Das soziale Gehirn
Neurowissenschaft und menschliche Bindung
Symposium turmdersinne
2014
26.-28. September Stadthalle Fürth
Eindrücke von Rudolf Sponsel, Erlangen
Info Veranstalter: "Der Mensch lebt nicht
allein. Er ist ein soziales Wesen. Unsere Antriebe, Bedürfnisse und
Fähigkeiten ermöglichen das Leben in Gemeinschaft nicht nur –
sie setzen es voraus. Ohne frühkindliche Bindungserfahrung, ohne ein
funktionierendes soziales Umfeld verkümmern Einfühlungsvermögen,
Lernfähigkeit und Selbstwertgefühl.
All unser Fühlen und Denken, Wahrnehmen und
Tun hat Grundlagen im Gehirn. "Spiegelneuronen" sprechen an, wenn wir Mitmenschen
beobachten und ihre Handlungen deuten. Intuition und Empathie beruhen auf
erforschbaren physiologischen Prozessen. Das Gehirn ist ein Beziehungsorgan.
Auf diesem Symposium kommen evolutionäre Voraussetzungen,
neuronale Mechanismen, psychologische Befunde und ethische Folgerungen
unseres Sozialverhaltens zur Sprache. Erkunden Sie die Ergebnisse der Forschung
auf dem Weg vom Ich zum Wir – nehmen Sie teil und diskutieren Sie mit!"
Zum Überblick der Vorträge
siehe Homepage
Turmdersinne.
Einige Eindrücke
Das Thema lautete vielversprechend, denn die beiden Vorträge am Eröffnungsabend
am Freitag waren dem Verstehen gewidmet, was bei mir große Erwartungen
weckte. Obwohl das Thema für PsychologInnen, PsychotherapeutInnen
und ÄrztInnen für ihre praktische Arbeit so grundlegend wichtig
ist, wurde der Eröffnungsabend von der bayerischen Ärztekammer
in völliger Verkennung der Bedeutung des Themas mit 0 Fortbildungspunkten
bewertet, worüber sich viele TeilnehmerInnen zu Recht empörten
(> Protestbriefe
Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf Sponsel).
Leider waren die beiden Vorträge am Freitagabend
zu dem an Bedeutung kaum zu überbietenden Thema Verstehen,
letztlich eine Enttäuschung. Der Philosoph Newen erfreute zwar durch
seine Bereitschaft, die Philosophie an die Forschungen und Ergebnisse der
empirischen Wissenschaften anzuknüpfen, die Grundübung aller
empirisch orientierten Philosophie blieb er aber schuldig: die Klärung
des Begriffes Verstehen [Zusammenfassung].
Stattdessen stieg er gleich in die zwar interessanten Strategien des Verstehens
ein, was aber keinen Sinn macht, wenn nicht eine entsprechende gründliche
begriffliche Klärung vorausgeht. Denn:
Wie kann man feststellen und ermitteln, welchen
Begriff
ein Kommunikator mit der bildlichen oder lautlichen Ausdruckshülle
eines Wortes- oder allgemein Ausdrucks - verbindet? Das Problem hat in
allen Wissenschaften und Anwendungspraxen, die mit Erleben und Verhalten
zu tun haben, eine kaum zu überschätzende Bedeutung.
Aus dieser Fragestellung ergibt sich sofort die
nächste und noch grundlegendere Frage: was können oder sollen
wir unter einem
Begriff verstehen? Eine Idee, eine Vorstellung,
ein kognitives Schema, eine mehr oder minder deutliche Merkmalskombination
in dieser oder jener Kommunikationssituation? Auf den ersten Blick scheint
intuitiv klar, was wir unter einem Begriff verstehen können, etwa
dadurch, dass wir Beispiele und Gegenbeispiele für Begriffe angeben
können, z.B. Baum, Anfang, und, .... Tatsächlich geben wir beim
Kommunizieren aber
nur Worte an. Worte sind aber nur die
"Kleider" der Begriffe. Sie repräsentieren oder bezeichnen
einen Begriff, aber welchen nun genau? Man könnte auch sagen, mit
Worten
rufen wir in unserem Geist, in unserem Gedächtnis, in unserer Erfahrung
Begriffe auf. Aber welche? Wie geschieht das? Wie können wir prüfen,
welcher Begriff sich bei diesem oder jenem Menschen, in dieser oder jener
Situation, mit diesem oder jenem Wort verbindet? Fragen wir nach und ausführlicher,
erhalten wir als Antwort wiederum Worte, so dass sich ein sog. unendlicher
Regress, ein nicht endender Frage- und Wortkreislauf anbahnt. Aus empirisch-
operational- wissenschaftlicher Sicht sind daher vor allem solche Methoden
erwünscht, die nicht nur eine Prüfung gestatten, sondern auch
ein Ende haben. Beispiel: Es bestehe die Aufgabe darin, aus drei Gegenständen,
die blau, rot und gelb sind, einen auswählen. Aus der Wahl lässt
sich bei ehrlichen Probanden schließen, ob z.B. die Begriffe blau,
rot, gelb zur Verfügung stehen. Relativ einfach erscheinen hierbei
Begriffe, die Äußeres, Wahrnehmbares, Zeigbares betreffen. Sehr
viel schwieriger wird es, wenn die Begrifflichkeit von Innerem, Erleben,
Gefühlen oder Stimmungen, Wünschen, Bedürfnissen oder Zielen
zu überprüfen sind. In alltäglichen kommunikativen Situationen
begnügt man sich meist mit einem ungefähren Verständnis,
d.h. man prüft hier meist gar nicht, was gemeint ist, sondern nimmt
eine Bedeutung einfach an. In der Psychodiagnostik und Psychotherapie kann
dies sehr problematisch werden, weil man möglicherweise nur meint,
sich zu verstehen. Fragt man etwa:
Welche Gefühle kennen Sie?
und fragt nicht: Welche Gefühle kennen Sie vom eigenen Erleben
her? kann man Antworten bekommen, die nur den Wortschatz der Gefühle
einer Person repräsentieren, aber nicht das Erleben. Fühlprobleme
werden so vielleicht übersehen. Andererseits ist die Idee reizvoll,
dass die Alltagswelt vielleicht gerade deshalb praktisch funktioniert,
weil man sich mit dem Ungefähren begnügen kann. Man konnte an
dem Beispiel oben schön sehen, dass die Dinge vielleicht erst dann
richtig schwierig werden, wenn man sie genau und ausdrücklich zu erfassen
sucht. Vielfach gibt es keinerlei Probleme zu verstehen, was jemand meint,
auch wenn viele objekt- und metasprachliche Ebenen ineinander verschachtelt
sind. Erst wenn man genauer einzudringen versucht, stellt man fest, dass
es dann kompliziert und schwierig werden kann. Kaum ein des Rechnens mächtiger
Mensch hat ein Problem mit den natürlichen Zahlen, jeder weiß,
wie sie aufeinander folgen und wie man mit ihnen umgeht, zählt und
rechnet - bis man sich fragt: gibt es alle? Und was bedeutet hier
alle?
Und was heißt geben? Gibt es Dinge, die sich selbst enthalten?
Gibt es Unvollendbares als Vollendetes? Gibt es Teile eines Ganzen, die
genau so groß sind wie das Ganze? [Q]
Auch der zweite, neurowissenschaftlich orientierte
Vortrag von Prof. Kai Vogeley leistete zur neurobiologischen Fundierung
des Verstehens keinen wirklichen Beitrag. Ein neurobiologisches Verständnisparadigma
- was geschieht neurowissenschaftlich genau beim Verstehen? - wurde nicht
vorgestellt, wie man der [Zusammenfassung]
auch entnehmen kann.
Dafür versöhnte am Samstagvormittag der Vortrag von Manfred Spitzer [Zusammenfassung] [Vortrag-PDF] in vielerlei Hinsicht. Es wurde zwar nicht ganz klar, was es bedeuten soll, dass z.B. Vertrauensbildung eine neurobiologische Grundlage hat (wenn er auch sonst sehr klar und verständlich war und neueste Forschungsergebnisse - sogar aus August 2014 - referierte). Alles seelisch-geistige Geschehen ist schließlich bis zum Tod an biologische Prozesse gebunden, auch wenn man diese vielfach noch nicht (genau) kennt. Seine dem Publikum vielfach bekannten Kritiken fanden großen Beifall. Angesichts der Zu- und Missstände in der Welt - auch in der Wissenschaft und Forschung - ist mir seine positive Aussage und Wertung "Menschen sind besser als ihr Ruf" - aber nicht so recht nachvollziehbar. Was nutzen all die Möglichkeiten, die es positiv umzusetzen gälte, wenn sie nicht umgesetzt werden? Zwei praktische Vorschläge zur optimalen Erhaltung der Gehirnfunktionen, die er nannte waren: joggen und sich einen Enkel anschaffen, was beim Publikum großteils auf Verständnis und Zustimmung (in Form von Heiterkeit und Klatschen) stieß.
Der Vortrag Plastizität im sozialen Gehirn von Dr. Olga Klimecki beschäftigte sich mit den Trainingsmöglichkeiten von Emotionen [Zusammenfassung] und blieb leider grundlegende Antworten schuldig. Einmal die Struktur eines neuronalen Trainings von Emotionen, dann die Nachhaltigkeit des Lernens in solchen Trainings. Möglicherweise greift hier auch das Plastizitäts-Dilemma: was nicht ständig gebraucht und genutzt wird, bildet sich zurück, verkümmert möglicherweise. Vielleicht gilt hier aber auch, wie bei der Ersparnismethode durch erneutes Lernen gilt. (Reproduktions-, Wiedererkennens- Ersparnismethode; Ebbinghaus 1885, S. 51). Hier hätten nicht wenige TeilnehmerInnen mehr erwartet. So wurde in der Diskussion zu Recht gefragt, weshalb die umfangreichen Forschungen der klientzentrierten (Gesprächs-) Psychotherapie von Rogers und seiner Schule nicht aufgegriffen wurden.
Sehr interessant fand ich den Vortrag Soziale Entdecker in Windeln [Zusammenfassung] von Prof. Sabina Pauen, die die sich schon seit längerem abzeichnende Idee, dass kleine Kinder viel mehr können, als man über weite Strecken annahm, mit eindrucksvollen Befunden bestätigte. Ihr am Büchertisch ausgelegtes Büchlein Babys verstehen war denn auch kurz nach dem Vortrag bereits ausverkauft.
Der Vortrag von Prof. Sonja Entringer Fetale Programmierung [Zusammenfassung] zeigte, wie grundlegend wichtig - illustriert am Beispiel Stress - schon gute Bedingungen im Mutterleib sind. Ihr verdanken wir in der Diskussion den einzigen kritischen methodischen Hinweis dieser Veranstaltung, dass wir es mit Mittelwerten zu tun haben. Gut hätte an dieser Stelle noch der Hinweis gepasst, dass Mittelwerte ohne Angabe von Streuungen sehr wenig aussagen.
Auch der interessante und kritische Vortrag [Zusammenfassung] von Dr. Kirstin Volz zur Intuition brachte einige Begriffsverwirrungen ein, die der Erhellung des Forschungsgegenstandes nicht gerade dienlich sind. Empathie, Mitgefühl, Mitleid hätten eine begriffliche Vorklärung gebraucht. Für mein Verständnis beschreiben die Begriffe Empathie und Mitgefühl Gefühlsklassen, hingegen Mitleid eine Spezifikation. Nicht jedes Mitgefühl ist Mitleid, aber jedes Mitleid oder jede Mitfreude ist Mitgefühl. Komplexe intuitive Entscheidungen wurden, wie so oft - besonders im Kontext freie Willensäußerungen - von NeurowissenschaftlerInnen, nur weil sie offenbar hauptsächlich nicht-bewusst ablaufen, in die Ecke der Irrationalität gestellt. Wo steht denn geschrieben, dass es keine nichtbewussten "rationalen" Entscheidungen geben soll? Wieso sollten "freie" Willensentscheidungen oder "rationale" Entscheidungen an Bewusstheit geknüpft sein?
Der Titel des Vortrags Gemeinsam sind wir stark von Prof. Dr. Günther Knoblich und Prof. Dr. Natalie Sebanz [Zusammenfassung] traf meine Erwartungen nach dem präsentierten Inhalt, überwiegend schwierige Kooperations- und Koordinationsleistungen zwischen Menschen (vierhändiges Gitarrenspiel) nicht so oder nur einen Aspekt. Hier sind ja vor allem die Grundfragen interessant: (1) wie geht kooperieren und koordinieren? (2) welche Leistungen werden dadurch möglich? (3) Neurobiologische Fundierung der Kooperation und Koordination. [Folien]
Großen Anklang für sein Wissen und Verständnis fand Prof. Reichholf mit seinem Vortrag Wie „gut“ sind Tiere? Soziale Kompetenzen und ihre Folgen im Tierverhalten [Zusammenfassung] obwohl er selbst über den - ihm offenbar vorgegebenen - Titel nicht ganz glücklich war. Ohne Zweifel verfügen Tiere auch über soziale Intelligenz und Gefühle.
Prof. Eckhart Voland wagte in seinem Vortrag Intelligenz – wozu eigentlich? Die biologische Evolution des sozialen Gehirns [Zusammenfassung] die kuriose These, ob Selbstbewusstsein nicht als ein - mehr oder minder zufälliges und im Grunde überflüssiges Produkt in der Evolution andere zu verstehen - gedacht werden kann. Damit macht er denselben Fehler wie die ganze Neurozunft schon bei der Deutung des Bewusstseins als sog. Epiphänomen. Wenn es nämlich ein Charakteristikum der Evolution ist, dass sie nichts Überflüssiges am Leben erhält, sollte sich doch aus diesem Prinzip sofort und unmittelbar ergeben, dass aus der bloßen "langen" Existenz von Bewusstsein und Selbstbewusstsein - nicht zu verwechseln mit Selbstwertbewusstsein oder Selbstwertgefühl - folgt, dass es nicht überflüssig sein kann, weil es da und nicht verschwunden ist. Auch seine rivalisierende Gegenüberstellung technischer und sozialer Intelligenz und die Präferierung sozialer erscheint vor der Geschichte der Intelligenzforschung sehr verkürzt und naiv.
Prof. Elisabeth André berichtete aus erster Hand zur Frage Lässt sich Empathie simulieren? Empathische Reaktionen und ihre Modellierung im Computer [Zusammenfassung]. Auch wenn so mancher von uns - vor allem wohl die PsychotherapeutInnen - es nicht so gern hören mochte, sei die Gretchenfrage gleich beantwortet: ja, es geht, und zwar schon mehr als nur grundsätzlich. [Folien]
Prof. Philipp Hübl hatte das Thema Empathie oder Gedankenlesen? Über die philosophischen Grundlagen unserer sozialen Intelligenz und er glich ein wenig aus, was am Eröffnungsabend nicht so überzeugend präsentiert wurde. Zwar traue ich auf dem Gebiet der begrifflichen Klärung den Philosophen dieser Veranstaltung mehr zu als sie zeigten, aber ich wünschte mir doch, dass sie es einmal so richtig und gründlich zeigten, um den NeurowissenschaftlerInnen aus ihrer grenzenlosen terminologischen Unbedarftheit herauszuhelfen. Die Geringschätzung der Spiegelneuronen für das Verständnis anderer konnte ich nicht so richtig nachvollziehen, wohl seine [Zusammenfassung]: "Im Vortrag wird die These vertreten, dass unsere soziale Intelligenz aus vielen Systemen besteht, die zusammenarbeiten: die Blickrichtung deuten, die Aufmerksamkeit teilen, Gefühle an Gesichtsausdruck und Stimmlage ablesen, Überzeugungen zuschreiben, Sprache interpretieren, Handlungen deuten. Einige davon sind stammesgeschichtlich alt und weitgehend automatisiert, andere kulturell erlernt und bewusst steuerbar."
Summa sumarum. Wie jedes Jahr eine anregende und
interessante Veranstaltung. Wieder sahen wir viele Bilder mit farblich
markierten Regionen, die im Allgemeinen Hirnregionen anzeigen, die aktiviert
sind, meist operationalisiert durch mit Sauerstoff angereichertem Blut.
Was das nun - genau - bedeutet und wie es zu interpretieren ist, blieb,
wie fast immer im Dunkeln. Auf methodische Probleme wurde - wie üblich
gar nicht oder nur sehr am Rande - eingegangen, etwa bei der Mittelwertbildung
in Gruppen, wo man gewöhnlich die Streuungen weglässt, so dass
man die Mittelwerte gar nicht mehr vernünftig interpretieren kann.
In der Praxis haben wir es aber nicht mit Stichproben, Populationen oder
abstrakten Gruppen, sondern mit Einzelfällen, Individuen, zu tun.
Immerhin Frau Entringer wies zumindest einmal darauf hin, dass wir es bei
den Ergebnissen mit Mittelwerten zu tun haben.
Beim Thema Bindung wäre es wichtig gewesen,
den Forschungsstand zur neurobiologischen Fundierung der grundlegenden
Bindungstypen (sichere
Bindung, unsicher-vermeidende,
ambivalent-unsichere,
desorganisierte)
vorzustellen. Dieses für die Entwicklungspsychologie und für
das
Kindeswohl (Familienrecht) so wichtige Thema ging völlig unter,
wurde nicht einmal erwähnt.
Die Dokumentation der Veranstaltung ist sehr gut
(Folien
der Vorträge, Audio, Video, Buch). Presseresonanz.
Auch das Thema des nächsten Symposiums Turmdersinne
2015
steht fest: Gehirne zwischen Liebe und Krieg
Menschlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften 9. bis 11.
Oktober 2015 Stadthalle Fürth.
Preisentwicklung Regulärer Gesamtpreis Fr-So: Diskrete Wachstumsrate 2003-2014= 6.92%
2014 | 167 | 2013 | 163 | 2012 | 148 | 2011 | 138 | 2010 | 114 | 2009 | 118 |
2008 | 98 | 2007 | 98 | 2006 | 98 | 2005 | 98 | 2004 | 90 | 2003 | 80 |
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