Ambivalenz
Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit
Elisabeth Otscheret (1988). Heidelberg:
Asanger.
161 S. ISBN 3-89334-275-3 € 18.-
Ein Buchhinweis mit Leseproben von
Rudolf Sponsel, Erlangen
Erstausgabe 27.03.02, Letztes Update 30.3.2002
VORWORT VII
2. DER AMBIVALENZBEGRIFF IN VERSCHIEDENEN PSYCHOLOGISCHEN THEORIEN
2.1. Anfänge
der Psychoanalyse 3
2.2. Entwicklungspsychologie 11
2.3. Systemische Ansätze 20
2.4. Motivations- und Lerntheorien 28
2.5. Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie 34
3 NORMALITÄT UND NOTWENDIGKEIT DER AMBIVALENZ
41
3.1. "Du sollst Dir kein Bild von Gott machen!" 41
3.2. Dialogik als geistiges und seelisches Prinzip 43
3.2.1. Martin Bubers dialogisches Prinzip, eine Philosophie der Begegnung
43
3.2.2. Dialogik als geistiges Prinzip: Hermann Levin Goldschmidt
49
3.2.3. Dialogik als seelisches Prinzip 52
3.3. Eine psychologische Theorie des Widerspruchs 55
3.3.1. Ambivalenz als Produkt von Differenzierung und Integration ...
56
3.3.2. "Der verdrängte Widerspruch" 59
3.4. Kritik an den gängigen Ambivalenztheorien 62
3.4.1. Allgemeine kritische Bemerkungen zu psychologischen Beschreibungsweisen
und Theoriebildungen 62
3.4.2. Scheinbare Auflösung des Widerspruchs und Gefahr der Orthodoxie
63
3.4.3. Kritik an der Beschreibung des Ambivalenzbegriffes in der Psychoanalyse
66
4. AUTONOMIEGEWINNUNG DURCH NUTZUNG DES AMBIVALENZKONFLIKTS
69
4.1. Begriffsbestimmung und grundlegende theoretische Aussagen
69
4.2. Der Autonomieprozeß in der Entwicklung 72
4.2.1. Symbiose, Dualunion von Mutter und Kind (bis zum 6. Monat) 72
4.2.2. Loslösung und Individuation I: Identitätsentwicklung
als Produkt der Mutter-Kind-Interaktion 75
4.2.3. Loslösung und Individuation II: Identitätsentwicklung
als Produkt von Konflikten mit der realen Umwelt 80
4.3. Störfaktoren bei der Autonomieentwicklung 84
4.3.1. Entwicklungskrisen und ihre spezifischen Erscheinungsformen
84
4.3.2. Entscheidende Knotenpunkte der Entwicklung als Kriterium für
eine Klassifikation der pathologischen Erscheinungsbilder 87
4.4. Beschreibung der frühen Störungen 90
4.4.1. Das Borderline-Syndrom 91
4.4.2. Die narzißtische Störung 95
4.5. Ein Recht auf freien Widerspruch:
Respekt und Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen 101
5. AMBIVALENZ IN DER GESELLSCHAFT 103
5.1. Individuum und Gesellschaft 103
5.1.1. Soziale Wirklichkeit als Selektions- und Sinngebungsprozeß
einer Gemeinschaft 104
5.1.2. Norm und Rolle 105
5.1.3. Anpassung und Ambivalenz in der sozialen Wirklichkeit 108
5.1.4. Pathologische Ambivalenz im gesellschaftlichen Zusammenhang
110
5.1.5. Wechselwirkung von individueller Neurose und gesellschaftlichen
Normen 115
5.2. Machtstrukturen und dialogisches Prinzip 117
5.2.1. Funktion von Machtstrukturen im gesellschaftlichen Zusammenhang
118
5.2.2. Psychologische Bedeutung von Machtstrukturen für den einzelnen
122
5.2.3. Machttendenzen in Religion, Wirtschaft und Politik 126
6. AMBIVALENZ ALS CHANCE
ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION 145
LITERATURVERZEICHNIS 154
"Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, den in der psychoanalytischen
Literatur unterschiedlich beschriebenen und oft einseitig verwendeten Begriff
der Ambivalenz zu analysieren und zu erweitern.
Konflikte sind ein Element des realen wie des seelischen
Lebens. Jede Entwicklung findet grundsätzlich innerhalb eines Spannungsfeldes
entgegengesetzter Pole statt. Doch können Entwicklungsprozesse auch
fehlgeleitet, problematische und unerwünschte Einflüsse verdrängt
werden. Derartige Verdrängungsprozesse führen sowohl im gesellschaftlichen
als auch im individuellen Bereich nicht selten zu pathologischen Verhaltensmustern
und zu spezifischen Krankheitsbildern, wie beispielsweise Machtmißbrauch.
Da die Dialogik der Vielgestaltigkeit des menschlichen
Lebens und dem unaufhebbaren Nebeneinander von Widersprüchen einen
hohen Stellenwert beimißt, habe ich diese philosophische Richtung
als Basis meiner Ausführungen gewählt.
In einer Übersicht soll der Ambivalenzbegriff
in verschiedenen psychologischen Theorien vorgestellt werden. Gegen diese
teils unklaren und voneinander abweichenden Aussagen wird das dialogische
Prinzip Martin Bubers gesetzt. Buber beschreibt eine existenzphilosophische
Seinsweise, die sich im Gegenüber, d.h. in der Beziehung zwischen
Ich und Du, manifestiert. Für Herman Lewin Goldschmidt ist das dialogische
Prinzip darüber hinaus eine geistige Grundhaltung, die große
Bedeutung für unser Ambivalenzverständnis hat. Ausgehend von
dieser Betrachtung der Dialogik als geistiges und seelisches Prinzip werde
ich versuchen, einen falschen oder zu eng gefaßten Ambivalenzbegriff
zu korrigieren und zu erweitern.
Ein drittes Kapitel behandelt anhand des dialogischen
Ambivalenzkonzeptes praktische psychologische Anwendungsbereiche. So soll
die frühe psychische Entwicklung vorwiegend unter dem Aspekt der Autonomiegewinnung
durch Nutzung des Ambivalenzkonfliktes betrachtet werden. Psychische Störungen
wären demzufolge ein Zeichen für das Scheitern der Autonomieentwicklung
bzw. für die Verdrängung von Ambivalenzkonflikten. [<2]
Weiter soll gezeigt werden, daß die Ambivalenzproblematik
nicht nur im individuellen psychologischen Bereich, sondern auch auf der
gesellschaftlichen Ebene existiert.
Abschließend geben eine kurze Zusammenfassung
und Diskussion des Themas dem Leser eine geraffte Orientierung."
"2. Der Ambivalenzbegriff in verschiedenen psychologischen Theorien
2.1. Anfänge der Psychoanalyse
Bei einem Vortrag vor dem Verein schweizerischer Irrenärzte in
Bern im November 1910, führte Eugen
Bleuler den Begriff 'Ambivalenz'
erstmals in die Psychiatrie ein.
Ambivalenz im allgemeinen zeigt sich für Bleuler
darin, daß "die verschiedenen Psychismen zugleich mit negativen und
positiven Vorzeichen versehen" sind, "daß das nämliche Ding
positiv und negativ gefühlsbetont oder positiv und negativ gedacht
oder erstrebt wird." (Bleuler, 1911, 43).
Bleuler geht von der pathologischen Ambivalenz im engeren Sinne aus, stellt
jedoch in abgeschwächter Form denselben Mechanismus auch beim neurotischen
und 'normalen' Menschen fest. "Stark ambivalente Gefühlsbetonungen
werden aber vom Gesunden bewältigt; im ganzen zieht er das Fazit aus
widersprechenden Wertungen; er liebt
weniger wegen begleitender schlechter und haßt weniger wegen begleitender
guter Eigenschaften. Der Kranke kann aber oft die beiden Strebungen nicht
zusammenbringen; er haßt und liebt nebeneinander, ohne daß
sich die beiden Affekte abschwächten oder überhaupt beeinflußten."
(Bleuler,1975, 71)"
"6.
Ambivalenz als Chance.
Zusammenfassung und Diskussion
Der Ambivalenzbegriff als zentrales Thema der Neurosenlehre soll eine neue Bewertung im Sinne der Dialogik erfahren. Dabei wird zuerst ein Blick auf die bisherige Verwendung des Ambivalenzbegriffes in verschiedenen psychologischen Theorien geworfen.
In der frühen Psychoanalyse fand der Ambivalenzbegriff zunächst ausschließlich im Bereich der Psychopathologie Verwendung. Die Entstehung der Ambivalenz wird als triebgebunden und konstitutionell vorgegeben gesehen. In der analytischen Entwicklungspsychologie beginnt die reale Interaktion mit der Mutter eine zunehmende Rolle zu spielen, Ambivalenz wird als notwendiges Entwicklungsphänomen beschrieben, das in Anlehnung an die biologisch interpretierte Triebdynamik jedoch nach der genitalen Phase verschwinden sollte. Die systemischen Ansätze - bei denen die Interaktion des Individuums im Vordergrund steht - betonen zwar die Notwendigkeit des Dialoges und der Gegenseitigkeit, kommen dann aber zu einer dialektischen und nicht zu einer dialogischen Betrachtungsweise der Ambivalenz: Motivationale und lerntheoretische Ansätze gehen davon aus, daß eine Grundmotivation menschlichen Handelns darin besteht, Konflikte zu mindern oder zu vermeiden, Widersprüche also im Sinne einer Synthese aufzuheben. Die Gestaltpsychologie und ihr verwandte Theorien verstehen das Ganze nicht als Einheit, sondern als Vielfältigkeit, die einer natürlichen Ordnung zustrebt.
Ambivalenz wird in den Theorien oft nur implizit und erst im Zusammenhang mit einer Konfliktbewältigung explizit angesprochen. Dabei liegt die Betonung auf der Lösung des Konflikts, d.h. auf der dialektischen Synthese und nicht auf dem dialogischen 'Aushalten' der gegensätzlichen Pole.
Auf der Basis psychoanalytischen Gedankenguts und unter Berücksichtigung der Anregung anderer Ansätze soll nun die psychoanalytische Auffassung der Ambivalenz im Sinne einer ganzheitlichen Sichtweise erweitert werden. Grundlage ist für mich dabei das philosophische Prinzip der Dialogik. Dialogik soll hier auch als seelisches Prinzip Eingang in psychologische Theorien finden.
Martin Bubers dialogisches Prinzip als eine Philosophie der Begegnung beschreibt anhand der Grundworte 'Ich-Du' und 'Ich-Es' zwei [<145] gegensätzliche Arten des Menschen, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten: Spricht der Mensch das Grundwort 'Ich-Es', so macht er sich die Welt aus seiner Subjektivität heraus untertan. Spricht er das Grundwort 'Ich-Du', läßt er sich auf eine Beziehung mit dem anderen ein. Die Begegnung mit dem anderen zeichnet sich durch Unmittelbarkeit, das Gegenseitigkeit und Gleichursprünglichkeit aus. Die "Andersheit" enthält das Moment der Überraschung, des Neuen, der Spannung und des 'Noch- nicht- entschieden- Seins'. Die dialogische Beziehung beinhaltet das schlechthin andere, dessen das man nicht habhaft werden kann das in seiner Andersheit belassen werden muß als dialogisches Gegenüber.
Hermann Levin Goldschmidt greift Bubers Gedanken auf, entwickelt sie weiter, erhebt die Dialogik zum geistigen Prinzip und wendet dieses unter verschiedenen Aspekten auf unsere heutige Zeit an. Goldschmidts Philosophie ist ein Plädoyer für die Vielfalt, gegen die Einheit, für den Dialog, gegen den Monolog. Ein Ganzes besteht für ihn aus Vielfältigkeiten, die sich nicht gegenseitig ausschließen, die sich nicht unterordnen, die keine Herrschaft ausüben, sondern sich gleichberechtigt gegenüberstehen. Darin sieht er die Möglichkeit, den Dialog des einen mit dem anderen zu denken und zu leben. Jedem Standpunkt steht ein anderer, gegenteiliger, gegenüber. Widerspruch im Sinne der Dialogik bedeutet das Wissen, daß man nie das Ganze als solches wahrnehmen kann, sondern nur einen Teil des Ganzen; das Bewußtsein also, daß das Ganze aus vielen Teilen besteht. Im Gegensatz zur Dialektik will die Dialogik - als Wechselwirkung von These und Antithese - den Widerspruch nicht durch eine Synthese aufheben, sondern die Gegenüber bewußt nebeneinander und als zueinander gehörig gelten lassen.
Anhand von Bubers und Goldschmidts Philosophie habe ich versucht, ein seelisches Prinzip im Sinne der Dialogik als Basis meiner Ambivalenztheorie auszuarbeiten. Um philosophisches Gedankengut nicht zu 'verpsychologisieren' betrachte ich Dialogik als seelisches Prinzip und nicht als psychologische Theorie. In der Begegnung mit dem Du wird der Mensch mit Vielfalt und Widersprüchen konfrontiert, in der Es-Welt schafft er sich Eindeutigkeit und Strukturiertheit, also Ordnung. So entstehen Sicherheit und Kontinuität, die die Begegnung, ein sich Einlassen auf den Augenblick und die Überraschung durch den anderen ermöglichen. Beziehung meint immer sowohl die Unsicherheit des anderen als auch die Sicherheit des Gewohnten. Die Dialogik als seelisches Prinzip bemüht sich, den anderen nicht festzulegen, nicht seiner habhaft zu wer-[<146]den. Ein Denken in Gegensätzen sperrt sich grundsätzlich gegen Fixierung und Verschlossenheit. Es setzt Offenheit gegenüber allem anderen voraus, läßt Ungewißheit zu und verweigert sich jeglicher Vorbestimmtheit, was erst Begegnung und Wachstum im Sinne einer Entwicklung ermöglicht. Die von der Dialogik geforderte Offenheit für das andere, für den Widerspruch, impliziert als Grundlage seelischer Existenz Spannung und Konflikt, die individuell wie gesellschaftlich Bewegung und Lebendigkeit fördern. Vermeidung oder Unterdrückung des Dialogs und Widerspruchs dagegen führen zu Stagnation und Leere. Der Widerspruch wird demnach nicht als Negation und Ausschluß verstanden, sondern als 'öffnende' und 'vervollständigende' Beziehungsmöglichkeit.
Eine derartige Erweiterung des Ambivalenzbegriffes legt eine 'psychologische Theorie des Widerspruchs' nahe: Ambivalenz nicht mehr als pathologisches Phänomen, sondern als eine normale und generell notwendige seelische Erscheinung. Die Beschäftigung mit der Dialogik hat gezeigt, daß grundsätzlich jedes Denken, Fühlen und Handeln von inneren und äußeren Einflüssen, von gegensätzlichen Gefühlen, Erwartungen und Zielsetzungen geleitet ist. Die Ambivalenz mit ihren widersprüchlichen Inhalten spiegelt die vielgestaltige Umwelt des Menschen. Seelische Gesundheit beinhaltet die Fähigkeit, diese Spannungen und Widersprüche wahrzunehmen und mit ihnen umzugehen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie auszuhalten; sie nicht nur als belastend, sondern auch als entwicklungsfördernd, als Chance, zu betrachten, d.h. bewußt mit ihnen zu leben.
Der Mensch muß also die Fähigkeit erwerben, sich innerhalb eines Spannungsfeldes zu bewegen und fortzuschreiten. Schon die frühe Mutter- Kind- Beziehung bietet die erste Möglichkeit, Widersprüche der Umwelt in Form des Wechsels von Befriedigung und Versagung zu integrieren und einen natürlichen Umgang mit ihnen zu erlernen. Auch im weiteren Verlauf der Entwicklung wird das Kind ständig mit Widersprüchen konfrontiert, bis es über Identifikation die Fähigkeit zum Widerspruch selbst integriert. Die immer differenzierter wahrgenommene vielgestaltige Umwelt löst intrapsychisch ebenso vielfältige, teilweise gegensätzliche Gefühle aus. Ambivalenz wäre demnach das psychische Phänomen, an dem sich gleichzeitig der Integrationsprozeß des umweltbedingten Widerspruchs und die Entwicklung der intrapsychischen Gefühlsdifferenzierung beobachten lassen: Ambivalenz als Produkt von Differenzierung und Integration, als Voraussetzung für die Ausbildung und fortschreitende [<147] Entfaltung immer bedeutungserfüllterer Objektbeziehungen, also als eines der wichtigsten Phänomene des kindlichen Seelenlebens.
Wird Ambivalenz als Normalität und Notwendigkeit. gesehen und drückt sich die Reife eines Menschen auch in seiner Ambivalenztoleranz aus, so zeigt sich die Pathologie demzufolge in der 'Verdrängung des Widerspruchs'. Wir tendieren dazu, Spannungen aus dem Weg zu gehen und Widersprüchliches zu verdrängen. Im Extremfall wird eine Haltung eingenommen, die jede Entwicklung und Bewegung, jedes qualitative Wachstum behindert. Ein solcherart verdrängter Widerspruch läßt sich als pathologische Ambivalenz beschreiben; diese zeigt sich als neurotisches Phänomen. Seelisches Gleichgewicht kann nur noch unter einem mehr oder weniger großen Verlust an Realitätsbezug aufrecht erhalten werden. Die Beibehaltung der einseitigen starren Position erfolgt durch eine mühsame, kraftraubende Abwehrarbeit. Die aufgewendete Energie, die zur Veränderung hätte genutzt werden können, läßt Leidensdruck entstehen. Die Bipolaritäten festigen sich auf Kosten eines Spannungszustandes zu einem Entweder-Oder, die daraus resultierenden fixierten Einstellungen entsprechen einer Regression auf einen frühkindlichen Zustand.
Wurde zuerst versucht, die Ambivalenz als Phänomen zu beschreiben, so soll nun der Begriff in seiner dynamisch strukturellen Bedeutung verwendet werden. Grundgedanke ist dabei, daß Ambivalenz ein entwicklungsförderndes Potential enthält. Psychisches Wachstum spielt sich im Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit ab. Dieses Spannungsfeld zeigt sich m der Beziehung zur Umwelt als Grundkonflikt zwischen Bindung und Loslösung. Dieser Grundkonflikt führt zu besonders großen Spannungen, wenn es darum geht, einen Schritt in Richtung Individuation zu machen, d.h. er ist oft die treibende Kraft zur Reifung und Veränderung. Die sich auf diese Weise immer weiter differenzierenden Beziehungsmöglichkeiten und die damit einhergehende wachsende psychische Strukturierung wird als progressives Element des Entwicklungsprozesses gesehen. Die Unterdrückung des jeweils phasenspezifischen Konflikts dagegen verhindert die Entwicklung sowohl zur Beziehungsfähigkeit als auch zur Selbstverwirklichung, d.h. es findet eine Regression im Sinne einer 'Abwehr der Individuation' statt.
Autonomie ist ebensosehr ein Produkt der Bezogenhcit wie der Abgrenzung. Bei der Beschreibung der kindlichen Entwicklung muß dieser duale Charakter des Autonomieprozesses besonders berücksichtigt wer- [<148] den. An die symbiotische Phase schließt sich eine beginnende Differenzierung von Ich und Nicht-Ich an, die Grundlage für einen zukünftigen Dialog. In dieser Diade lernt das Kind, auf der Basis von Sicherheit und Geborgenheit Risiken einzugehen und Fremdes zu suchen. Es experimentiert mit Entfernung und Annäherung, lernt also, aktiv Nähe und Distanz zu gestalten. In der Loslösungs- und Individuationsphase wird mit der Trennung von Selbst und Objekt und mit zunehmender Autonomie die Fähigkeit entwickelt, ambivalente Gefühle gegenüber ein und derselben Person zu empfinden. Eine solche beginnende Ambivalenztoleranz ist grundlegende Bedingung für nachfolgende Entwicklungsphasen. Während die 'psychische Geburt' (Mahler) in der Diade zwischen Mutter und Kind stattfindet, zeigt sich die weitere Identitätsentwicklung als Produkt von Konflikten mit der realen Umwelt, wobei aber eine Ähnlichkeit zum Verlauf des vorhergehenden Entwicklungszyklus auffällt.
Konflikte, ob intrapsychisch oder zwischenmenschlich, gehören unentrinnbar zur menschlichen Existenz und sind Grundlage jeder Entwicklung. Immer, wenn im Laufe der psychischen Entwicklung zu Vertrautem Fremdes, zu bereits Vorhandenem Neues hinzutritt, fordern sich zwei dialogische Gegenüber heraus und führen zu einer Spannung. Man kann in diesem Zusammenhang von Krisen sprechen, da die Spannungen auch das Risiko einer Fehlentwicklung, einer Pathologie, d.h. des Verlusts der Dialogik beinhalten. Zu verschiedenen Zeitpunkten werden bestimmte dialogische Gegensatzpaare ausdifferenziert, die miteinander in Konflikt geraten können. Entwicklungsschritte finden dadurch statt, daß der bisherige Zustand aufgegeben wird, jedoch als Erfahrungswert in einem neuen Kontext, d.h. auf der nächsthöheren Entwicklungsstufe, weiterhin zur Verfügung steht. Gelingt dieser Schritt, so sind die beiden gegensätzlichen Pole, ebenso wie alte und neue Erfahrungen in die Gesamtpersönlichkeit integriert.
Zwei Entwicklungsphasen bieten dem Kind in besonders starkem Maße die Chance, ambivalente Gefühle bewußt zu erleben und im Dialog mit der Umwelt zu integrieren: Trotzphase und Pubertät. Beide Male ruft die Notwendigkeit zu weitreichender Ablösung auch starke Geborgenheitswünsche hervor, was die erhöhte Ambivalenz in diesen Phasen erklärt.
Zu den Störungen, die als Folge einer nicht erreichten Ambivalenztoleranz entstehen, gehören das Borderline- Syndrom und die narzißtische Störung, in denen sich das Erscheinungsbild der pathologischen Ambiva- [<149] lenz deutlich manifestiert. Dabei können zwei Arten der Ambivalenz unterschieden werden: Die 'Entweder-oder'- und die 'Sowohl- als- auch- Ambivalenz'. Bei der ersteren ist ein Pol verdrängt, der andere dafür überbetont, bei der letzteren sind beide Pole bewußt und relativ gleichwertig, doch das Ich ist der Spannung nicht gewachsen. Beide Formen weisen in der Beziehung zur Umwelt folgende Gemeinsamkeiten auf: Andere Menschen werden als bedürfnisbefriedigende Objekte wahrgenommen und zur Aufrechterhaltung des eigenen seelischen Gleichgewichts gebraucht. Diese Beziehung entspricht Bubers Grundwort 'Ich-Es'. Eine 'Ich-Du'-Beziehung, ein Dialog, ist nicht möglich. Die Basis für eine pathologische Ambivalenzentwicklung wird zwischen der Selbst- Objekt- Differenzierung und der Wiederannäherungskrise gelegt. Bei derartigen 'frühen Störungen' äußert sich die pathologische Ambivalenz nicht in einer einfachen 'Verdrängung des Widerspruchs', sondern in einem strukturellen 'Verlust der Dialogik': Die Ich-Strukturen sind noch zu wenig ausgebildet, als daß ambivalente Gefühle zugelassen oder gar ausgehalten werden könnten. Beim neurotischen wie beim 'normalen' Menschen dagegen ist die Verdrängung der Ambivalenz das Produkt einer Reaktionsbildung und daher durch Bewußtmachung wieder aufzuheben.
Auf welche Weise mit Konflikten umgegangen wird, hängt nicht nur von persönlicher Biographie und Entwicklung, sondern auch von kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen ab. In vielen Gesellschaftsformen wurde und wird Gegensätzliches hart unterdrückt, doch auch unsere moderne demokratische Gesellschaft neigt dazu, den Widerspruch zu verdrängen. Einige Gesellschaften nutzen den Konflikt bzw. Abhängigkeitswünsche der einzelnen, um Normen zu etablieren und ihre Stabilität aufrechtzuerhalten. Ähnlich wie der Partner in einer neurotischen 'Kollusion' bietet die Gesellschaft dem Individuum die Möglichkeit, Konfliktspannungen zu umgehen, hindert es aber andererseits auch an seiner Autonomieentfaltung.
Machtbeziehung und dialogische Beziehung schließen sich per definitionem gegenseitig aus. Werden in einer Beziehung hierarchische Strukturen durch ein Machtgefüge etabliert, sind die Grundbedingungen für eine Begegnung außer Kraft gesetzt, der im Dialog enthaltene Widerspruch durch den anderen wird negiert. Um das Funktionieren eines gesellschaftlichen Systems zu gewährleisten, ist aus soziologischer Sicht Macht als ordnende Funktion notwendig. Jedoch beinhaltet das Moment der Macht- [<150] ausübung auch immer die Gefahr totalitärer Entwicklungen, was sich an religiösem Dogmatismus, wirtschaftlicher Macht und verschiedenen politischen Tendenzen aufzeigen läßt. Pathologische Ambivalenzkonfliktlösungen erweisen sich dabei als Grundbedingung für Machtmißbrauch. In psychologischer Hinsicht scheint die Angst vor Unsicherheit für den einzelnen ein Agens zu sein, um stabilere Machtgefüge herzustellen.
Das reale wie auch das seelische Leben umfassen Widersprüche, die sich nicht nur in bezug auf das Individuum, sondern auch in Familien, in Gruppen und in der Gesellschaft zeigen. Seelische Gesundheit bedeutet, diese Widersprüche zu erkennen, auszuhalten, bewußt mit ihnen zu leben. Der dialektische Kompromiß oder die Entscheidung für einen Pol heben den Widerspruch niemals auf, sondern lassen ihn weiter lebendig bestehen. Wir alle - gesunde wie 'kranke' Menschen - tendieren jedoch dazu, Spannungen aus dem Wege zu gehen und Widersprüche zu verdrängen.
Die Forderung, bewußt mit Ambivalenz und Widersprüchen zu leben, sie nicht so schnell wie möglich 'lösen' oder 'auflösen' zu wollen, stellt die klassische Harmonievorstellung in Frage: Nicht das Vorhandensein stärkerer Konflikte in Individuum, Familie oder Gesellschaft zeigt einen pathologischen Zustand, sondern die Unfähigkeit, derartige Spannungen auszuhalten. Die Betonung muß von der Konfliktbewältigung oder -lösung auf die 'Konfliktfähigkeit' verlagert werden, denn eine weitgehende Konfliktfreiheit kann zu Stagnation führen. Das Individuum hofft, durch die 'Lösung' des Konflikts die Realität eindeutig wahrzunehmen und damit zukünftigem Zwiespalt aus dem Weg gehen zu können. Erhält das Streben nach Eindeutigkeit Vorrang, so wird die Entwicklung blockiert und die vielfältige Realität verfälscht. Derartige Realitätsverfälschungen lassen sich überall dort finden, wo dialogische Gegenüber um der Vereinfachung willen künstlich voneinander getrennt werden müssen.
So sind z.B. 'Krankheit' und 'Gesundheit' scheinbar eindeutige Etikettierungen, die jedoch seelische Realität niemals wirklich erfassen können. Die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit ist fließend, ein Kontinuum. Als gesund wird oft das angesehen, was allgemein toleriert und erwünscht ist. Widerspruch dagegen ist nicht immer erwünscht, weil unbequem, oft wird er sogar als krank und 'gestört' interpretiert, weil er sich im Abseits des Ungewohnten und Abnormen bewegt. Oft halten sich gerade die 'Kranken' nicht an die Norm und zeigen im Symptom ein gewisses Widerstandspotential. Vor allem in der Psychologie muß auf [<151] solche Etikettierungen und Eindeutigkeiten verzichtet werden,um den Menschen in seiner Gesamtheit verstehen zu können.
Auch bei der Erziehung sollte das dialogische Denken und damit eine Bejahung des Widerspruchs als existentielle Grundlage grundsätzlich einbezogen werden. Das bedeutet, daß das Kind als Gegenüber in seiner Andersartigkeit wahrgenommen und respektiert und nicht nur nach den Vorstellungen und Wünschen der Erzieher geformt wird. Kindliche Entwicklung findet durch einen partnerschaftlichen Dialog statt. Eine derartige, von Toleranz geprägte Beziehung bietet dem Kind die Möglichkeit, die Fähigkeit zum Widerspruch und zu einer späteren 'Konfliktfähigkeit' zu erwerben. In einem angstfreien Klima kann man dem Neuen, Andersartigen des Gegenübers offen begegnen, die Konturen des anderen müssen nicht durch 'Harmonie' verwischt werden.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Betrachtungen für die Psychotherapie? Psychotherapie könnte eine Möglichkeit bedeuten, in einer gleichwertigen Beziehung den 'verdrängten Widerspruch' allmählich wieder zuzulassen. Ein therapeutischer Prozeß in diesem Sinne wäre nicht die 'Heilung' des Patienten durch die Handlung des Therapeuten, sondern das Entstehen einer dialogischen Beziehung zwischen zwei Menschen. In einem solchen Rahmen können nicht nur Entwicklungsdefizite aufgeholt werden, sondern es entsteht auch die Möglichkeit, innerhalb der Beziehung eigenes Potential, d.h. seine Andersartigkeit erleben und entwickeln zu dürfen. In einer hierarchischen Beziehung zwischen Therapeut und Patient dagegen kann sich Individualität nicht entfalten.
Die herkömmliche Meinung, in helfenden Berufen sei der Heilungserfolg zur Hauptsache von der Handlung des Helfers abhängig, läßt sich in dieser Eindeutigkeit nicht mehr aufrechterhalten. Man kann nicht mehr davon ausgehen, daß der Therapeut wirklich etwas 'machen' kann, das, was geschieht, geschieht vielmehr in und durch die Beziehung. Eine gewisse 'Bescheidenheit' in bezug auf den therapeutischen Einfluß wäre angebracht. 'Heilung' ist kein vom Therapeuten intendiertes Produkt, sondern das Neue, d.h. eine aus der dialogischen Begegnung entstandene Erfahrung. Wenn in der Psychotherapie eine dialogische Beziehung zwischen Patient und Therapeut angestrebt werden soll, müssen verschiedene Konzepte, z.B. Übertragung, Gegenübertragung, Abwehr, Widerstände neu überdacht werden.
Die Anforderungen der Dialogik an den Menschen sind sicher hoch und nicht leicht zu erfüllen. Bereits der erste Schritt, das Akzeptieren der eigenen Widersprüchlichkeit, bedeutet einen schmerzhaften Abschied von einer Idealvorstellung. Aber vielleicht kann man auf dieser Basis am ehesten dem anderen, auch dem Kind, dem auf mich angewiesenen anderen, seine Andersartigkeit belassen und schließlich auf allen menschlichen Ebenen einen Dialog mit dem anderen führen.
'Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten werden.'"
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