Von Dr. Gniza, Dresden.
Das Wort "Spießbürger" entstammt dem Sprachschatz des Mittelalters. Insbesondere wurden im späteren Mittelalter die ärmeren Bürger, die nur mit Spießen bewaffnet Kriegsdienste leisteten, so benannt. Hier schon klingt etwas Geringschätziges in dem Ausdruck Spießbürger an; denn das waren eben nur die gewöhnlichen kleinen Bürger, die keine andere Bewaffnung aufbringen konnten. Etwas Abwertendes haben wir auch heute noch im Sinne, wenn wir im Alltagsleben von "Spießbürgern" reden, womit nun vulgär-psychologisch ein bestimmter Menschentyp, der im folgenden beschrieben werden soll, gemeint ist.
Durch die allgemeine Kennzeichnung "Spießbürger" wird im Hinblick auf die geistige Seite der Persönlichkeit angedeutet, daß die geistige Begabung irgendwie mittelmäßig oder unbedeutend ist und daß man, was wesentlicher ist, keine Selbständigkeit und Freiheit des Denkens und Urteils erwarten kann. Und zwar wird dabei diese Unselbständigkeit des Denkens allerdings weniger auf fehlende intellektuelle Anlagen, sondern auf das Fehlen eines gewissen Mutes zum Risiko gegründet gedacht: der Spießbürger "traut sich nicht zu denken". So schließt man auch im Bereich des Handelns beim Spießbürger echte Aktivität, Selbständigkeit der Zielsetzungen und Entschlußsicherheit aus, wie umgekehrt der "draufgängerische" Leistungsmensch niemals "spießbürgerlich versauern" kann (vgl. Simoneit, Der "draufgängerische" Leistungsmensch). Wenn man auch gelegentlich dem Spießbürger (in der unten aufgezeigten besonderen Ausprägung des "gutmütig-satten" Spießbürgers) eine gewisse Gefühlswärme und gefühlsmäßigen Kontakt mit der Umwelt nicht ganz absprechen kann, so fehlen aber stets Frische und auch Tiefe des Erlebens. Sein Gefühlsleben wirkt "schal und abgestanden", Aufwühlbarkeit und Leidenschaft sind ihm fremd. All dies ist aber nicht letztlich konstituierend für "den Spießbürger", sondern wird vielmehr selbst erst fundiert durch seine Ichbegrenztheit und Ichbefangenheit. "Ichbegrenztheit ohne Entsagung", "Bedürfnisbefriedigung am Surrogat" (Straub), das gehört zum Wesen des Spießbürgers. Entscheidend wird also durch die Bezeichnung "Spießbürger" das charakterisiert, was sich etwa mit den Begriffen des Formates und der Fülle der Persönlichkeit umreißen läßt. Im Groben wird also eine gewisse Gesamtstruktur -- der kleinformatige, selbstbefangene Mensch -- gemeint, die je nach den weiteren Eigenarten der Persönlichkeitverschiedene Sonderprägungen, wie sie unten beschrieben werden, erfahren kann und die aber letzten Endes stets in einer einseitigen Dominanz des [276 Ende] "Bürgerlichen" in der Lebensauffassung und dem Lebensstil des Spießbürgers begründet ist.
Bürgertum als Lebensform im weitesten Sinne bedeutet in erster Linie, "daß das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muß ohne Rücksicht auf Lust und Unlust. Mit anderen Worten die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird" (Georg von Lukácz). Die "bürgerliche" Welt ist also vor allem bestimmt durch das Moment der Ruhe. Ruhe, Ordnung, Regelmäßigkeit und Ausgeglichenheit der Lebensverhältnisse und Lebensansprüche bergen eine Gefahr in sich, der jener, den wir "Spießbürger" nennen, erlegen ist, die Gefahr der Enge. Der "Spießbürger" ist gewissermaßen eine Minusvariante des Bürgers, weil er in seiner bürgerlichen Welt gefangen ist. Der Spießbürger verhält sich zum Bürger wie der Krämer zum Kaufmann. So ist der Spießbürger im wesentlichen ein Bürger von kleinem Format, ein Mensch mit engem Horizont. Enge und kleines Format, die Hauptcharakteristika der Persönlichkeit des "Spießbürgers", können sich vor allem in vier Momenten zeigen, die sich teilweise zu widersprechen scheinen und die jedes für sich ein besonderes Merkmal des "Spießbürgers" darstellen können: in der Sattheit, der Engherzigkeit, der Besorgtheit und in der uneingestandenen Sehnsucht des Spießbürgers, etwas vorzustellen. Damit haben wir bei jeweilig besonders starker Ausprägung je eines dieser Momente gewissermaßen vier Sonderformen des Spießbürgers vor uns.
Das "gute Gewissen", seine Sachen in Ordnung, seine Pflichten redlich getan zu haben und daher keine Not zu leiden, läßt den "Spießer" satt werden. Er ist sich selbst genug, aber nicht etwa, weil er innerlich reich und eine starke Persönlichkeit wäre, sondern weil das Niveau seiner Ansprüche so niedrig ist. Er ist einer, "der die Zeit verschläft, ein "Ewig-Gestriger", der an veralteten Gewohnheiten, die bisher ja seine Ruhe garantierten, festhält. Er hat keine echten Auftriebe (höchstens eine uneingestandene Sehnsucht), und so wird die solide Geborgenheit des bürgerlichen Lebens zum Anlaß einer selbstzufriedenen, in Wahrheit tristen Mittelmäßigkeit und Beschränktheit des Spießbürgers. Wenn er einer Gefahr dieser Mittelmäßigkeit, zum engherzigen Philister zu werden (von dem noch die Rede sein wird) nicht erliegt, dann haben wir den Sonderfall des gutmütig-harmlos-satten Spießers vor uns. Dieser führt ein besonders gemächliches Dasein. Er ist satt, wird bequem, aber genießt das, was er hat, in seiner etwas primitiven Art. In einer seiner Erzählungen schreibt Möricke in diesem Sinne von einem "gutmütigen, schwammbäuchigen Spießbürger mit Filzhut und Regenschirm" [277 Ende]
In seiner Enge hat aber der Spießbürger, der satt und beschränkt sich selbst genug ist, meist auch nur Verständnis für sich und höchstens noch für seinesgleichen. "Die ehrenwerten Spießer verstehen nicht, daß man auch anderswie ehrenwert sein kann als sie" (Gide). Sie messen dann nur mit ihren kleinen Maßstäben und lassen keine anderen gelten. So wird, verfahrt durch seine Enge, der selbstzufriedene Spießbürger zum kleinlichen, moralisierenden Aufpasser, zum "Philister", der in Grimms Wörterbuch als "nüchterner, pedantischer, lederner Mensch ohne Sinne für eine höhere und freiere Auffassung" erscheint. So kann aus der Enge des Horizontes Engherzigkeit, aus der Selbstzufriedenheit Selbstherrlichkeit werden. Engherzigkeit, geringes soziales Verständnis nach oben und unten hin werden, zum Teil wenigstens, durch die Sattheit des Spießers fundiert. Er liebt für sich die Ruhe, und seine solide "bürgerliche" Existenz sichert ihm diese, so daß er Muße hat, sich mit den "anderen" zu beschäftigen, die er bei seinem kleinen Format nicht begreifen kann, und da er es nicht kann, meist auch nicht will. So entsteht der nörgelnde, meckernde Spießbürger. Sattheit und Nörgelei stehen sich nicht, wie es vielleicht zunächst scheinen mag, wesensfremd gegenüber; denn im Grunde nörgelt nur der Satte; wer nicht satt ist, der wird revolutionär, ein Wesenszug, der dem Spießbürger ganz fremd ist.
Der Spießbürger - auch für den nörgelnden gilt es - fühlt sich wohl in seiner Existenz, und er hat dann vor allem nur den Wunsch, daß alles so bleiben möge, wie es ist, oder wieder so werde, wie es war, daß seine Position sicher sei, um beruhigt der Zukunft entgegensehen zu können. Er "versichert" sein Leben, seine Gesundheit, sein Haus, seine Möbel. Wichtig für ihn ist, daß keinerlei Störung seines "friedvollen" Lebens eintritt. Ruhe und Sicherheit sind die Hauptelemente seines Lebens, und in seiner kleinen Enge ist er sehr besorgt, sich seine satte Ruhe zu erhalten. Er hat Angst davor, aus seiner eigenen Bequemlichkeit geworfen zu werden. Wenn er sich nun bedrängt, in seiner Art und Existenz angegriffen fühlt, wird er entweder kleinmütig, ängstlich und verzagt, oder er protestiert unsachlich und ohne Nachdruck. Meist geschieht beides zugleich. Von solchen Spießbürgern schreibt Hans Johst als einem Typ, "der sich aus lauter Sorge um seine friedliche Existenz unpolitisch nennt und philiströs nach der bekannten Methode des Vogels Strauß den Kopf in den Sand steckt, um nicht Augenzeuge politischer Zustände sein zu müssen." Der besorgte Spießbürger stellt das Hauptkontingent der "Hamsterer"; aber das hält er, aus Unverstand und Enge, für nichts Schlechtes.
Noch ein weiterer Wesenszug soll herausgestellt werden, der wenigstens für einen Teil derer, die der Volksmund "Spießer" nennt, sehr charakteristisch ist und der sich auch aus der Enge der Persönlichkeit des Spieß- [278 Ende] bürgers ableitet; der Spießbürger hat meist eine uneingestandene Sehnsucht, etwas vorzustellen. Uneingestanden ist diese Sehnsucht des Spießers in doppeltem Sinn: den anderen und auch sich selbst gegenüber. Aber was wesentlicher ist: dieser Sehnsucht fehlt der Geschmack (vgl. Hans Grimm, Von der bürgerlichen Ehre und von der bürgerlichen Notwendigkeit, München 1932, S. 12). Die "gute Stube" mit ihren "Sofaschonern" und den schönen, in Wahrheit kitschigen Bildern ist eine Folge davon. Weil der Spießbürger keinen Sinn für wahres Niveau hat, verleiht ihm seine Sehnsucht, etwas vorzustellen, auch keinen rechten Auftrieb, sie führt ihn nicht aus seiner engen Welt hinaus. Er hat keine Einsicht und Selbstkritik, die dazu nötig wären. Diese Sehnsucht fördert höchstens das "Vereinsmeiertum". Der "Vereinsmeier" ist ein Sonderfall des Spießbürgers. Es werden Cliquen gebildet und organisiert. Dabei hat der Spießbürger auch ganz bestimmte Formen und Stile entwickelt, deren Beschreibung hier aber zu weit führen würde.
Ein selbstzufriedener und satter Mensch mit einem engen Horizont und von kleinem Persönlichkeitsformat, der zu Verständnislosigkeit und Engherzigkeit neigt, der um seine ruhige, auskömmliche Existenz besorgt ist und der uneingestanden und problemlos mitunter eine gewisse Sehnsucht hat, etwas vorzustellen, anerkannt zu werden, das ist, zusammengefaßt gesehen, etwa das Bild dessen, was die Vulgärpsychologie mit "Spießbürger" meint. Nun brauchen aber diese Wesenszüge nicht immer gleichzeitig oder in gleicher Stärke vorhanden oder aufweisbar zu sein; wir finden sie verschiedenartig miteinander verkoppelt, und so ergeben sich eine sehr reiche Anzahl verschiedener Nuancen des Spießbürgers. Schon die besondere Betonung jeweils eines der besonders herausgestellten Momente (der Sattheit, Engherzigkeit, Besorgtheit und der uneingestandenen Sehnsucht, etwas vorzustellen) ließ wieder je einen Sondertyp des Spießbürgers entstehen. In einem Falle besonders, dem des engherzigen, nörgelnden Spießers, hat die Laienpsychologie sogar eine besondere Bezeichnung bereit: "Philister". Dabei kommt - ganz grob gesehen - zum Teil der satte Spießbürger etwas dem primitiven Genießer, der engherzige Spießbürger dem Nörgler, dem Pedanten und dem Prinzipienreiter, der besorgte Spießbürger dem Mustermenschen und der Spießbürger mit der Sehnsucht, etwas vorzustellen, dem Betriebsamen nahe. Was aber den Spießbürger grundsätzlich von seinen möglichen Nachbarn in der Laientypologie unterscheidet, das ist der enge Horizont, das kleine Format und das niedrige Niveau der Gesamtpersönlichkeit, wobei nun, ohne es immer auszusprechen, gewissermaßen angenommen wird, daß sich diese gemeinsamen allgemein-charakterologischen Kennzeichnungen aus dem Lebensstil des Bürgerlichen ergeben, dessen Auswirkungen auf den Menschen eben [279 Ende] beim Spießer nur im negativen Sinne gesehen werden; und, was noch wesentlich ist, der Spießbürger ist ganz darin eingefangen, ohne daß er es spürt. Diese negativen Auswirkungen ergeben die mit dem Ausdruck "Spießbürger" gemeinte Gesamtstruktur, setzen aber jeweils doch auch bestimmte andere Anlagen noch voraus, während also die Gesamtstruktur selbst im wesentlichen als Umweltseinfluß angesehen wird. So besehen, ist der "Spießbürger" kein echter Typus. Die durch den Ausdruck "Spießbürger" bezeichnete Menschenform braucht so auch nicht immer und nicht notwendig ein Totaltypus zu sein. Der bürgerliche Lebensstil als solcher bürgt für jeden fast die Gefahr in sich, zum "Spießbürger" zu werden. Inwieweit und in welcher Art man aber dieser Gefahr erliegt, hängt von anderen Faktoren ab, die anlagemäßig gegeben sein müssen. Bürgerliche Umwelt und Erziehung machen in ihren negativen Auswirkungen nicht allein den Spießbürger, dazu muß eine gewisse anlagemäßige Bereitschaft kommen, die vor allem in einem Mangel an Aktivität, Idealismus, Phantasie und Mut zum Risiko und in der Mittelmäßigkeit aller anderen Anlagen gegeben ist. Aus der Verschiedenheit und den Abstufungen dieser "Konditionen" ergeben sich auch die oben geschilderten Sonderformen. Der "zyklothyme" Mensch (im Sinne Kretschmers) wird eher ein "gutmütig-satter", der "schizothyme" eher ein "engherzig-nörgelnder" Spießer werden. Der Spießbürger hat aber stets wenig Sinn für kämpferische Haltung, höhere Kultur und echte geistige Werte, so ist - übertrieben gesehen - "spießerische" Haltung auch der Jugend wesensfremd und mehr dem Alter affin.
Allerdings sind kleines Format und Mangel an Aktivität, verbunden mit allgemeiner Mittelmäßigkeit in den sonstigen Anlagen, noch kein zwingender Grund, den betreffenden Menschen zum Spießbürger zu stempeln. Solche Menschen wären, wenn die Zielvorstellung der bürgerlichen Existenzsicherheit und -sicherung und die Antriebsarmut aus Selbstzufriedenheit und mangelndem Sinn für Werte fehlten, höchstens "Spießer" in einem erweiterten Sinne des Wortes, wo das Moment der "bürgerlichen" Abartigkeit nicht mehr fundierend und ausschlaggebend ist. Ich möchte aber diese Deutungsart, die man gelegentlich antreffen kann, ablehnen.
Wenn in einer kurzen Beschreibung eines bestimmten Menschentyps Übertreibungen vorkommen, so liegt das in der Natur der Sache; und wenn nun hier insbesondere der "Spießbürger" nicht immer als erstrebenswerter, sondern eher als minderwertiger Typ erscheint, so liegt das außerdem noch an dem zugrunde liegenden Bedeutungsgehalt. Aber es soll wenigstens zum Abschluß ein Lob des "Bürgerlichen", das bei Wilhelm Raabe zu finden ist, gebracht werden: "Wohin wir blicken, zieht stets und überall der germanische Genius ein Drittel seiner Kraft aus dem Philistertum." [280 Ende]
Denn, fügt Hans Grimm hinzu, "wenn die Jungen stürmen, wenn die politischen und geistigen Führer frische Ziele weisen, wenn die Dichter dichten und auch wenn die Kämpfer gekleidet und genährt werden sollen, dann muß vielleicht an einer Stelle des Volkes der Bourgeoisbürger seine ordnungseifernde Einsammelarbeit getan haben. Gewiß, er meint für sich zu sorgen, gewiß, er hatte die Sehnsucht nach einer endlichen persönlichen Bequemlichkeit und Ungestörtheit; er leistete für die Gemeinschaft dennoch etwas über seinen Willen und erhielt für sein Teil in einer gefährlichen Fürsorgezeit den Trieb zur Selbsthilfe." [281 Ende]"