Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=07.10.2007 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 10.06.15
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Wahrnehmung, und hier speziell zum Thema:

    Nicht wahr?!
    Sinneskanäle, Hirnwindungen und Grenzen der Wahrnehmung

    Eindrücke und Kritik zum Symposium im turmdersinne 5.-7.10.2007

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Der Turm der Sinne veranstaltete zum 10. Mal sein alljährliches Symposium, wobei die 500 Plätze im Germanischen Museum in Nürnberg bereits eine Woche vorher ausverkauft waren, was für eine wissenschaftliche Veranstaltung als sehr ungewöhnlich gelten kann und die Besonderheit und Wertschätzung  dieser Veranstaltung eindrucksvoll unterstreicht.

    Bis auf den Einführungsabend, die einseitige neurobiologische Ausrichtung und aussenweltorientierte Wahrnehmung, die wirtschaftsbezogenen Vorträge (Neuroökonomie und Werbung) und die traditionellen organisatorischen Mängel mit der Zeitplanung - worunter besonders das letzte Thema Synästhetische Wahrnehmung sehr litt - kann man die Veranstaltungen als sehr gelungen, vielfältig anregend und bereichernd bezeichnen. Eine wirklich gute allgemeine Fortbildung, für die die Ärzte- und Psychotherapeutenkammern zu Recht Punkte anerkennen.

    Der Einführungsabend am Freitag wurde leider nicht für eine grundlegende und allgemeine Einführung in die Theorie der Wahrnehmung genutzt, sondern dem Thema der Willensfreiheit gewidmet. Damit wurde eine große und wichtige Chance vertan, wichtige allgemeine und integrative ("Bindungs"-) Grundlagen der Wahrnehmung voran zu stellen. Dies zeigte sich sträflich in der verwirrend naiven Terminologie der Neurobiologen. Selbst der vom Publikum gefeierte Prof. Bach ("Fenster zum Gehirn"), der mit langem Beifall bedacht und zur Überziehung seiner Zeit zum Schaden der nachfolgenden Referenten verführt wurde, nannte Wahrnehmungen Reize, die über die Sinneskanäle und das Gehirn in das Bewusstsein gelängen (dort "konstituiert" werden). Damit gäbe es keine unbewussten Wahrnehmungen und man könnte gar nicht verstehen, wie es z.B. möglich ist, dass Menschen allmorgendlich von ihrem Wecker geweckt werden.

    Nun, wenigstens lud man neben Singer auch einen kritischen Kontrahenten, den Philosophen Michael Pauen, ein, der in den Ergebnissen der neurobiologischen Forschung und besonders zwischen dem Prinzip des Determinismus und dem Konzept der Freiheit keinen Widerspruch entdecken konnte. Wissenschaftshistorisch zeigte er zudem auf, dass die vermeintlich großen Kränkungen des Menschen durch die Wissenschaft (Kepler, Galilei, Darwin, Freud, Neurobiologie) bei genauer Betrachtung nicht haltbar sind und eher dem Narzißmus des jeweils sich in diese Reihe zuletzt Eingruppierenden dienen.

    Eine erlebenspsychologische Betrachtung fehlte leider völlig und man merkt es dem neurobiologischen Theoriestand und der Denkweise sehr deutlich und nachhaltig an, dass sie hier völlig unterentwickelt sind und im Grunde weder ein entsprechendes Problembewusstsein noch eine wenigstens vorbereitend-unterstützende differenzierte Terminologie und daher natürlich auch keinerlei Instrumentarium und methodisches Werkzeug zur Verfügung haben. Umso unbekümmerter lässt es sich da offenbar drauf los theoretisieren. Und so wundert sich natürlich auch niemand wirklich, dass die Neurobiologie, falls die Aussagen Singers richtig sind, bislang keine Repräsentanz des "Ich", "Selbst" oder einer zentralen Lenkungseinrichtung im Gehirn finden konnte. Hieraus entwickelt Singer ein neues wissenschaftliches Erkenntnisprinzip: was mit bestimmten - gewöhnlich eingeschränkten - Methoden nicht gefunden werden kann, das existiert auch nicht. Das erinnert an den Witz der Neurochirurgen, die beim Öffnen des Gehirns meinten, sie könnten da gar keine Seele sehen. Wer nicht sucht, der wird nicht finden. Und wer nicht sehen will, wird auch nicht wahrnehmen, selbst wenn er gefunden hat (was er nicht finden wollte - und daher auch nicht wahrnimmt). Das gerade wurde in einigen der nachfolgenden Vorträgen eindrucksvoll gezeigt: wir sehen viel, aber vieles nehmen wir gar auch nicht wahr, weil Aufmerksamkeit und Interesse spezifisch fokussiert sind.



    Literatur (Auswahl)
    > Bücherliste zum Symposium.



    Links (Auswahl: beachte)
     
    • Turm der Sinne * Symposium 2007.
    • Bericht und Kritik: Freier Wille - frommer Wunsch? Gehirn und Willensfreiheit (2004).
      • Hierzu auch ergänzend: Kritik der Libet-Experimente und ihrer Interpretation.
    • Bericht und Kritik: Neuronen im Gespräch - Sprache und Gehirn (2006).




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Bach. Sehr eindrucksvoll war sein schneidig-präziser Diskussinsbeitrag zum sehr interessanten Vortrag von Lingelbach (A) zum Hermann-Gitter: Ein einziges Bild genügte, wie ein Gegenbeispiel in der Mathematik, um die Erklärung für das Phänomen beim Hermann-Gitter von 40 Jahren Forschung zu widerlegen (auf dem Budapester ECVP-Kongress zur Wahrnehmung 2004).
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    homo oeconomicus. Primat=: Vorherrschaft. Also die Vorherrschaft des ökonomischen Menschen. Eduard Spranger hat in seinen Lebensformen - z.B. 8. A. 1950 - unterschiedliche Lebensorientierungen beschrieben: der theoretische Mensch, der ökonomische Mensch, der ästhetische Mensch, der soziale Mensch, der Machtmensch und der religiöse Mensch.
        "Der ökonomische Mensch im allgemeinsten Sinne ist also derjenige, der in allen Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt. Alles wird für ihn zu Mitteln der Lebenserhaltung, des naturhaften Kampfes ums Dasein und der angenehmen Lebensgestaltung." (S. 148). ... "Reichtum ist Macht. Der ökonomische Mensch entfaltet zunächst Macht über die Natur, ihre Stoffe, Kräfte, Räume und die technischen Mittel zu ihrer Bewältigung." ... "Mehr haben wollen als der andere, ist eine in der gesellschaftlichen Wirtschaft sich immer wieder von selbst bildende Willensrichtung. Wirtschaftliches Machtstreben erscheint also in der Form der Konkurrenz; sie herrscht von den einfachsten Stufen an und kann nur mit dem wirtschaftlichen Motiv selbst ausgerottet werden. (S. 153/154)  Die Macht des Geldes beruht auf seiner Motivationskraft für Menschen; sie setzt also wieder ökonomisch gerichtete Naturen voraus. Und gleich als ob man beflissen wäre, dies schon im voraus anzuerkennen, gibt Geld heute auch dann Ansehen, wenn man es nicht selbst erworben hat und weder durch seinen Fleiß noch durch seine Klugheit daran beteiligt ist."  ... "Der wirtschaftliche Wert ist für diese Art von Menschen selbst schon der höchste Wert." (S. 155). Siehe auch [W].
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    neues. Zu den neuen Erkenntnissen der Neurobiologie gehört wohl auch, dass Entscheidungen Handlungen nicht mehr vorausgehen müssen oder können [Singer, W. (2004). Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Geyer, Christian (2004, Hrsg.). Hirnforschung und Willensfreiheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 33]
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    Neuroökonomie. Ist der Homo Oeconomicus (jetzt endlich) Geschichte? Der Autor versteht unter "Homo oeconomicus" nicht den üblichen Begriff, sondern eingeschränkt auf ein "rein" rational entscheidendes Subjekt, das es in dieser theoretischen Fiktion natürlich gar nicht gibt. So gesehen schlägt er einen Pappkameraden nieder, den er selbst aufgebaut hat. Irritierend war seine Unterscheidung von Emotion und Gefühl, wobei er unter Gefühl offenbar Empfindungen versteht (Beispiel Fieber).
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    Terminologische Grundüberlegungen für eine allgemeine Wahrnehmungstheorie. Die wichtigsten Repräsentationsebenen (siehe auch Welten) und Wissenschaftssprache.

    "Sehen" ist ein vieldeutiges Homonym. Wenn Auge und Gehirn "sehen" - im Sinne von "einen visuellen Reiz verarbeiten" - , so muss daraus noch keine unbewusste oder gar bewusste Wahrnehmung resultieren.
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    Werbung. Dieser Vortrag war unkritisch und theoretisch wenig fundiert. Der vielfältige Missbrauch der Werbeindustrie wurde gar nicht thematisiert. Das kann man wahrscheinlich von einer Vertreterin der Werbewirtschaft auch nicht verlangen und nicht erwarten. Deshalb mag man sich fragen, ob hier nicht zwingend eine unabhängige Fachfrau - sofern es denn eine solche überhaupt gibt -  hätte bemüht werden müssen. Die Firma der Vortragenden findet man unter der Rubrik "Partner & Sponsoren" auf der Seite turmdersinne.
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    zentrales Lenkungssystem. Es ist natürlich trivial wahr, dass der Mensch sich geordnet und zielstrebig verhalten kann (lenkt) und dies auch vielfach tut - ebenso wie es trivial wahr ist, dass er viele Funktionen koordinieren und aufeinander  abstimmen kann. D.h. natürlich, dass es so etwas wie einen "nucleus homunculus" an einem spezifischen Ort des Gehirns gibt, der genau dieses repräsentiert. Aber da es diese Leistungen gibt, muss es auch eine Repräsentanz dieser Leistungen im Gehirn geben. Aus der Tatsache, dass Neurobiologen diese Repräsentanz nicht finden, folgt eigentlich nur, dass der Erkenntnisstand und die Methodik der Neurobiologie noch ziemlich unterentwickelt sind.
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    Querverweise
    Standort: Symposium Turm der Sinne 2007
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Eindrücke und Kritik zum Symposium im turmdersinne 5.-7.10.2007: Nicht wahr?! Sinneskanäle, Hirnwindungen und Grenzen der Wahrnehmung. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/allpsy/wahr/TdS_S07.htm

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    korrigiert: irs 07.10.07



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    10.06.2015    Linkfehler geprüft und korrigiert (1).
    08.10.2007    Ergänzungen.