Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=30.04.2009 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 01.04.15
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel  Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
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    Anfang_Strindberg: Der Vater__Überblick__Rel. Aktuelles __Rel. Beständiges  _ Titelblatt__ Konzept__ Archiv__ Region__Service-iec-verlag___ Wichtiger Hinweis zu Links
    Willkommen in unserer Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst, Bereich Theater, und hier speziell zum Thema:

    Der Vater
    1887 von August Strindberg
    Gastspiel vom Theater an der Ruhr (Mülheim) im Markgrafentheater Erlangen
    __

    "...  eine Mutter kann und muß für ihr Kind jedes Verbrechen begehen 
    ... und die Liebe zwischen den Geschlechtern ist Kampf ... 
    Und der Stärkere hat recht? Immer, da er die Macht hat [Q]
    __

    Albert Bork, Denise Dufeu, Petra von der Beek © Andreas Köhring
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    von Rudolf Sponsel, Erlangen
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    Inhaltsübersicht:
    Theater Info (Mülheim) 
    Personen. 
    Zusammenfassung Inhalt: Ein mörderischer Kampf ums Kind.
       Zugleich werkorientierte Interpretation.
    Gang der Handlung: 
       1.  Szene: Erstes zentrales Konfliktthema.
       2.  Szene: Zweites bis viertes zentrales Konfliktthema. 
       3.  Szene: Erste Auseinandersetzung Vater-Mutter. 
       4.  Szene: Der neue Doktor kommt - die Mutter lügt.
       5.  Szene: Erste Begegnung Rittmeister und neuer Doktor. 
       6.  Szene: Der Rittmeister und seine alte Amme Margret. 
       7.  Szene: Der Rittmeister und seine Tochter Bertha. 
       8.  Szene: Zweite Auseinandersetzung Vater-Mutter.
       9.  Szene: Zweites Gespräch der Mutter mit dem Doktor.
      10. Szene: Margret, des Rittmeister Amme und Bertha. 
      11. Szene: Der Rittmeister und seine alte Amme Margret. 
      12. Szene: Zweites Gespräch des Rittmeisters mit dem Doktor. 
      13. Szene: Dritte Auseinandersetzung Vater-Mutter.
      14. Die Komplott-Szenen: Zwangsjacken-Vorbereitungen.
      15. Szene: Der Rittmeister tritt ein: Eröffnung des Wahnsinns.
      16. Szene: Bertha und ihr Vater - sie flüchtet vor ihm. 
      17. Szene: Seine alte Amme bringt ihn in die Zwangsjacke.
      18. Szene: Letzte Auseinandersetzung Vater-Mutter: Hirnschlag.
      19. Szene: Etwas rätselhafte Schlußszene.
    Noch einmal zusammengefasst: Die großen Themen dieses Dramas. 
    Eindrücke von der Inszenierung. 
    Psychologie und Psychopathologie der Hauptfiguren.
       Die Bindungsbeziehungen in der Kernfamilie.
       Wie entsteht Bertha?
       Zur Psychologie und Psychopathologie des Rittmeisters.
           Kann der Rittmeister als dependente Persönlichkeit 
               verstanden werden?
           Rekonstruktion der Wahnentwicklung aus dem Werk.
           Überheblich-entwertende Haltung gegenüber dem
              weiblichen Geschlecht.
           Die Fehlhaltung: Das Kind als Ware und Besitz.
           Zur Psychologie und Psychopathologie Lauras.
          Kann Laura als "Borderlinerin" eingeschätzt  werden?
          Ist Laura eine dissoziale Persönlichkeit nach ICD-10 F60.2?
       Rekonstruktion der Ehebeziehungsproblematik aus dem Werk.
          Irritationen Lauras, weil sie fühlt, ihn nicht nur als Frau, 
              sondern auch als Mutterersatz lieben zu sollen. 
          Laura fühlt sich von Anfang allen Männern überlegen.
          Oberhand-Theater. 
          Die schöne Zeit des Anfangs und der Jugend und die 
           Macht des Schicksals. 
          Gesamtbild der Eheentwicklung nach dem Werk. 
    Literatur und Links.
    Anmerkungen.
    Querverweise. 



    Theater Info
    Theater an der Ruhr, Mülheim. Der Vater von August Strindberg
    "Mit Petra von der Beek, Albert Bork, Rosmarie Brücher, Denise Dufeu, Julian Rauter, Fabio Menéndez, Steffen Reuber
    Regie Thomaspeter Goergen. Bühne Gralf-Edzard Habben. Kostüme Heinke Stork. Aufführung/en:  28.-30.04.2009
    Markgrafentheater
        1887 entstanden, seziert Der Vater die Ehe von Laura und dem Rittmeister. Der Anlass der Auseinandersetzung ist die Erziehung der gemeinsamen Tochter Berta. Laura sieht sie eher als Künstlerin, der Vater möchte sie fürs Studium in die Stadt schicken, um sie dem Einfluss der Mutter zu entziehen. Als Vater hat er zu dieser Zeit das verbriefte Recht, die Erziehung des Kindes zu bestimmen, und lässt keinen Zweifel aufkommen, dieses Recht durchzusetzen.
        Zufällig hat sich zur gleichen Zeit ein Fall ereignet, bei dem eine Vaterschaft nicht eindeutig zu klären war. Aus dem beiläufigen Gespräch des Ehepaares über diesen Vorfall entsteht der Verdacht, dass auch der Rittmeister nicht der Vater des gemeinsamen Kindes sei. In seinen Vorstellungen entwirft der Rittmeister seinen eigenen Untergang. Der einmal erhobene Verdacht wird zum Fluch."

    Info Theater an der Ruhr: Der Vater:
    "Strindbergs DER VATER, 1887 entstanden, seziert mit äußerster Genauigkeit die Ehe von Laura und dem Rittmeister. Der Anlass der Auseinandersetzung ist die Erziehung der gemeinsamen Tochter Berta. Laura sieht sie eher als Künstlerin, der Vater möchte sie in die Stadt schicken, damit sie später studieren kann. Auf jeden Fall will er sie dem Einfluss der Mutter entziehen. Als Vater hat er zu dieser Zeit das verbriefte Recht, die Erziehung des Kindes zu bestimmen und lässt keinen Zweifel aufkommen, dieses Recht durchzusetzen.
        Zufällig hat sich zur gleichen Zeit ein Fall ereignet, bei dem eine Vaterschaft nicht eindeutig zu klären war. Aus dem beiläufigen Gespräch des Ehepaares über diesen Vorfall entsteht der Verdacht, dass auch der Rittmeister nicht der Vater des gemeinsamen Kindes sei. In seinen Vorstellungen entwirft der Rittmeister seinen eigenen Untergang. Der einmal erhobene Verdacht wird zum Fluch.
        Kaum hatte sich die bürgerliche Familie im 19. Jahrhundert etabliert, erkennt man schon die Züge ihres Zerfalls. Ihre Überfrachtung mit dem Pathos der Liebe, früher war sie eher eine Rechts- und Sachgemeinschaft, zerstört sie so nachhaltig, dass heute vielfach nur noch die Masken dieser Institution übrig geblieben sind."



    Die folgende Darstellung beruht auf der Rowohlt-Ausgabe von 1960, S. 1 - 46.

    "PERSONEN

    • DER RITTMEISTER
    • LAURA, dessen Frau
    • BERTA=BERTHA, beider Tochter [RS: 17, im Konfirmationsalter]
    • DOKTOR ÖSTERMARK, Arzt
    • DER PASTOR, Lauras Bruder
    • MARGRET, die alte Amme des Rittmeisters
    • NÖJD, ein Soldat aus der Schwadron des Rittmeisters
    • SVÄRD, Diener im Hause des Rittmeisters


    BÜHNENBILD: FÜR ALLE DREI AKTE
    Wohnzimmer im Hause des Rittmeisters. Eine Tür im Hintergrund rechts. Mitten im Zimmer ein großer, runder Tisch mit Zeitungen und Zeitschriften. Rechts ein Ledersofa mit einem Tisch davor. In der Ecke rechts eine Tapetentür. Links eine Kommode mit einer Pendeluhr. Daneben eine Tür. — An den Wänden Säbel, Gewehre und Jagdtaschen. Neben der Tür ein Kleiderständer mit Uniformröcken. — Auf dem großen Tisch steht eine brennende Petroleumlampe."



    Zusammenfassung des Inhaltes: ein mörderischer Kampf ums Kind.
    Zugleich eine werkorientierte Interpretation

    Rein sachlich ist es für das Verständnis des Stückes wichtig zu wissen: "Ab 1915 verschwand das patriarchalische Familienleitbild aus dem Gesetz, dem man damals das Prädikat „besonders fortschrittlich“ hätte verleihen können." [Q] D.h. für Strindbergs Der Vater gilt noch das alte, patriarchalische Ehegesetz in Schweden, das noch keinerlei Gleichberechtigung kennt..
     
    Der Vater ist ein Stück, das einen fürchterlichen Kampf um Macht und Gleichberechtigung in einer bürgerlichen Ehe in Schweden gegen Ende des 19. Jahrhundert, radikal zugespitzt auf die Frage der elterlichen Sorge und des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Tochter Bertha im Konfirmationsalter, zum Gegenstand hat. In einem  "Narrenhaus" voller Frauen, geht es dem Rittmeister - der sich neben seinem Soldatendienst aus Frust in die Wissenschaft geflüchtet hat und dort an einem bahnbrechenden Thema arbeitet (Nachweis von Lebenszeichen in Meteoriten durch Kohlenstoff) - darum, was mit der künstlerisch begabten Tochter Bertha (im Konfirmationsalter) - die mit einer besonders intensiven Bindungsbeziehung zu ihrer Mutter beschrieben wird - werden soll. Bleibt sie in dem (Weiber-) "Narrenhaus", wie es seine Frau Laura will oder kann er sich durchsetzen und die Tochter in fremde Obhut - zu einem Freidenker - geben. Das übergeordnete Thema ist der Kampf der Geschlechter und die Gleichberechtigung, die der Rittmeister seiner Frau unter Berufung auf die damaligen Gesetze und den Zeitgeist verweigert. Aber er hat nicht mit Lauras Willen zur Macht in dieser Frage - wie überhaupt - gerechnet. Sie ist ebenso scharfsinnig wie scharfzüngig und treibt ihn mit ihrer Intelligenz und Bosheit regelrecht in den Wahnsinn. So wird der Machtkampf mit gerissener Intelligenz und skrupelloser Heimtücke von Laura zu ihren Gunsten entschieden. Am Ende stirbt der Rittmeister entehrt, gedemütigt, entmündigt in einer Zwangsjacke an einem Hirnschlag und das scheinbar schwache Geschlecht erweist sich als überlegen. 

        Die spannende Frage bleibt offen, ob es anders gegangen wäre, wenn der Rittmeister weniger als autoritärer Patriarch, der auf seinen unrechtmäßigen Rechten beharrte, sondern als Mann und Mensch seine Frau als gleichwertig anerkannt hätte. Spannend deshalb, weil Laura von Strindberg durch ihren Bruder, den Pastor, bereits als Kind missraten in ihrem unbedingten Machtwillen eingeführt wurde. Strindbergs Der Vater lehrt uns: der Wille zur Macht ist keine Männerangelegenheit. Und: eine Mutter kann zur Bestie werden, wenn man ihr ihr Kind wegzunehmen versucht. Spannend und unaufgelöst bleibt auch die Frage, weshalb er naiv - die mörderische Realität verkennend - und sich selbst wohl überschätzend, glaubte, dem unbedingten Machtwillen, ihrem - von ihm verkannten - Scharfsinn und der Niedertracht seiner Laura gewachsen zu sein?  Bekennt er doch seinem Schwager, dem Pastor: "Es ist wie in einem Tigerkäfig: hielte ich ihnen nicht mein glühendes Eisen unter die Nase, so würden sie mich bei der ersten Gelegenheit zerreißen."

       Laura ist, menschenrechtlich betrachtet, im Recht, aber nicht nach dem unrechtmäßigen Recht der damaligen Gesellschaft. Die gemeinsame elterliche Sorge ist erst ein Produkt der jüngeren Vergangenheit. In Lauras Augen hatte ihr Mann, der Rittmeister, nicht das Recht, über den Aufenthalt und die Zukunft der Tochter über ihren Kopf hinweg zu bestimmen. Und mehr noch: ...  eine Mutter kann und muß für ihr Kind jedes Verbrechen begehen. Deshalb kommt es zum unerbittlichen, mit allen destruktiven Mitteln geführten Machtkampf durch Laura und sie wird zur Mutterdomina als ihr Mann Bertha ihrem Einflussbereich entziehen und damit entfremden will. Und so wird der Rittmeister nach seiner eigenen sozialdarwinistisch- faschistischen Ideologie sozusagen zu Recht Opfer, denn - wie er verkündet - Recht hat der Stärkere, "immer, da er die Macht hat." 
     



    Gang der Handlung

    Die folgende Gliederung fasst aus meiner Sicht Hauptabschnitte, die ich Szenen nenne - einige kleine wurden ausgelassen bzw. zusammengefasst - und denen ich bestimmte Themen zuordne, zusammen. Sie folgt der Ausgabe bei Rowohlt (1960, S. 1 - 46).

    [ERSTER AKT]
    _

    1. Szene (S. 7): Erstes zentrales Konfliktthema: Welcher Mann kann schon sicher wissen, ob er der Vater eines Kindes ist? [Kuckuckskinderproblem]

    Der Rittmeister und sein Schwager, der Pastor, sprechen über die Situation im Haus. Nöjd soll die Magd geschwängert haben. Der Pastor soll ihm die Leviten lesen. Doch Nöjd weist auch auf Ludwig hin, der mit der Magd etwas gehabt haben soll und bringt damit ein wichtiges Leitmotiv des Dramas auf: Welcher Mann kann schon sicher wissen, ob er der Vater eines Kindes ist? (S. 7 - 8)


    2. Szene (S. 9): Die Mutter will, dass Laura zu Hause bleibt, der Vater will sie aus dem "Narrenhaus" heraus haben und in fremde Obhut geben. Nach seinem Willen soll sie Lehrerin werden, das ist für beide Varianten - ob sie einmal heiratet oder nicht - in seinen Augen eine gute Lösung. 

    Zweites zentrales Konfliktthema: Die Machtfrage: Wer hat das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht über die Tochter Bertha? 
    Drittes zentrales Konfliktthema: Der Kampf der Geschlechter in Ehe und Familie.
    Viertes zentrales Konfliktthema: Lauras unbedingter und rücksichtsloser Wille schon als Kind. 

    RITTMEISTER. Dieses Haus hier ist voll von Weibern, die alle mein Kind erziehen wollen. Meine Schwiegermutter will aus ihr eine Spiritistin machen; Laura will, daß sie Künstlerin wird; die Gouvernante will sie den Methodisten zuführen, die alte Margret den Baptisten und die Dienstmädchen der Heilsarmee. Das geht natürlich nicht an, daß man eine Seele in dieser Weise zusammenstückt; zumal man mir, der das erste Recht hat, ihr Wesen zu bilden, damit unaufhörlich entgegenarbeitet. Deshalb muß ich dafür sorgen, daß sie aus diesem Hause herauskommt.
    PASTOR. In diesem Haus regieren zuviel Frauenzimmer.
    RITTMEISTER. Ja, das ist wahr. Es ist wie in einem Tigerkäfig: hielte ich ihnen nicht mein glühendes Eisen unter die Nase, so würden sie mich bei der ersten Gelegenheit zerreißen. — Ja, da lachst du, du Schelm. Es war nicht genug, daß ich deine Schwester zur Frau nahm, da schwatztest du mir auch noch deine alte Stiefmutter auf. ...
    ...
    RITTMEISTER. Jetzt ist aber das ganze Haus verrückt. Laura will Bertha nicht weggeben, und ich kann sie in diesem Narrenhaus nicht bleiben lassen.
    ...
    PASTOR: Als sie noch Kind war, pflegte sie sich, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, totzustellen, und wenn sie das bekommen hatte, was sie wollte, so gab sie es wieder zurück und erklärte, es sei ihr nicht darum zu tun gewesen, sondern nur darum, ihren Willen durchzusetzen."
    Und der RITTMEISTER: "Ja, war sie damals schon so? Hm! Sie hat wirklich manchmal solche Zustände, daß ich Angst um sie bekomme und, glaube, sie ist krank. (S. 10)


    3. Szene (S. 11f): Erste Auseinandersetzung zwischen dem Rittmeister und seiner um die Finanzlage - ein von Laura empfohlener Pächter zahlt schlecht ("... und wenn ich ihn nicht angenommen hätte, so säße ich jetzt im Irrenhaus oder läge in der Familiengruft. ...") - und um Berthas Zukunft. Es geht um die Macht über das Geld und seine Verwendung, die der Rittmeister beansprucht, was von seiner Frau mit scharfer Zunge kritisch- emanzipatorisch hinterfragt wird (S. 12):
    LAURA (knickst). Danke vielmals! — Führst du auch darüber Rechnung, was du nicht für den Haushalt ausgibst?
    RITTMEISTER. Das geht dich nichts an !
    LAURA. Das ist wahr! Es geht mich ebensowenig etwas an, wie mich die Erziehung meines Kindes etwas angehen darf. Haben die Herren heute abend in der Sitzung den Beschluß gefaßt?
    RITTMEISTER. Ich hatte schon vorher meinen Beschluß gefaßt und wollte ihn nur noch dem einzigen Freunde mitteilen, den ich und die Familie gemeinsam haben. Bertha kommt in die Stadt in Pension. In vierzehn Tagen reist sie.
    LAURA. Zu wem kommt sie in Pension, wenn ich fragen darf?
    RITTMEISTER. Zum Auditeur Säfberg.
    LAURA. Zu dem Freidenker.
    RITTMEISTER. Die Kinder sollen im Glauben des Vaters erzogen werden, bestimmt das Gesetz.
    LAURA. Und die Mutter hat da nichts mitzureden?
    RITTMEISTER. Gar nichts. Sie hat ihren Vorrang gesetzmäßig verkauft und auf ihre Rechte verzichtet, wogegen der Mann ihre Versorgung und die ihrer Kinder auf sich genommen hat.
    LAURA. Sie hat also kein Recht auf ihr Kind?
    RITTMEISTER. Nein, gar keines. Wenn man eine Ware einmal verkauft hat, so kann man sie nicht zurücknehmen und das Geld noch dazu behalten.

    Die Diskussion spitzt sich zu. Laura wirft ein: "Wenn aber Vater und Mutter gemeinsam beschließen würden ...", womit sie bei ihrem Mann auf taube Ohren stößt. Es kommt dann die Sprache auf die Schwängerung der Magd und der Rittmeister übernimmt die Position von Nöjd, womit er selbst den Keim für den eigenen Zweifel legt (S. 13):
     
    ...
    RITTMEISTER. Aber im Gesetz steht nicht, wer der Vater des Kindes ist.
    LAURA. Nein, aber das pflegt man zu wissen.
    RITTMEISTER. Kluge Leute behaupten, daß man so etwas nie wissen kann.
    LAURA. Das ist merkwürdig! Kann man nicht wissen, wer der Vater eines Kindes ist? '
    RITTMEISTER. Nein, so behauptet man.
    LAURA. Das ist merkwürdig! Wie kann der Vater dann solche Rechte über das Kind haben?
    RITTMEISTER. Er hat sie nur dann, wenn er Verpflichtungen auf sich nimmt oder wenn ihm Verpflichtungen auferlegt werden. Und in der Ehe gibt es ja keinen Zweifel an der Vaterschaft.
    LAURA. Es gibt keinen Zweifel?
    RITTMEISTER. Nein, das hoffe ich.
    LAURA. Und wenn die Frau untreu gewesen ist?
    RITTMEISTER. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. — Hast du noch etwas zu fragen?
    LAURA. Nein.
    RITTMEISTER. Dann gehe ich hinauf in mein Zimmer. Bitte, sei so gut und verständige mich, wenn der Doktor kommt. (Schließt den Sekretär und steht auf.) 
    LAURA. Das wird geschehen.
    RITTMEISTER. Aber sobald er kommt. Ich will nicht unhöflich gegen ihn sein. Du verstehst. (Ab) 
    LAURA. Ich verstehe.
    ...


    4. Szene (S. 14): Der neue Doktor kommt - Laura lügt, intrigiert und denunziert ihren Mann als gemütskrank.

    Statt wie versprochen den Rittmeister, ihren Mann zu rufen, lügt sie (S. 14):
     
    DR. ÖSTERMARK (tritt ein). Gnädige Frau!
    LAURA (geht ihm entgegen und reicht ihm die Hand). Willkommen, Herr Doktor! Herzlich willkommen bei uns! Der Rittmeister ist ausgegangen, aber er kommt gleich wieder.

    Die Fragen des Doktors sind suggestiv und ungeschickt (RS: fett-kursiv hervorgehoben). Sie legen der Ehefrau nahe, wie sie ihr Netz spinnen und garnen muss, um zu ihrem Ziel, ihren Mann für wahnsinnig erklären zu lassen, zu gelangen. So sollten Heilfachkundige nicht explorieren. Ein paar Kostproben (S. 15):
     
    DR. ÖSTERMARK. Sehen Sie, gnädige Frau, Ihr Vertrauen ehrt mich; aber als Arzt muß ich untersuchen und prüfen, ehe ich urteile. Hat der Herr Rittmeister Zeichen von besonderer Launenhaftigkeit, von schwankendem Willen erkennen lassen?
    LAURA. Ob er das hat? Wir sind zwanzig Jahre verheiratet, und er hat noch nie einen Beschluß gefaßt, den er nachher nicht wieder aufgegeben hätte.
    DR. ÖSTERMARK. Ist er halsstarrig?
    LAURA. Er muß immer seinen Willen durchsetzen; aber wenn man ihm nachgegeben hat, dann läßt er alles sein und bittet mich, die Entscheidung zu treffen.
    DR. ÖSTERMARK. Das ist bedenklich und erfordert genaue Beobachtung. Sehn Sie, gnädige Frau: der Wille, das ist das Rückgrat der Seele; wenn der verletzt wird, dann zerfällt die Seele.

    Anmerkung: Die Beschuldigung zur bloß demonstrativen Willensdurchsetzung ist eine Umlenkung genau der Vorwürfe, die ihr Bruder über sie ausgesprochen hat.
     
    5. Szene (S. 16):  Der Rittmeister und der Doktor treffen erstmals aufeinander. Es kommt zu einer kleinen Auseinandersetzung, wo der Doktor im Hause Quartier nehmen soll. Er klärt für sich die falsche Denunziation der Ehegattin auf, die behauptete, ihr Mann meine durch das "Mikroskop" ferne Gestirne sehen zu können, indem der Rittmeister ihm deutlich macht, er habe den Kohlenstoff in den Meteoriten mit dem Spektroskop festgestellt. Der Rittmeister beschwert sich auch, dass er seit zwei Monaten vergeblich auf Bücher aus Paris warte, die für ihn sehr wichtig seien, um seine wissenschaftliche Arbeit vor einem Konkurrenten aus Berlin vollenden zu können. 
    6. Szene (S. 17): Der Rittmeister und seine alte Amme Margret sprechen über den Konflikt um Berthas Zukunft. Sie ist für eine einvernehmliche Lösung und Einigung: "...aber ich glaube doch, daß man sich einigen könnte." 
    7. Szene (S. 19): Der Rittmeister und seine Tochter Bertha.
    ...
    RITTMEISTER. Glaubst du, daß es Geister gibt?
    BERTHA. Ich weiß nicht.
    RITTMEISTER. Aber ich weiß, daß es keine gibt.
    BERTHA. Aber die Großmutter sagt, daß der Papa das nicht versteht und daß der Papa viel ärgere Sachen macht, wenn er zu anderen Planeten hinübersieht.
    RITTMEISTER. Das sagt sie! Das sagt sie! Und was sagt sie noch?
    BERTHA. Sie sagt, daß du nicht zaubern kannst.
    RITTMEISTER. Das habe ich auch nicht behauptet. Du weißt, was Meteorsteine sind! Das sind Steine, die von anderen Himmelskörpern auf die Erde herabfallen. Die kann ich untersuchen und sagen, ob sie die gleichen Stoffe enthalten wie unsere Erde. Das ist alles, was ich sehen kann,
    BERTHA. Aber die Großmutter sagt, daß es Dinge gibt, die sie sehen kann und die du nicht sehen kannst.
    RITTMEISTER. Das ist eine Lüge!
    BERTHA. Die Großmutter lügt nicht.
    RITTMEISTER. Warum nicht?
    BERTHA. Dann lügt Mama auch.
    RITTMEISTER. Hm.
    BERTHA. Wenn du sagst, Mama lügt, dann glaube ich dir nie mehr etwas!
    RITTMEISTER. Ich habe das nicht gesagt, und deshalb mußt du mir glauben, wenn ich dir sage, daß es dein Bestes, deine Zukunft, erfordert, daß du dieses Haus verläßt. Willst du das? Willst du in der Stadt wohnen und etwas Nützliches lernen?
    BERTHA. Ach ja, ich möchte gerne in die Stadt, weg von hier, wohin auch immer! Wenn ich dich nur manchmal sehen darf, nein, oft! Oh, da drinnen ist es immer so dumpf, so unheimlich wie in einer Winternacht; aber wenn du kommst, Vater, dann ist es, als ob man an einem Frühlingsmorgen die Doppelfenster abnimmt. 
    RITTMEISTER. Mein geliebtes Kind! Mein teures Kind! 
    BERTHA. Aber, Papa, du mußt zur Mama lieb sein, hörst du! Sie weint so oft.
    RITTMEISTER. Hm. — Du willst also in die Stadt? 
    BERTHA. Ja, ja,
    RITTMEISTER. Aber wenn Mama es nicht will? 
    BERTHA. Aber das muß sie ja wollen. 
    RITTMEISTER. Aber wenn sie es nicht will? 
    BERTHA. Ja, dann weiß ich nicht, wie es gehen soll. Aber sie muß es wollen, sie muß! 
    RITTMEISTER. Willst du sie bitten?
    BERTHA. Du mußt sie ganz schön bitten; denn auf mich gibt sie nichts. 
    RITTMEISTER. Hm. — Aber wenn du es willst und ich es will, und sie will es nicht, was wollen wir dann tun? 
    BERTHA. Ach, dann wird wieder alles so schwierig! Warum könnt ihr nicht beide...

    LAURA (tritt ein). Ach so, Bertha ist hier! Da können wir vielleicht ihre eigene Meinung zu hören bekommen, wenn über ihr Schicksal entschieden werden soll.
    RITTMEISTER. Das Kind kann wohl kaum eine begründete Meinung darüber haben, wie sich das Leben eines jungen Mädchens zu gestalten hat; aber wir können das leichter, weil wir gesehen haben, wie sich das Leben einer großen Zahl junger Mädchen entwickelt hat.
    LAURA. Da wir aber verschiedener Meinung sind, kann ja Bertha den Ausschlag geben,
    RITTMEISTER. Nein! Ich dulde keinen Eingriff in meine Rechte, weder von Weibern noch von Kindern. Bertha, laß uns allein!

    (Bertha ab)
    8. Szene (S. 20f): Zweite, schwere Auseinandersetzung zwischen dem Rittmeister und seiner Frau. 
    LAURA. Du fürchtest ihre Meinung, weil du glaubst, daß sie zu meinen Gunsten wäre.
    RITTMEISTER. Ich weiß, daß sie selbst vom Haus fort will; aber ich weiß auch, daß du die Macht hast, ihren Willen nach deinem Belieben zu ändern.
    LAURA. Oh, bin ich so mächtig?
    RITTMEISTER. Ja, du hast eine satanische Macht, deinen Willen durchzusetzen, aber das hat derjenige stets, der kein Mittel scheut. Wie hast du zum Beispiel Doktor Norling fort- und den neuen Arzt hergebracht?
    LAURA. Ja, wie habe ich das gemacht?
    RITTMEISTER. Du hast den vorigen so beschimpft, daß er ging, und dann hast du deinen Bruder Stimmen für den neuen werben lassen,
    LAURA. Nun, das war ja ganz einfach und vollkommen gesetzlich. — Soll Bertha jetzt reisen?
    RITTMEISTER, Ja, in vierzehn Tagen.
    LAURA. Hast du das beschlossen?
    RITTMEISTER. Ja.
    LAURA. Hast du mit Bertha darüber geredet?
    RITTMEISTER. Ja.
    LAURA. Dann darf ich wohl versuchen, es zu verhindern,
    RITTMEISTER. Das kannst du nicht.
    LAURA. Nicht? Glaubst du, eine Mutter läßt sich ihr Kind wegnehmen und unter schlechte Menschen stecken, die ihm beibringen, daß alles, was die Mutter ihm beigebracht hat, Dummheiten sind, so daß sie schließlich ihr ganzes Leben lang von der eigenen Tochter verachtet wird?
    RITTMEISTER. Glaubst du, ein Vater wird zulassen, daß unwissende und eingebildete Weiber die Tochter lehren, daß der Vater ein Scharlatan war?
    LAURA. Das sollte für den Vater weniger bedeuten.
    RITTMEISTER. Wieso?
    LAURA. Weil die Mutter dem Kind nähersteht, seit man entdeckt hat, daß man eigentlich nicht wissen kann, wer der Vater eines Kindes ist.
    RITTMEISTER. Was hat das in diesem Fall für eine Bedeutung?
    LAURA. Du weißt nicht, ob du Berthas Vater bist.
    RITTMEISTER. Weiß ich das nicht?
    LAURA. Nein, das, was niemand wissen kann, weißt wohl auch du nicht.
    RITTMEISTER. Du scherzest wohl?
    LAURA. Nein, ich wende nur deine Lehren an. Im übrigen, woher weißt du, daß ich dir nicht untreu war?
    RITTMEISTER. Ich traue dir viel zu, aber das nicht, und ich glaube auch nicht, daß du davon reden würdest, wenn es wahr wäre.
    LAURA. Angenommen, ich würde alles vorziehen, ich würde vorziehen, ausgestoßen und verachtet zu werden, alles, wenn ich nur mein Kind behalten und beherrschen darf, und daß ich jetzt die Wahrheit spräche, wenn ich erklärte: Bertha ist mein Kind, aber nicht deines. Angenommen...
    RITTMEISTER. Hör jetzt auf!
    LAURA. Nehmen wir es nur an: dann wäre deine Macht zu Ende.
    RITTMEISTER. Sobald du beweist, daß ich nicht der Vater bin.
    LAURA. Das wäre wohl nicht schwer. Würdest du das wollen?
    RITTMEISTER. Hör jetzt auf!
    LAURA. Ich brauchte natürlich nur den Namen des wirklichen Vaters anzugeben, den Ort und den Zeitpunkt näher zu bestimmen  ... Zum Beispiel: Wann ist Bertha geboren? ... Im dritten Jahr nach der Hochzeit ...
    RITTMEISTER. Hör auf jetzt! Sonst ...
    LAURA, Was, sonst? Wir sollen jetzt aufhören! Aber bedenke genau, was du tust und beschließt! Und mach dich vor allem nicht lächerlich!
    RITTMEISTER. Ich finde das alles äußerst traurig,
    LAURA, Um so lächerlicher wirst du!
    RITTMEISTER. Aber du nicht!
    LAURA. Nein, so klug haben wir das angestellt.
    RITTMEISTER. Deshalb kann man mit euch nicht streiten.
    LAURA. Warum läßt du dich dann mit einem überlegenen Feind in Streit ein?
    RITTMEISTER. Überlegen? 
    LAURA. Ja. Es ist sonderbar, aber ich habe nie einen Mann ansehen können, ohne mich ihm überlegen zu fühlen. 
    RITTMEISTER. Na, dann sollst du einmal deinen Meister finden, so daß du es nie mehr vergißt! 
    LAURA. Es wird interessant werden.

    [ZWEITER AKT]


    9. Szene (S. 23): Zweites Gespräch der Mutter mit dem Doktor. Zunächst erweist er sich als aufmerksam und kritisch, indem er die Mutter darauf hinweist, dass ein Spektroskop etwas ganz anderes ist als ein Mikroskop und der Verdacht, der Vater, ihr Mann, könnte durch ein Mikroskop ferne Himmelskörper sehen wollen, gänzlich falsch ist. Nach diesem guten Anfang begeht er sogleich einen schweren Kunstfehler, wenn er ihr die Möglichkeit einer Unmündigkeitserklärung suggestiv eröffnet. Außerdem ergibt sich, dass Laura die Briefe ihres Mannes abgefangen hat, wobei sie ihre Verschwendungsneigung umdreht und ihrem Mann unterstellt. Genau so verdreht sie die Zweifel in die Vaterschaft Berthas, die sie selbst in ihm gesät und genährt hat. 
    DR. ÖSTERMARK. Gnädige Frau, ich habe unser Gespräch aufgezeichnet, und ich erinnere mich, daß ich Sie nach diesem Hauptpunkt zweimal gefragt habe, weil ich glaubte, mich verhört zu haben. Man muß bei solchen Anklagen, bei denen es sich um die Unmündigkeitserklärung eines Mannes handelt, sehr gewissenhaft sein.
    LAURA. Unmündigkeitserklärung?
    DR. ÖSTERMARK. Ja, das wissen Sie doch, daß ein Wahnsinniger seine Rechte als Bürger und Familienvorstand verliert.
    LAURA. Nein, das wußte ich nicht.
    DR. ÖSTERMARK. Dann war noch ein Punkt, der mir verdächtig erscheint: Er sprach davon, daß seine Briefe an die Buchhändler unbeantwortet blieben. Darf ich fragen, ob Sie diese Briefe etwa in wohlmeinender, aber unvernünftiger Absicht abgefangen haben?
    LAURA. Ja, das habe ich. Aber es war meine Pflicht, die Interessen des Hauses zu wahren, und ich konnte ihn doch nicht ohne weiteres uns alle ruinieren lassen.

     
    10. Szene (S. 25): Margret, des Rittmeisters alte Amme und Bertha. Margret singt ein  Todeslied und Bertha kommt herein, weil sie nicht schlafen kann und Angst hat. Margret erklärt ihr, dass der Papa eine Krankheit hat, bei der man auf sein kann und nicht im Bett liegen muss. 
    11. Szene (S. 26): Der Rittmeister und seine alte Amme Margret. Er fragt, ob sie sicher sei, wer der Vater ihres Kindes sei.
    12. Szene (S. 27): Zweites Gespräch des Rittmeisters mit dem Doktor. Er setzt das Thema Vaterschaft und seine Zweifel mit dem Doktor fort. Anschließend kommt er auf die Frauen zu sprechen und auf zwei Erlebnisse, wonach ihm die Frauen als falsch und treulos erschienen.
    RITTMEISTER: Und jetzt kommt die Moral:  Trau nie jemandem zu sehr!
    DR. ÖSTERMARK: Aber auch nicht zu wenig! 

     
    13. Szene (S. 29 - 34): Dritte Auseinandersetzung des Rittmeisters mit seiner Frau. Er bietet ihr ein Friedensangebot an, aber sie schlägt es aus, weil sie weiß, dass sie ihn vernichten und die ganze Macht haben kann. 
    RITTMEISTER. Ich bin heute abend auf dem Postamt gewesen und habe Briefe abgeholt. Aus diesen geht hervor, daß du sowohl abgehende wie ankommende Briefe unterschlagen hast. Die Folge davon ist zunächst, daß der Zeitverlust das erwartete Resultat meiner Arbeit zerstört hat.
    LAURA. Das war von mir nur gut gemeint, denn du hast wegen dieser Arbeit deinen Dienst vernachlässigt.
    RITTMEISTER. Es war wohl von dir nicht gut gemeint, denn du hattest die Gewißheit, daß jene andere Arbeit mir eines Tages mehr Ehre einbringen würde als mein Dienst; aber du wolltest vor allem, daß ich überhaupt keine Ehre erringe, denn das hätte dich in deiner Unbedeutendheit bedrückt ... Dann habe ich an dich gerichtete Briefe aufgefangen.
    LAURA. Das war nobel gehandelt.
    RITTMEISTER. Siehst du, du hast eine höhere Meinung von mir — wie man das so nennt ... Aus diesen Briefen geht hervor, daß du seit längerer Zeit alle meine früheren Freunde gegen mich einnahmst, indem du Gerüchte über meinen Geisteszustand verbreitet hast. Und deine Bemühungen haben Erfolg gehabt, denn jetzt gibt es keinen einzigen mehr, vom Chef bis herab zur Köchin, der glaubt, ich sei bei Verstand. — Nun verhält es sich aber mit meiner Krankheit folgendermaßen: Mein Verstand ist, wie du weißt, nicht im geringsten gestört; ich kann sowohl meinen Dienst versehen als auch meine Pflichten als Vater erfüllen. Auch meine Gefühle habe ich noch in meiner Gewalt, solange der Wille noch halbwegs unbeschädigt ist; aber du hast an ihm genagt und genagt, so daß die Zahnräder bald abgenützt sein werden, und dann schnurrt das ganze Uhrwerk zurück. Ich will nicht an deine Gefühle appellieren, denn du hast keine — und das ist deine Stärke —, sondern ich appelliere nur an dein Interesse.
    ...
    LAURA: Die Macht, ja. Worum  ist es in diesem ganzen Kampf auf Leben und Tod sonst gegangen als um die Macht? (S. 31)
    ...
    RITTMEISTER. Du hattest immer die Oberhand. Du konntest mich im Wachzustand so hypnotisieren, daß ich weder sah noch hörte, sondern nur gehorchte. Du konntest mir eine rohe Kartoffel geben und mir einreden, es wäre ein Pfirsich. Du konntest mich dazu zwingen, deine dummen Ideen als geniale Einfalle zu bewundern. Du hättest mich zu Verbrechen, ja zu ehrlosen Taten verleiten können. Denn dir fehlte der Verstand, und statt meinen Ratschlägen zu folgen, handeltest du nach deinem eigenen Kopf, Aber als ich dann erwachte und wieder klar denken konnte, fühlte ich, wie meine Ehre gelitten hatte, und ich wollte sie wiederherstellen durch eine große Tat, ein kühnes Unternehmen, eine Entdeckung oder durch einen ehrlichen Selbstmord. Ich wollte in den Krieg ziehen, aber das gelang mir nicht Da warf ich mich auf die Wissenschaft. Jetzt, da ich die Hand ausstrecken wollte, um die Frucht entgegenzunehmen, schlägst du mir den Arm ab. Jetzt bin ich ehrlos und kann nicht weiterleben, denn ein Mann kann nicht leben ohne Ehre. (S. 33)
    ...
    RITTMEISTER (geht drohend auf sie zu). Wie kannst du mich unter Vormundschaft stellen lassen?
    LAURA (zieht einen Brief hervor). Durch diesen Brief, der in beglaubigter Abschrift auf dem Vormundschaftsgericht liegt.
    RITTMEISTER. Was für ein Brief?
    LAURA (zieht sich rückwärtsschreitend gegen die Tür zurück). Dein Brief! - In dem du dem Arzt erklärt hast, daß du wahnsinnig bist.
    RITTMEISTER (betrachtet sie stumm).
    LAURA. Jetzt hast du deine Bestimmung als leider notwendiger Vater und als Versorger erfüllt. Man braucht dich nicht mehr, und du mußt gehen. Du mußt gehen, nachdem du eingesehen hast, daß mein Verstand ebenso stark wie mein Wille war, und weil du das nicht anerkennen wolltest.
    RITTMEISTER (geht zum Tisch, ergreift die brennende Lampe und wirft sie nach Laura, die, das Gesicht ihm zugekehrt, aus dem Zimmer flüchtet).  (S. 34)

    [DRITTER AKT]

     
    14. Die Komplott-Szenen (S. 35 - 39): Zwangsjacken-Vorbereitungen. Alles ist eingefädelt, und es geht jetzt nur noch um die Details, wie ihm die Zwangsjacke möglichst ohne dass er sich wehrt, angelegt werden kann. Nach Hin und Her kann schließlich seine alte Amme Margret für den schändlichen Abschluss überredet werden. 
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    15. Szene (S. 39):  Der Rittmeister tritt ein - Die Eröffnung des Wahnsinns durch den Pastor und Dr. Östermark erfolgt.
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    RITTMEISTER: ... was nützen mir Wissenschaft und Philosophie, wenn ich nichts habe, für das ich leben kann? Was kann ich mit dem Leben machen, wenn ich ehrlos bin? ... Jetzt will ich sterben! Macht mit mir, was ihr wollt! Ich bin nicht mehr da! ...  (S. 40)
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    16. Szene (S. 41): Bertha und ihr Vater - sie flüchtet schließlich vor ihm. 
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    BERTHA. Sag nichts Böses über Mama, hörst du!
    RITTMEISTER. Ja, ihr haltet zusammen, alle zusammen gegen mich! Und das habt ihr die ganze Zeit getan!
    BERTHA. Papa!
    RITTMEISTER. Gebrauche das Wort nicht mehr!
    BERTHA. Papa! Papa!
    RITTMEISTER (zieht sie an sich). Bertha, liebes, geliebtes Kind, du bist ja mein Kind! Ja, ja! Es kann nicht anders sein! Es ist so! Das andere waren nur kranke Gedanken, die mit dem Wind kommen wie Pest und Fieber. — Sieh mich an, damit ich in deinen Augen meine Seele sehe! — Aber ich sehe auch ihre Seele! — Du hast wohl zwei Seelen, und mit der einen liebst du mich, und mit der anderen haßt du mich. Aber du sollst mich nur lieben! Du sollst nur eine Seele haben, sonst bekommst du niemals Frieden und ich auch nicht. Du sollst nur einen Gedanken haben, der das Kind meines Gedankens ist; du sollst nur einen Willen haben, den meinen!
    BERTHA. Das will ich nicht. Ich will ich selbst sein.
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    17. Szene (S. 42):  Seine alte Amme Margret täuscht den Rittmeister und bringt ihn in die Zwangsjacke 
    MARGRET. ... Er war ein unvernünftiges Kind, und daher musste man ihn überlisten, denn er glaubte nicht, daß man es gut mit ihm meinte. ... 
    18. Szene (S. 43): Die letzte große Auseinandersetzung des Rittmeisters mit seiner Frau "Omphale" bevor ihn der Hirnschlag erlöst. 
    LAURA (tritt zum Sofa), Adolf! Sieh mich an! Glaubst du, daß ich dein Feind bin?
    RITTMEISTER. Ja, das glaube ich. Ich glaube, ihr alle seid meine Feinde. Meine Mutter, die mich nicht zur Welt bringen wollte, weil ich [>44] mit Schmerzen geboren werden mußte, war mein Feind; denn sie entzog dem ersten Lebenskeim die Nahrung und machte mich zu einem halben Krüppel. Meine Schwester war mein Feind, denn sie lehrte mich, daß ich ihr untertan sein müsse. Das erste Weib, das ich umfing, war mein Feind, denn sie gab mir zehn Jahre Krankheit als Lohn für die Liebe, die ich ihr schenkte. Meine Tochter wurde mein Feind, als sie zwischen mir und dir wählen sollte. Und du, meine Gattin, du warst mein Todfeind, denn du ließest mich nicht eher los, ehe ich nicht kraftlos dalag.
    LAURA. Ich weiß nicht, ob ich irgend etwas von dem gedacht oder gewollt habe, von dem du glaubst, daß ich es tat. Es mag wohl sein, daß ein dunkler Drang in mir herrschte, dich wegzuschaffen wie etwas Hinderliches; aber wenn du in meiner Handlungsweise einen Plan, siehst, so ist es wohl möglich, daß er darin war, obgleich ich ihn nicht sah. Ich habe nie über das, was geschah, nachgedacht, sondern es ist dahingeglitten wie auf Schienen, die du selbst gelegt hast; und vor Gott und meinem Gewissen fühle ich mich unschuldig, auch wenn ich es nicht bin. Dein Dasein ist mir wie ein Stein auf dem Herzen gelegen, der gedrückt und gedrückt hat, bis das Herz versuchte, die drückende Last abzuschütteln. So ist es wohl gewesen, und wenn ich dich ungerechterweise geschlagen habe, so bitte ich dich um Verzeihung.
    RITTMEISTER. Das klingt begreiflich. Aber was hilft es mir? Und wer hat die Schuld? Vielleicht die geistige Ehe? — Früher verheiratete man sich mit einer Frau; jetzt bildet man mit einer Gewerbetreibenden eine Handelsgesellschaft oder zieht mit einer Freundin zusammen. — Dann schwängert man die Gesellschafterin oder entehrt die Freundin. — Was ist aus der Liebe, der gesunden, sinnlichen Liebe geworden? Sie ist daran gestorben. Und was für Kinder kommen aus dieser Liebe auf Aktien, ausgestellt auf den Inhaber, ohne gemeinsame Haftung! Wer ist der Inhaber, wenn es zum Krach kommt? Wer ist der körperliche Vater des geistigen Kindes?
    LAURA. Und was deinen Verdacht wegen des Kindes angeht, so ist er vollkommen unbegründet.
    RITTMEISTER. Das ist ja gerade das Furchtbare! Wenn er wenigstens begründet wäre, dann hätte man etwas, das man greifen, an das man sich halten könnte. Jetzt sind es nur Schatten, die sich in den Büschen verbergen und den Kopf hervorstecken, um einen auszu- lachen; jetzt ist es nur wie Hiebe in die Luft, wie Scheingefechte ohne wirkliche Munition. Eine traurige Wirklichkeit hätte Widerstand hervorgerufen, den Körper und den Geist zu Taten gestrafft, so aber ... Die Gedanken lösen sich in Dunst auf, und das Gehirn läuft leer, bis es in Brand gerät ... 

     
    19. Szene (S. 46): Eine etwas rätselhafte, kurze Schlußszene beendet das Drama. 



    Die großen Themen dieses Dramas noch einmal zusammengefasst
    • Beziehungen, Bindungen, Bindungspathologie, Liebe, Ehe, Familie, Kindheit, Elternhaus.
    • Auswirkungen fehlender früher Liebe durch Mutter und Vater; frühe Prägungen; genetische Faktoren (Erbe).
    • Ehe- und Familienrecht, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Sorgerecht, Wohl des Kindes, Kindeswunsch (Bertha S. 41: "Ich will ich selbst sein"), Ambivalenz- und Loyalitätskonflikte, Streit ums Kind, Elterliche Entfremdung (PAS).
    • Die Unsicherheit des Vaters, biologischer Vater zu sein ("Kuckuckskinderproblem")
    • Kampf zwischen Mann und Frau, zwischen den Geschlechtern, der Machtkampf um die Vorherrschaft in der Ehe.
    • Gleichberechtigung und Emanzipation.
    • Lüge, Perfidie, Bosheit, Heimtücke, Verschlagenheit, Intrige und Denunziation als Mittel der Interessendurchsetzung, Verrücktmachen und Entmündigung als Waffe im ehelichen Machtkampf; Verschwörung und Komplott.
    • Interessen-Konfliktregelungsdefizite; Einigungs- und Konsensusprinzip (Amme Margret, Pastor; Laura?), Ausgleich und Versöhnung, Mitbestimmung, Einbeziehung; Machtprinzip, Parteienbildung.

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    • Der Wille zur Macht - kein Männerprivileg, Mitbestimmung, Einbeziehung.
    • Kräfte-, Machtverhältnisse und Gefahren (nicht) richtig einschätzen und sich (fatal-falsch) darauf einstellen.
    • Flucht aus einem prekären Liebesverhältnis in die Wissenschaft, Kompensation, Ausgleich, Ersatzbefriedigung.
    • Psychopathologie: Gestörtes überhebliches Patriarchentum contra gestörten unbedingten Willen zur Macht und hemmungslose Durchsetzung einer Mutterdomina. Wahn, Wahnsinn, paranoider Projektionsmechanismus.
    • Die Kunst richtiger Exploration und der schwere Kunstfehlerunnötiger suggestiver Vorgabe.



    Eindrücke von der Inszenierung
    Die Aufführung, ca. 100 min ohne Pause, folgte weitgehend dem Stück von Strindberg, zumindest im Text. Die Musikübung am Anfang, die Streichinstrumenteinlagen (Bassgeige?) und die gelegentliche musikalische Untermalung ist der Inszenierung geschuldet wie auch die Parallelszenerie am Ende, die ein Verstehen erschwerte. Die Lichteffekte im dritten Akt riefen bei mir eine Gitterwirkung hervor, die gut zu der Botschaft passt: die Ehe als Gefängnis aus dem eine rechtzeitige Befreiung nicht gelang. Der Lampenwurf auf Laura wurde wie der Einschlag einer Bombe gestaltet. Die kurzen Lichtwegnahmen von Anfang an wirkten seltsamerweise wie Blitze und setzten dramaturgische Einschnitte. Das Markgrafentheater war im Hauptteil gut besetzt, hätte aber mehr Zuschauer, ja ein voller Haus verdient. Am Ende gab es ganz ordentlichen und längeren Beifall sogar zum Ausklang mit leichtem Johlen und Rufen.  Insgesamt wurde sehr sparsam, aber wirkungsvoll mit wenigen Requisiten gearbeitet. Das weiße, engelhaft-brautartige Kleid Lauras stellte im zweiten Teil wie auch ihre sanfte Ausdrucksform einen sehr starken Kontrast zum knallharten, ja infamen Inhalt und Gang der Handlung dar. In die von der Inszenierung erfundene imposamte Bücherzersägeszene wurden u.a. Otto Weininger (1880-1903) und Friedrich Nietzsche eingebracht, die ebenfalls  den Kampf der Geschlechter und den Willen zur Macht thematisieren. Sehr eindrucksvoll, ja hervorragend, wurde der Loyalitätskonflikt Berthas zwischen Vater und Mutter dargestellt (diese äußerst gelungene und aktuelle Darstellung findet sich so nicht im Text Strindbergs; > Eingangs-Foto; Stelle im Übergang 7. und 8. Szene) .



    Psychologie und Psychopathologie der Hauptfiguren in Der Vater

    Über das Stück könnte man mühelos eine eigene und umfangreiche psychologisch-psychopathologische Abhandlung schreiben. Ich will mich aber auf einige mir wichtig erscheinende Gesichtspunkte beschränken.

    Die Bindungsbeziehungen in der Kernfamilie
    Bertha hat ohne Zweifel eine positive Bindungsbeziehung zu beiden Eltern, insbesondere auch zu ihrem Vater, wenngleich die intensivere Bindung an die Mutter besteht. Diese intensivere Bindung nutzt die Mutter scham- und skrupellos aus, um Bertha deren Vater zu entfremden (> PAS), wobei ihr aber auch der Vater durch sein eigenes Fehlverhalten noch dabei hilft. Er anerkennt den Kindeswunsch nicht und er anerkennt die Wünsche der Mutter nicht. Er führt sich auf wie ein typischer Jurist, der formal auf ein vorsintflutliches Recht pocht, das er in seiner materialen Falsch- und Unangemessenheit nicht erkennt. Damit provoziert er, dass seine recht selbstbewusste Frau zur Mutterdomina entgleist.

    Wie entsteht Bertha ?
    Die dritte große Auseinandersetzung, S. 31,  liefert hier einige Hinweise:
     
    LAURA. Warum haben wir uns nicht beizeiten getrennt?
    RITTMEISTER. Weil das Kind uns zusammenband. Aber das Band wurde eine Fessel. Und wie geschah das? Wie? Ich habe nie darüber nachgedacht; aber jetzt steigt die Erinnerung auf, anklagend, vielleicht verurteilend. Wir waren zwei Jahre verheiratet und hatten kein Kind. Warum, das weißt du am besten. Ich wurde krank, sterbenskrank. In einem fieberfreien Augenblick hörte ich draußen im Salon Stimmen. Du warst es und der Advokat. Ihr spracht über mein Vermögen, das ich damals noch besaß. Er erklärte, daß du nichts erben könntest, weil wir kein Kind hatten, und er fragte dich, ob du schwanger wärest. Deine Antwort hörte ich nicht. Ich wurde gesund, und wir bekamen ein Kind. Wer ist der Vater?
    LAURA. Du. 

    Zur Psychologie und Psychopathologie des Rittmeisters

    Zum Lebenshintergrund und zur Entwicklung des Rittmeisters finden sich zwei wichtige Stellen im Text. S. 32 beschreibt sich der Rittmeister - seiner Frau gegenüber - als dependente Persönlichkeit:
     
    RITTMEISTER.  Ja, so war es wohl. Vater und Mutter wollten mich nicht haben, und deshalb wurde ich ohne Willen geboren. Es schien mir daher, daß mir etwas zuwuchs, als ich und du eins wurden, und darum durftest du herrschen. Ich, der in der Kaserne und vor der Truppe der Befehlende war, ich war bei dir der Gehorchende, und ich wuchs an dir, ich sah zu dir auf wie zu einem höher begabten Wesen. Und ich hörte auf dich, als wäre ich dein unverständiges Kind. 

    Kann der Rittmeister als dependente Persönlichkeit verstanden werden ?
    Untersuchen wir, ob der Rittmeister die verlangten - mindestens - fünf Kriterien einer dependenten Persönlichkeit nach DSM-IV 301.6 erfüllt.
     
    Dependente Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV 301.6 Laura gegen- über Allgemein
    Ermunterung oder Erlaubnis an andere, die meisten wichtigen Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen Nein Nein
    Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber deren Wünschen Ja (Geld,
    "Hausregi-
    ment")
    Nein
    hat Schwierigkeiten, anderen Menschen gegenüber eine andere Meinung zu vertreten, aus Angst, Unterstützung und Zustimmung zu verlieren. Beachte: hier bleiben realistische Ängste vor Bestrafung unberücksichtigt, Ja (Geld,
    "Hausregi-
    ment")
    Nein
    hat Schwierigkeiten, Unternehmungen selbst zu beginnen oder Dinge unabhängig durchzuführen (eher aufgrund von mangelndem Vertrauen in die eigene Urteilskraft oder die eigenen Fähigkeiten als aus mangelnder Motivation oder Tatkraft), Nein Nein
    tut alles Erdenkliche, um die Versorgung und Zuwendung anderer zu erhalten bis hin zur freiwilligen Übernahme unangenehmer Tätigkeiten, Nein Nein
    fühlt sich alleine unwohl oder hilflos aus übertriebener Angst, nicht für sich selbst sorgen zu können, Nein Nein
    sucht dringend eine andere Beziehung als Quelle der Fürsorge und Unterstützung, wenn eine enge Beziehung endet, ? Nein
    ist in unrealistischer Weise von Ängsten eingenommen, verlassen zu werden und für sich selbst sorgen zu müssen. Nein Nein

    Das reicht selbst bei viel großzügigerer Auslegung nicht für die mindestens fünf benötigten Kriterien aus, obwohl die Textstelle S. 32 eine ähnlich hohe Suggestivkraft hat wie die Anmutung, Laura könnte eine Borderlinerin sein. Dies mag eindrucksvoll illustrieren, wie vorsichtig man mit suggestiven Eindrücken und ihrer diagnostischen Vor-Beurteilung sein sollte.

    Und in der letzten Auseinandersetzung zwischen ihm und seiner Frau (S. 43f) sagt er:
     
    RITTMEISTER. Ja, das glaube ich. Ich glaube, ihr alle seid meine Feinde. Meine Mutter, die mich nicht zur Welt bringen wollte, weil ich [>44] mit Schmerzen geboren werden mußte, war mein Feind; denn sie entzog dem ersten Lebenskeim die Nahrung und machte mich zu einem halben Krüppel. Meine Schwester war mein Feind, denn sie lehrte mich, daß ich ihr untertan sein müsse. Das erste Weib, das ich umfing, war mein Feind, denn sie gab mir zehn Jahre Krankheit als Lohn für die Liebe, die ich ihr schenkte. Meine Tochter wurde mein Feind, als sie zwischen mir und dir wählen sollte. Und du, meine Gattin, du warst mein Todfeind, denn du ließest mich nicht eher los, ehe ich nicht kraftlos dalag.

    Rekonstruktion der Wahnentwicklung des Rittmeisters aus dem Werk.
    Einführung Wahn (Paranoia): Fast alle Menschen sind wahnfähig, d.h. wir alle können im Prinzip - meist vorübergehend - verrückt werden. Ein  einfacher und im Alltag häufig vorkommender Fall ist die Betrunkenheit. Man kann doppelt sehen, bildet sich alles mögliche ein und führt sich gelegentlich auf. Aber auch viele religiöse oder ideologische Vorstellungen sind psychologisch nichts anderes als Wahnformen, die oft nicht so gesehen werden, weil sie positiv erlebt und soziologisch-statistisch sehr verbreitet sind. Ein Wahn kann also auch sehr hilfreich, tröstlich und nützlich sein, wenn man sich etwa geliebt wähnt - obwohl es nicht so ist - , kann dies das Lebensgefühl sehr erhöhen und befriedigen.
        Eine seelisch-geistige Störung, wie z.B. ein Wahn, kann viele Ursachen, Bedingungen und Auslöser haben:

    • angeborene, genetische Anlagen ("Dispositionen").
    • lebensgeschichtlich erworbene Bereitschaften  (z.B. frühzeitig  abgelehnt, ausgegrenzt, wenig geliebt als Kind)
    • viele  Wunschversagungen, Frustrationen, Enttäuschungen, Misserfolgserfahrungen
    • Entwicklung von Persönlichkeitsfaktoren (Misstrauen, Argwohn, Verschlossenheit, Rückzug, Drehung um sich selbst: Eigenwelt, Eigenbezug: vieles ungeprüft auf sich beziehen; hohe Ansprüche und Erwartungen, an sich selbst, an andere und das Leben; Schlaraffenlandillusionen; starker Ehrgeiz, der nicht entsprechend befriedigt werden kann; nicht genügend gut ausgebildete Abwehr-, Verteidigungs- und Selbstbehauptungskräfte; unrealistische oder unangemessene Einstellungen zu den eigenen Möglichkeiten und Notwendigkeiten in dieser Welt, Realität und Gegenwart; mangelnde Selbst- und Realitätskritik.
        Doch kann man einen - auch gesunden - Menschen in den Wahnsinn treiben?  Eine einfache, motivationspsychologische Zugangsformel zum Wahn, ist: Eine streckenweise unerträgliche Welt wird mit Hilfe einer Wahnbildung in eine erträglichere verwandelt. Zwischen Irrtum, Täuschung, Wissen, Überzeugung, argwöhnen, wähnen und voll ausgebildetem Wahn gibt es zahlreiche Grauzonen und Übergänge.
        Einen lebensgeschichtlich erworbenen paranoiden Kern bringt der Rittmeister nach Strindberg dadurch mit, dass er meint, er sei von seinen Eltern nicht gewollt und von seiner Mutter, die ihn fast zum Krüppel gemacht haben soll, nicht geliebt worden (Diese Welt, meine Nächsten wollen mich nicht).
        Die Liebeserfahrung durch seine Frau wird durch die Geburt des Kindes Bertha jäh unterbrochen und die auch mütterliche Liebeszuwendung Lauras ihrem Mann gegenüber bekommt nun Bertha. Er verliert Aufmerksamkeit und Zuwendung.
        In einem fieberfreien Intervall einer unklaren Erkrankung (Phantasie: Geschlechtskrankheit?) bekommt er nach zwei Jahren Ehe mit, dass seine Frau durch einen Rechtsanwalt erfährt, dass sie, um erbberechtigt zu sein, (wenigstens) ein Kind haben muss. Genau das bekommt "sie" dann auch: ein Kind als Erbberechtigung.
        Im dem "Weiber-Narrenhaus" fühlt er sich ständig in seiner Autorität, Macht und Stellung bedroht. Wie in einem Tigerkäfig meint er das glühende Eisen bemühen zu müssen. Seine frauenfeindliche Einstellung wird durch die 20 Jahre "Weiber-Narrenhaus" gefestigt und genährt. Er flüchtet in die Wissenschaft und macht hier eine bedeutsame Entdeckung, von der er meint, dass sie ihm seine Frau nicht gönnt (ob zu Recht oder zu Unrecht bleibt im Text offen) .
        Als Bertha um die 17 ist, stellt sich die Frage nach ihrer Zukunft. In diesen zugespitzten Konflikt hinein springt das Stück. Es stellt sich heraus, dass die Ehegattin seit zwei Monaten seine Post abfängt, und seine Umgebung gezielt mit Informationen, (Denunziationen), er sei wahnsinnig, versorgt. In dieser gereizten Atmosphäre nutzt sie eine vom Rittmeister aufgebrachte - vom Soldaten Nöjd übernommene - Idee, dass ein Vater nie sicher sein könne, der Vater seines Kindes zu sein und streut gezielt Unsicherheit darüber. Scharfsinnig argumentiert sie, wie kann ein Vater, der gar nicht sicher sein kann, der Vater seines Kindes zu sein, Rechte geltend machen? So deutet das Theater an der Ruhr treffend: "In seinen Vorstellungen entwirft der Rittmeister seinen eigenen Untergang. Der einmal erhobene Verdacht wird zum Fluch."
        Der neue Doktor - er zeigt sich als eine willfährige "Pfeife" auf dem Gebiet der Psychiatrie - hilft zusätzlich mit der suggestiv eingebrachten Information mit, dass ein geisteskranker - und damit entmündigbarer - Vater alle seine Rechte verliert. Entrückte Realitätsferne, mangelnde Selbstkritik, Erschütterung ob seiner Machtkampfschwäche unter dem Eindruck der ungeheuren Skrupellosigkeit Lauras führen ihn tatsächlich in geistige Umnachtung und in den Wahnsinn, worüber ihn ein Schlaganfall dahinrafft.

    Überheblich-entwertende Haltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht
    Nimmt man hinzu, dass er sein Haus als "Narrenhaus" bezeichnet, in dem er alle Frauen unter diesem, "seinem" Dach so erlebt, dass sie alle versuchen, die Tochter Bertha gegen seinen Willen und unterschiedlichst zu beeinflussen, neben der Aussage (S. 9): "Es ist wie in einem Tigerkäfig: hielte ich ihnen nicht mein glühendes Eisen unter die Nase, so würden sie mich bei der ersten Gelegenheit zerreißen.", dann kann man als paranoides Grundthema mühelos erkennen: alle sind gegen mich. Sein Frauentrauma zieht sich sozusagen von Geburt an durch sein Leben. Das ist der Nährboden, auf dem der manifeste Ausbruch der Paranoidisierung durch Laura gelingt.

    Die Fehlhaltung: Das Kind als Ware und Besitz
    Der Rittmeister will die Zukunft seiner Tochter bestimmen, ja mehr als das, er will ihre Seele, ihr Wesen durch sein eigenes Wesen prägen:
     
    RITTMEISTER. ... Aber du sollst mich nur lieben! Du sollst nur eine Seele haben, sonst bekommst du niemals Frieden und ich auch nicht. Du sollst nur einen Gedanken haben, der das Kind meines Gedankens ist; du sollst nur einen Willen haben, den meinen!
    BERTHA. Das will ich nicht. Ich will ich selbst sein.

    Er ignoriert die Wünsche und Neigungen seiner Tochter genauso, wie die seiner Frau und beruft sich auf das Ehe- und Familienrecht der damaligen Zeit. Er propagiert den Alltagsfaschismus, der in so vielen Köpfen und Seelen steckt - und der sich auch heute noch tagtäglich tausendfach bei den Menschen und im Weltgeschehen beobachten lässt: Der Große und Starke frißt den Kleinen und Schwachen, wer die Macht hat und gewinnt, bestimmt was Recht ist. Mit dieser grundfaschistischen Haltung liefert er sich seiner Frau, die die weitaus bessere und skrupellosere Beziehungskämpferin ist, nicht nur aus, sondern legitimiert ihr bösartiges Verhalten auch noch durch seine persönliche sozialdarwinistische Macht-Rechts-Ideologie wie sie Hitler, Mussolini, Franco oder Pinochet im Großen vertreten haben. Auch sein intellektueller Überheblichkeitsdünkel erweist sich als falsch, so erkennt und schreibt das Theater an der Ruhr sehr trefflich: "In seinen Vorstellungen entwirft der Rittmeister seinen eigenen Untergang. Der einmal erhobene Verdacht wird zum Fluch."
     

    Zur Psychologie und Psychopathologie Lauras
        Der PASTOR, Lauras Bruder charakterisiert den Willen seiner Schwester so (S. 10): "Als sie noch Kind war, pflegte sie sich, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, totzustellen, und wenn sie das bekommen hatte, was sie wollte, so gab sie es wieder zurück und erklärte, es sei ihr nicht darum zu tun gewesen, sondern nur darum, ihren Willen durchzusetzen." Das kann man als ein Symptom sehen, eine Art verselbstständigtes Dominanzstreben, sich durchsetzen, um der Durchsetzung willen, aber ein Symptom allein macht hier noch keine Störung oder psychische Krankheit.
        Lauras Persönlichkeit wird von Strindberg völlig skrupel- und gewissenlos in ihrer Willensdurchsetzung geschildert, die lügt, agiert (Post abfängt) intrigiert und denunziert, um die Erziehungs-Macht über die Tochter Bertha zu behalten. Sie schreckt nicht davor zurück, ihren Mann zu entmündigen, indem sie mit allen Mitteln versucht, ihn als wahnsinnig erscheinen und entmündigen zu lassen. Als er schließlich am Ende in der Zwangsjacke steckt, in die ihn sogar seine alte Amme lockt, rettet ihn ein Schlaganfall vor weiter Demütigung und Entehrung in den Tod. Ist Laura, die Mutterdomina, ein Fall?
        Sie erkennt und benennt den gnadenlosen Machtkampf auf Leben und Tod und sagt am Schluss: "... vor Gott und meinem Gewissen fühle ich mich unschuldig, auch wenn ich es nicht bin." Ihr fehlt hier das Gewissen und ein Schuldgefühl, sie scheint keinerlei Mitgefühl oder Mitleid mit ihrem Mann zu verspüren. Er hat sich zu ihrem Todfeind gemacht, wenn er ihr die gemeinsame Tochter aus ihrem Einflussbereich entziehen will, und darf daher mit allen Mitteln bekämpft und auch physisch vernichtet werden.
     

    Kann Laura als "Borderlinerin" eingeschätzt  werden ?

    Von den 9 Borderline-Kriterien - wovon zur Diagnose mindestens 5 vorliegen müssen - erfüllt Laura bestenfalls Nr. 1, die Angst, von ihrer Tochter "zwangsverlassen" zu werden, falls sich ihr Mann, der Rittmeister durchsetzen könnte.
     
    DSM-IV Borderline-Kriterien An Laura aufzeigbar?
     "(1)  verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.  Jein, teils, was ihre Tochter Bertha betrifft. Aber sie ist nicht verzweifelt.
    (2)  Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.  Nein.
    (3)  Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.  Nein.
    (4)  Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmißbrauch, rücksichtsloses Fahren, "Fressanfälle") Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.  Nein, nur Geldausgeben, was aber nicht ihres ist.
    (5)  Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.  Nein
    (6)  Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). Nein, sie ist sehr kühl, berechnend und kontrolliert.
    (7)  Chronische Gefühle von Leere.  Nein.
    (8)  Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).  Nein, sie realisiert ihre Wut sehr kontrolliert.
    (9)  Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome."  Nein.

    Ist Laura eine dissoziale Persönlichkeit nach ICD-10 F60.2 ?
    Zum Vergleich auch eine Bewertung des Vaters.

    Bemerkung: Im "blauen" Buch der ICD-Diagnostik finden sich 7 Kriterien, wobei offen bleibt, wie viele hiervon erfüllt sein müssen. Im "grünen" ICD-Buch der Forschungkriterien (1994, S. 153f) sind es 6 Kriterien (1-6), wovon mindestens drei erfüllt sein müssen, was hier für Laura zutrifft - im Kontext betrachtet aber nicht unverständlich: denn wenn Recht Unrecht ist, wird ein vitaler und selbstbewusster Mensch andere Wege suchen müssen.
     
    ICD-10 Kriterien (1992, S. 214) Laura (4) Vater (3)
    1.  Dickfelliges Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer und Mangel an Empathie. Ja (1) Ja (1)
    2.  Deutliche und andauernde Verantwortungslosigkeit und Mißachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen. Ja (1) Jein (0.5)
    3.  Unvermögen zur Beibehaltung längerfristiger Beziehungen. Nein (0) Nein (0)
    4.  Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten. Nein (0) Nein (0)
    5.  Unfähigkeit zum Erleben von Schuldbewußtsein und zum Lernen aus Erfahrung, besonders aus Bestrafung. Ja (1) Jein (0.5)
    6.  Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das eigene Verhalten anzubieten, durch das die Person in einen Konflikt mit der Gesellschaft gerät. Ja (1) Jein (0.5)
    7.  Andauernde Reizbarkeit. Nein (0) Jein (0.5)

    Rekonstruktion der Ehebeziehungsproblematik aus dem Werk
    Aus dem Werk ergibt sich - nicht sehr überzeugend - , dass ein Soldat und Rittmeister, der sich selbst in Folge seiner Aufwuchsbedingungen als willenlos beschreibt, auf eine besonders willensstarke und selbstbewusste Frau trifft, die keinerlei Skrupel hat, wenn es um "ihr" Kind geht, zur Verbrecherin zu werden (S. 32 RITTMEISTER. Was soll das nützen, da du früher selbst gesagt hast, eine Mutter kann und muß für ihr Kind jedes Verbrechen begehen?).
     
    RITTMEISTER. Ja, so war es wohl. Vater und Mutter wollten mich nicht haben, und deshalb wurde ich ohne Willen geboren. Es schien mir daher, daß mir etwas zuwuchs, als ich und du eins wurden, und darum durftest du herrschen. Ich, der in der Kaserne und vor der Truppe der Befehlende war, ich war bei dir der Gehorchende, und ich wuchs an dir, ich sah zu dir auf wie zu einem höher begabten Wesen. Und ich hörte auf dich, als wäre ich dein unverständiges Kind. 

    Irritationen Lauras, weil sie fühlt, ihn nicht nur als Frau, sondern auch als Mutterersatz lieben zu sollen.
     
    LAURA. Ja, so war es damals, und deshalb liebte ich dich, als wärst du mein Kind. Aber weißt du — du sahst es ja doch —, jedesmal, wenn deine Gefühle ihre Natur änderten und du als mein Geliebter vor mir standest, da schämte ich mich, und deine Umarmung war mir eine Freude, der Gewissensbisse folgten, als ob das Blut Scham fühlte. Die Mutter wurde Geliebte. Hu! (S. 32f)

    Hier werden von Laura nicht einfach zu verstehende inzestuös anmutende Schamgefühle berichtet, die eine zusätzliche und schwierige Komplikation in der Mann-Frau Beziehung der beiden bedeuten.

    Laura fühlt sich von Anfang allen Männern überlegen
     
    (S. 22: LAURA. Ja. Es ist sonderbar, aber ich habe nie einen Mann ansehen können, ohne mich ihm überlegen zu fühlen.) 

    Oberhand-Theater (S. 33)
     
    LAURA. Ja, aber darin lag der Irrtum, siehst du. Die Mutter war dein Freund, aber das Weib war dein Feind, und die Liebe zwischen den Geschlechtern ist Kampf. Glaub ja nicht, daß ich mich hingab; ich gab nicht, sondern ich nahm — was ich haben wollte. Aber du hattest die Oberhand, das fühlte ich, und ich wollte, daß du es fühlen solltest.

    Die schöne Zeit des Anfangs und der Jugend und die Macht des Schicksals (S. 45)
     
    RITTMEISTER. ... Laura, als du jung warst und wir im Birkenwäldchen spazierten, wo die Primeln blühten und die Drosseln sangen! Herrlich, herrlich! Denk nur, wie schön das Leben war und wie es jetzt geworden ist! Du wolltest nicht, daß es so werde, und ich wollte es nicht, und doch wurde es so. Wer lenkt also das Leben? ...

    Gesamtbild der Eheentwicklung nach dem Werk: Ein zumindest in Beziehungen willensschwacher Mann, der sich von Mutter und Vater nicht gewollt sieht, trifft auf eine extrem willensstarke, scharfsinnige und selbstbewusste Frau, in der er auch noch mangels früher Erfahrung die mütterliche Liebe nachzuerleben sucht, was bei ihr auf inzestuös erlebte Irritationen stößt. Aber sie fühlt sich dem männlichen Geschlecht von Anfang an überlegen, wog ihn aber in dem Glauben, die Oberhand zu haben. Er wurde in erster Linie als Versorger (auch für Anverwandte) und Statusgeber gebraucht. Als die Verliebtheit vorbei ist, erkrankt der Rittmeister schwer. Warum es in der ersten Zeit zu keiner Schwangerschaft kam, bleibt offen und der Phantasie der LeserIn (ZuschauerIn) überlassen. Mehrdeutig sagt der Rittmeister (S.32): "Wir waren zwei Jahre verheiratet und hatten kein Kind. Warum, das weißt du am besten." In einer fieberfreien Phase bekommt er mit, wie seine Frau von einem Rechtsanwalt informiert wird, dass sie ihn nur beerben kann, wenn sie ein Kind haben. Ein Jahr darauf wird Bertha geboren. Durch die Geburt Berthas verliert er viel Zuwendung, vor allem die mütterliche, und seine Frau konzentriert sich auf das Kind. Dadurch fehlt dem Rittmeister Aufmerksamkeit und Zuwendung und er sucht sich Alternativen, die er in der Wissenschaft findet. So driftet die Beziehung immer mehr auseinander, die einstige Liebe verschwindet, Geld und kaufen, besitzen, Macht und bestimmen werden immer wichtiger. Die Stellung des Rittmeisters in der Frauengroßfamilie wird immer schwieriger.
        In dem ("Narren-") Haus des Rittmeisters leben viele Frauen, die alle auf Berthas Entwicklung Einfluss nehmen wollen und gegen ihn zusammenhalten. Hier setzt Strindbergs Stücks ein mit der zentralen Frage: wer bestimmt die Zukunft des Kindes?
        Der Rittmeister erlebt seine Frau als überaus mächtig, die ihren Willen - sogar hypnotische Kräften dichtet er ihr an - durchzusetzen weiß. Er erweist sich als vollkommen unfähig, Frau und Kind als eigenständige und gleichberechtigte Wesen wahrzunehmen und pocht in typisch juristischer Manier auf sein patriarchalisches (Un-) Recht. Und er täuscht sich gründlich über die wirklichen Fähigkeiten seiner Frau, obwohl er weiß, wie sie denkt und sogar offen sagt (S. 32): eine Mutter kann und muß für ihr Kind jedes Verbrechen begehen. Er unterschätzt ihren Scharfsinn, ihre Manipulationskraft und Entschlossenheit sträflich. So besiegt sie den Soldaten und Repräsentanten der Vernunft souverän. Und so gewinnt sie den Kampf ums Kind, indem sie Bertha dem Vater nicht nur wegnimmt, sondern Berthas positive Erfahrungen auch noch entwertet.



    Literatur (Auswahl) > Literaturliste Thema Vater.


     

    • Strindberg, August (dt. 1960). Der Vater. In: Dramen, neu übertragen von Willi Reich. Reinbek: Rowohlt (Klassiker).
    • Theater an der Ruhr (2007/08). August Strindberg: Der Vater. Heft 54. Mülheim a.d. Ruhr.
    • Schütze, Peter (1990). August Strindberg. Reinbek: Rowohlt.
    • Nesemann, Urte (2003). Die schwedische Familiengesetzgebung von 1734 bis zu den Reformgesetzen von 1915 bis 1920 und deren Einfluss auf die Gesetzgebungsprojekte der Weimarer Republik. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsstellung der Frau und des unehelichen Kindes. Frankfurt: Lang.



    Links (Auswahl: beachte)

    Allgemeine Theater-Links:
        Veränderte URLs ohne Weiterleitung wurden entlinkt.

    • Die Deutsche Bühne * Perlentaucher. * Theater Heute * Theater-Index. * Theaterkritik (Kultur Online). * Theaterlexikon: [PDF] * Theater Online , DU, (Links). * Theater-Paradies-Deutschland. * ZDF-Theaterkanal. * SR-Online. * Berliner Schauspielschule Theaterkritiken: Online.* 3sat Theater. * Dramaturgie: [W] * Theaterstück [W.Drama]


    Zu Der Vater von August Strindberg

    • Theater an der Ruhr (Mülheim).
    • vaternotruf  zur Inszenierung im Münchner Residenztheater.


    August Strindberg [Porträts: 1, 2, 3, 4, 5, 6, ]

    • August Strindberg, Kurzbiographie im Gutenbergprojekt [Online]
    • Zeno.org August Strindberg Biographie.
    • W.de.
    • Bilder von August Strindberg: [1,2,]


    IP-GIPT-Links zum Thema rund um das Stück Der Vater

    • Überblick: Zwischenmenschliche Beziehungen, Liebe, Sex, Sexuelle Abweichungen und Störungen ...
      • Liebes- und Partnerschaftskonzept. * Materialien zur Liebe * Liebestest. *
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    • Information und Übersicht Forensische Psychologie, Psychopathologie und Therapie.
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      • Glossar Bindungsbeziehungen.
      • Bindungspathologien und Bindungs-Paradoxa.
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    • Überblick: Modelle, Theorien und Therapien des Wahns.
    • Kritisches zur Borderline Persönlichkeitsstörung. * PS schon bei Kindern? *
    • Unterscheiden, auswählen, wählen, auserwählt im Alltag und gesellschaftlichen Leben: Die normal-psychologischen und natürlichen Grundlagen des Faschismus.




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    ___
    GIPT = General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Eindrücke. Meine "Eindrücke" von Theateraufführungen sind zwar an manchen Stellen gelegentlich kritisch, sind aber nicht als traditionelle Theaterkritiken misszuverstehen. Hierzu bin ich gar nicht ausgebildet und habe auch zu wenig Theaterkenntnis und -erfahrung. Ich kann also die vielfältige Leistung von Dramaturgie, Regie, Musik, Bühnentechnik und Darstellung, besonders der SchauspielerInnen gar nicht angemessen bewerten. Und deshalb möchte ich mich auch mit Eindrücken begnügen. Ich verlange vom Theater nicht mehr, als dass es Interesse weckt, berührt und zur Auseinandersetzung mit der Aufführung und dem ihm zugrundliegenden Stück anregt.
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    einige. Genau betrachtet wäre auch eine Einteilung in 25 oder 30, zusammenfassend von vielleicht auch nur 10 Szenen möglich gewesen. Wir glauben aber, dass durch meine Wahl dieser 19 Szenen Gang und Dramatik der wesentlichen Handlung angemessen widergespiegelt wird.
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    Konfirmationsalter.  Das kann ca. zwischen 14 und 18 sein. Aus dem Text geht hervor, dass die Eheleute ca. 20 Jahre verheiratet sind und Bertha im 3. Ehejahr gezeugt wurde. So gesehen dürfte Bertha um 17 sein. Das ist insofern wichtig, weil das ein Alter ist, für das die väterlichen Überlegungen, was aus ihr werden, ob sie z.B. studieren soll, Sinn machen.
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    Kuckuckskinderproblem. [W] Mit diesem Namen werden Kinder bezeichnet, die Mütter vermeintlichen Vätern, die nicht die biologischen Väter sind, unterschieben. Die Vaterschaftsfeststellungsmethoden [W] haben sich gegenüber Strindbergs Zeit erheblich verbessert. Das Kuckuckskinderproblem hat sich aber erst in den letzten Jahren stark zugespitzt. Inzwischen hat sich aber auch eine rechtliche Klärung für eine Vaterschaftsüberprüfung ergeben.
    ___
    nicht einfach zu verstehende inzestuös anmutende Schamgefühle. Laura muss spüren, dass er in ihr - auch - die Mutter sucht. Sie muss sich auch als solche fühlen, um Inzestscham zu verspüren. Das ist insofern nicht leicht nachvollziehbar, weil sie - nach Strindbergs Darstellung - ja überhaupt kaum ein Gewissen zu haben scheint. Sinn macht, dass sie sich unwohl fühlt, ihm - auch - mütterliche Liebe geben zu sollen. Es passt nicht so recht zur Lieben zwischen Mann und Frau, und auch nicht zu einem Patriarchen, dass der plötzlich in die Kinderrolle schlüpft. Etwas herb gedeutet: sie willen einen Mann im Bett und kein Kind, das kuscheln will.
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    Nietzsche. Nach dem Biographen Peter Schütze (S. 144) wurde Strindberg erst nach der Aufführung des Vaters in Kopenhagen 1887 durch Georg Brandes bekannt gemacht.
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    Omphale. [W] Hier eine Metapher für die Verkehrung der Geschlechterrollen ("Mannweib", "Fraumann"). Der Vergleich hinkt aber, weil hier zwei dominanz-beanspruchende Charaktere aufeinanderstoßen, wenn es auch Textstellen gibt, die auf eine Abhängigkeitsbeziehung in der Anfangszeit hindeuten (S. 32). Der Rittmeister ist in der aktuellen Schilderung kein Pantoffelheld und keine Mannfrau, sonst hätte er von Anfang an nachgegeben und nicht auf seinem (Un-) "Recht" beharrt. Ein Mann, der sich seiner Frau gegenüber nicht durchsetzen kann, ist nicht schon deshalb kein oder weniger Mann, sondern womöglich lediglich auf eine starke Frau gestoßen. Zum Hintergrund der vom Rittmeister und damit von Strindberg falsch angewandten Metapher aus dem Lexikon der Antike:
        "Omphale, lat. Omphale, in der griech. Sage Königin von Lydien, kaufte Herakles als Sklaven und ließ ihn auch Frauenarbeit tun. In dem Liebesbund beider herrschte sie über Herakles als den Pantoffelhelden und tauschte mit ihm die Kleider. Der Rollentausch weist auf mutterrechtl. Spuren. Der Name der O. wurde sprichwörtlich beim Hörigkeitsverhältnis eines Mannes gegenüber einer Frau. – Kunst (Gemälde von L. Cranach, Tintoretto, Rubens), Oper (Telemann) und Dichtung (P. Hacks) nahmen sich des Stoffes an."
        Quelle: https://www.digitale-bibliothek.de/band18.htm[Lexikon der Antike: Omphale. Lexikon der Antike, S. 4046 (vgl. LdA, S. 412)]
    ___
    paranoider Projektionsmechanismus. Hier wird einfach dem Gegenüber unterstellt, was man selbst möchte oder tut. In der Paranoia weiß der Paranoide nicht, dass er das tut. Er spürt nicht seine Aggression und Destruktivität, er projiziert sie nach außen und nimmt sie bei anderen wahr. Nicht Ich hasse dich wird wahrgenommen, sondern Du hasst mich, wird erlebt. Die "Normalausgabe" des paranoiden Projektionsmechanismus ist die falsche Beschuldigung, die Lüge, Intrige und Denunziation. Hier weiß der Betreffende gewöhnlich, was er tut. Und so verhält es sich auch hier mit Laura. Sie weiß, was sie tut, sie ist nicht verrückt, nur völlig skrupellos und amoralisch, wenn sie z.B. ihre Verschwendungsneigung ihrem Mann zuweist, wenn sie ihren Anteil an der Entwicklung der Vaterschaftszweifel ausspart, wenn sie die eigene Willensdurchsetzung aus Prinzip ihrem Mann unterschiebt.
    ___
    Quelle: S. 32 Rittmeister, Laura zitierend: eine Mutter kann und muß für ihr Kind jedes Verbrechen begehen. Laura (S. 33): "...  und die Liebe zwischen den Geschlechtern ist Kampf. ... Laura (S. 34): Und der Stärkere hat recht? Rittmeister: Immer, da er die Macht hat"
    ___
    Strindberg Theaterbiographie im dtv-Theaterlexikon. [Quelle Digitale Bibliothek Bd. 64]
    " ... 1907 eröffneten August Falck und Strindberg in Stockholm das Intime Theater (Vorbild waren die im Jahr zuvor eröffneten Kammerspiele Max Reinhardts in Berlin), das bereits nach drei Jahren mit großen finanziellen Einbußen wieder schließen mußte. »Als Ibsen durch seine naturalistischen Liebes- und Ehedramen schon zu Weltruhm gelangt war, erneuerte er (Strindberg, Anm. d. Red.) mit seiner traumspielhaften Nach-Inferno-Dramatik das moderne Drama radikal. Radikaler als Ibsen. Seine Traumspieltechnik beeinflußte entscheidend das symbolistische, im gewissen Sinne auch das expressionistische Drama. Auch in der jüngeren Schriftstellergeneration bis zu den Absurden hat sie Folgen gezeitigt. Die Auflösung des Ich-Begriffs, die Doppeldeutigkeit, die Spaltung der Persönlichkeit, die Traumübergänge, das Unabgeschlossene, das Fixieren der Dämonie des Daseins und die Sprengung der Raum- und Zeitbegriffe – das alles wurde bahnbrechend für das moderne Theater.« (Gunnar Ollén: August Strindberg. Velber 1975)  ... "
    ___
    Werkorientierte Interpretation ist eine natürliche Idee, die sich viele KünstlerInnen auch wünschen, woran sich aber viele InterpretInnen nicht halten. Bei der werkorientierten Interpretation wird bewusst auf Rückgriffe auf andere Werke und die Biographie der KünstlerIn verzichtet.
        Jede Kritik ist eine Bewertung und verlangt daher, streng betrachtet, ein Bewertungsverfahren, das im allgemeinen aber unbekannt ist. So haftet der Kritik nicht selten etwas Willkürlich-Zufälliges und Subjektiv-Persönliches an. Daher besteht seit jeher ein spannungsvolles Verhältnis zwischen KünstlerIn und KritikerIn. Häufig spielen auch ganz profane - wenn auch selten zugegebene - Fragen eine Rolle: wie viel Platz steht für die Kritik zur Verfügung, wie schnell muss sie geschrieben sein, wie hoch ist das Honorar, was erwartet der Finanzier, die Redaktion, die LeserIn? Ist die KünstlerIn berühmt, hat sie Einfluss? Versteht, schätzt oder mag man sie?
        Die von mir bevorzugten 4 Grundsätze und Regeln werkorientierter Interpretation sind: (1) Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit- und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung. (2) Leitmotive und Hauptthemen des Werkes. (3) Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Erwähnen und weg lassen, Dramaturgie und Spannung. (4) Besondere Analyse spezieller Themen. (5) Werkorientierte Wirkung und Interpretation der LeserInnen (Hierzu bringt W ein interessantes Zitat von Marcel Proust: "„In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit eben dieses Buches und umgekehrt.“  – Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit".)
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    Querverweise
    Standort: Der Vater von August Strindberg.
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    Überblick Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst in der IP-GIPT: Theater.
    Literatur- und Link- Liste zu den Seiten: Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst.
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    z.B. Theater site:www.sgipt.org. 
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Der Vater von August Strindberg, Gastspiel des Theaters an der Ruhr (Mülheim) im Markgrafentheater Erlangen. Aus unserer Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/kunst/theater/VaterAS.htm
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    korrigiert: irs 02.05.09



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    01.04.15    Linkfehler geprüft und korrigiert.
    02.05.09    Ergänzungen zu  Rekonstruktion der Ehebeziehungsproblematik aus dem Werk und Rekonstruktion der Wahnentwicklung des Rittmeisters aus dem Werk.
    01.05.09    Nachträge zur Psychologie und Psychopathologie des Rittmeisters (Untersuchung auf Dependenz; Elternliebe).