmal für möglich - nur am Ende, als es um das Wegschaffen Gregors geht, blitzt es beim Vater kurz auf ("wenn er uns verstünde?")
Gregor kann zwar bis zum Ende der Erzählung
hören, aber er kann sich bereits nach dem ersten Tag nicht mehr sprachlich
mitteilen. Er ist gefangen, vollkommen hilflos und auf das Wohlwollen seiner
Angehörigen, in erster Linie seiner Schwester Grete angewiesen. Es
setzt sowohl eine zunehmende Gewöhnung als auch Entfremdung ein. Gregor
wird zunehmend lästig. Und so wird auch Gregors Versorgung zusehend
nachlässiger und liebloser, ja zu einer lästigen Pflicht, der
sie sich gar nicht schnell genug entledigen kann. Die einst sehr gute Beziehung
zur Schwester wird brüchig und schlägt schließlich in pure
Feindseligkeit um, als Gregor bei ihrem Violinenspiel für die drei
Herren die Grenze überschreitet und ins Wohnzimmer vorrückt.
Hier kommt zum Eklat als Gregor sich aus seinem Zimmer hervorwagt, um dem
Violinenspiel der Schwester und ihr nahe zu sein. Hier prallen nun zwei
unterschiedlich entwickelte Welten tragisch zusammen: Gregors Traum von
seiner Schwester, der Violinenvirtuosin, lässt ihn alle Schmerzen
und Behinderungen vergessen und ins Wohnzimmer vorrücken, so schnell
und mühelos, dass er die Entfernung gar nicht spürt und bemerkt.
Während er in der Düsternis seines Käferdaseins ein Hoch
der Gefühle erlebt, ist es bei seiner Schwester genau umgekehrt. All
ihr Frust der letzten Wochen entlädt sich als Gregors Grenzüberschreitung
von dem Anführer der drei Herren entdeckt wird und es bricht aus ihr
heraus:
Nachdem Gregor wieder in seinem Zimmer war, die Schwester mit einem
erleichterten "endlich" die Tür verschloss ...:
Die Abwendung seiner Schwester, die offene Ablehnung und die Erschöpfung
der Familie dringt in sein Bewusstsein. Er nimmt wahr, dass es kein Wohlwollen
mehr für ihn gibt und akzeptiert das auch. Damit gibt er seinen Lebenswillen
auf und das macht ihn bereit für Sterben und Tod:
Damit kann ein neues Lebens für die restlichen drei Familienmitglieder
beginnen. Die Bürde und Last ist mit der letzten Verwandlung Gregors
vom Leben zum Tod abgefallen. Gregors Verwandlung in einen Käfer -
und damit sein Ausfall als Ernährer - zwang Eltern und Schwester sich
aus ihrer Passivität zu erheben und neue, eigene Wege der Selbstverantwortung
zu gehen. Der Ausfall Gregors reaktivierte also die Vitalitätsresourcen
aller drei, Lebensgenuss und Perspektive wird für sie durch Gregors
Tod wieder möglich.
Die Geschichte hätte einen anderen Ausgang nehmen können, wenn Kommunikation möglich gewesen wäre. Damit unterstreicht DIE VERWANDLUNG, wie unverzichtbar im wahrsten Sinne des Wortes die Kommunikation zwischen den Menschen ist. Das ist eine Erfahrung, die wir als PsychotherapeutInnen nur bestätigen können: wenn die Kommunikation verstummt oder schwer gestört ist, geht meist gar nichts mehr und alles wird schlimmer und schlimmer. Aber die Familie, so wollte es der Dichter, kam nicht auf Idee, sich um Kommunikation zu bemühen, es wenigstens zu versuchen.
Etwas Außergewöhnliches und Ungeheuerliches befällt
eine bürgerlich geschilderte
Familie. Das surreale
Unglück erscheint völlig unverständlich und sinnlos, es
bricht einfach über Nacht herein. Man weiß nicht warum und wieso,
es ist einfach da. Es wird auch von niemandem hinterfragt, vielmehr versucht
man, was man muss: sich mit dem Ungeheuerlichen "einzurichten" und mit
etwas umzugehen, mit dem man eigentlich gar nicht umgehen kann. Durch die
große erste Verwandlung Gregors in einen Käfer, kommt es in
der Folge, das ist auch das Leitmotiv der Erzählung, zu allmählich
immer weiter fortschreitenden Wandlungen aller Beteiligten. Die 50seitige
Erzählung hat es in sich und birgt eine riesige Fülle von Themen,
die wir in folgenden Stichwortkomplexen ordnen und systematisieren möchten:
Das wichtigste und grundlegende Element der Spannung der LeserIn dieser Erzählung ergibt sich aus der Konstruktion, dass (1) Gregor-Käfer zwar alle versteht, was die Familie (2) aber nicht weiß und dass er (3) nicht sprechen kann. Die Kommunikation ist zur Einbahnstraße geworden, Sender und Empfänger. Die Familie kann Gregor-Käfer nicht mehr empfangen, weil er nicht mehr senden kann. Zumindest nicht mehr sprachlich. Andere Wege werden nicht für möglich erachtet und daher auch nicht gesucht, wodurch die von Beginn angelegte Grundspannung erhalten bleibt.
Die Ausdruckskraft der Sprache ergibt sich - paradoxerweise - aus ihrer
beschreibend alltäglichen Schlichtheit, die einen starken Kontrast
zum unerhörten Geschehen bildet. Zudem gibt es zahlreiche teilweise
absurd-grotesk anmutende Kontraste zwischen Situation, Erleben und Verhalten.
Als wichtiges Stilmittel erscheinen daher die Kontraste und das Wechselspiel
zwischen der Ebene des Abnormen, Surrealen, Absurden, Grotesk, Gruselig-Unheimlichen
(Science fiction) und der Ebene des Normalen, Trivialen, Banalen, Alltäglichen,
Alltäglichen und Langweiligen.
Die vier
Ungeheuerlichkeiten. Die Erzählung beginnt mit einem Paukenschlag
gleich auf der ersten Seite. Der junge Handlungsreisende Gregor Samsa,
der seine Familie (Vater, Mutter, Schwester) ernährt, verwandelt sich
äußerlich über Nacht in die Körpergestalt eines (Riesen-)
Käfers. Das ist die
erste - literarisch phantasierte
- Ungeheuerlichkeit. Die
zweite psychologische Ungeheuerlichkeit
besteht darin, dass Gregor trotz seiner Käfergestalt seine seelisch-geistige
Identität als Person Gregor behält: er erlebt und denkt wie Gregor,
nicht wie ein Käfer. Die dritte Ungeheuerlichkeit ist
die gleichmütige Reaktion Gregors auf die Wahrnehmung der körperlichen
Verwandlung. Er stellt zunächst seine Käfergestalt ohne jede
Emotion fest. Er wirkt nicht fassungslos, nicht erschrocken, nicht erschüttert,
nicht verwirrt, nicht verzweifelt und - zunächst - auch nicht ratlos:
nichts von alledem, was zu erwarten wäre. Er stellt es wie ein unbeteiligter
Außenstehender nur fest und sorgt sich sodann, dass er verschlafen
hat und wie das sein Chef wohl aufnehmen wird.
Damit ist bereits auf der ersten Seite mit wenigen Worten ein extremer Kontrast zu einer unglaublichen Surrealität hergestellt und der psychologische Spannungsbogen dieser Geschichte angelegt: wie kommen ein Mensch, seine Bezugspersonen, seine Umgebung und die anderen damit zurecht, dass eine solche Verwandlung stattfindet? Besonders erschwerend für Gregor erweist sich der volle seelisch-geistige Identitätserhalt, wodurch die Erzählung ihre tiefe Dramatik für die LeserIn erhält. Als der Prokurist daheim auftaucht, um zu sehen wo er bleibt, öffnet er - zunächst - nicht. Er will seine (verwandelte) Gestalt verbergen. Später gelingt es ihm mühsam, den Schlüssel mit seinen Kiefern umzudrehen, so dass die anderen nun seine Gestalt sehen können. Dem Prokuristen entschlüpft zunächst nur ein "Oh". Und sogleich ereignet sich die vierte Ungeheuerlichkeit, als Gregor, den Gestaltwandel zum Käfer übergehend, in einer langen Erklärung, das Ungeheuerliche Ereignis verleugnend, sagt: "»Nun, ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion zusammenpacken und wegfahren ...«. Psychologisch ein schönes Beispiel für den Umgang mit dem Ungeheuerlichen: man verleugnet es, tut so, als existiere es gar nicht. Als erste Schockreaktion verständlich und normal, als Dauerhaltung ungewöhnlich und eine literarische Raffinesse Kafkas: Spannung und dunkle Bedeutung entsteht oft nämlich auch durch das, was nicht mitgeteilt wird. Alle vier Ungeheuerlichkeiten durchziehen die ganze Geschichte bis zum Ende. (> Zur größten Ungeheuerlichkeit) |
Was wird nicht thematisiert
? Für die Analyse ist der Gang der Handlung wichtig. Was wird gesagt
und thematisiert? Aber auch: was wird nicht gesagt und nicht thematisiert,
was bleibt im Dunkeln, unklar oder offen?
Weder die Familie noch Gregor hinterfragen das Geschehen.
Was jeder erwarten, wie jeder reagieren und was jeder machen würde,
findet hier gerade nicht statt. Und so wird Spannung pur erzeugt durch
Weglassen, ausblenden, nicht befassen. Kafka erweist sich hier als ein
Meister der großen Wirkung mit kleinsten Mitteln, indem er Erwartetes
("Normales") einfach ausspart.
Höhepunkt
paradoxer Vieldeutigkeit der Worte (Tier). Obwohl Literatur ja gerade
durch ihre projektive Vielfalt beeindruckt - weshalb es auch keine einzig
wahren Deutungen geben kann - drückt Kafka in der Entscheidungs- Dramaturgie-
Szene des Violinenspiels im letzten Abschnitt (S. 42) mit der Frage Gregors
"War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff?" einen sprachlichen
Höhepunkt paradoxer Vieldeutigkeit aus. Sponsel verstand diesen kurzen
Satz lange Zeit nicht - vermutlich wegen der vielfachen und mehrsinnigen
Bedeutung des Wortes "Tier" im Zusammenhang mit dieser Erzählung und
es gab einige Diskussion um diesen kurzen Satz. Rathsmann-Sponsel hatte
kein Problem und deutete spontan, dass "Tier" in dieser Formulierung bedeuten
musste, die Beherrschung (nämlich vor aller Augen, besonders aber
vor den drei Zimmerherren sich verborgen zu halten), ob der Ergriffenheit
durch die Musik zu verlieren.
Diese neue Ergriffenheit durch die Musik markiert
nun auch einen Wandel im Seelisch-Geistigen Gregors. Denn eingangs lässt
uns Kafka wissen (fett-kursiv RS): "Nur die Schwester war Gregor doch noch
nahe geblieben, und es war sein geheimer Plan, sie, die zum Unterschied
von Gregor Musik sehr liebte und rührend Violine zu spielen
verstand, nächstes Jahr, ohne Rücksicht auf die großen
Kosten, die das verursachen mußte, und die man schon auf andere Weise
hereinbringen würde, auf das Konservatorium zu schicken."
An dieser Stelle wird Gregor wie Grete und er holt
sich durch die Identifikation ein Stück verlorene Bindungsbeziehung
zurück. So viel zur Psychologie dieser Veränderung.
Doch nun zurück zur paradoxen Vieldeutigkeit.
"War er ein Tier, da ihn Musik so ergriff"? Die Wort-Paradoxie ist hier
vieldeutig: (1) Tier als jemand, der seine menschliche Beherrschung verliert
und seinem Instinkt oder Trieb - hier hin zur Musikquelle - folgen muss.
(2) Tier war er ja in äußerer Gestalt; die Paradoxie besteht
hier darin, wie kann er geworden sein, was er schon "ist", nämlich
äußerlich Käfer? (3) Seelisch-geistig ist er Mensch geblieben,
was die surreale Tragödie ja ausmacht,
da es von der Familie nicht bemerkt und nicht für möglich gehalten
wird. (4) Ergriffen sein durch Musik passt nicht zum Tierbegriff. Vielfalt,
Rätsel und Geheimnis erscheinen in dieser Erzählung als ein wichtiges
(semantisches) Sprachelement.
4. Die Persönlichkeiten, Charaktere und das Familiensystem
Gregor der Mensch
Selbstzeugnis: "›Dies frühzeitige Aufstehen‹, dachte er, ›macht
einen ganz blödsinnig. Der Mensch muß seinen Schlaf haben. Andere
Reisende leben wie Haremsfrauen. Wenn ich zum Beispiel im Laufe des Vormittags
ins Gasthaus zurückgehe, um die erlangten Aufträge zu überschreiben,
sitzen diese Herren erst beim Frühstück. Das sollte ich bei meinem
Chef versuchen; ich würde auf der Stelle hinausfliegen. Wer weiß
übrigens, ob das nicht sehr gut für mich wäre. Wenn ich
mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst
gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm
meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. Vom Pult hätte er
fallen müssen! Es ist auch eine sonderbare Art, sich auf das Pult
zu setzen und von der Höhe herab mit dem Angestellten zu reden, der
überdies wegen der Schwerhörigkeit des Chefs ganz nahe herantreten
muß. Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe
ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen
– es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern –, mache ich die
Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig
allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.‹"
Hierzu die Mutter: "Der Junge hat ja nichts
im Kopf als das Geschäft. Ich ärgere mich schon fast, daß
er abends niemals ausgeht; jetzt war er doch acht Tage in der Stadt, aber
jeden Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch und liest still
die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist schon eine Zerstreuung
für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt.
Da hat er zum Beispiel im Laufe von zwei, drei Abenden einen kleinen Rahmen
geschnitzt; Sie werden staunen, wie hübsch er ist; er hängt drin
im Zimmer."
"... Photographie Gregors aus seiner Militärzeit,
die ihn als Leutnant darstellte, wie er, die Hand am Degen, sorglos lächelnd,
Respekt für seine Haltung und Uniform verlangte."
Gregor
der Menschen-Käfer (Zwitter) - Art und Weise der "Verkäferung".
Gregor, der Menschenkäfer ist eine ungewöhnliche Form eines
Zwitters. Die Verwandlung der Körpergestalt ist über Nacht auf
einmal da. Die körpernahen Empfindungen und Sensorik entwickeln sich
in Richtung Käfer, die seelisch-geistige Funktionalität bleibt
voll erhalten. Zunächst kommt es gleich am ersten Tag zum Verlust
der Sprechfähigkeit. Das Nachlassen der Sehfähigkeiten in Richtung
Käfersehen vollzieht sich langsam und allmählich. Durch
Kafkas unvergleichliche Art der Andeutung, die viel Raum für eigene
Phantasie lässt, bleibt es immer spannend, wie weit die "Verkäferung"
noch fortschreitet. Die LeserIn wird wachsam gehalten, sich zu fragen,
wie weit geht es noch, wie entwickelt es sich die Verkäferung bzw.
gibt es Zeichen, dass eine Rückbildung einsetzt?
Der
Verlust der Sprechfähigkeit vollzieht sich am ersten Tag
Nur am frühen Morgen der Verwandlung kann Gregor noch sprechen,
wenn er auch schon Veränderungen bemerkt ("Die sanfte Stimme! Gregor
erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar
seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht
zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte förmlich
nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im
Nachklang derart zu zerstören, daß man nicht wußte, ob
man recht gehört hatte. Gregor hatte ausführlich antworten und
alles erklären wollen, beschränkte sich aber bei diesen Umständen
darauf, zu sagen: »Ja, ja, danke Mutter, ich stehe schon auf.«
Infolge der Holztür war die Veränderung in Gregors Stimme draußen
wohl nicht zu merken, denn die Mutter beruhigte sich mit dieser Er klärung
und schlürfte davon. ... "Nach beiden Seiten hin antwortete Gregor:
»Bin schon fertig«, bemühte sich, durch die sorgfältigste
Aussprache und durch Einschaltung von langen Pausen zwischen den einzelnen
Worten seiner Stimme alles Auffallende zu nehmen.")
Als der Prokurist auftaucht, um nach Gregor zu fragen,
bildet sich die Sprechfähigkeit ersichtlich zurück: "»Haben
Sie auch nur ein Wort verstanden?« fragte der Prokurist die Eltern,
»er macht sich doch wohl nicht einen Narren aus uns?« »Um
Gottes willen«, rief die Mutter schon unter Weinen, »er ist
vielleicht schwerkrank, und wir quälen ihn. Grete! Grete!« schrie
sie dann. »Mutter?« rief die Schwester von der anderen Seite.
Sie verständigten sich durch Gregors Zimmer. »Du mußt
augenblicklich zum Arzt. Gregor ist krank. Rasch um den Arzt. Hast du Gregor
jetzt reden hören?« »Das war eine Tierstimme«, sagte
der Prokurist, auffallend leise gegenüber dem Schreien der Mutter.
»Anna! Anna!« rief der Vater durch das Vorzimmer in die Küche
und klatschte in die Hände, »sofort einen Schlosser holen!«
Und schon liefen die zwei Mädchen mit rauschenden Röcken durch
das Vorzimmer – wie hatte sich die Schwester denn so schnell angezogen?
– und rissen die Wohnungstüre auf. Man hörte gar nicht die Türe
zuschlagen; sie hatten sie wohl offen gelassen, wie es in Wohnungen zu
sein pflegt, in denen ein großes Unglück geschehen ist." [66]
"Gregor war aber viel ruhiger geworden. Man verstand
zwar also seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als
früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des
Ohres. Aber immerhin glaubte man nun schon daran, daß es mit ihm
nicht ganz in Ordnung war, und war bereit, ihm zu helfen. Die Zuversicht
und Sicherheit, mit welchen die ersten Anordnungen getroffen worden waren,
taten ihm wohl. Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen
Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich
genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen.
Um für die sich nähernden entscheidenden Besprechungen eine möglichst
klare Stimme zu bekommen, hustete er ein wenig ab, allerdings bemüht,
dies ganz gedämpft zu tun, da möglicherweise auch schon dieses
Geräusch anders als menschlicher Husten klang, was er selbst zu entscheiden
sich nicht mehr getraute."
Kurz danach äußert sich Gregor aber noch
einmal gegenüber dem Prokuristen: "»Nun«, sagte Gregor
und war sich dessen wohl bewußt, daß er der einzige war, der
die Ruhe bewahrt hatte, »ich werde mich gleich anziehen, die Kollektion
zusammenpacken und wegfahren. Wollt ihr, wollt ihr mich wegfahren lassen?
Nun, Herr Prokurist, Sie sehen, ich bin nicht starrköpfig und ich
arbeite gern, das Reisen ist beschwerlich, aber ich könnte ohne das
Reisen nicht leben. Wohin gehen Sie denn, Herr Prokurist? Ins Geschäft?
Ja? Werden Sie alles wahrheitsgetreu berichten? Man kann im Augenblick
unfähig sein zu arbeiten, aber dann ist gerade der richtige Zeitpunkt,
sich an die früheren Leistungen zu erinnern und zu bedenken, daß
man später, nach Beseitigung des Hindernisses, gewiß desto fleißiger
und gesammelter arbeiten wird. Ich bin ja dem Herrn Chef so sehr verpflichtet,
das wissen Sie doch recht gut. Andererseits habe ich die Sorge um meine
Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme, ich werde mich aber auch
wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es
schon ist. Halten Sie im Geschäft meine Partei! Man liebt den Reisenden
nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient ein Heidengeld und führt
dabei ein schönes Leben. Man hat eben keine besondere Veranlassung,
dieses Vorurteil besser zu durchdenken. Sie aber, Herr Prokurist, Sie haben
eine besseren Überblick über die Verhältnisse als das sonstige
Personal, ja sogar, ganz im Vertrauen gesagt, einen besseren Überblick
als der Herr Chef selbst, der in seiner Eigenschaft als Unternehmer sich
in seinem Urteil leicht zuungunsten eines Angestellten beirren läßt.
Sie wissen auch sehr wohl, daß der Reisende, der fast das ganze Jahr
außerhalb des Geschäftes ist, so leicht ein Opfer von Klatschereien,
Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann, gegen die sich
zu wehren ihm ganz unmöglich ist, da er von ihnen meistens gar nichts
erfährt und nur dann, wenn er erschöpft eine Reise beendet hat,
zu Hause die schlimmen, auf ihre Ursachen hin nicht mehr zu durchschauenden
Folgen am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Herr Prokurist, gehen Sie
nicht weg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben, das mir zeigt, daß
Sie mir wenigstens zu einem kleinen Teil recht geben!«
Aber der Prokurist hatte sich schon bei den ersten
Worten Gregors abgewendet, und nur über die zuckende Schulter hinweg
sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Und während
Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, ohne
Gregor aus den Augen zu lassen, gegen die Tür, aber ganz allmählich,
als bestehe ein geheimes Verbot, das Zimmer zu verlassen. Schon war er
im Vorzimmer, und nach der plötzlichen Bewegung, mit der er zum letzten
Mal den Fuß aus dem Wohnzimmer zog, hätte man glauben können,
er habe sich soeben die Sohle verbrannt. Im Vorzimmer aber streckte er
die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin, als warte dort auf ihn eine
geradezu überirdische Erlösung."
Im Teil II. (S. 24; 81 Zeno] lässt Kafka den
Verlust der Sprechfähigkeit durch Gregor klar zum Ausdruck bringen:
"Hätte Gregor nur mit der Schwester sprechen und ihr für alles
danken können, was sie für ihn machen mußte, er hätte
ihre Dienste leichter ertragen; so aber litt er darunter."
Exkurs: Entwicklung
der Gefühle neben den Empfindungen
Zu den Paradoxien der Erzählung gehört, dass Gregor seine
Verwandlung in einen Käfer ohne jede Emotion und anscheinend voller
Gleichmut wie ein außenstehender Beobachter registriert. Seine erste
Reaktion ist nüchtern ("»Was ist mit mir geschehen?« dachte
er. Es war kein Traum."), schicksalsergeben und sogleich um Vernunft bemüht
("Gleichzeitig aber vergaß er nicht, sich zwischendurch daran zu
erinnern, daß viel besser als verzweifelte Entschlüsse ruhige
und ruhigste Überlegung sei."), mit der neuen Situation fertig zu
werden - also sehr ungewöhnlich. Erst ganz langsam und allmählich
tauchen Gefühle (fett-kursiv IRS) neben Empfindungen (nur-fett IRS)
auf :
›Ach Gott‹, dachte er, ›was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tagaus, tagein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!‹ Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.
"Aber Herr Prokurist«, rief Gregor außer sich und vergaß in der Aufregung alles andere, »ich mache ja sofort, augenblicklich auf. Ein leichtes Unwohlsein, ein Schwindelanfall, haben mich verhindert aufzustehen."
Zusammenfassung:
Die Persönlichkeit Gregors
Gregor lebt nur durch die Bedeutung, die er für seine Familie
hat. Das scheint inzwischen sein einziges Lebensinteresse, aber auch sein
Stolz zu sein. Obwohl jung, wird er nicht so geschildert, sondern als ein
asexuell-asketischer "Bürgermönch", der sein Eigenleben freiwillig
und so vollständig aufgibt, dass es unnormal und unnatürlich
erscheint. Seine Reaktion auf seine Verkäferung ist geradezu grotesk
rational, vernünftig, schicksalsergeben.
Wie könnte man Gregor diagnostizieren? Sein
Lebensstil ist zwanghaft-depressiv-aufopfernd und schicksalsergeben,
seine Sexualität wirkt schizoid gehemmt bis verflüchtigt
und seine Vitalität auf Arbeit und familiäre Fürsorge
reduziert. Er leidet einerseits unter den Verhältnissen, aber
er genießt sie auch, so dass sich zwangsläufig eine starke Ambivalenz
ergibt, die Gregor zwar kognitiv schildert, aber emotional nicht so richtig
zu erleben scheint. Und er wirkt auch emotional und affektiv flach,
verdünnt bis vertrocknet. Nur einmal taucht erotisch-sexuelles
Verlangen auf - und da ist es inzestuös auf die Schwester
gerichtet, genau dann, als sie ihn verstößt und damit sein Todesurteil
verkündet. Verklemmung, Inzestwunsch und Todesurteil sind hier nahe
beieinander.
Obwohl sie nach Gregor die wichtigste Rolle spielt und ihr Verhalten
den Ausschlag für Gregors Tod gibt, bleibt sie als Persönlichkeit
und Charakter ziemlich farblos. Das ist wieder ein merkwürdiger Kontrast,
den Kafka hier erzeugt. Im folgenden tragen wir das wenige Material zusammen,
das sich aus dem Werk zur Persönlichkeitscharakteristik ergibt.
Gregor denkt: "Und die Schwester sollte Geld verdienen,
die noch ein Kind war mit ihren siebzehn Jahren, und der ihre bisherige
Lebensweise so sehr zu gönnen war, die daraus bestanden hatte, sich
nett zu kleiden, lange zu schlafen, in der Wirtschaft mitzuhelfen, an ein
paar bescheidenen Vergnügungen sich zu beteiligen und vor allem Violine
zu spielen?"
Ein etwas nutzloses Mädchen: "In den
ersten vierzehn Tagen konnten es die Eltern nicht über sich bringen,
zu ihm hereinzukommen, und er hörte oft, wie sie die jetzige Arbeit
der Schwester völlig anerkannten, während sie sich bisher häufig
über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein
etwas nutzloses Mädchen erschienen war. Nun aber warteten
oft beide, der Vater und die Mutter, vor Gregors Zimmer, während die
Schwester dort aufräumte, und kaum war sie herausgekommen, mußte
sie ganz genau erzählen, wie es in dem Zimmer aussah, was Gregor gegessen
hatte, wie er sich diesmal benommen hatte, und ob vielleicht eine kleine
Besserung zu bemerken war." (S. 26).
Vor Gregors Verwandlung scheint Gretes größte
Begeisterung und wesentlichste Beschäftigung das Violinspiel zu sein.
Die Schwester kümmert sich die erste Hälfte der Erzählung
taktvoll und verantwortungsbewusst um Gregor. In der zweiten Hälfte
des 2. Teil kippt ihre Haltung. Dafür liefert die Erzählung zwei
Hauptgründe: zum einen die Gewöhnung, Eintönigkeit und Aussichtslosigkeit
der Versorgung des Gregor-Käfers, der zunehmend zum lästigen
Pflegefall geworden ist. Andererseits aber auch die Beanspruchung durch
die neuen Aufgaben - arbeiten, lernen, weiterbilden - die ganz objektiv
auch viel weniger Zeit für die Versorgung des Gregor-Käfers lassen.
Innerhalb der Familie hatte sie vor der Verkäferung
Gregors die schwächste Position: "ein etwas nutzloses Mädchen".
Aber durch die Bewältigung der Verkäferung Gregors gewinnt sie
plötzlich Macht und Bedeutung, die ihre Eltern auch anerkennen:
sie wird zur Gregor-Käfer "Sachverständigen". Und
sie verteidigt, pflegt und pocht auch auf ihre neue Autorität. Außerdem
arbeitet sie, lernt und bildet sich fort.
Nachdem Gregor als Versorger ausfiel, wurde auch
sie gefordert. Sie entwickelt sich, arbeitet (Verkäuferin),
lernt und bildet sich weiter (Steno, französisch) und auch dadurch
gewinnt sie Bedeutung und Ansehen bei ihren Eltern. Während Gregor
untergeht, wird sie zur jungen Frau, wie der Schluss des Stückes eindrucksvoll
hervorhebt: "Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau
Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig
ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich
gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht
war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend,
dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven
Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung
ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die
Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte."
Zusammenfassung:
Die Persönlichkeit der Schwester
Grete hat als Persönlichkeit zu Beginn der Erzählung noch
wenig Konturen. Sie nutzt ihre Chance zur Profilierung als
Gregor-
Käfer- Sachverständige und Managerin zur Erleichterung
ihrer Eltern. Sie mausert sich unter den neuen Anforderungen, indem sie
arbeitet, lernt und sich weiterbildet. Die 17jährige übernimmt
sich - zunächst ohne es zu bemerken - und ihre einst
taktvoll-fürsorgliche Einstellung und Haltung zu Gregor-Käfer
beginnt zu kippen bis hin zum Todesurteil.
In dem Maße, wie ihre eigene Selbständigkeit und Integration
in die Lebensanforderungen zunimmt, entfernt sie sich von Gregor-Käfer.
Als dieser auch noch in ihre Violindarbietung hineinstört, kommt das
Faß zum Überlaufen, wobei Gregor-Käfer just in dieser Szene
inzestuöse Wünsche phantasiert. Sie kann nicht mehr und befreit
sich durch die energische innere Entscheidung: "»Weg muß
er«, rief die Schwester, »das ist das einzige Mittel,
Vater. Du mußt bloß den Gedanken loszuwerden suchen, daß
es Gregor ist. Daß wir es so lange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches
Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre,
er hätte längst eingesehen, daß ein Zusammenleben von Menschen
mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig
fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder, aber könnten weiter
leben und sein Andenken in Ehren halten. So aber verfolgt uns dieses Tier,
vertreibt die Zimmerherren, will offenbar die ganze Wohnung einnehmen und
uns auf der Gasse übernachten lassen."
Zusammenfassung:
Die Persönlichkeit der Mutter
Die Mutter wird zwar als typischer, instinkthafter, aber schwacher
und hilfloser Muttertyp geschildert, die ihrem Sohn zwar helfen möchte,
aber es letztlich ob seiner Verwandlung nicht kann. Das ist besonders fatal,
weil sie die Einzige ist, die in Gregor-Käfer noch klar Gregor, ihren
Sohn sieht.
Zusammenfassung:
Die Persönlichkeit des Vaters
Geschäftlich zwar gescheitert, aber doch noch die Familien-Autorität
und dominante Position in der Familie, obwohl er der Rolle "Familienoberhaupt"
nicht recht gewachsen erscheint. Nach der Verwandlung Gregors wird der
Vater deutlich lebendiger, kräftiger, gepflegter; munter, aktiv, keine
Spur mehr von den früheren Zipperlein. Er ist auch interessiert an
Gregor-Käfer und zum Schluss, als es um die Beseitigung Gregors geht,
sogar sichtlich gehemmt ("»Wenn er uns verstünde«, sagte
der Vater halb fragend;)
Anmerkung: Abgesehen davon, dass Gregors Vater mit
Kafkas - erfolgreichem und desinteressiertem - Vater überhaupt nicht
vergleichbar ist, ist ein solcher Sprung über die werkorientierte
Interpretation hinaus weder nötig
noch förderlich.
Zusammenfassung:
Das Familiensystem Samsa
Die patriarchalische Familie hat in dieser Erzählung einen hohen
Wert: alles dreht sich letztlich um sie. Der Vater hat - trotz des Konkurses
- das Sagen. Gregor hat die gesamte wirtschaftliche und finanzielle Last
für die Familie zu tragen, was er auch kann, im Prinzip gern tut und
was ihn mit Stolz ob seiner Tüchtigkeit und Bedeutung erfüllt,
wenn ihm auch seine Arbeitssituation gar nicht gefällt und er lieber
heute als morgen kündigen würde. Obwohl Vater, Mutter und die
17jährige Grete unverständlicherweise gar nichts arbeiten und
zu Hause sind, leistet sich die Familie auch noch ein Dienstmädchen.
Der Vater ein - früher - selbständiger Geschäftsmann, Gregor
Leutnant, eine große Wohnung, wenn auch in den oberen Geschossen,
und ein Dienstmädchen, das spricht nicht für einen kleinbürgerlichen
Lebensstil, zumindest nicht äußerlich; die geistige Haltung
und ideologische Einstellung mag eine andere Frage sein. Andererseits schildert
Kafka die nunmehr arbeitende Familie als arm: "Was die Welt von armen Leuten
verlangt, erfüllten sie bis zum äußersten, der Vater holte
den kleinen Bankbeamten das Frühstück, die Mutter opferte sich
für die Wäsche fremder Leute, die Schwester lief nach dem Befehl
der Kunden hinter dem Pulte hin und her, aber weiter reichten die Kräfte
der Familie schon nicht." So kommt die Familie durch die blanke Not in
die Gänge, obwohl die Rücklagen 1-2 Jahre reichen könnten.
Die Familie ist durch die Verwandlung Gregors natürlich
und verständlicherweise geschockt, verwirrt, rat- und hilflos. Sie
ist besorgt, duldet Gregor-Käfer aber erst einmal nicht nur, sondern
sie ist auch interessiert an seinem Verhalten. Merkwürdig ist, dass
sie sich um keinerlei Hilfe bemüht und keinen Kommunikationsversuch
unternimmt. Sie reden und beraten sich zwar viel, aber dabei kommt nichts
Konstruktives heraus. An dieser Stelle mag es reizvoll sein, sich zu überlegen,
was für einen Verlauf die Geschichte wohl hätte nehmen können,
wenn die Familie einen Familientherapeuten
aufgesucht hätte.
Exkurs:
Wie Gregor den Menschen-Käfer und Zwitter kurieren ?
Was wären die richtigen Heilmittel gegen Gregors Verwandlung gewesen,
was hätte die Familie tun können? Aus dieser Fragestellung heraus
könnte man eine ganze Reihe von Verwandlungen I, II, III, IV, V, ....
schreiben, je nachdem, welchen Heilungsweg man nimmt. Aber es wäre
nicht Kafka ... und scheint angesichts der Ungeheuerlichkeit der Verwandlung
und den bekannten Heilmöglichkeiten (nämlich keine) natürlich
auch nicht sinnvoll. Es ist nur ein Gedankenspiel, das bestenfalls dazu
beitragen kann, herauszufinden, weshalb die Familie außen keine Hilfe
sucht. Was hätte sie tun können? Was macht man in einem solchen
- im wahrsten Sinne des Wortes - unmöglichen Fall?
Wen könnte man ansprechen; wo könnte man
Hilfe holen? Beim Psychiater? Familientherapeuten?
Zauberer? Hexer? Schamanen? Bei denen die wissen, wie man Verwandlungen
rückgängig machen kann (z. B. den Frosch an die Wand werfen),
also Märchensachverständigen und VolkskundlerInnen? Aber damit
wäre der Realcharakter des surrealen Stückes verschwunden, der
ja gerade die besondere Eindringlichkeit und Dramatik ausmacht. Eine paradoxe
Wirkung dieser Erzählung ist, dass die Surrealität besonders
intensiv zum Ausdruck kommt, weil die Schilderung so alltagsnah und realistisch
ist (anders gesagt: das Surreale wird real abgehandelt und dadurch noch
surrealer).
Und es ist auch nicht schwer sich vorzustellen,
was geschehen wäre oder würde, wenn eine solche Verwandlung den
Behörden, etwa dem Gesundheitsamt zur Kenntnis gelangt wäre.
Die hätten die Kammerjäger vorbeigeschickt oder Gregor-Käfer
abholen lassen, um ihn irgendwo hinzustecken, am wahrscheinlichsten erschiene
dann eine Internierung in einer Sonderabteilung der Universität zur
Erforschung des ungeheuerlichen Geschehens.
5. Werkorientierte Wirkung und Interpretation.
Die surreale Erzählung beeindruckt durch ihre schlichte Alltagssprache, Irritation und Spannung, die sich während des Lesens ergibt und die im Kontrast zu den geschilderten Ereignissen steht. Manches mussten wir mehrfach lesen, um es so richtig zu verstehen. Bereits der erste Satz schlägt ein wie eine Bombe: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.", der sich dann als ein überdimensionaler und damit ebenfalls als surrealer Käfer entpuppt.
Man sucht nach Gründen, sucht nach sinnvollen Reaktionen, vergleicht, versetzt sich in die Lage und stolpert über eine Reihe von Fragen. Das ist aber eines der Geheimnisse der Wirkung dieser Erzählung: es gibt keinen Grund: es ist einfach so. Damit ist eine wichtige Botschaft: das Schicksal braucht keine Gründe, es geschieht und vollzieht sich. Und so bleibt die Grundfrage nach dem Warum von Anfang bis Ende offen und ungelöst. Das erhält eine gewisse Spannung der LeserIn aufrecht, weil man immer hofft, dass eine Erklärung kommt, eine Lösung sich abzeichnet. Aber es kommt keine, womit die grausamste Botschaft für die Sinnsucher der Welt ist: es gibt weder eine Erklärung noch eine Lösung. Und so bewegt Kafka seine LeserInnen manchmal mehr durch das, was er auslässt und verschweigt als durch das, was er ausführt und seine LeserInnen wissen lässt.
Kann man sich in eine solche Geschichte, in eine
solche Verwandlung überhaupt einfühlen? Wohl nie so ganz. Warum
tun sie dies und das nicht? Warum unternimmt Gregor keinerlei Anstalten,
der Familie beizubringen, dass er sie versteht? Nun, so die Metaüberlegung,
dann wäre es eine andere Geschichte. Kafka hat es aber gefallen, uns
diese vorzusetzen. Bleiben wir also dabei und versuchen wir die Botschaft
der Erzählung zu verstehen. Der totale Verlust an Normalität,
Kommunikation und wichtigen Funktionen führt unausweichlich zur Ausgrenzung
(Gefängnis, Getto) und am Ende auch zum Tod des entwerteten Verwandelten.
Lösungen lassen sich zwar von außen leicht denken, aber sie
sind, auch nur ein wenig eingefühlt, extrem schwierig und praktisch
fast unmöglich. Die gnadenlose Unausweichlichkeit eines solchen Schicksalsschlages
- totaler Verlust an Normalität,
Kommunikation und wichtigen Funktionen - wird uns gnadenlos in schlichter
Alltagssprache vorgeführt. Mit diesem Schicksalsschlag, der - wie
so oft in vielen Leben - nicht zu verstehen ist, tritt eine unaufhaltsame
Eigendynamik in Kraft. Die Abwendung vom - in ihrer schärfsten Form
der Tod des - Schwachen ist die Befreiung der Gebundenen und neu Erstarkten.
Das Schicksal ist stärker als die Liebe und alle Familienbindungen,
selbst der sehr guten. Das will zwar niemand hören, aber es scheint
die bittere Wahrheit der Verwandlung Kafkas zu sein.
Die radikalste Deutung der Botschaft der Verwandlung lautet (generalisiert): Wer sich selbst aufgibt und nur fremdbestimmt für andere lebt, verliert sein Menschsein (Käfer) und muss zu Grunde gehen. Und: Die durch übertriebene und vollständige Fürsorge behinderte und jeglicher Selbstverantwortung beraubten Familienangehörigen finden zu neuer Lebenskraft und blühen auf. Mit dieser Deutung ist die Verwandlung ein zutiefst antichristliches, aber sehr real-humanes Stück: Plädoyer und Mahnung für natürliche und gesunde Selbstentfaltung, für Verhältnismäßigkeit, Ausgewogen- und Ganzheit ("fördern und fordern"). Anders gesagt: gut sein ist keine lineare Funktion (je mehr, desto besser), sondern eher eine Gaußsche Glockenkurve, zu viel des Guten ist eben nicht mehr gut: es entmündigt, erdrückt, erstickt, lähmt - und ist damit eher eine häufig nicht erkannte Form von Störung oder Krankheit. (> Die Gewalt der Frommen [z.B. Haiti1542]; Shen Te). In letzter Konsequenz verkündet Kafka mit der Verwandlung die größte Ungeheuerlichkeit, die niemand hören und wahrhaben will: wer seine Nützlichkeit verliert und zum Dauer-Pflegefall wird, ist dem Tode geweiht, wenn die Pflege zu anstrengend wird. Und wenn die Umstände so schwierig und aussichtslos sind, hilft selbst eine langjährig gefestigte positive Bindungsbeziehung nicht. Das Besondere an Kafkas Botschaft der Verwandlung ist die stille Selbstverständlichkeit mit der er die Geschichte der Verwandlung schildert: schlicht beschreibend, ohne Anklage als wäre es das Natürlichste der Welt. |
N.B. Aktuelle Bezüge durch eine ganz andere
Tendenz von "fördern und fordern": LeserInnen der Verwandlung sollten
sich gut vorstellen können, was in schlimmen Fällen Hartz
IV., psychiatrische oder Altenpflegefälle
an "gregorianischen" Erfahrungen für diejenigen bereit hält,
die ihre Normalität, Kommunikativität
und andere wichtige Funktionen verloren haben - oder, vereinfacht gesagt,
nicht mehr nützlich sind.
Der Vorspann - der Gregors Leben vor der Verwandlung im Zeitraffer bot
- passte für uns nicht: er nimmt dem Stück seine Paukenschlageröffnung:
die erste Ungeheuerlichkeit:
das Erwachen als Käfer. Zu Irritation trug auch die abstrakt-symbolische
Verkäferung im Halbdunkel durch Gregor selbst bei (vielleicht der
Anlass für die krasse Fehldeutung der Erlanger
Nachrichten bei der Vorankündigung der Premiere).
Die äußerliche Verwandlung (Badehose,
Knieschoner und Halskrause: PDF),
war nicht überzeugend umgesetzt und für Erzählungsunkundige
kaum verständlich. Das war nicht einmal die Andeutung einer wirklichen
Käfergestalt, sondern ein Definitionskäfer für Fachkundige.
Die zunehmende Verkäferung im körperlich-sensorischen Bereich
wurde nicht so entwickelt wie in der Erzählung - vielleicht ist das
aber auf der Bühne auch gar nicht möglich.
Dramaturgie und Regie gönnten den 51 Seiten Text,
der nur gesprochen wohl 2,5 bis 3 Stunden dauern würde, ganze 75 Minuten
(ohne Pause), das Doppelte wäre wohl mindestens nötig. Und auch
das ist - angesichts Kafkas Spezialität, zwischen den Zeilen, durch
Weglassen und Andeuten viel mitzuteilen, womöglich auch noch zu wenig.
Und so musste diese Inszenierung - ohne ersichtliche Not - sehr viel weglassen,
kürzen und verdichten, wenn auch die wichtigsten Kernszenen formal
dargestellt wurden. Der zentrale Konflikt, Gregor-Käfer kann alles
verstehen, aber die Familie weiß es nicht, die Bedeutung des Verlustes
der Kommunikativität, in der Erzählung an vielen Stellen eindringlich
spürbar, ging in der Darstellung eher unter.
Auch der durch die Verwandlung erzwungene Wandel
der Familie kam in seiner inneren unaufhaltsamen Logik nicht so gut zum
Ausdruck.
Das beständige sich Bekrabbeln, um sich fassen und um sich fuchteln
neben den intensiven Fingerbewegungen Gregor-Käfers blieb in seiner
Symbolbedeutung unklar. Die Bedrückung des Eingesperrtseins und die
große Bedeutung für die Familie, wenn Gregor-Käfer die
ihm zugedachte Grenze übertritt, wurde nicht deutlich, obwohl er durch
einen einfachen Zaun, der bei Grenzüberschreitung eingerissen wird,
leicht zu realisieren gewesen wäre (gewöhnlich eine Stärke
des Erlanger Theaters und der Garage mit einfachsten Mitteln große
Wirkungen zu erzielen).
Kafka gliederte seine Erzählung in drei gleich
lange Abschnitte (je 17 Seiten), so dass eine werkgetreue Inszenierung
sozusagen ganz werktreu und natürlich die Organisation von drei Aufzügen
nahelegt: Verwandlung - Anpassung und Gewöhnung - Veränderung
und Ende.
Das einzigartig atmosphärische und "kafkaeske"
dieser Erzählung auf die Bühne zu bringen, erscheint sehr schwierig,
wenn nicht unmöglich oder eine Aufgabe für einen Brecht, so dass
wir uns fragen, ob die Verwandlung ein guter Kandidat für die Bühne
ist. Für diese These spricht auch, dass Kafka streng dagegen war,
der Erzählung eine Illustration des Käfers beizugeben (> Schubiger
1969, S. 56).
Wir meinen daher: wir lesen die Verwandlung
lieber.
Die Schauspieler und ihr Team,
besonders Gregor, überzeugten und erhielten am Schluss ihren verdienten
ordentlichen Beifall.
Das Werk
Kafka, Franz (2006). Sämtliche Werke. Bath (UK): Parragon.
Galerie Die Verwandlung:
[1, 2, 3,
4, 5,
6, 7, 8,
9,
10,
11, alle wegen 404 Problem entlinkt]
Galerie Käfer [alle wegen 404 entlinkt;
W, ] > Käfer-Symbolik.
FT (springt über seinen zurückhaltenden Schatten und sagt):
Ihre Familie besteht aus vier Mitgliedern?
Sie schauen sich an, vermutlich unsicher, wer etwas sagen soll.
S: (platzt heraus) Das ist ja unser Problem!
Deshalb sind wir hier.
FT: Könnten Sie etwas mehr dazu sagen?
S: Hm. Es ist etwas ganz Furchtbares
geschehen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.
FT: Sagen Sie es einfach so, wie es für Sie
ist. Sie können hier nichts falsch machen.
M: schluchzt, schnauft hörbar.
V: rollt verhalten mit den Augen, sieht
zum Fenster hinaus, stöhnt leicht.
S: Gregor, mein Bruder, ... [verstummt]
FT: Was ist mit ihm?
S: Wie sag ichs bloß, damit Sie
uns nicht für verrückt halten?
FT: Sagen Sie es einfach, Sie können wirklich
nichts falsch machen.
S: (ermutigt, überwindet sich):
Gregor, mein älterer Bruder hat sich über Nacht in einen Käfer
verwandelt!
FT: (FT denkt: Hoppla, das habe ich ja noch nie gehört.
Folie
à deux?)
(Überlegt, wie
er reagieren könnte und beschließt, erst mal nichts zu sagen
und abzuwarten)
Die Familie ist irritiert und weiß nicht wie sie sich verhalten sollen. In allen drei Köpfen geht der Gedanke um, warum sagt denn FT nichts? Schweigen.
FT: (nach zwei Minuten): Ein Käfer?
S: (bekräftigend, heftig) Ja, ein Käfer,
über Nacht, plötzlich war er ein Käfer. Können Sie
sich vorstellen, was mit uns los ist?
FT: (erstaunt, ratlos, zweifelnd, irritiert; beschliesst
aber, sich erstmal auf die Käfergeschichte einzulassen und mitzuspielen
und sagt:)
Natürlich.
M: (schluchzt und weint)
V: (leicht aggressiv) Da bin ich aber gespannt.
M: (schneuzt sich, atmet leichter, das Weinen versiegt)
FT (zum Vater, die Geschichte so erst mal annehmend und
auf ihn eingehend). Ich denke, Sie sind außer sich und ratlos.
V: Genau. Deshalb sind wir hier. Damit Sie uns helfen!
S: Was sollen wir bloß machen?
M: (schluchzt erneut tief röchelartig)
FT: An was haben Sie denn schon gedacht? (als er es sagt, kommt
ihm, dass diese Gegenfrage wohl nicht so gut war, aber sie hat seinen Mund
schon verlassen)
V: Wir dachten zuerst an einen Arzt, schickten den
aber wieder weg als er kam.
FT: Hm. (denkt: nicht schlecht und fragt sich in einem ersten
spontanen Geistesblitz: Warum haben sie ihn dann wieder weggeschickt? )
Schweigen.
FT (zur Schwester) Arzt. Hm. Vielleicht gar keine schlechte
Idee ... oder ... ?
S: Mein Kopf war leer. Ich konnte gar keinen klaren
Gedanken fassen.
M: (schnauft)
FT: Wann ist denn das passiert?
V: Vorgestern. Gregor stand nicht auf und wir alle haben
uns gewundert, weil das noch nie vorkam.
....
....
....
Am Ende der ersten Sitzung bittet FT die Familie, ihm einen Hausbesuch
zu gestatten.
___
Folie à deux. Nach Peters
(1984): Folie à deux (f). (C. LASÈGUE, J. FALRET,
1873,1877). Übernahme wahnhafter Überzeugungen eines Geisteskranken
durch eine andere (geistesgesunde oder geisteskranke) Person (Ehefrau,
Verwandte, Anhänger). Auch Bez. für alle vergesellschaftet auftretenden
Geistesstörungen psychotischer oder nichtpsychotischer Art (> Wahn,
konformer). Durch Ausweitung auf größere Gruppen von Menschen
können »psychische >Epidemien« entstehen (> induziertes
Irresein). Die häufig gebrauchte Bez. ist im Unterschied zur symbiontischen
Psychose (s. d.) weiter und umfaßt auch familiär auftretende
Psychosen, bei denen die Psychosen der Partner sich nicht miteinander verflechten.
fr:
délire à deux, contagion mentale; e: folie à
deux, double insanity. Syn.: Folie simultané; infektiöses
Irresein (IDELER, 1838); Contagio psychica (HOFBAUER, 1846).
Peters, Uwe Henrik (1984). Lexikon
Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie Mit einem englisch-deutschen
Wörterbuch als Anhang. München: Urban & Schwarzenberg.
___
Garage. "Ehemalige Kutschenremise des
markgräflichen Schlosses und Feuerwehrgarage. 1975 aus der Studententheaterbewegung
heraus als Theater in der Garage eröffnet. 1989 umfangreiche Modernisierung.
Heute Studiobühne des Theater Erlangen mit intimer Atmosphäre
und angeschlossenem Theatercafé (geöffnet tägl. 18.00
bis 1.00, außer Montag). "
___
generalisierte Deutungen und Interpretationen
sind gefährlich und gehen fast immer über das Werk, das oft -
wie auch hier - einen "Einzelfall" behandelt, hinaus. Logisch betrachtet
erfolgt bei generalisierten Deutungen ein durch das Werk selbst nicht gedeckter
Sprung von n=1 auf alle
oder jeder.
___
Information Theater Erlangen
[PDF-Material].
Die Verwandlung von Franz Kafka in der Garage. Regie Denise Carla
Haas
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte,
fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
– Derart lapidar hebt Kafkas Erzählung Die Verwandlung an, in der
– im Sinnbild der Metamorphose zum Käfer – von dem Protest des Protagonisten
Samsa gegen seine entwürdigende Existenz als Handlungsreisender, als
Marionette seiner Umwelt, erzählt wird. Die Reaktionen der Familie
und seines Chefs auf diese Verwandlung zeugen von der Intoleranz und dem
Unterdrückungswillen gegenüber einer Existenz, die die ihm zugeschriebene
Rolle nicht mehr einnehmen will. Die Ereignisse entwickeln sich umso absurder,
als die Familie gerade durch ihre Feindschaft zum verwandelten Sohn zu
neuer Blüte gelangt und aus seinem Untergang ihren Aufstieg vollzieht.
Die Verwandlung schildert den ‚Tod eines Handlungsreisenden’ in grotesken,
traumhaften Bildern, deren Realitätscharakter gleichsam durch Kafkas
sachliche, präzise Sprache immer konkret bleibt.
Kaum ein anderer literarischer Text der Moderne
hat die Nachwelt beschäftigt wie dieser. Doch neben all der akademischen
Deutungswut, die zu einer Bibliothek von Interpretationen geführt
hat, lohnt sich das theatrale Experiment auf der Bühne. Denn im Zentrum
steht die Verwandlung: gewollt, unbewusst – oder von außen erzwungen.
Im Labor seiner Texte führt uns Kafka den modernen Menschen vor, seine
existentiellen Nöte, seine Bewusstseinslagen.
Die Schweizer Regisseurin und Autorin Denise Carla
Haas, die seit Jahren eine vielbeachtete Theaterkompagnie, das Le Théâtre
L, in Lausanne unterhält, hat sich in der Vergangenheit immer wieder
mit Texten der klassischen literarischen Moderne – u. a. von Beckett und
Kafka – in ihren Inszenierungen auseinandergesetzt."
___
Käfer-Symbolik. Die Erzählung
beginnt mit den Worten: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen
erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer
verwandelt." Die Schwester nennt ihn zum Schluss ein "Untier".
Werkorientiert
interpretiert ergibt sich, dass dieser braune Käfer
riesengroß
und daher als surrealer Käfer betrachtet werden muss. Er mag altes
Essen, hinterlässt eine Kriechspur - die er
nicht zum Schreiben verwendet - und stinkt. Die Reaktion
der Familienmitglieder ist meist
Angst, Ekel und
Entsetzen.
Weitergehende Interpretationen sind rein spekulativ. Obwohl er so groß
ist und mindestens 8 Beine haben sollte, wird er sehr langsam geschildert.
Das ist einer der offenen Widersprüche in der Verwandlung. Schubiger
teilt übrigens mit, dass Kafka sich verbeten habe, dass bei der Veröffentlichung
der Erzählung eine Darstellung des Käfers beigegeben wird. Er
wollte wohl das freie Spiel der Phantasie durch eine konkretistische Darstellung
nicht behindern.
Im Kafka-Projekt der Uni-Bonn wird auf die Symbolfrage
eingegangen und es wird dort ausgeführt [Q]: "Der Käfer ist eine
beliebte Tiergestalt von Elben, Maren, Kobolden, Hexen und Teufeln. Aber
auch Prinzessinnen und Prinzen wurden in Gold - oder Maikäfer verwandelt
(Lexikon des dt. Aberglaubens, Bd. IV, S. 907f.). Besondere Bedeutung hat
der Mistkäfer. Er lebt von Unrat und formt aus Mist kleine Kugeln,
die er in die Erde versenkt und in denen das Weibchen seine Eier legt.
In der altägyptischen Kultur galt er als Symbol der Auferstehung und
wurde zur Abwehr von Unheil und bösen Kräften als Amulett getragen
oder Toten beigegeben (Skarabäus) (Herder Lexikon, S. 154f.).
Das mag zwar alles sein, steht aber außerhalb
des Werkes. Und außerdem ergäben diese Bezüge keinen echten
Sinn, denn Kafka stand Ägypten nicht nahe, er war schließlich
deutschsprachiger Tscheche und Jude in Prag (damals - seit Maria Theresia
- unter Österreich-Ungarischer Kolonialherrschaft).
Zur Zeit der Niederschrift 1912 war er 29, mit 41 starb er an Tbc. In der
Verwandlung fanden wir außer der Beschreibung der drei Herren, die
auf S. 39 zur Untermiete einziehen, nichts Jüdisches. Im Jüdischen
Lexikon, das Kafka sehr interessenmotiviert und sehr fragwürdig
metaphysisch interpretiert, findet sich weder ein Eintrag zum "Käfer"
noch zum "Skarabäus". Zum Streit Schoeps / Brod > Hohmann.
___
Kafka-Fans. Ein Motiv - neben dem Aufsuchen
des Originalschauplatzes der interessanten tschechischen Tradition unliebsame
Politiker aus dem Fenster zu werfen (Prager Fensterstürze) - für
eine unsere letzten Reisen nach Prag, war u.a. das Kafka-Museum, in dem
man z.B. den handschriftlichen Originalbrief Kafkas an seinen Vater lesen
kann - was wir uns natürlich nicht nehmen liessen.
___
Kunstinterpretation
und Kunst-Kritik
(1) Das Sujet (Thema) der Verwandlung ist uralt und spielt
bereits in der mythologisch-religiösen Geschichte eine wichtige Rolle:
sich beliebig verwandeln zu können war ein Attribut der Götter.
Kosmische Formationen wie Sterne, der Himmel oder die Wolken, Blitz und
Donner werden zu Göttern, diese zu Menschen; Menschen zu Tieren (Der
goldene Esel [1,
2]; Froschkönig; Brüderchen und Schwesterchen; Sapi:= tags schöner
Jüngling, nachts Schwein), Pflanzen (Daphne) oder in einen Gegenstand,
z.B. einem Stein, Hügel oder Felsen ( arumba arumba:= Doppelgeister
Ahnensteine; tukutita). Eine große Rolle spielten Verwandlungen schon
immer im Märchen, aber auch in der Religion, z.B. bei einigen Wundern
(Speisung der 5000) oder fundamentalistisch z.B. in der katholischen Eucharistie,
die Hostie soll sich in den Leib Christi und der Wein in sein Blut wandeln.
Wenn Janouch also stolz zu Kafka fährt, um ihm zu verkünden,
dass seine Verwandlung inzwischen schon abgeschrieben werde - David Garnett
"Lady into Fox" - und Kafka entgegnet: "Ach Nein! Das hat er nicht von
mir. Das liegt in der Zeit. Wir haben es beide von ihr abgeschrieben."
(Janouch 1968, S. 43), so liegen beide falsch: Verwandlungen haben eine
lange Tradition in der Kultur-, Geistes- und Kunstgeschichte. Aber sie
kamen in der "Moderne" um 1900 aus der literarischen Mode.
Lit: Stichwort Verwandlung. In: Bächthold-Stäubli, Hanns & Hoff- mann-Krayer, Eduard (1927-1942; Neuauflage 2000). Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bde. Berlin: deGruyter. |
aus dem Schinderhannes Triptychon. |
(2) Eine ganze andere, natürliche und reale Quelle finden wir
in der Biologie in der Entwicklung der Geschöpfe und Lebewesen (z.B.
Larve, Puppe, Schmetterling; Ei, Befruchtung, Embryo, Geburt, Entwicklung).
(3) Eine dritte Quelle findet sich in der Psychopathologie, wenn Menschen ihr Wesen verändern bis hin zu multiplen Persönlichkeiten oder "gespaltenen" Persönlichkeiten in der Schizophrenie oder, wenn sie durch Demenz (Alzheimer) oder andere krankhafte Veränderungen allmählich ihre Identität verlieren und nicht mehr wissen, wer sie sind oder auch krankheitsbedingt die Sprechfähigkeit verlieren (z. B. nach einem Schlaganfall) und sich vielleicht ähnlich fühlen wie Gregor). Hierzu gehören evtl. auch die Saulus-Paulus-Phänomene, wenn Menschen in ihrer Lebenshaltung einen radikalen, extremen Wandel durchlaufen. Back, Frances (2002). Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Untersuchung zu 2 Kor 2,14 - 4,6. Tübingen: Mohr Siebeck. ISBN 3-16-147880-0. (4) Entwicklungspsychologie: der Mensch wandelt sich im Laufe des Lebens, wenn er auch seine Identität behält. (5) Alltag: Wetter, Klima, Tag und Nacht, Jahreszeiten; Umbauten, äußere Erscheinung (Mode). (6) Metamorphose ist auch ein großes Thema der Geologie. |
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Theater site:www.sgipt.org. |
korrigiert: irs 27.01.08