Die Funktionen des 'ist'
Auszüge aus Sprache
und Logik von Wolfgang
Stegmüller
ausgewählt und präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Stegmüller, Wolfgang (1956, 1969). Sprache und Logik. In: Der Phänomenalismus und seine Schwierigkeiten. Sprache und Logik, 66-100. Darmstadt: Wissenschaftliche-Buchgesellschaft. Erstmals veröffentlicht in: Studium Generale. 9. Jahrgang, 2. Heft, 1956 (s. 57—77).
"Vorbemerkungen {57} [66]
Von vielen Logikern der Gegenwart wird hervorgehoben, daß logisch- erkenntnistheoretische Untersuchungen nur dann zu klaren und präzisen Ergebnissen gelangen können, wenn der Gegenstand der Betrachtung selbst ein nach präzisen Regeln aufgebautes Sprachsystem ist. Die Alltagssprache erfüllt infolge der vielen in ihr vorkommenden Vagheiten nicht diese Bedingung. Sie ist daher nach dieser Anschauung zu ersetzen durch eine formalisierte Sprache oder durch eine Reihe von formalisierten Sprachen, die auf Grund von bestimmten, explizit formulierten Regeln aufgebaut wurde bzw. wurden. Wenn von den Vagheiten der Alltagssprache die Rede ist, dann denkt man wohl zunächst hauptsächlich an die sog. Äquivokationen, d. h. Mehrdeutigkeiten von Ausdrücken, wie z. B. des Ausdrucks "Star«, der eine Augenkrankheit, einen Vogel sowie eine Filmgröße bezeichnet. Derartige Mehrdeutigkeiten sind jedoch völlig trivial, da aus dem jeweiligen Kontext ohne Schwierigkeit zu ersehen ist, welche der verschiedenen Bedeutungen eines solchen Wortes gerade gemeint ist. Es wäre daher absurd, die Forderung nach einer präzisen logischen Sprache mit dem Hinweis auf äquivoke Ausdrücke wie »Star« zu motivieren. Nun gibt es allerdings noch andere Gründe dafür, logische Untersuchungen unter Verwendung von Symbolsprachen vorzunehmen. Als Hauptgrund wird die Übersichtlichkeit und Kürze der Darstellung angeführt. Genausowenig wie die Mathematik wesentliche Fortschritte gemacht hätte, wenn man ohne eigene mathematische Symbole hätte auskommen wollen, so könnte auch von der Logik nicht erwartet werden, zu bedeutenderen Resultaten zu gelangen, wenn man in ihr den Gebrauch einer symbolischen Darstellung verbieten wollte. ..."
1. Die Funktionen des 'ist'
Eines der wichtigsten Wörter unserer Sprache ist das Wort "ist". Es ist zugleich eines der philosophisch gefährlichsten. Der Grund dafür liegt darin, daß es einerseits eine Reihe von ganz verschiedenen Funktionen hat, andererseits aber den Anlaß für die Formulierung des ontologischen Grundproblems, des sog. Seinsproblems, bildete, wobei leider sehr häufig ein Übersehen dieser verschiedenen Funktionen das Denken auf Abwege führte. Betrachten wir die folgenden Fälle: Ein Theist sagt "Gott ist«, ein Geographielehrer äußert in seiner Unterrichts- {>58} Stunde den Satz "Managua ist die Hauptstadt von Nicaragua« und später auf eine Anfrage "Matagalpa ist eine Stadt«, der Naturgeschichtslehrer berichtet den Schülern "Der Wal ist ein Säugetier«, im elementaren Rechenunterricht kommt die Aussage vor "7+2 ist 9«, die stolze Mutter erzählt von ihrem Sohne "Heinz ist klug«, ein Vater bringt seinem Kinde neue Farbwörter bei und äußert im Rahmen seiner Belehrung bei gleichzeitiger Vornahme einer hinweisenden Gebärde "dies ist ocker«, im Rahmen einer Diskussion reagiert eine Person auf die Behauptung einer anderen mit den Worten "so ist es«. Wir wollen damit beginnen, die ver-schiedenen Bedeutungen des "ist« klar zu sondern.
I. Im ersten Falle liegt eine Existenzbehauptung vor, da dieselbe Aussage offenbar auch durch die Worte wiedergegeben werden kann "Gott existiert« oder "es gibt einen Gott«. Nicht immer ist es möglich, eine (positive oder negative) Existenzaussage unter Benutzung des Wortes "ist« zu formulieren. Dies kann nur in jenen Fällen gesehen, in denen die grammatikalische Subjektstelle von einem Namen oder einer sog. Beschreibung [EN02] besetzt ist. »Gott existiert« sowie "Jupiter existiert nicht« sind Beispiele der ersten Art da "Gott« sowie "Jupiter« Individuenbezeichnungen mit Namenscharakter sind; die beiden Aussagen "Der Erstbesteiger des Mount Everest existiert« {68 [58]} und "Der Erstbesteiger des Mondberges [EN03] Longomontanus existiert nicht« sind Beispiele der zweiten Art, da die beiden Redewendungen "Der Erstbesteiger des Mount Everest" sowie "Der Erstbesteiger des Mondberges Longomontanus" die Gestalt von Individuenbeschreibungen haben. Man spricht in solchen Fällen von singulären Existenzsätzen. Diese stellen gar nicht den Normalfall von Existenzbehauptungen dar. Gewöhnlich hat eine solche Behauptung nämlich die Gestalt einer (positiven oder negativen) generellen Existenzaussage: "Fliegende Fische existieren" ("Es gibt fliegende Fische"), »Seeschlangen existieren nicht" ("Es gibt keine Seeschlangen"). Hier wird von Gegenständen, die nur durch Artbezeichnungen wie: ein fliegender Fisch zu sein, oder: eine Seeschlange zu sein, charakterisiert sind, gesagt, daß sie existieren oder nicht existieren. Kraft Konvention wird eine positive generelle Existenzaussage bereits dann als wahr angesehen, wenn ein einziger Gegenstand die im Prädikat ausgedrückte Bedingung erfüllt. "Menschen, die größer sind als zweieinhalb Meter, existieren«, wird also schon dann als wahr angesehen, wenn es einen einzigen derartigen Menschen gibt. Darum empfiehlt es sich auch nicht, eine Formulierung unter Heranziehung des Ausdruckes "einige« zu gebrauchen, wie dies in der traditionellen Logik geschehen ist, z. B. in "einige Fische fliegen«; denn dieser Ausdruck legt den Gedanken nahe, daß es sich um eine wenn auch unbestimmte Mehrheit von Fällen handeln müsse, die das Prädikat erfüllen, damit die ganze Aussage wahr werden kann. Daß zur Fällung solcher genereller Existenzbehauptungen das Wort »ist" nicht verwendbar ist, hat seinen einfachen Grund darin, daß die grammatikalischen Subjekte im Plural stehen, während das "ist« den Singular darstellt. Dieser Grund ist offenbar trivial: der Plural von "ist« lautet "sind«. Daher können wir statt der oben gegebenen Formulierungen den Aussagen auch die Fassung geben "Fliegende Fische sind« bzw. "Seeschlangen sind nicht«.
Wegen der vielen anderen noch zu besprechenden Funktionen, in denen die Worte "ist" bzw. "sind" (und natürlich auch "bin«, "bist«, "seid") Verwendung finden, ist es zu empfehlen, alle Arten von positiven wie negativen Existenzbehauptungen, singuläre wie generelle, ohne Verwendung des "ist" bzw. "sind« zu bilden. Aber auch die anderen Fassungen können irreführend sein, insbesondere jene, in denen das Wort "existiert" vorkommt. Der Grund hierfür ist der folgende: In unserer Sprache stehen uns drei Arten von Mitteln zur Verfügung, um von Eigenschaften irgendwelcher Gegenstände zu sprechen, nämlich Eigenschaftswörter ("rot", "häßlich"), Hauptwörter ("Mensch«, "Pferd") und intransitive Verben ("läuft«, "fliegt"). Diese Verschiedenheit ist offenbar unwesentlich, weshalb auch in symbolischen Sprachsystemen hier kein Unterschied gemacht wird, sondern alle Prädikationen auf genau dieselbe Weise ausgedrückt werden. Viel bedenklicher ist der Umstand, daß in der Sprache bisweilen auch solche Wörter eine dieser grammatikalischen Formen annehmen, die an sich eine ganz andere Funktion haben. Dazu gehört das Wort "existieren". Es ist ein intransitives Verbum. Bei oberflächlicher Betrachtung ruft es den Glauben hervor, so wie die meisten übrigen intran-[69] sitiven Verba eine Eigenschaft auszudrücken. Hier haben alle jene bereits von Kant mit Recht verworfenen Anschauungen ihre Wurzel, wonach "Sein« ein Prädikat ist. Es sind aber überhaupt die meisten Spekulationen über das Sein hier verankert. Die beiden Aussagen "Frösche quaken" und »Frösche existieren" haben in unserer Alltagssprache dieselbe grammatikalische Struktur, weshalb die Verführung sehr groß ist, nicht I nur Betrachtungen über das Quaken von Fröschen, sondern auch über die Existenz von Fröschen anzustellen. Tatsächlich aber kommen nur im ersten Satz, nicht hingegen im zweiten zwei Prädikatausdrücke vor. Wenn »x" eine Variable für beliebige Gegenstände ist, so können wir die im ersten Satz vorkommenden beiden Prädikate sprachlich durch "x ist ein Frosch" und "x quakt" wiedergeben. Die ganze Aussage würde dann nämlich lauten, "für alle Gegenstände x gilt: wenn x ein Frosch ist, dann quakt x". Keineswegs ist hingegen die zweite Aussage analog wiederzugeben, durch "für alle Gegenstände x gilt: wenn x ein Frosch ist, dann existiert x«, sondern durch "es gibt Frösche", d. h. "es gibt Gegenstände x, so daß x ist ein Frosch«. Hierdurch wird deutlich, daß in der Existenzbehauptung nur das Prädikat "Frosch« vorkommt. Existenzhehauptungen sind im Alltag wie in der Wissenschaft so außerordentlich wichtig daß die Logiker ein eigenes Symbol für das "es gibt Gegenstände x« eingeführt haben, nämlich "(Ex)«. Unter Verwendung dieses Symbols wäre die zweite Aussage daher so wiederzugeben: "(Ex) (x ist ein Frosch)«. Hier wird das Vorkommen nur eines Prädikatausdruckes bereits durch die Art der Darstellung klar ersichtlich gemacht. ... [<69] {59}
[>70] {>59}
Es ist also nur eine mangelhafte Grammatik, die
uns dazu veranlaßt, von dem "Sein des Seienden« zu reden. Nicht
weniger mangelhaft erweist sich die Sprache dort, wo sie negative Existenzaussagen
durch Verwendung von Prädikaten ausdrückt. Wir sagen nicht nur
"Aristoteles ist weise" und "Wind-hunde sind flink«, sondern auch
»Der König ist tot« und "Seeschlangen sind fiktiv«.
Daraus entspringt dann die absurde Neigung, nicht nur von dem weisen Aristoteles
und den flinken Windhunden, sondern auch von den toten Königen und
fiktiven Seeschlangen als bestimmten Arten von Gegenständen zu sprechen.
Immerhin muß man hier der Sprache das eine zugute halten, daß
sie durch derartige Formulierungen mehr ausdrückt, als in einer einfachen
negativen Existenzaussage geschehen könnte. "Einhörner sind fiktiv«
soll nicht einfach heißen "Es gibt keine Einhörner«, sondern
mehr. Man könnte das, was damit gesagt werden soll, vielleicht ungefähr
so wiedergeben: "Wir können das Wort 'Einhorn' als sinnvolles Wort
in unserer Sprache verwenden, wir können uns auch Einhörner vorstellen,
Einhörner malen, sogar glauben, daß sie existieren; nichtsdestotrotz
gibt es keine Einhörner.' Manche werden vielleicht geneigt sein, die
folgende letzte Rettung für die "Existenz - ist - eine - Eigenschaft«
- Theorie zu versuchen: Seeschlangen existieren zwar nicht in der raum-zeitlichen
realen Welt, aber dennoch gibt {>60} es Seeschlangen als unverwirklichte
Möglichkeiten. Auch auf diese These wollen wir an späterer Stelle
nochmals zurückkommen [EN06]. Vorläufig steht
noch die Aufgabe vor uns, die anderen Funktionen des "ist« aufzuzeigen.
2. In "Managua ist die Hauptstadt von Nicaragua« stellt das "ist« einfach die Identität dar, weshalb wir in diesem Zusammenhang das Wort durch das Zeichen "=« ersetzen können: "Managua = die Hauptstadt von Nicaragua«. Es ist oft hervorgehoben worden, daß dieser Begriff der Identität ein {>60} [>71] so elementarer ist, daß man ihn nicht weiter zu erklären vermag. Jede solche scheinbare Erklärung würde nur das Prädikat "ist identisch mit« durch ein synonymes ersetzen, so etwa wenn gesagt wird, daß zwei Gegenstände genau dann miteinander identisch sind, wenn sie in Wahrheit einen und denselben Gegenstand darstellen. Wenn es dennoch ein philosophisches Problem im Zusammenhang mit diesem Begriff gibt, so betrifft dieses gar nicht den Begriff selbst, sondern die Möglichkeit seiner Verwendbarkeit. Man könnte geradezu von einem Paradoxon der Theorie der Identität sprechen. Es läßt sich so formulieren: Jede Aussage, wonach ein Ding mit sich selbst identisch ist, muß in trivialer Weise wahr sein, und jede Aussage, in welcher behauptet wird, daß ein Ding mit einem anderen identisch sei, ist falsch. Die ganze Theorie der Identität scheint somit in zwei Klassen von uninteressanten Feststellungen zu zerfallen: eine Klasse von trivialen Wahrheiten und eine Klasse von Falschheiten. Wie ist es daher überhaupt möglich, daß dieser Begriff in Wissenschaft und Alltag eine Rolle spielt und Lehrbücher der Logik ein eigenes Kapitel mit der Überschrift "Theorie der Identität« enthalten? Die Antwort ist ebenso einfach wie bedeutsam': Wäre unsere Sprache in dem Sinne vollkommen, daß wir für jeden Gegenstand eine und nur eine sprachliche Bezeichnung hätten, so daß wir uns also stets nur mit Hilfe eines einzigen Namens auf ein Ding beziehen könnten, dann wäre dieser Begriff der Identität in der Tat völlig nutzlos. Die einzigen Wahrheiten, zu denen wir mit Hilfe dieses Begriffs zu gelangen vermöchten, wären inhaltslose Äußerungen von der Gestalt "Leibniz = Leibniz«, "Wien = Wien« usw., durch welche wir keinerlei Information erhielten. Eine derartige Sprache wäre von der unsrigen aber radikal verschieden. Wir können uns auf ein und dasselbe beziehen durch die Bezeichnungen "Aristoteles" und "Der Lehrer von Alexander dem Großen", "Cicero« und "Marcus Tullius", ebenso aber auch z. B. durch "43" und "59+5" oder "15° Celsius« und "die Tageshöchsttemperatur in Innsbruck am 2. Juni 1955". Es ist gerade ein bedeutender Vorteil unserer Sprache, nicht jene erwähnte "Vollkommenheit" zu besitzen, welche derartige Äußerungen unmöglich machen würde, weil dann eine eindeutige Zuordnung zwischen Dingen und Dingbezeichnungen bestünde. Die Notwendigkeit, den Begriff der Identität zu benützen, entspringt somit nicht einer ontologischen Situation (Beschaffenheit der Welt), sondern einer linguistischen, d. h. einer Eigentümlichkeit unserer Sprache. Dies darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß also die Identität als eine Relation zwischen sprachlichen Ausdrücken aufzufassen sei. Es sind vielmehr die Objekte, welche indentifiziert werden; aber in der Identitätsaussage werden zwei Namen oder sonstige Bezeichnungen durch das Symbol "=" miteinander verbunden, und der Identitätssatz besagt dann, daß die durch diese zwei Ausdrücke bezeichneten Objekte eigentlich derselbe Gegenstand seien. Die nichttrivialen Fälle solcher Behauptungen sind dadurch ausgezeichnet, daß eine reine Bedeutungsanalyse der in derartigen Aussagen verwendeten Ausdrücke nicht genügt, um die Wahrheit der Identitätsaussage festzustellen. Die [72] {60/61} obigen Beispiele sind gerade von dieser Art. Zwei weitere wären z. B. die astronomische Wahrheit "der Abendstern = der Morgenstern" oder die biologische Wahrheit "Die Gesamtheit der Lebewesen mit Herz = die Gesamtheit der Lebewesen mit Nieren".
3.
In "Matagalpa ist eine Stadt" erfüllt das "ist« eine ganz andere
Funktion als in "Managua ist die Hauptstadt von Nicaragua«. Die letztere
Aussage kann, wie wir gesehen haben, mittels des Symbols der Identität
wiedergegeben werden durch "Managua = die Hauptstadt von Nicaragua«.
Wollte man diese Art der Darstellung auch für die erste Aussage vornehmen,
so käme man zu widersinnigen Schlußfolgerungen. Die Identität
besitzt nämlich die sog. Transitivitätseigenschaft, d. h. wenn
ein Objekt a identisch ist mit einem Objekt b und dieser Gegenstand b wiederum
identisch ist mit dem Objekt c, so muß auch a mit c identisch sein.
Nun gilt nicht nur "Matagalpa ist eine Stadt«, sondern auch "Wien
ist eine Stadt". Die Wiedergabe dieser beiden wahren Sätze mit Hilfe
von "=" also "Matagalpa = Stadt" und »Wien = Stadt«, würde
wegen der erwähnten Transitivität zu dem Schlusse führen
"Wien = Matagalpa«, also der Behauptung, daß die Stadt Wien
mit der Stadt Matagalpa identisch sei, was nach dem heutigen Stande der
Geographie nicht ganz der Wahrheit entspricht. {61/62}
Für eine adäquate
Interpretation der fraglichen Aussage stehen mehrere Möglichkeiten
offen. Die Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten ist keine rein
linguistische Angelegenheit, sondern hängt davon ab, welche Ontologie
zu akzeptieren man gewillt ist. Was diese Redewendung "eine Ontologie akzeptieren"
für eine genaue Bedeutung hat, wird erst an späterer Stelle ganz
klar werden. ...
{63} [76] Somit ergeben sich drei Möglichkeiten einer Interpretation des prädizierenden "ist":
a) Das "ist« stellt ein unselbständiges Sprachsymbol dar, das in Sätzen wie in Satzfragmenten vorkommt. Satzfragmente sind offene Sätze mit einer Individuenvariablen, die auf zwei verschiedene Weisen zu für sich sinnvollen Aussagen ergänzt werden können: Ersetzung der Variablen durch eine Individuenbezeichnung oder Voranstellung eines "alle« oder "es gibt" (nominalistische Deutung).
b) Die in Prädikationen vorkommenden Prädikatausdrücke sind Klassennamen, und das "ist« drückt demgemäß die Element-Klassen-Relation aus (extensionaler Platonismus).
c) Prädikate sind Eigenschaftsnamen, und das "ist« in einer Prädikation drückt demgemäß die Relation zwischen einem Ding und der Eigenschaft aus, die dieses Ding besitzt (intensionaler Platonismus).
4.
Wie steht es mit der Aussage "Der Wal ist ein Säugetier« ? Es
wäre völlig unrichtig, zu sagen, daß innerhalb der Klasseninterpretation
diese Aussage dem Satz "Matagalpa ist eine Stadt« also "Matagalpa
E Stadt« gleichzusetzen sei und daher die präzise Wiedergabe
lauten müsse "Der Wal E Säugetier«. "Matagalpa« ist
der Name eines individuellen Objektes, "der Wal« hingegen nicht ein
Name von etwas Individuellem. Innerhalb der Klasseninterpretation besagt
die Aussage daher soviel wie "die Klasse der Wale ist eine Teilklasse der
Klasse der Säugetiere«. Nicht die Relation zwischen einem Element
und der entsprechenden Klasse, sondern die Relation zwischen einer Teilklasse
und der entsprechenden Gesamtklasse wird also diesmal durch das "ist«
wiedergegeben. In der Mathematik ist zur Beschreibung der Relation zwischen
einer Teilklasse und der umfassenden Gesamtklasse das Symbol " Ì
« üblich, so daß also "die Klasse A ist eine Teilklasse
der Klasse B« wiedergegen wird durch "A Ì
B«. Die beiden Relationen: Element-Klassen-Relation und Teilklassen-Klassen-Relation
dürfen nicht miteinander identifiziert werden, selbst dann nicht,
wenn innerhalb [77] der Element-Klassen-Relation das Element zufälligerweise
selbst eine Klasse sein sollte. Die Dinge, welche zu der Teilklasse einer
Gesamtklasse gekören, gehören offenbar auch zu der Gesamtklasse
selbst. Daher ist von sämtlichen Objekten, von welchen das die Teilklasse
bestimmende Prädikat ausgesagt werden kann, auch das die Gesamtklasse
bestimmende Prädikat auszusagen: Wenn sich von einem Objekt mit Recht
behaupten läßt, es sei ein Wal, so muß von ihm auch die
Aussage gelten, es sei ein Säugetier. Darum lautet die adäquate
Wiedergabe der Aussage: "Der Wal ist ein Säugetier« so: "Wal
Ì
Säugetier«. Wenn dagegen eine Klasse A Element einer zweiten
Klasse B ist, so sind die Elemente der Klasse A nicht Elemente von B, sondern
bloß Elemente eines Elementes von B. Dies kann man in zweifelhaften
Fällen als Kriterium dafür benützen, um zu entscheiden,
ob eine {63/64} bestimmte Klasse Element einer zweiten Klasse oder
bloß Teilklasse dieser zweiten Klasse ist. Müssen wir z. B.
die Klasse der Wiedertäufer als ein Element der Klasse der christlichen
Sekten auffassen oder als eine Teilklasse der Klasse der christlichen Sekten?
Betrachten wir dazu einen einzelnen Wiedertäufer. Kann man von ihm
sagen, er sei eine christliche Sekte? Offenbar nicht. Also ist die Klasse
der Wiedertäufer nicht eine Teilklasse der Klasse der christlichen
Sekten, in welchem Falle die eben negierte Prädikation möglich
sein müßte, sondern ein Element aus der Klasse der christlichen
Sekten, während alle anderen Elemente durch die Klasse der Mormonen,
die Klasse der Baptisten usw. dargestellt werden EN08!
...
5. Beide noch zu betrachtenden Fälle sind trivial. Einer davon betrifft Aussagen von der Gestalt "so ist es«. Das "ist« stellt hier ein linguistisches Mittel zur Formulierung einer Zustimmungsäußerung dar. ... [78]
6. Noch rascher erledigt sich der Fall des Unterrichtes von Farbwörtern. 'Dies ist ocker' stellt einfach eine andere Fassung für die Aussage "dies nennt man ocker« oder "dies heißt ocker« dar. Wiederum hat das "ist« überhaupt keine eigene logische Funktion, sondern dient nur zur Abkürzung für eine Aussage, welche ohne dieses Wort mehr Wörter oder zumindest mehr Silben oder Laute enthalten würde. ...
Wolfgang Stegmüller wurde am 3.Juni 1923 in Natters
bei Innsbruck geboren. Nach den beiden Promotionen 1945 und 1947 habilitierte
er sich 1949 für Philosophie in Innsbruck. 1958 wurde er zum Ordinarios
für Philosophie an der Universität München ernannt. Professor
Stegmüller ist ordentliches Mitglied der Bayer. Akademie der Wissenschaften
und Korrespondierendes Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften.
Überblick: https://www.gavagai.de/philosoph/HHP28.htm
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Bücher:: Neben zahlreichen Abhandlungen und drei größeren Werken (Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit 31973; Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, 1968; Metaphysik - Skepsis - Wissenschaft, 1969) 1969 Beginn der Publikation einer großangelegten Wissenschaftstheorie, bisher 8 Bde.: Begründung,21974; Theorie und Erfahrung,21974; Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung, 1973; Statistische Wahrscheinlichkeit, 1973; Theorienstrukturen und Theoriendynamik, 21985; The Structuralist View of Theories, 1979; Strukturtypen der Logik (zus. mit M. V. v. Kibed) 1984; Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973, 1986.
WS-Preis: Die Gesellschaft für Analytische Philosophie vergibt seit 1994 alle drei Jahre den mit insgesamt 20.000 DM dotierten Wolfgang-Stegmüller-Preis zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Feld der analytischen Philosophie. In Frage kommen Arbeiten jedweden Umfangs (Sprache: deutsch oder englisch), publiziert oder nicht, deren Autor/in bei Ablauf der Frist nicht älter als 40 Jahre ist, noch keine wissenschaftliche Dauerstellung innehat und deutschsprachig ist oder in einem deutschsprachigen Land tätig ist.