Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
Salvador Dali
1939
Mit freundlicher Genehmigung des Rogner
& Bernhard Verlages. Aus [S. 288 - 291]: Dali, Salvador (dt. 1974,
fr. 1971). Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung
der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften.
Herausgegeben von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann. Deutsch von
Brigitte Weidmann. München: Rogner
& Bernhard.
"Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
WENN INFOLGE DER ENTWICKLUNG DER MENSCHLICHEN KULTUR EIN VOLK DIE INTELLEKTUELLEN FESSELN, DIE ES MIT DEN LOGISCHEN SYSTEMEN DER VERGANGENHEIT VERKNÜPFEN, SPRENGEN MUSS, UM SICH SELBST EINE URSPRÜNGLICHE MYTHOLOGIE ZU SCHAFFEN, DEREN ÜBEREINSTIMMUNG MIT DEM INNERSTEN WESEN, MIT DEM VOLLKOMMENEN AUSDRUCK SEINER BIOLOGISCHEN WIRKLICHKEIT VON HERVORRAGENDEN GEISTERN ANDERER VÖLKER ERKANNT WERDEN WIRD — DANN FORDERT DIE ACHTUNG, DIE MAN DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG SCHULDET, DASS DIE GRÜNDE, DIE DEN BRUCH MIT ABGENUTZTEN, KONVENTIONELLEN FORMELN EINER PRAGMATISCHEN GESELLSCHAFT ZWANGSLÄUFIG HERBEIGEFÜHRT HABEN, OFFEN DARGELEGT WERDEN.
Zu Beginn der surrealistischen Revolution wurde erklärt: »Wir leben im Zeitalter der drahtlosen Telegraphie; wir verkünden auch das Zeitalter der drahtlosen Phantasie.« Doch nicht Telegraphendrähte schnüren uns jetzt ein - Ketten der Unterdrückung müssen wir zerreißen! In Bestätigung des obigen verkünden wir folgende Wahrheiten: daß alle Menschen in ihrer Verrücktheit gleich sind, und daß Verrücktheit (Eingeweidekosmos des Unterbewußten) [<288] die allgemeine Grundlage des menschlichen Geistes darstellt. Diese Einheit der Geistes wurde von Lautréamont proklamiert, als er schrieb: »Die Dichtung muß von allen, nicht von einem gemacht werden.« Zu den Grundrechten menschlicher Verrücktheit gehört, was die surrealistische Bewegung selbst wie folgt definiert: »Surrealismus — reiner psychischer Automatismus, durch den man schriftlich oder mündlich oder auf irgendeine andere Art den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht; Denk-Diktat ohne jede rationale, ästhetische oder moralische Kontrolle.« (André Breton: Erstes surrealistisches Manifest.)
Der Mensch hat Anspruch auf das Rätsel und die Wahnbilder, die
auf den großen Konstanten des Lebens beruhen: auf dem Geschlechtstrieb,
dem Bewußtsein des Todes und der körperlichen, vom »Zeit-Raum«
verursachten Melancholie.
Die Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit werden von falschen
»praktisch-rationalen« Hierarchien ununterbrochen bedroht und
in einer Weise traktiert, die man ohne Übertreibung »provinziell«
nennen darf. Die Geschichte des echt schöpferischen Künstlers
ist voll von Mißachtungen und Übergriffen, mittels derer das
kommerzielle Denken den neuen schöpferischen Ideen des poetischen
Denkens eine absolute Tyrannei aufzwingt. ICH FÜHLE MICH VERPFLICHTET,
FOLGENDE TATSACHEN NEUESTEN DATUMS, DIE ICH SELBST ERLEBT HABE, DER ÖFFENTLICHKEIT
ZU UNTERBREITEN.
Wahrscheinlich erinnern sich die meisten von Ihnen an den Zwischenfall,
den die Leitung eines gewissen New Yorker Warenhauses hervorrief, als sie
sich unterfing, einige meiner Entwürfe abzuändern, ohne die Rücksicht
zu nehmen, mich vorher über ihre Entscheidung in Kenntnis zu setzen.
Ich erhielt damals Hunderte von Briefen von amerikanischen Künstlern,
die mir versicherten, ich hätte durch meine Handlungsweise dazu beigetragen,
die Unabhängigkeit ihrer Kunst zu verteidigen. Jetzt hat ein noch
erstaunlicherer Kampf stattgefunden. Das fürs Amusement Area der Weltausstellung
zuständige Komitee hat mir verboten, außen am »Traum der
Venus« das Bild einer Frau mit Fischkopf aufzustellen. Das folgende
sind genau seine Worte: »Eine Frau mit einem Fischschwanz ist möglich,
eine Frau mit einem Fischkopf ist nicht möglich.« Diese Entscheidung
des Komitees halte ich für eine überaus schwerwiegende, die verdient,
daß man sie ins grellste Licht rückt. Denn hier geht es um die
Leugnung eines Rechtes rein poetischer und imaginativer Art, das nichts
angreift, was von moralischer oder politischer Bedeutung wäre. Ich
bin immer der Meinung gewesen, daß der erste, der den Einfall hatte,
einen weiblichen Körper in einen Fischschwanz auslaufen zu lassen,
kein schlechter Dichter gewesen ist, doch ich [<289] bin ebenso überzeugt,
daß der zweite, der den Einfall wiederholte, nichts weiter war als
ein Bürokrat. Jedenfalls hätte der Erfinder des ersten Sirenenschwanzes
die gleichen Schwierigkeiten mit dem Komitee des Amusement Area gehabt
wie ich. Hätte es im Unsterblichen Griechenland ähnliche Komitees
gegeben, wäre die Phantasie verbannt worden und die Griechen hätten,
schlimmer noch, ihre sensationelle, unerbittlich surrealistische Mythologie,
die (meines Wissens) zwar keine Frau mit Fischkopf, doch unbestreitbar
den Minotaurus mit seinem schrecklich realistischen Stierkopf hervorgebracht
hat, nie geschaffen und uns also auch nicht hinterlassen.
Jeder wirklich originelle Einfall, der sich ohne »nachweisliche Vorläufer« präsentiert, wird systematisch abgelehnt, gemildert, in den Dreck gezogen, durchgekaut, nochmals durchgekaut, ausgespuckt und zerstört, jawohl, und, was noch schlimmer ist — zur scheußlichsten Mediokrität verschnitten. Die Entschuldigung, die man bereithält, ist immer die Vulgarität der überwiegenden Mehrheit des Publikums. Das ist, ich betone es, grundfalsch. Das Publikum ist dem Schund, mit dem es täglich abgespeist wird, unendlich überlegen. Die Massen haben immer gewußt, wo echte Poesie zu finden ist. Das Mißverständnis ist einzig durch jene »kulturellen Zwischenhändler« entstanden, die sich mit ihrem hochfahrenden Wesen und ihren herablassenden Schaumschlägereien zwischen den Schaffenden und das Publikum drängen.
KÜNSTLER UND DICHTER AMERIKAS! WENN IHR DEN HEILIGEN QUELL EURER MYTHOLOGIE UND INSPIRATION ZURÜCKEROBERN WOLLT, IST DIE ZEIT GEKOMMEN, EUCH IM HISTORISCHEN ZENTRUM EURES PHILADELPHIA ZU VERSAMMELN, WIEDER EINMAL DIE SYMBOLISCHE GLOCKE DER UNABHÄNGIGKEIT EURER PHANTASIE ZU LÄUTEN UND, IN EINER HAND FRANKLINS BLITZABLEITER, IN DER ANDERN LAUTRÉAMONTS REGENSCHIRM RECKEND, DEN STURM VON OBSKURANTISMUS, VON DEM EUER LAND BEDROHT IST, ZU BEKÄMPFEN! LASST DEN BLENDENDEN BLITZ EURES ZORNES UND DEN RÄCHENDEN DONNER EURER PARANOISCHEN INSPIRATION LOS!
Nur Heftigkeit und Dauer eures gestählten Traumes können der furchtbaren mechanischen Zivilisation widerstehen, die euer Feind und der Feind des »Lustprinzips« aller Menschen ist. Ein Mann hat das Recht, Frauen mit ekstatischen Fischköpfen zu lieben. Ein Mann hat das Recht, lauwarme Telefone ekelhaft zu finden und Telefone zu fordern, die so kalt, grün und aphrodisisch sind [<290] wie der von Gesichten heimgesuchte Schlaf der spanischen Fliegen. Telefone, die so barbarisch sind wie Flaschen, werden sich von der lauwarmen Verzierung der Louis-XV.-Löffel befreien und langsam die Bastarddekorationen unserer milde verblaßten Dekadenz mit eisigem Schamgefühl bedecken.
Der Mensch hat das Recht, den Schmuck einer Königin als »Lustobjekte«
für sich zu fordern: Kostüme für seine Möbel! für
seine Zähne! selbst für Gardenien! Handbestickte Kissenbezüge
werden die außerordentliche Empfindlichkeit von »Kalbslungeneisenbahnschienen«
schützen, bei der Herstellung von Automobilen wird man buntes Glas
mit persischen Mustern einführen, um das häßliche, rohe
Tageslicht der Landschaften fernzuhalten. Die Farbe alten Absinthes wird
das Jahr 1941 beherrschen. Alles wird grünlich sein. »Grün,
ich will dich grün« — grünes Wasser, grüner Wind,
grünes Hermelin, grüne, vom Schlaf geschwellte Eidechsen, die
die grüne Haut, die blendenden Dekolletés der Schlaflosigkeit
entlanghuschen, grüne Silberplatte, grüne Schokolade, grün
die Elektrizität, die im Todeskampf das lebendige Fleisch der Bürgerkriege
versengt, grün das Licht meiner Gala!
Im Alptraum der Amerikanischen Venus aus der (von trockenen Regenschirmen
starrenden) Dunkelheit heraus das berühmte Taxi von Christoph Kolumbus.
Drinnen sitzt voller Stolz er selbst. Er ist von einem beharrlichen Sprühregen
völlig durchnäßt. Dreihundert lebendige Weinbergschnecken
kriechen auf seinem reglosen Körper und in den Höhlungen seines
bleifarbenen Gesichtes herum. Auf der Brust von Christoph Kolumbus kann
man dieses rätselhafte Schild lesen: [Bin ich schon zurück?]
Warum weist er mit seinem Zeigefinger in Richtung Europa? Warum ist er
von den unsichtbaren Geistern des Herzogs und der Herzogin von Windsor
begleitet? Warum ist ein schlafwandelndes spanisches Mädchen mit goldenen
Ketten ans Steuer seines Cadillac de luxe gefesselt?
ES GIBT NOCH UNDURCHDRINGLICHERE GEHEIMNISSE À LA DALI, SCHWER VON DUNKLER, WEITREICHENDER BEDEUTUNG. DOCH EINS IST SICHER: EIN KATALANE, CHRISTOPH KOLUMBUS, ENTDECKTE AMERIKA, UND EIN ANDERER KATALANE, SALVADOR DALI, HAT SOEBEN CHRISTOPH KOLUMBUS WIEDERENTDECKT. NEW YORK! DU, DEM STENGEL DER LUFT SELBST ÄHNLICH, HALB GEKAPPTE HIMMELSBLUME! DU, VERRÜCKT WIE DER MOND, NEW YORK! SIEH, DIE SURREALISTISCHE »PARANOIA-KINESIS« HAT DICH EROBERT, DU HAST ALLEN GRUND, STOLZ ZU SEIN, ICH GEHE UND ICH KOMME, ICH LIEBE DICH VON GANZEM HERZEN. [1939]"
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korrigiert: 11.06.04 irs