Unrecht im Namen des Volkes.
Ein Justizirrtum und seine Folgen.
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Mit einem externen Literaturverzeichnis zu
Fehlern in Kriminologie und Justiz.
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Bibliographie: Rückert,
Sabine (2007). Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine
Folgen. Hamburg: Hoffmann und Campe.[Verlagsinfo] [ISBN : 978-3-455-50015-8].
Seiten : 288. 19,95 EUR (D). 20,60 EUR (A). 34,90 SFR (CH). Erschienen
am : 11. Januar 2007 in Hamburg
Vorwort: Von der Lüge 7
Vater und Tochter 15
Falsche Freunde 59
Ein Unbeteiligter wird mitgerissen 115
Die Justiz kratzt und beißt 191
Der Freispruch 231
Kleiner Nachtrag im November 2006 269
Chronologie der Ereignisse um Amélie 273
"Vorwort
Von der Lüge
Dieses Buch handelt von der Lüge. Nicht von der Notlüge.
Nicht von der Lüge aus Angst oder Feigheit im Bestreben, die eigene
Person aus dem Schussfeld zu bringen. Auch nicht vom Sich-selbst-Belügen,
durch das mancher sich das Leben leichter macht. Es geht um die berechnende
Lüge, die in Umlauf gebracht wird, um ein ganz bestimmtes Ziel zu
erreichen. Meistens das Ziel, sich selbst in den Mittelpunkt des allgemeinen
Interesses zu rücken und/oder anderen Menschen Schaden zuzufügen.
Zu einer guten Lüge, die ihren Zweck erfüllen
soll, gehören immer mindestens zwei. Einer, der lügt. Und einer,
der glaubt. Eine Lüge, die nicht geglaubt wird, ist sinnlos, entfaltet
ihre Wirkung nicht, sondern fällt als Schande auf den schlechten Lügner
zurück. Deshalb muss die Lüge gut - das heißt: überzeugend
- sein. Und sie ist umso besser, je präziser sie mit den Erwartungen
dessen übereinstimmt, den sie überzeugen soll.
Hin eindrucksvolles Beispiel hierfür ereignete
sich im Herbst 2000 in der kleinen sächsischen Stadt Sebnitz. Dort
behauptete eine mit einem Ausländer verheiratete Bürgerin, deren
dunkelhaariger, fünfjähriger Sohn im städtischen Freibad
ertrunken war, drei Jahre nach dem Tod des Kindes, ihr Sohn sei von einer
Horde Neonazis in der Badeanstalt misshandelt und schließlich ersäuft
worden. Alle Badegäste hätten zugesehen, niemand habe eingegriffen
oder die Polizei gerufen. Mit dieser entsetzlichen Geschichte - wer denkt
sich so was aus? - hatte die Frau zwar bei den Strafverfolgungsbehörden,
die die Fakten und Obduktionsberichte kannten, keinen Eindruck machen können,
doch gelang es ihr, die Medien für ihre Zwecke zu mobilisieren. Die
reagierten mit einer Heftigkeit, die die gesamte Republik erschütterte.
Legio[>8]nen von Journalisten wurden nach Sebnitz entsandt, um die Botschaft
von einer großen deutschen Schande in alle Welt zu tragen. Aufgrund
des öffentlichen Drucks wurde nun auch die Staatsanwaltschaft nervös,
nahm einige junge Leute fest und ermittelte gegen sie.
Einige Tage lang war die Frau die gloriose Pietà
der Republik: die Mutter eines kleinen Kindes, das in aller Öffentlichkeit
mörderischen Rassisten zum Opfer gefallen war. Ist ein schrecklicheres
Schicksal denkbar? Und traute man dem Osten Deutschlands nicht zu Recht
das Schlimmste zu? Hatten nicht 1992 Rechtsradikale im brandenburgischen
Hoyerswerda hilflose Dritte-Welt-Familien angegriffen, die in Deutschland
um Asyl baten? Hatten nicht in Rostock Neonazis ein Asylbewerberheim in
Brand gesteckt, während der besoffene Mob dabeistand und Bravo brüllte?
Und jetzt eben Sebnitz! Die Frau gab Interviews und ließ sich tausendfach
fotografieren. Sie wanderte durch die Talkshows und wurde vom Bundeskanzler
empfangen. Die Weltpresse saß auf ihrem Sofa in Sebnitz, und der
Regisseur Volker Schlöndorf begehrte die Filmrechte an diesem deutschen
Fall.
Dem Rausch folgte eine schreckliche Ernüchterung,
als die Staatsanwaltschaft überraschend alle Festgenommenen freiließ
und bekanntgab, dass die Vorwürfe haltlos seien. Weitere ausführliche
Untersuchungen der Gerichtsmedizin bestätigten: Der Fünfjährige
hatte einen Badeunfall erlitten, und seine angebliche Folterung und Ermordung
war nichts anderes gewesen als das Phantasiegespinst einer Mutter, die
über den Verlust ihres Sohnes nicht hinwegkam. ... "
Gerichtsmedizinische- und Glaubhaftwürdigkeits-Bewertung im Wiederaufnahmeverfahren
Gerichtsmediziner. "Dann setzt sich der Gerichtsmediziner mit
dem unverletzten Hymen auseinander: Bei jeder Penetration reiße das
Hymen ein, sagt er. Ganz selten - wenn es ringförmig angelegt sei
- komme es vor, dass das Jungfernhäutchen bei einvernehmlichem und
vorsichtigem Geschlechtsverkehr erhalten bliebe. Das sei aber nach Amelies
Schilderungen gerade nicht der Fall gewesen. Die Begegnungen mit zwei verschiedenen
Vergewaltigern unter völlig unterschiedlichen Geometrien des Eindringens
seien weder einvernehmlich noch vorsichtig verlaufen. Dazu komme, dass
das Opfer bei der ersten Vergewaltigung erst zwölf Jahre alt und noch
gar nicht geschlechtsreif gewesen sei. In diesem Alter habe die Hymenalöffnung
einen Durchmesser von etwa zwölf Millimetern, und die kindliche Scheide
sei »extrem vulnerabel«. Brinkmann sagt zum Gericht: »Je
enger die Hymenalöffnung, je jünger die Frau, je gewaltsamer
das Eindringen, desto unwahrscheinlicher (um nicht zu sagen unmöglicher)
die Erhaltung des Hymens.« Obendrein sei die [>255] Scheide einer
Vergewaltigten trocken und das Vorstoßen des Täters hart und
heftig. »Das Gewebe dehnt sich nicht, sondern bricht wie Knochen.
Für mich ist es absolut unmöglich, dass diese Vergewaltigungen
stattgefunden haben«, sagt Brinkmann.
Dabei habe er den Kleiderbügel noch gar nicht
berücksichtigt. Denke man aber - »und da bewege ich mich bereits
im Raum der theoretischen Medizin« - den rabiaten und blutigen Abtreibungsversuch
noch hinzu, gleite die gesamte Schilderung ins Irreale ab. Der Sachverständige
beschließt seine Ausführungen mit den Worten: »Nach rechtsmedizinischen
Maßstäben sind die Schilderungen der Nebenklägerin absolut
unmöglich und absurd.« Neunzig Minuten hat der Vortrag des Gutachters
gedauert. Danach hat niemand mehr eine Frage.
Glaubwürdigkeitssachverständige.
Der Schlussvortrag in der Beweiserhebung geht an die Diplom-Psychologin
Renate
Volbert, Glaubwürdigkeitsgutachterin im Institut für Forensik
der Berliner Charité. Sie hat, ebenso wie der Sachverständige
Kröber, die Nebenklägerin Amélie besucht und auf der psychiatrischen
Station des Krankenhauses, zu dem die Belastungszeugin regelmäßig
Zuflucht nimmt, über mehrere Stunden exploriert. Auch sie ist einer
konzentrierten Probandin begegnet, die sich sachlich betrug und lange durchhielt.
»Alle befürchteten Schikanen blieben aus«, sagt Renate
Volbert, »es gab kein Theater.«
Zu den Vorwürfen, die Amélie auch ihr
gegenüber wieder erneuerte — und die sie sehr detailliert, wenn auch
im selben Wortlaut wie in den Akten geschildert habe -, bemerkt die Gutachterin,
es gebe »erhebliche Hinweise auf eine falsche Aussage«. Allerdings
denkt Frau Volbert nicht an eine fremd- oder autosuggerierte Pseudoerinnerung,
bei der das Opfer fest an die eigenen inneren Bilder glaubt, auch wenn
ihnen keinerlei reale Tatsachen zugrunde liegen. Sie hält Amelies
Beschuldigungen vielmehr für »absichtliche Falschbezichtigungen«,
die durch die unausgesprochenen Erwartungen des therapeutischen Personals
der Jugendpsychiatrie hervorgerufen und bestärkt worden seien. [>256]
Eingeredete Pseudoerinnerungen bezögen sich
nämlich auf alte, angeblich lang zurückliegende Ereignisse, und
das verhängnisvolle psychotherapeutische Konzept sei, diese vermeintlich
verschütteten und verdrängten Traumata durch Erinnerungsarbeit
wieder an die Oberfläche zu bringen. Amélie dagegen habe ja
einmal behauptet, erst vor zwei Tagen von ihrem Onkel vergewaltigt worden
zu sein, sie habe sich die Verletzungen höchstwahrscheinlich selbst
zugefügt, sie habe ihre Aussagen bewusst einem unerwarteten Alibi
des Verdächtigen angepasst, sie habe ihre Beschuldigungen erweitert,
ohne dass dafür ein Grund zu erkennen wäre, sie habe sich erneut
vergewaltigen lassen wollen, um »Beweise« zu sammeln - all
diese Auffälligkeiten in ihrem Verhalten sprächen für die
zielgerichtete Falschbeschuldigung des Onkels.
Im Übrigen sei auch die Aussagequalität
von Amelies Berichten eher schlecht, stellt die Sachverständige fest.
Es sei nicht eine Schilderung dabei, von der sie überzeugt sei, so
etwas könne man sich nicht ausdenken. Das Hauptmotiv für die
Beschuldigungen aber sieht die Gutachterin in Amelies leidenschaftlichen
Bestrebungen, sich intensive therapeutische Zuwendung zu sichern.
»Wenn das Mädchen sich die Therapie sichern wollte, ist
es dann vorstellbar, dass sie ausgerechnet jemanden beschuldigte, zu dem
sie ein gutes Verhältnis hat?«, will der Strafkammervorsitzende
Janßen von der Sachverständigen wissen.
»Es ist vorstellbar, dass sie einen suchte,
zu dem sie ein schwieriges Verhältnis hat, oder jemanden, der sich
gerade von ihr abwendet«, antwortet Frau Volbert.
»Könnte Herr M. seine Nichte unabsichtlich
irgendwie gekränkt haben?«, fragt der Vorsitzende weiter.
»Borderline-Kranke fühlen sich sehr schnell gekränkt
und sind dann bereit, erheblich zurückzuschlagen. Sie sehen schwarz
und weiß und nichts in der Mitte. Alle Grautöne fehlen.«"
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