Der Prozess
Ein Roman von Franz Kafka (1883-1924)
1914-1916 unvollendet, 1925 erstmals von Max
Brod herausgegeben
Eindrücke
von der Inszenierung im Markgrafentheater Erlangen am 27.2.2013
und einer Auseinandersetzung
mit dem Roman und seiner Deutung
von Rudolf Sponsel und Irmgard Rathsmann-Sponsel, Erlangen
"Wenn du sagst, dies ist ein Fächer, dann bekommst
du 30 Stockschläge.
Wenn du sagst, dies ist kein Fächer, dann bekommst
du auch 30 Stockschläge.
Wie nennst du es also?" [Q]
_
Theater Info: "DER PROZESS von Franz
Kafka. Bühnenfassung Constanze Kreusch / Julie Paucker
Besetzung. Regie … Constanze Kreusch. Bühne und Kostüme …
Petra Wilke. Dramaturgie ... Julie Paucker
MIT ... Robert Naumann, Daniel Seniuk, Anja Thiemann, Christian Wincierz,
Benedikt Zimmermann, Violetta Zupancic
Josef K., angesehener Prokurist einer Bank, wird an seinem dreißigsten Geburtstag verhaftet, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Zwar muss er nicht ins Gefängnis und kann weiter seiner Arbeit nachgehen, aber er erfährt, dass er von Zeit zu Zeit bei einem besonderen Gericht zu erscheinen hat, wo seine Angelegenheit untersucht werden soll. Während er sein normales Leben weiterführt, nimmt parallel der Prozess einen immer größeren Raum ein. In einem undurchschaubaren System aus pseudobürokratischen Dienststellen mit gleichermaßen skurrilen wie bestechlichen Angestellten, Richtern und Advokaten versucht K. sich notdürftig zurechtzufinden. Sobald er mit dem Prozess zu tun hat, bewegt er sich durch surreale Szenerien: Beim Versuch, seine Sache zu verteidigen, wird er in alptraumhafter Weise immer wieder auf Umwege gelenkt, über bürokratische Hürden geführt und in ausweglose Situationen gebracht. Zwischendurch bekommt er Ratschläge von dubiosen Bekannten, ohne zu wissen, ob man ihnen vertrauen kann. Geheimnisvolle Frauen werben um K. und verfolgen dabei unergründliche Ziele. Nichts ist, wie es scheint. Besonders kurios ist die Tatsache, dass K. nicht erfährt, welchen Verbrechens man ihn überhaupt beschuldigt. DER PROZESS entstand zwischen 1914 und 1915, blieb unvollendet und erschien 1925 postum in einer durch Kafkas Freund und Verleger Max Brod vorgenommenen Reihenfolge der ungeordneten und teilweise fragmentarischen Kapitel. Der Text mit der berühmten Türhüterparabel und den soghaften Geschehnissen, welchen der Protagonist ausgeliefert ist, übt bis heute eine starke Anziehungskraft aus. Seine rätselhafte Handlung, die innerhalb ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit dennoch eine strenge Logik verfolgt, bietet viel Spielraum für Interpretationen. Wir werden das Romanfragment in einer eigenen Fassung auf die Bühne bringen." |
Text
zur Premiere am 21. Februar 2013 | 19.30 Uhr | Markgrafentheater
"K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede,
alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?"
Out of the blue wird Josef K. verhaftet. Am Tage
seines 30. Geburtstags serviert man ihm anstelle seines Frühstücks
einen Haftbefehl. Ihm droht ein Strafprozess. Und obwohl man ihm versichert,
er könne seiner gewöhnlichen Lebensweise weiterhin nachgehen,
ist für ihn nichts mehr wie zuvor. Er wird offensichtlich verdächtigt
- doch von wem? Und wofür?
Wo eben noch sicheres Terrain war - der erfolgsverwöhnte
K. steht kurz vor der Beförderung in seiner Bank - ist plötzlich
dünnes Eis. Und je wütender K. versucht, sich seinem ominösen
Feind, dem Gericht, entgegenzustellen, oder der Ursache seiner Verhaftung
auf den Grund zu kommen, desto mehr scheint er sich in einem System zu
verstricken, dessen Logik sich ihm gänzlich entzieht.
Franz Kafkas Roman "Der Prozess" entstand zwischen
1914 und 1915 und blieb unvollendet. Er erschien postum und gegen den testamentarischen
Wunsch des Autors, der seine Werke verbrannt haben wollte. Kafkas Freund
und Verleger Max Brod widersetzte sich diesem Wunsch, brachte die ungeordneten
und teilweise fragmentarischen Kapitel in eine Reihenfolge, und publizierte
den Text 1925 in einer ersten Ausgabe. Für die Inszenierung am Theater
Erlangen haben Regisseurin Constanze Kreusch und Dramaturgin Julie Paucker
eine eigene Bühnenfassung hergestellt.
Die Inszenierung beginnt eindrucksvoll mit der Türhüterparabel (Deutung) Die SchauspielerInnen sind am Parkettrand verteilt und flüstern abwechselnd den Türhütertext.
Fotograf © Jochen Quast
1. Kapitel: Verhaftung.
Gespräch mit Frau Grubach. Dann Fräulein Bürstner.
Die fast leere Bühne erzeugt mit dem Hintergrundbild eine Gitterwahrnehmung.
Der Text informiert in verschiedenen "Aufzügen" immer wieder über
die Zeit, die noch bleibt. Am Anfang, an seinem 30. Geburtstag, an dem
die dubiose Verhaftung Josef Ks. erfolgt, sind es "Noch 365 Tage".
"Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn
ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens
verhaftet." Die "Verhaftung" steht in besonderem Kontrast zum Geburtstag
Josef Ks. Sie setzt auch völlig plötzlich und überraschend
- sozusagen über Nacht - ein. Als Josef K. erwacht, und noch im Bett
sein Frühstück haben will, kommen auf sein Läuten zwei unbekannte
Männer in sein Zimmer, die sich nicht vorstellen und auch nicht erklären,
was sie hier treiben und wollen.
K. reagiert zunächst selbstbewusst und vernünftig, wenn er den beiden Wächtern sagt: »Ich will weder hierbleiben, noch von Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.« Dann kommt sehr schnell eine irritierende Unterwerfungsreaktion: (fett-kursiv) " »Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.« »Es sieht so aus«, sagte K. »Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie". Nachdem er seine gesuchten Legitimationspapiere gefunden hat, behauptet er sich wieder: ". »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« " Zur Verhaftung wird geäußert: "Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es im Gesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Desto schlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen«, sagte K., er wollte sich |
irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich |
Frühzeitig wird deutlich, dass Undurchsichtiges,
Merkwürdiges, aber auch Korruption und Allzumenschliches in diesem
Gerichtszweig die Normalität zu sein scheint. Es folgt das Gespräch
mit Frau Grubach und dann die nächtliche Begegnung mit Fräulein
Bürstner, die er unvermittelt küsst. Das ist die erste merkwürdige
erotische Entgleisung im Stück (> Der
Prozess strotzt vor erotisch-sexuellen Anspielungen und Szenen): "»Ich
komme schon«, sagte K., lief vor, faßte sie, küßte
sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstiges
Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt.
Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist,
und dort ließ er die Lippen lange liegen."
Der erste Teil bringt eine textnahe Einführung
(ca. 35 Minuten).
2. Kapitel: Erste Untersuchung
(Musik
untermalt)
Die erste Untersuchung gestaltet sich mehr zu einer kritischen Anklage
Ks. gegen das ganze Verfahren und das System.
"K. war telephonisch verständigt worden, daß
am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit
stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerksam, daß diese
Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche,
so doch häufige, einander folgen würden. Es liege einerseits
im allgemeinen Interesse, den Prozeß rasch zu Ende zu führen,
anderseits aber müßten die Untersuchungen in jeder Hinsicht
gründlich sein und dürften doch wegen der damit verbundenen Anstrengung
niemals allzulange dauern. Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden,
aber kurzen Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags als
Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen
Arbeit nicht zu stören. Man setze voraus, daß er damit einverstanden
sei, sollte er einen anderen Termin wünschen, so würde man ihm,
so gut es ginge, entgegenkommen."
Am Sonntag trifft K. beim Untersuchungsgericht später
als erwartet (aber nicht vorher ausgesprochen) ein und zeigt sich dem Untersuchungsrichter
gegenüber kritisch und selbstbewusst: "»Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter,
ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Sie haben gar nicht gefragt, sondern
es mir auf den Kopf zugesagt -, ist bezeichnend für die ganze Art
des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden,
daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht,
denn es ist ja nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber
ich erkenne es also für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen.
Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt
beachten will. Ich sage nicht, daß es ein liederliches Verfahren
ist, aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis
angeboten haben.«"
..."»Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«,
sagte er und ließ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen
Sie darin ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch
fürchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzugänglich
ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde es nicht
in die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung
sein oder es mußte zumindest so aufgefaßt werden, daß
der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen
war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm,
um darin zu lesen. ...."
..."Unter den Bärten aber – und das war die
eigentliche Entdeckung, die K. machte – schimmerten am Rockkragen Abzeichen
in verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen,
soweit man sehen konnte. Alle gehörten zueinander, die scheinbaren
Parteien rechts und links, und als er sich plötzlich umdrehte, sah
er die gleichen Abzeichen am Kragen des Untersuchungsrichters, der, die
Hände im Schoß, ruhig hinuntersah. »So«, rief K.
und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte
Raum, »ihr seid ja alle Beamte, wie ich sehe, ihr seid ja die korrupte
Bande, gegen die ich sprach, ihr habt euch hier gedrängt, als Zuhörer
und Schnüffler, habt scheinbare Parteien gebildet, und eine hat applaudiert,
um mich zu prüfen, ihr wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen
soll! ... ... Der Untersuchungsrichter schien aber noch schneller als K.
gewesen zu sein, denn er erwartete ihn bei der Tür. »Einen Augenblick«,
sagte er. K. blieb stehen, sah aber nicht auf den Untersuchungsrichter,
sondern auf die Tür, deren Klinke er schon ergriffen hatte. »Ich
wollte Sie nur darauf aufmerksam machen«, sagte der Untersuchungsrichter,
»daß Sie sich heute – es dürfte Ihnen noch nicht zu Bewußtsein
gekommen sein – des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör für
den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.« K. lachte die Tür
an. »Ihr Lumpen«, rief er, »ich schenke euch alle Verhöre«,
öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter. " (eine knappe
3/4 h).
3.
Kapitel: Im leeren Sitzungssaal. Der Student. Die Kanzleien.
K. nahm an, er sei am nächsten Sonntag wieder bestellt. Doch als
er beim Untersuchungsgericht eintrifft, ist da niemand. Er trifft die Frau
des Gerichtsdieners, die sich ihm, wie er meinte, anbot. Nachdem er erfuhr,
dass heute keine Verhandlungen seien, kommt es zum Gespräch über
seinen Prozess: "Mit dem, was ich früher sagte, wollte ich Sie nur
bitten, in meinem Prozeß nichts für mich zu unternehmen. Aber
auch das muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß
mir am Ausgang des Prozesses gar nichts liegt und daß ich über
eine Verurteilung nur lachen werde. Vorausgesetzt, daß es überhaupt
zu einem wirklichen Abschluß des Prozesses kommt, was ich sehr bezweifle.
Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge Faulheit oder Vergeßlichkeit
oder vielleicht sogar infolge Angst der Beamtenschaft schon abgebrochen
ist oder in der nächsten Zeit abgebrochen werden wird. Möglich
ist allerdings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine größere
Bestechung den Prozeß scheinbar weiterführen wird, ganz vergeblich,
wie ich heute schon sagen kann, denn ich besteche niemanden. Es wäre
immerhin eine Gefälligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn
Sie dem Untersuchungsrichter oder irgend jemandem sonst, der wichtige Nachrichten
gern verbreitet, mitteilten, daß ich niemals und durch keine Kunststücke,
an denen die Herren wohl reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein
werde. Es wäre ganz aussichtslos, das können Sie ihnen offen
sagen. ..."
"... Plötzlich unterbrach sie sich, legte ihre
Hand auf K.s Hand, als wolle sie ihn beruhigen, und flüsterte: »Still,
Berthold sieht uns zu.« K. hob langsam den Blick. In der Tür
des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein, hatte nicht ganz
gerade Beine und suchte sich durch einen kurzen, schütteren, rötlichen
Vollbart, in dem er die Finger fortwährend herumführte, Würde
zu geben. K. sah ihn neugierig an, es war ja der erste Student der unbekannten
Rechtswissenschaft, dem er gewissermaßen menschlich begegnete, ein
Mann, der wahrscheinlich auch einmal zu höheren Beamtenstellen gelangen
würde. Der Student dagegen kümmerte sich um K. scheinbar gar
nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für einen Augenblick
aus seinem Barte zog, der Frau und ging zum Fenster, die Frau beugte sich
zu K. und flüsterte: »Seien Sie mir nicht böse, ich bitte
Sie vielmals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt
zu ihm gehen, zu diesem scheußlichen Menschen, sehen Sie nur seine
krummen Beine an. Aber ich komme gleich zurück, und dann gehe ich
mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich gehe, wohin Sie wollen, Sie können
mit mir tun, was Sie wollen, ich werde glücklich sein, wenn ich von
hier für möglichst lange Zeit fort bin, am liebsten allerdings
für immer.« Sie streichelte noch K.s Hand, sprang auf und lief
zum Fenster. Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere.
Die Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz allem Nachdenken keinen
haltbaren Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben sollte.
Den flüchtigen Einwand, daß ihn die Frau für das Gericht
einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf welche Weise konnte sie ihn
einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das ganze Gericht,
wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte? Konnte er nicht
dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten einer Hilfe
klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und es gab vielleicht
keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang, als
daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich
dann einmal der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter nach
mühevoller Arbeit an Lügenberichten über K. in später
Nacht das Bett der Frau leer fand. Und leer deshalb, weil sie K. gehörte,
weil diese Frau am Fenster, dieser üppige, gelenkige, warme Körper
im dunklen Kleid aus grobem, schwerem Stoff, durchaus nur K. gehörte."
Es kommt dann auf offener Bühne zum Sex zwischen
der Frau der Gerichtsdieners und dem Studenten. K. schaut zu.
Exkurs:
Der Prozess strotzt vor erotisch-sexuellen Anspielungen und Szenen
Das wird in der Erlanger Inszenierung sehr stark ausgespielt.
Das ganze Stück ist durchsetzt mit einer merk- würdig
- paradox anmutend - selbstver- ständlichen wie beziehungslosen
Sexualität, die einerseits wie im Nebenbei geschieht, anderer-
seits als Hauptthema für alle erscheint, wobei jeder mit jeder zwischen Zeitvertreib und Triebhaftigkeit die "Sache" pflegen kann, besonders K., der in typischer Machomanier seine eigene Sexsucht in die Frauen projiziert: Elsa, Fräulein Bürstner, die Pflegerin, die Frau des Gerichtsdieners, Leni, die Mädchen im Haus, in dem der Maler Titorelli wohnt (Kindlichkeit und Verworfenheit) Josef K.: "Die Frauen haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müsste ich durchdringen. Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht. Zeig dem Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne, und er überrennt, um nur recht- zeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten.«" [9. Kap] |
Fotograf © Jochen Quast |
Die Kanzleien, von denen es sehr viele zu geben scheint, werden
in einem kurios-erbärmlichen Zustand geschildert, in alten Häusern,
auf den Böden, schlechte Luft, überfüllt. In dieser Umgebung
kommt es zu einem ersten, vielleicht symbolträchtigen und vorahnungsvollen
Schwäche- oder Angstanfall (Panikstörung) Ks.: "»Nein«,
sagte K., »ich will mich nicht ausruhen.« Er hatte das mit
möglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm
sehr wohlgetan, sich niederzusetzen. Er war wie seekrank. Er glaubte auf
einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm,
als stürze das Wasser gegen die Holzwände, als komme aus der
Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie von überschlagendem Wasser,
als schaukle der Gang in der Quere und als würden die wartenden Parteien
zu beiden Seiten gesenkt und gehoben."
4. Kapitel:
Die Freundin des Fräulein Bürstner
In der Erlanger Inszenierung nicht berücksichtigt.
5. Kapitel: Der Prügler
K.: »schuldig ist die Organisation, schuldig sind die hohen
Beamten.«
"Als K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte, der
sein Büro von der Haupttreppe trennte – er ging diesmal fast als der
letzte nach Hause, nur in der Expedition arbeiteten noch zwei Diener im
kleinen Lichtfeld einer Glühlampe -, hörte er hinter einer Tür,
hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet hatte, ohne sie jemals
selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb erstaunt stehen
und horchte noch einmal auf, um festzustellen, ob er sich nicht irrte –
es wurde ein Weilchen still, dann waren es aber doch wieder Seufzer. –
Zuerst wollte er einen der Diener holen, man konnte vielleicht einen Zeugen
brauchen, dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neugierde,
daß er die Tür förmlich aufriß. Es war, wie er richtig
vermutet hatte, eine Rumpelkammer. Unbrauchbare, alte Drucksorten, umgeworfene
leere irdene Tintenflaschen lagen hinter der Schwelle. In der Kammer selbst
aber standen drei Männer, gebückt in dem niedrigen Raum. Eine
auf einem Regal festgemachte Kerze gab ihnen Licht. »Was treibt ihr
hier?« fragte K., sich vor Aufregung überstürzend, aber
nicht laut. Der eine Mann, der die anderen offenbar beherrschte und zuerst
den Blick auf sich lenkte, stak in einer Art dunkler Lederkleidung, die
den Hals bis tief zur Brust und die ganzen Arme nackt ließ. Er antwortete
nicht. Aber die zwei anderen riefen: »Herr! Wir sollen geprügelt
werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über uns beklagt hast.«
Und nun erst erkannte K., daß es wirklich die Wächter Franz
und Willem waren, und daß der dritte eine Rute in der Hand hielt,
um sie zu prügeln. »Nun«, sagte K. und starrte sie an,
»ich habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in
meiner Wohnung zugetragen hat. Und einwandfrei habt ihr euch ja nicht benommen.«
»Herr«, sagte Willem, während Franz sich hinter ihm vor
dem dritten offenbar zu sichern suchte, »wenn Ihr wüßtet,
wie schlecht wir bezahlt sind, Ihr würdet besser über uns urteilen.
Ich habe eine Familie zu ernähren, und Franz hier wollte heiraten,
man sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt
es nicht, selbst durch die angestrengteste. Euere feine Wäsche hat
mich verlockt, es ist natürlich den Wächtern verboten, so zu
handeln, es war unrecht, aber Tradition ist es, daß die Wäsche
den Wächtern gehört, es ist immer so gewesen, glaubt es mir;
es ist ja auch verständlich, was bedeuten denn noch solche Dinge für
den, welcher so unglücklich ist, verhaftet zu werden? Bringt er es
dann allerdings öffentlich zur Sprache, dann muß die Strafe
erfolgen.« »Was ihr jetzt sagt, wußte ich nicht, ich
habe auch keineswegs eure Bestrafung verlangt, mir ging es um ein Prinzip.«
»Franz«, wandte sich Willem zum anderen Wächter, »sagte
ich dir nicht, daß der Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat?
Jetzt hörst du, daß er nicht einmal gewußt hat, daß
wir bestraft werden müssen.« »Laß dich nicht durch
solche Reden rühren«, sagte der dritte zu K., »die Strafe
ist ebenso gerecht als unvermeidlich.« »Höre nicht auf
ihn«, sagte Willem und unterbrach sich nur, um die Hand, über
die er einen Rutenhieb bekommen hatte, schnell an den Mund zu führen,
»wir werden nur gestraft, weil du uns angezeigt hast. Sonst wäre
uns nichts geschehen, selbst wenn man erfahren hätte, was wir getan
haben. Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber ich,
hatten uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt – du selbst
mußt eingestehen, daß wir, vom Gesichtspunkt der Behörde
gesehen, gut gewacht haben – wir hatten Aussicht, vorwärtszukommen
und wären gewiß bald auch Prügler geworden wie dieser,
der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt worden zu sein,
denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor. Und jetzt,
Herr, ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel
untergeordnetere Arbeiten leisten müssen, als es der Wachdienst ist,
und überdies bekommen wir jetzt diese schrecklich schmerzhaften Prügel.«
»Kann denn die Rute solche Schmerzen machen?« fragte K. und
prüfte die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. »Wir
werden uns ja ganz nackt ausziehen müssen«, sagte Willem. »Ach
so«, sagte K. und sah den Prügler genau an, er war braun gebrannt
wie ein Matrose und hatte ein wildes, frisches Gesicht. »Gibt es
keine Möglichkeit, den beiden die Prügel zu ersparen?«
fragte er ihn. »Nein«, sagte der Prügler und schüttelte
lächelnd den Kopf. »Zieht euch aus!« befahl er den Wächtern.
Und zu K. sagte er: »Du mußt ihnen nicht alles glauben, sie
sind durch die Angst vor den Prügeln schon ein wenig schwachsinnig
geworden. Was dieser hier, zum Beispiel« – er zeigte auf Willem –
»über seine mögliche Laufbahn erzählt hat, ist geradezu
lächerlich. Sieh an, wie fett er ist – die ersten Rutenstreiche werden
überhaupt im Fett verlorengehen. – Weißt du, wodurch er so fett
geworden ist? Er hat die Gewohnheit, allen Verhafteten das Frühstück
aufzuessen. Hat er nicht auch dein Frühstück aufgegessen? Nun,
ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch kann nie und nimmermehr
Prügler werden, das ist ganz ausgeschlossen.« »Es gibt
auch solche Prügler«, behauptete Willem, der gerade seinen Hosengürtel
löste. »Nein«, sagte der Prügler und strich ihm mit
der Rute derartig über den Hals, daß er zusammenzuckte, »du
sollst nicht zuhören, sondern dich ausziehen.« »Ich würde
dich gut belohnen, wenn du sie laufen läßt«, sagte K.
und zog, ohne den Prügler nochmals anzusehen – solche Geschäfte
werden beiderseits mit niedergeschlagenen Augen am besten abgewickelt –
seine Brieftasche hervor. »Du willst wohl dann auch mich anzeigen«,
sagte der Prügler, »und auch noch mir Prügel verschaffen.
Nein, nein!« »Sei doch vernünftig«, sagte K., »wenn
ich gewollt hätte, daß diese beiden bestraft werden, würde
ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen. Ich könnte einfach die
Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehen und hören wollen und
nach Hause gehen. Nun tue ich das aber nicht, vielmehr liegt mir ernstlich
daran, sie zu befreien; hätte ich geahnt, daß sie bestraft werden
sollen oder auch nur bestraft werden können, hätte ich ihre Namen
nie genannt. Ich halte sie nämlich gar nicht für schuldig, schuldig
ist die Organisation, schuldig sind die hohen Beamten.« ..."
6. Kapitel: Der Onkel
– Leni
»Das Gespenst vom Lande« war von K.s Prozess informiert
worden, er wollte nun Genaueres - ohne Rücksicht auf Mithörer
- wissen und Hilfe für K. und den Ruf der Familie leisten: "...
das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.« Schon während
seiner Rede hatte er, auf den Fußspitzen stehend, einem Automobil
gewinkt und zog jetzt, während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine
Adresse zurief, K. hinter sich in den Wagen. »Wir fahren jetzt zum
Advokaten Huld«, sagte er, »er war mein Schulkollege." An dieser
Stelle - im Roman die Taxifahrt zum Advokaten Huld - bringt die Inszenierung
etwas Neues ein. Der Onkel und K. singen ein tschechisches Lied - dem Inhalt
nach ein echtes Kontrastprogramm zum beziehungslosen Sex im Prozess - und
tanzen dabei vergnügt zur schmissig-einnehmenden Melodie.
Sag mir bitte ganz leise
dass ich Deine einzige bin dass Du Dich immer nach mir sehnst, Du, mein Käferchen dass in meinen Armen Dein Paradies beginnt Sage mir bitte ständig
|
Als die Sing-Tanzeinlage endet (spontaner Applaus des Publikums) sagt
der Onkel: "Wir sind da".
Auch der Advokat wusste schon vom Prozess K.s wie
anscheinend die halbe Stadt. Selbst an dem Ort, wo es für K. um subjektiv
wirklich Wichtiges gehen sollte, verzieht er sich lieber stundenlang mit
Leni, die offenbar für alle "da" ist, zum Knutschen, Fummeln
und Bummsen. Der Zusammenhang beziehungsloser Sex, Schuld, Missachtung
elementarer Höflichkeit aber auch zweckirrationalen Prozessbewältigungsverhaltens
wird in diesem Kapitel besonders deutlich gemacht. Der Onkel kritisiert:
"Du hast deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich geschadet. Verkriechst
dich mit einem kleinen, schmutzigen Ding, das überdies offensichtlich
die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg. Suchst nicht
einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen, läufst
zu ihr und bleibst bei ihr."
7. Kapitel:
Advokat - Fabrikant - Maler
In diesem Kapitel werden die Merkwürdigkeiten der anderen Gerichte
mehrfach beleuchtet. Zu Beginn wird das Verhältnis zum Advokaten entfaltet:
"K. wußte ja gar nicht, was der Advokat unternahm; viel war es jedenfalls
nicht, schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich berufen,
und auch bei keiner der früheren Besprechungen hatte K. den Eindruck
gehabt, daß dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor
allem hatte er ihn fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch so viel
zu fragen. Fragen war die Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob
er selbst alle hier nötigen Fragen stellen könnte. Der Advokat
dagegen, statt zu fragen, erzählte selbst oder saß ihm stumm
gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs,
ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bartstrahn innerhalb
seines Bartes und blickte auf den Teppich nieder, vielleicht gerade auf
die Stelle, wo K. mit Leni gelegen war. Hier und da gab er K. einige leere
Ermahnungen, wie man sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie langweilige
Reden, die K. in der Schlußabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen
gedachte. Nachdem der Advokat ihn genügend gedemütigt zu haben
glaubte, fing er gewöhnlich an, ihn wieder ein wenig aufzumuntern."
Sodann gibt der Advokat widerspruchsvolle Einblicke
in die groteske Arbeit der "anderen" Gerichte: "Er habe natürlich
sofort zu arbeiten begonnen, und die erste Eingabe sei schon fast fertiggestellt.
Sie sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck, den die Verteidigung mache,
oft die ganze Richtung des Verfahrens bestimme. Leider, darauf müsse
er K. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal, daß die
ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen würden. Man lege sie
einfach zu den Akten und weise darauf hin, daß vorläufig die
Einvernahme und Beobachtung des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene.
Man fügt, wenn der Petent dringlich wird, hinzu, daß man vor
der Entscheidung, sobald alles Material gesammelt ist, im Zusammenhang
natürlich, alle Akten, also auch diese erste Eingabe, überprüfen
wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig, die erste Eingabe
werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren, und selbst
wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat allerdings
nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich,
aber nicht ganz ohne Berechtigung. K. möge doch nicht außer
acht lassen, daß das Verfahren nicht öffentlich sei, es kann,
wenn das Gericht es für nötig hält, öffentlich werden,
das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor. Infolgedessen sind
auch die Schriften des Gerichts, vor allem die Anklageschrift, dem Angeklagten
und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß daher im allgemeinen
nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten
hat, sie kann daher eigentlich nur zufälligerweise etwas enthalten,
was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und beweisführende
Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der Einvernahmen
des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung deutlicher
hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen
ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und
schwierigen Lage. Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist
nämlich durch das Gesetz nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet,
und selbst darüber, ob aus der betreffenden Gesetzesstelle wenigstens
Duldung herausgelesen werden soll, besteht Streit. Es gibt daher strenggenommen
gar keine vom Gericht anerkannten Advokaten, alle, die vor diesem Gericht
als Advokaten auftreten, sind im Grunde nur Winkeladvokaten."
Die Szene mit dem Maler Titorelli - K. erfährt
durch den Fabrikanten, einen Kunden der Bank, von ihm - , ist zum "Verständnis"
der anderen Gerichtsverfahren ebenfalls sehr erhellend:
"»Dann bin ich also frei«, sagte K.
zögernd. »Ja«, sagte der Maler, »aber nur scheinbar
frei oder, besser ausgedrückt, zeitweilig frei. Die untersten Richter
nämlich, zu denen meine Bekannten gehören, haben nicht das Recht,
endgültig freizusprechen, dieses Recht hat nur das oberste, für
Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare Gericht. Wie
es dort aussieht, wissen wir nicht und wollen wir, nebenbei gesagt, auch
nicht wissen. Das große Recht, von der Anklage zu befreien, haben
also unsere Richter nicht, wohl aber haben sie das Recht, von der Anklage
loszulösen. Das heißt, wenn Sie auf diese Weise freigesprochen
werden, sind Sie für den Augenblick der Anklage entzogen, aber sie
schwebt auch weiterhin über Ihnen und kann, sobald nur der höhere
Befehl kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit dem Gericht in so guter
Verbindung stehe, kann ich Ihnen auch sagen, wie sich in den Vorschriften
für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen
und der scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei
einer wirklichen Freisprechung sollen die Prozeßakten vollständig
abgelegt werden, sie verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht
nur die Anklage, auch der Prozeß und sogar der Freispruch sind vernichtet,
alles ist vernichtet. Anders beim scheinbaren Freispruch. Mit dem Akt ist
keine weitere Veränderung vor sich gegangen, als daß er um die
Bestätigung der Unschuld, um den Freispruch und um die Begründung
des Freispruchs bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er im
Verfahren, er wird, wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien
erfordert, zu den höheren Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigeren
zurück und pendelt so mit größeren und kleineren Schwingungen,
mit größeren und kleineren Stockungen auf und ab. Diese Wege
sind unberechenbar. Von außen gesehen, kann es manchmal den Anschein
bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt verloren und der
Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das nicht glauben.
Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen. Eines Tages
– niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt aufmerksamer in
die Hand, erkennt, daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig ist,
und ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß
zwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange
Zeit vergeht, das ist möglich, und ich weiß von solchen Fällen,
es ist aber ebensogut möglich, daß der Freigesprochene vom Gericht
nach Hause kommt und dort schon Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften.
Dann ist natürlich das freie Leben zu Ende.« »Und der
Prozeß beginnt von neuem?« fragte K. fast ungläubig. »Allerdings«,
sagte der Maler, »der Prozeß beginnt von neuem, es besteht
aber wieder die Möglichkeit, ebenso wie früher, einen scheinbaren
Freispruch zu erwirken. Man muß wieder alle Kräfte zusammennehmen
und darf sich nicht ergeben.« Das letztere sagte der Maler vielleicht
unter dem Eindruck, den K., der ein wenig zusammengesunken war, auf ihn
machte. »Ist aber«, fragte K., als wolle er jetzt irgendwelchen
Enthüllungen des Malers zuvorkommen, »die Erwirkung eines zweiten
Freispruchs nicht schwieriger als die des ersten?« »Man kann«,
antwortete der Maler, »in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen.
Sie meinen wohl, daß die Richter durch die zweite Verhaftung in ihrem
Urteil zuungunsten des Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht
der Fall. Die Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung vorgesehen.
Dieser Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen sonstigen
Gründen die Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung
des Falles eine andere geworden sein, und die Bemühungen um den zweiten
Freispruch müssen daher den veränderten Umständen angepaßt
werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein wie die vor dem ersten
Freispruch.« »Aber dieser zweite Freispruch ist doch wieder
nicht endgültig«, sagte K. und drehte abweisend den Kopf. »Natürlich
nicht«, sagte der Maler, »dem zweiten Freispruch folgt die
dritte Verhaftung, dem dritten Freispruch die vierte Verhaftung, und so
fort. Das liegt schon im Begriff des scheinbaren Freispruchs.« K.
schwieg. »Der scheinbare Freispruch scheint Ihnen offenbar nicht
vorteilhaft zu sein«, sagte der Maler, »vielleicht entspricht
Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der Verschleppung
erklären?« K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinen Sessel
zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand daruntergeschoben,
mit der er über die Brust und die Seiten strich. »Die Verschleppung«,
sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als suche er eine
vollständig zutreffende Erklärung, »die Verschleppung besteht
darin, daß der Prozeß dauernd im niedrigsten Prozeßstadium
erhalten wird. Um dies zu erreichen, ist es nötig, daß der Angeklagte
und der Helfer, insbesondere aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher
Fühlung mit dem Gericht bleibt. Ich wiederhole, es ist hierfür
kein solcher Kraftaufwand nötig wie bei der Erreichung eines scheinbaren
Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere Aufmerksamkeit
nötig. Man darf den Prozeß nicht aus den Augen verlieren, man
muß zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen
und außerdem bei besonderen Gelegenheiten gehen und ihn auf jede
Weise sich freundlich zu erhalten suchen; ist man mit dem Richter nicht
persönlich bekannt, so muß man durch bekannte Richter ihn beeinflussen
lassen, ohne daß man etwa deshalb die unmittelbaren Besprechungen
aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht nichts, so kann
man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Prozeß
über sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Prozeß hört
zwar nicht auf, aber der Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso
gesichert, wie wenn er frei wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch
hat die Verschleppung den Vorteil, daß die Zukunft des Angeklagten
weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem Schrecken der plötzlichen
Verhaftungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwa gerade zu
Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig
sind, die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen,
welche mit der Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind. Allerdings
hat auch die Verschleppung für den Angeklagten gewisse Nachteile,
die man nicht unterschätzen darf. Ich denke hierbei nicht daran, das
hier der Angeklagte niemals frei ist, das ist er ja auch bei der scheinbaren
Freisprechung im eigentlichen Sinne nicht. Es ist ein anderer Nachteil.
Der Prozeß kann nicht stillstehen, ohne daß wenigstens scheinbare
Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Prozeß
nach außen hin etwas geschehen. Es müssen also von Zeit zu Zeit
verschiedene Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört
werden, Untersuchungen müssen stattfinden und so weiter. Der Prozeß
muß eben immerfort in dem kleinen Kreis, auf den er künstlich
eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt natürlich
gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die sie sich
aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles
nur äußerlich, die Verhöre beispielsweise sind also nur
ganz kurz, wenn man einmal keine Zeit oder keine Lust hat, hinzugehen,
darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei gewissen Richtern die Anordnungen
für eine lange Zeit im voraus gemeinsam festsetzen, es handelt sich
im Wesen nur darum, daß man, da man Angeklagter ist, von Zeit zu
Zeit bei seinem Richter sich meldet.« "
8. Kapitel:
Kaufmann Block. Kündigung des Advokaten
"Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung
zu entziehen." Als er ankommt, trifft er den Kaufmann Block, der ihm weitere
Einblicke in die groteske "andere" Gerichtswelt verschafft. K. erfährt,
dass Block noch fünf weitere Winkeladvokaten beschäftigt und
sogar noch an einen sechsten denkt. Sein ganzes Geld habe er in seinen
"anderen" Prozess gesteckt. Er erzählt, dass die Leute abergläubische
Zeichen entwickeln, z.B. könne man an den Lippen K.s sehen, dass er
bald verurteilt werden würde.
Beim Advokaten erörtert dieser zunächst
Lenis Verhalten, um dann die Merkwürdigkeit zu verkünden, dass
die Angeklagten durch das Verfahren schöner würden: "Aber der
Advokat fragte: »War sie wieder zudringlich?« »Zudringlich?«
fragte K. »Ja«, sagte der Advokat, er lachte dabei, bekam einen
Hustenanfall und begann, nachdem dieser vergangen war, wieder zu lachen.
»Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit schon bemerkt?« fragte
er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf das Nachttischchen
gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. »Sie legen
dem nicht viel Bedeutung bei«, sagte der Advokat, als K. schwieg,
»desto besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen
müssen. Es ist eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens
längst verziehen habe und von der ich auch nicht reden würde,
wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt hätten. Diese Sonderbarkeit,
Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten erklären,
aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese Sonderbarkeit
besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet.
Sie hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen
geliebt zu werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn
ich es erlaube, manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt,
wie Sie es zu sein scheinen. Wenn man den richtigen Blick dafür hat,
findet man die Angeklagten
wirklich oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige, gewissermaßen
naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der
Anklage nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung
des Aussehens ein. Es ist doch nicht wie bei anderen Gerichtssachen, die
meisten bleiben in ihrer gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn
sie einen guten Advokaten haben, der für sie sorgt, durch den Prozeß
nicht behindert. Trotzdem sind diejenigen, welche darin Erfahrung haben,
imstande, aus der größten Menge die Angeklagten, Mann für
Mann, zu erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie nicht
befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht
die Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens
ich als Advokat sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch
nicht die richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn
es werden doch nicht alle bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen
Verfahren liegen, das ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter
den Schönen auch besonders schöne. Schön sind aber alle,
selbst Block, dieser elende Wurm.«"
K. begründet den Entzug: "Als ich allein war,
unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich fühlte es kaum, jetzt
dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür eingerichtet, daß
etwas geschehe, unaufhörlich und immer gespannter erwartete ich Ihr
Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings verschiedene
Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem sonst
hätte bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen,
wenn mir jetzt der Prozeß, förmlich im geheimen, immer näher
an den Leib rückt.« "
Der Advokat rechtfertigt sich mit seiner Erfahrung
und führt dann vor, wie er Block gefügig gemacht hat und erniedrigen
kann.
[Dieses Kapitel blieb unvollendet]
9. Kapitel: Im Dom -
Türhüter
Im Dom trifft K. den Gefängniskaplan, der ihm vom Türhüter
erzählt:
»In dem Gericht täuschst du dich«, sagte der
Geistliche, »in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt
es von dieser Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter.
Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt
in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt
den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und
fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ›Es ist
möglich‹, sagt der Türhüter, ›jetzt aber nicht‹. Da das
Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter beiseite
tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen.
Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ›Wenn es dich
so lockt, versuche es doch, trotz meinem Verbot hineinzugehen. Merke aber:
Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter.
Von Saal zu Saal stehen aber Türhüter, einer mächtiger als
der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr vertragen.‹
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet, das Gesetz
soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt
den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große
Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen, tartarischen Bart, entschließt
er sich doch, lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt.
Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts
von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht
viele Versuche, eingelassen zu werden und ermüdet den Türhüter
durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre
mit ihm an, fragt ihn nach seiner Heimat aus und nach vielem anderen, es
sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und
zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen
könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet
hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter
zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: ›Ich nehme es
nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‹ Während
der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen.
Er vergißt die anderen Türhüter, und dieser erste scheint
ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht
den unglücklichen Zufall in den ersten Jahren laut, später, als
er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und da
er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe
in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu
helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein
Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler
wird oder ob ihn nur die Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt
im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes
bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem
Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an
den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er
seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter
muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn die Größenunterschiede
haben sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ›Was willst du denn
jetzt noch wissen?‹ fragt der Türhüter, ›du bist unersättlich.‹
›Alle streben doch nach dem Gesetz‹, sagt der Mann, ›wie kommt es, daß
in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‹
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am Ende ist, und
um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an:
›Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war
nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‹«
Josef K. am Ende der Diskussion mit dem Gefängniskaplan:
"Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht"
10. Kapitel: Ende
"Am Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen
neun Uhr abends, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei
Herren in K.s Wohnung. In Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar
unverrückbaren Zylinderhüten. Nach einer kleinen Förmlichkeit
bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens wiederholte sich die
gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.s Tür.
Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß
K., gleichfalls schwarz angezogen, in einem Sessel in der Nähe der
Türe und zog langsam neue, scharf sich über die Finger spannende
Handschuhe an, in der Haltung, wie man Gäste erwartet. Er stand gleich
auf und sah die Herren neugierig an. »Sie sind also für mich
bestimmt?« fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Zylinderhut
in der Hand auf den anderen. K. gestand sich ein, daß er einen anderen
Besuch erwartet hatte. ... ... ...
Die Herren setzten K. auf die Erde nieder, lehnten
ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz aller Anstrengung,
die sie sich gaben, und trotz allem Entgegenkommen, das ihnen K. bewies,
blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige. Der eine
Herr bat daher den anderen, ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.s
allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich
ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits
erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und
nahm aus einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel
hing, ein langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser,
hielt es hoch und prüfte die Schärfe im Licht. Wieder begannen
die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das
Messer dem anderen, dieser reichte es wieder über K. zurück.
K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre,
das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen
und sich einzubohren. Aber er tat es nicht, sondern drehte den noch freien
Hals und sah umher. Vollständig konnte er sich nicht bewähren,
alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die Verantwortung für
diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu nötigen
Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an
den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die
Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach
und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit
vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein
guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein
einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man
vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich,
aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter,
den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen
war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während
der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte.
Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht,
Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie
ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben."
Zusammenfassende Eindrücke von der Erlanger Inszenierung
Die Inszenierung ist eine repräsentative Werkwiedergabe trotz der notwendigen Verkürzung gelungen (9 Stunden Hörbuchzeit auf zwei Stunden und 15 Minuten Darstellung), die den Roman in wesentlichen Teilen vermittelte. Sehr eindrucksvoll fanden wir den Einstieg mit der Türhüterparabel, an der alle SchauspielerInnen am Parkettrand verteilt, beteiligt waren. Das Geheimnisvolle dieser Parabel wurde durch verständliches Flüstern unmittelbar zum Ausdruck gebracht. Sehr eindringlich und drastisch wurde die durchgängige beziehungslose Sexualisierung dargestellt.
Einige Abweichungen und Extras verstanden wir nicht
und sie irritierten uns eher, weil sie ablenkten. So wurde z.B. in den
"Aufzug" zum 6. Kap (Abschnitt
Onkel) ein tschechischer Schlager - den der Onkel und K., unbeschwert und
volle Lebensfreude vermittelnd, sangen und tanzten - an die Stelle der
Taxifahrt eingebaut. Der Regie hat es gefallen, den 8 Zeiler auf Papier
von Schauspielern ins Publikum werfen zu lassen - auf tschechisch, ohne
deutsche Übersetzung etwa auf der Rückseite, so dass man es auch
noch im Nachhinein hätte verstehen können. Was die operettenhafte
Einlage für eine Funktion haben könnte, muss sich das Publikum
selbst erschließen. Als profane Deutung bietet sich an, dass die
Inszenierung ein Kontrastprogramm zur Düsternis der Gegenwart suchte
und in dieser Einlage fand: so schön könnte es sein ... wenn
nicht dieser blöde Prozess wäre. Ähnlich unverständlich
waren die mehrfachen Geburtstagsgratulationen
zwischen den Geburtstagen,
offenbar auch eine Neukreation im Erlanger Drehbuch. Nachdem der Prozess
genügend Rätsel enthält, hätte es keiner weiterer der
Inszenierung bedurft. Irritierend erlebten wir auch, da die Frauen im Prozess
ja eine ganz besondere Rolle spielen, dass die Rolle des Direktorstellvertreters
mit einer Frau besetzt war. Was will uns die Inszenierung damit sagen:
Na ja, vielleicht gar nichts.
Das Ein- und Auswickeln in das dünne
weiße Papier führte zur direkten Assoziation der Verwicklung,
die für den Prozess gut passt. Ziehen und Neubeschriften der Papierstreifen
hingegen erschienen als Aufzugs- und Zeitmarken im Gang der Handlung ebenfalls
sinnig.
Die schauspielerische Leistung über 145 Minuten und Inszenierung wurde mit langem Beifall vom Publikum mit vielen jungen Menschen entsprechend honoriert.
Der Roman und seine Deutung - Umgang mit dem Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren
Der Problem oder der Koan K.s und seine
Lösung lautet:
Wie kann man ein aufgezwungenes, willkürliches Spiel des
Lebens gewinnen, dessen Züge und Regeln einem unbekannt sind?
Die Lösung ist eben so einfach wie schwer: man spielt es nicht
mit und sprengt damit den Bezugsrahmen
des Systems -
sonst verliert man, im schlimmsten Falle sogar sein Leben, wie K.,
der abgemurkst wird wie ein Hund, einfach so, sinnlos.
Zusammenfassung
Kafkas Werk ist eine Fundgrube und Herausforderung für PsychologInnen.
Wir haben uns lange gefragt, wie man den Prozess verstehen
kann und konnten uns zunächst nicht einigen. S. glaubte nach intensiver
Beschäftigung einen Schlüssel gefunden zu haben, nämlich
- unabhängig von Brod - dessen Gewissenslösung,
für die einiges spricht. Die zunächst tiefe Zufriedenheit mit
dieser Lösung währte aber nur einen knappen Tag, dann verwarf
sie S. wieder. Zu viele Fragen blieben mit dieser Lösung für
ihn offen. Aus der Interpretationsnot ergab sich noch einmal eine gründlichere
Auseinandersetzung mit dem Problem der Kunstinterpretation
und Kunstkritik. Diese kritischen Betrachtungen im Hinterkopf versuchte
S. einen Zugang über die Deutung
der Türhüterparabel, die von Kafka sogar als eigene Erzählung
freigegeben wurde ("Vor dem Gesetz"), wodurch ihr vielleicht eine Schlüsselrolle
zukommt, die vielleicht einen Hauptzugang für die Interpretation eröffnet.
Der nächste Schritt war dann, einige wichtig erscheinende literarischen Fakten zusammenzutragen, um mit ihrer Hilfe unter Zugrundelegung des Hauptzugangsschlüssels aus der Deutung der Türhüterparabel die Interpretationsbasis zu erweitern. Die literarischen Fakten, eine Art Grundgerüst, sollte nun ermöglichen, den Prozess zu deuten. Aber auch das führte nicht so richtig weiter, weil es auf viele Fragen keine befriedigende Antwort gab. Der Prozess war mit unserem rationalen Ansatz nicht zu deuten. So dämmerte es uns allmählich: so geht es nicht: Rationalität, Vernunft, Logik, gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Recht und Ordnungsvorstellungen scheitern. Erst später kam uns die Idee: vielleicht ist das gerade die Botschaft des Prozesses. Noch radikaler und konsequenter wäre indessen, die Suche nach Verstehen und Schlüssel aufzugeben, denn nicht alles, was nach Bedeutung verlangt, muss auch eine haben, Kafka hat vielleicht "nur" seine inneren Bilder und Tagträume verbunden, ohne sich um Sinn oder Bedeutung zu kümmern.
Im Laufe unserer letztlich nicht befriedigenden Deutungsversuche verstärkte sich die Hypothese, dass der ganze Ansatz unserer Verständnissuche falsch sein könnte. Denn nach Verstehen und einem Schlüssel suchen setzt schon voraus, dass es einen solchen "gibt" bzw., schwächer formuliert, man einen solchen finden, kreieren, konstruieren kann. Aber warum sollte es einen rationalen Zugang zum Verstehen, einen solchen Schlüssel geben? Ist nicht der Prozess gerade ein Musterbeispiel dafür, dass es mit Rationalität, Vernunft, gesundem Menschenverstand gerade nicht geht? Ja, im Gegenteil, die Situation sogar verschlechtert? Vernunft, Logik, gesunder Menschenverstand, Erfahrung, Appelle an Recht und Ordnung versagen im Prozess. Warum sollte der Prozess also verstanden werden können mit den üblichen Mitteln? Ist nicht gerade seine Hauptbotschaft, das es eine andere Welt, die Welt des Irrationalen, Surrealen, Absurden und Unfassbaren gibt, die eben nicht normal, nicht üblich, nicht vernünftig, nicht logisch, nicht empirisch, nicht rechtmäßig, nicht zweckmäßig funktioniert - natürlich vom rationalen Standpunkt aus bewertet.
So stellte sich abschließend die Kafkaische Gretchenfrage: wie interpretiert man "Irrationales, Surreales, Absurdes und Unfassbares", das Dali in seiner Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit so verteidigt hat? Wie interpretiert man rational nicht Zugängliches? Wie versteht man Irrationales? Wir suchen also nach neuen Wegen zum Verstehen. Nun zeigt uns aber gerade der Prozess, dass Suchen sehr falsch und vergeblich sein kann. Denn K.s Streben zeigt einen einzigen, aber vergeblichen und erfolglosen Suchprozess, wenn er ihn auch immer wieder leugnet oder bagatellisiert. Dies im Kontrast zu der Tatsache, dass dem Suchen im Prozess entscheidende Bedeutung zukommt. Aber es müsste ein anderes Suchen als das gewöhnliche und uns vertraute Suchen sein, wenn man eine Lösung für am Leben bleiben sucht, denn das übliche, gewöhnliche, rationale Suchen führt hier "nur" zum Sterben wie ein Hund nach bereits einem knappen Jahr.
Wie könnte es also gehen, welche Lösungsmöglichkeiten haben wir? (1) Eine Möglichkeit und Lösung ist sicher die Aufgabe, dass Irrationale, Surreale, Absurde und Unfassbare rational verstehen zu wollen. Suche nicht nach verstehen und Erklärungen, gibt es auf, lasse los und anerkenne die Aporie. (2) Man muss nicht unbedingt rational verstehen, um zu gewinnen und zu überleben. Nimm das Irrationale, Surreale, Absurde und Unfassbare wahr, sieh hin, lass es auf Dich wirken und handle nach Deiner Intuition, aber handle und ambivalentiere nicht herum. (3) R. ging einen anderen Interpretationsweg, in dem sie ergebnisorientiert, den Kern der Sache wie folgt erfasst: Wer sich mit "normalen" Mitteln gegen Willkür zu wehren versucht oder sich auf ein Willkürsystem einlässt, muss zwangsläufig scheitern. Man muss also das System, den üblichen Rahmen, verlassen, um zu einer Lösung zu gelangen, ganz so, wie es die GestaltpsychologInnen in ihren Problemanalysen (> Problemlösung 2. Ordnung) herausfanden und vorschlugen.
Deutung der
Türhüterparabel
oder des Kafkaesken Koans im Kontext des Prozesses
Es geht hier nicht um das gewöhnliche Gesetz, das man nachschlagen
und einsehen kann, sondern um das persönliche Gesetz, das man im Leben
durch sein Tun und Lassen vollzieht oder erfüllt. Es ereignet sich
mit dem Leben und es kann daher nicht zwischendurch einfach mal so eingesehen
werden, es sei denn, man glaubte an Hellseherei. Das ergibt sich einerseits
aus dem Ende der Parabel, andererseits auch aus der zweifachen Gesetzeskonstruktion
im Prozess: das gewöhnliche und das andere (Ethik, Moral), persönliche
(Gewissen). Das wird auch gleich zu Beginn der Parabel schon offenbar,
indem der Türhüter klar macht, man darf nicht hinein, kann es
nicht betreten, viele und immer mächtigere Türhüter (Logik,
Naturgesetze) wachten angeblich darüber. Der nach Einsicht Strebende
Mann vom Lande verbringt viele Jahre bis an sein Lebensende damit, in das
Gesetz eingelassen zu werden. Erst beim Sterben wird ihm erklärt,
dass dieser Eingang ausschließlich für ihn bestimmt war. Mit
seinem Tod, so brüllt der Türhüter, werde der Eingang geschlossen.
Ist also ein Leben zu Ende, hat sich sein Gesetz erfüllt.
Die Türhüterparabel ist eine doppelte
Absage: erstens an alle Esoterik, Präkognition und Hellseherei aber
auch an eine zu unkritische, naive oder übertriebene Außenorientierung
(Überanpassung, Opportunismus). Die Kafkaeske Botschaft lautet: Lebe!
In Deinem Tun und Lassen erfüllt sich Dein Gesetz, Du
kannst es nicht schauen und Du findest es nicht außen. Daraus ergibt
sich zwanglos der Schluß: Du findest dieses Gesetz nur in
Dir, weil es Deines ist. Suchst Du am falschen Ort, wirst Du es nicht finden
und scheitern. Um Dich selbst zu finden, brauchst Du Mut. Dazu gehört,
Deine blinden Flecken und Scheuklappen abzulegen, Du musst Dich sehen lernen,
wie Du wirklich bist: Erkenne Dich
selbst! Existenzialistisch gesehen bist Du Dein Tun und Lassen
und sonst nichts. Setze Dich auseinander mit Deinem Tun und Lassen, übernimm
Verantwortung. Wer nur wartet, bittelt und bettelt, jammert und klagt,
sich hinhalten lässt, das Heil von außen erwartet, sich nicht
lern- und entwicklungsfähig zeigt, lebt eigentlich gar nicht.
Wie steht Josef K. dazu? Er versteht die Geschichte
nicht und sieht den Mann vom Lande, der vergeblich wartet und nicht eingelassen
wird, getäuscht. Und das wird er auch (der Gefängniskaplan sieht
es anders) insofern, als man ihn nicht korrekt und vollständig informiert.
Er wirft dem Türhüter vor, dass er ja weiss, dass der Mann
vom Lande nicht eingelassen wird und dass er den Eingang, der nur für
ihn bestimmt war, schließen wird, wenn er tot ist. Das Warten ist
also nutzlos. Der Mann vom Lande hat ein Koan vor sich, dass er nicht kennt,
allenfalls erschließen oder erahnen kann. Für uns Außenstehende,
die die Geschichte kennen, ist es natürlich einfach. Für den
Verstrickten jedoch nicht. Er muss, um das Problem zu lösen, sein
geistiges Gefängnis verlassen, über seinen Bezugsrahmen hinausgehen.
K. kann den Sinn der Geschichte nicht erkennen: verlasse Dich nicht auf
das Schicksal oder andere, die nicht auf die Welt gekommen sind, um Deine
Angelegenheiten zu fördern. Bestimme und denke selbst (Sapere
aude!), verlasse Dich nicht zu sehr auf andere.
Die ersten zwei Punkte sind aus der Türhüterparabel gewonnen und sollen als Interpretationsbasis dienen.
Erstens: Es gibt ein persönliches Gesetz, für das Du selber zuständig bist und das Du in Dir selber suchen musst. Das wird allerdings nicht gesagt und ist keine allgemein verbreitete Lebensregel, sondern das muss man sozusagen selber rausfinden. Man erfährt hierbei aber keinerlei Hilfestellung. Aber man macht Erfahrungen und diese könnte und sollte man zum Lernen nutzen. Das konnte oder wollte der einfache Mann vom Lande nicht. Und so verrann sein Leben sinn- und nutzlos, weil er seinen Bezugsrahmen angesichts seiner Erfahrungen nicht zu sprengen vermochte. Und so bewahrheitet sich Fritz Riemanns interessante Sentenz: was wir erzwingen wollen, das zwingt uns nieder.
Zweitens: Erfüllst Du
Dein Gesetz, kannst Du frei und ohne (verfolgbare) Schuld sein -
oder auch nicht.
Hier wird streng genommen kein literarisches Faktum benannt, sondern
die erste Deutung der Türhüterparabel in Beziehung zum Prozessverlauf
gesetzt.
Die spannende Frage ist nun: lässt sich mit diesen Schlüsseln
eine Interpretationsbasis zum Prozess finden? Die Schilderung K.s durch
Kafka lässt keinerlei Schluss zu, dass er sich nicht ichgemäß
verhält. Zwar zeigt er ein merkwürdiges beziehungsloses sexuelles
Verhalten, alles und jede mitzunehmen, was geht, das problematisiert er
aber nirgends. K.s. Selbstbild ist in Ordnung. K. erfüllt demnach
sein Gesetz, ist aber trotzdem verhaftet und sogar dem Tode geweiht. So
bleibt letztlich auch unklar, ob nicht auch ein völlig Schuldloser
verfolgt werden könnte. So schmutzig und verkommen das andere Gerichtssystem
geschildert wird, erscheint dies jederzeit möglich.
Drittens: Erfüllst Du es oder
auch nicht, kann das Schicksal plötzlich und überraschend zuschlagen.
Diese Regel begründet die Willkür. Es gibt letztlich nichts,
was einen sicher verschont. In beiden Fällen - erfüllt man sein
Gesetz oder nicht - kann man getroffen werden. Das Leben und Schicksal
ist so gesehen ebenso gerecht wie ungerecht. Alles ist möglich. Keine
Logik, kein Recht, kein Wohlverhalten kann einen sicher und zuverlässig
schützen.
Der Roman beginnt plötzlich und extrem kontrastierend
zum 30. Geburtstag mit einer überraschenden und plötzlichen Merkwürdigkeit:
zwei Männer, die sich als Wächter bezeichnen, eröffnen K.
er sei verhaftet. Kein Haftbefehl, keine Vorhalte oder Gründe. Die
Unverständlichkeit und auch Unüblichkeit, das Rätselhafte,
Widersprüchliche, Absurde und Merkwürdige setzt gleich zu Beginn
des Romans ein und zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Roman.
Viertens: Es kann Dir dabei Unverständliches,
Unübliches, Rätselhaftes, Widersprüchliches, Absurdes und
Merkwürdiges widerfahren, das Dir kreative Bewältigung abverlangt,
wenn Du davon kommen, das "Spiel" gewinnen willst.
Das erste, Unverständliches bis Merkwürdiges, zieht sich
sehr drastisch von Anfang an durch den ganzen Roman, es charakterisiert
ihn geradezu. Die kreative Bewältigung ist nirgendwo thematisiert.
Sie kann nach Kafkas Darstellung nur durch angemessene Bewertung der Erfahrungen
der Betroffenen erkannt oder erschlossen werden.
Fünftens: Es geht um eine andere Schuld als die des gewöhnlichen Gesetzes. K. ist sich keinerlei Schuld bewusst, was vielleicht genau das tiefere Problem sein könnte, zumindest in Max Brods Deutung. Da er gegen kein "normales, gewöhnliches" Gesetz verstößt, kann es sich eigentlich nur um Verfehlungen allgemeinerer Art aus dem Feld der Ethik und Moral handeln. Darauf kommt er natürlich nicht, weil das nicht zum allgemeinen Wissen und allgemeiner Erfahrung seiner Zeit und Biographie gehört. Aber nicht zu seinem Selbstverständnis. Sein Selbstbild ist in Ordnung. Um also darauf zu kommen, hätte er den Bezugsrahmen seines allgemeinen Wissens, seiner persönlichen Erfahrung und Integrität sprengen müssen. Wir glauben nicht, dass es jemand auf der Welt gibt, dem dies hätte gelingen können. Kafka konstruiert etwas Unerfüllbares, das das Scheitern zwangsläufig nach sich zieht, wenn K. den aufgezwungenen Bezugsrahmen sprengt.
Sechstens: K. kann wie niemand darauf kommen, worum es geht, weil die surreale andere und die reale Gerichtswelt in einer einzigen gleichen Realität dargestellt werden. Anders wäre es, wenn sämtliche Szenen des anderen Gerichts sich im Tagtraum oder Traum ereignet hätten, während sich sein Privat-, Familien- und Berufsleben parallel ereignet hätte. Dann hätte K. sich fragen können, was diese Phantasien, Tagträume und Träume denn bedeuten sollen oder könnten. Er hätte zum Seelsorger, Psychotherapeuten oder Psychiater gehen können, um den Bedeutungen auf die Spur zu kommen. Aber so hat Kafka den Roman eben nicht geschrieben. Er hat für die Romanfiguren eine einzige Realität verwendet, die von K. auch so erlebt wird. Das macht die Sache schwierig. Etwas sehr weit aus dem Deutungsfenster gelehnt: Vielleicht konnte Kafka deshalb diesen Roman nicht fertig schreiben, weil er in sich selber so widersprüchlich angelegt war und blieb. Andererseits: warum sollte ein Roman keine Widersprüche enthalten, warum sollte er eine bestimmte Botschaft haben, einer bestimmen Realität oder Logik folgen und nicht nur, wie Kafka es selbst beschrieb, seine inneren Bilder zum Ausdruck bringen? Von seiner Widersprüchlichkeit und der damit verbundenen Spannung, die zu immerwährenden Lösungsversuchen animiert, lebt der Prozess ja (und gar nicht schlecht).
Siebtens:
Die eigene
Schuld wird von einem völlig absurd-verkommenen Gerichtswesen verfolgt.
Es wird ein merkwürdiges, durch und durch absurd-verkommenes Gerichtswesen
geschildert, wo es um andere als gewöhnliche Gerichtssachen geht,
die die Verhafteten und Angeklagten aber nicht kennen. Sie sehen sich Rätseln
und völlig undurchsichtigen Verfahrensregeln ausgesetzt. Sie sind,
wie K., in ein "Spiel" verstrickt, dessen Grundlagen, Züge und Regeln
ihnen verborgen sind. Und so verwenden die meisten all ihre Energie darauf,
dieses Spiel zu durchschauen und zu ihren Gunsten zu beeinflussen - womit
sie sich auf das Spiel eingelassen und damit schon verloren haben. Man
kann nicht gegen ein mächtiges und geheimes System der Willkür
gewinnen. Hinz und Kunz gegen den Geheimdienst können nur verlieren.
Das andere Gerichtswesen wird in einer abstoßenden,
erschreckenden Weise so geschildert, dass kein Mensch darauf käme,
hier ginge es um Recht, Ethik oder Moral. Es wird unendliche Geduld und
Unterwerfungsbereitschaft verlangt. Hinzu kommen extremer Kadavergehorsam,
absolute Hierarchie, Brutalität und Grausamkeit. Diesem undurchsichtigen
Schmuddelrecht entsprechen auch die Lokalitäten, wo diese Gerichte
und Kanzleien angesiedelt sind: in schlechten Gegenden, heruntergewirtschafteten
Häusern, auf renovierungsbedürftigen Dachböden mit schlechter
Luft und Ausstattung. In dieser trockenen und undurchsichtigen Bürokratieatmosphäre
kann es jeder mit jeder treiben, so dass die schlechte Luft mit beziehungsloser
Sexualität nur so geschwängert scheint. Diese andere Gerichtsbarkeit
erscheint als monströses Profanbordell zwischen Tür und
Angel. Wobei allerdings auch Josef K., wo es nur geht, mitmacht, nicht
ohne in bewährter Machomanier seine eigene diesbezügliche "Verdorbenheit"
in die Frauen hineinzuprojizieren, statt Verantwortung für die eigene
Sexsucht in Nebenbeimanier zu übernehmen. Geht man sehr weit, könnte
man phantasieren, diese andere Gerichtswelt ist ein großer Projektionsspiegel
für die sexuellen Verfehlungen, die den Verhafteten und Angeklagten
vorgeworfen werden, ohne dass dies jemals auch nur angedeutet wäre
- was nicht zu Kafka passt.
Achtens: Die Verhafteten und Angeklagten werden durch das Verfahren schöner. [Kap. 8] Auch diese Geschichte des Advokaten Huld erscheint doch reichlich abstrus. Aber immerhin: sie ist durch Kafka ausgesprochen. Das stützt die Deutung, man muss sich besser und ehrlicher wahrnehmen lernen. Die damit verbundene Auseinandersetzung führt dann zu einer Art inneren Läuterung, die sich in den Erscheinung, im Ausdruck widerspiegelt. Und dies wird durch Verfahren gefördert. Diese Deutung steht allerdings im Widerspruch zu den Fakten, wie Kafka seine Figuren, insbesondere K. schildert. Hier ist so gut wie nichts von einer inneren Suche und Auseinandersetzung zu bemerken. Alles, was man durch Kafkas Roman realgestützt sagen könnte ist: die tiefgreifende Unsicherheit - nirgendwo geschildert - und die damit verbundene existenzielle Erschütterung - von K. geleugnet - schönt die Betroffenen. Und das steht im Widerspruch mit der allgemeinen Erfahrung: so etwas schönt nicht, sondern zeichnet, macht ernst, bitter, zornig, resigniert, verzweifelt, verhärmt.
Neuntens: K. ist einerseits rebellisch, andererseits ambivalent willfährig. K. gibt sich einerseits aufmüpfig, kritisch, will nicht einfach so hinnehmen, was man ihm da zumutet. Andererseits fügt er sich doch in das aufgezwungene Spiel und versucht, es mit fremder Hilfe zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Er sagt dem Untersuchungsrichter die Meinung, wie er später auch seinem Advokaten das Mandat entzieht, weil er dessen Verteidigung genauso undurchsichtig, hinhaltend und wenig greifbar erlebt, wie das ganze Verfahren. Und doch bleibt er zwiespältig, ambivalent, rebellisch einerseits, willfährig mitspielend anderseits. Aber, die Schilderungen Kafkas lassen keinen Zweifel, dass K. das andere Gerichtswesen als Realität und nicht als Tagtraum, Traum oder als Psychose erlebt. K. ist nicht konsequent, sondern ambivalent hin- und hergerissen.
Zehntens: Die Schreckensereignisse finden zu zwei Geburtstagen statt. Beginn und Ende jeweils am Geburtstag. Nach dem Aufstehen findet er nicht wie gewohnt - noch dazu an seinem 30. Geburtstag - sein Frühstück vor, sondern zwei Männer, die sich als seine Wächter entpuppen, weil er verhaftet sei. Ohne Haftbefehl, ohne Erklärung, allein durch die Macht des Faktischen. Und am Vorabend oder in der Nacht zu seinem 31. Geburtstag ist es im Morgengrauen in einem Steinbruch am Stadtrand zu Ende. Wie ein Hund ist K.s letzter Gedanke und er lässt das Abstechen willenlos geschehen.
Einige Koans, Widersprüche und Paradoxien im Prozess
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