IP-GIPT DAS=01.06.2001
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 7.8.3
Impressum:
Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr.
20 D-91052 Erlangen * Mail:
sekretariat@sgipt.org
Kommentierte Literaturübersicht
Hörigkeit
Exkurs:
Konzepte
der Geschäftsunfähigkeit in Psychologie und Psychopathologie
Unter willfährig verstehen wir, fremdem, anderen Willen gehorchen und gefügig sein. Tun, was andere wollen, heißt wertneutral oder positiv gesehen, Anpassung. Übertriebene Anpassung kann Unterwerfung, Willensschwäche, Willfährigkeit, Gefügigkeit u. a. m. genannt werden. Die krankhafte Willensschwäche oder Willenlosigkeit heißt in der Psychopathologie Abulie. Als verallgemeinerte seelische Haltung, Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmal spricht man in der Psychopathologie von Psychasthenie („Seelenschwäche“), Asthenie („Schwäche“) oder neuerdings dependenter (abhängiger) Persönlichkeitsstörung. Schlecht an all diesen Konzepten ist, daß sie so weit verallgemeinert sind und viele Fälle des wirklichen Lebens, wo diese Schwäche mehr oder minder stark und partiell auftritt, ohne zu einem allgemeinen, zeitüberdauernden Wesenszug zu werden [FN10], nicht erfassen. Das ist überhaupt die Schwäche jeglicher verallgemeinernden, klassifikatorischen Diagnostik [Kritik hier], daß das wirkliche, vielfältige und individuelle Leben sich darin nicht wiederfindet, mehrfach und gar widersprüchlich sich wiederfindet oder verliert. Diagnostizieren erscheint so vielfach als wissenschaftlich verbrämte „Zwangsneurose“, die zum eigentlichen Verständnisproblem überhaupt nichts beiträgt, wenn es bei der bloßen Namensgebung bleibt.
Alle Menschen, die Bindungen und Beziehungen eingehen, sind in gewisser Weise emotional abhängig. Das aber meint die Formulierung emotionale Abhängigkeit gewöhnlich nicht, sondern eine ungewöhnliche und stärkere emotionale Abhängigkeit als man sie nach den Umständen innerhalb einer statistisch „normalen" Referenzgruppe erwarten würde. Nicht nur volkstümlich, sondern ursprünglich fachwissenschaftlich wurde eine solche Bindungsbeziehung als „Hörigkeit" bezeichnet. „Hörigkeit" ist eine Erscheinung von der nicht wenige Menschen aus ihrem eigenen Erfahrungs- und Bekanntenkreis Kenntnis haben. Zunächst soll eine kleine Literaturübersicht zum Thema, Entwicklung und Stand der Wissenschaft in dieser Frage darlegen. Wichtig ist hierbei, daß ein Bedeutungswandel oder eine Erweiterung seit der Erfindung der Lautgestalt bzw. des Wortes Hörigkeit, durch Krafft-Ebing 1892, das ein Jahrtausende altes Phänomen beschreibt, stattgefunden hat, von der geschlechtlich oder sexuell begründeten - ursprünglichen - Hörigkeit zur emotionalen Abhängigkeit hin. Hörigkeit im ursprünglichen von Krafft-Ebing 1892 beschriebenen und gebrauchten Sinne meinte also sexuell fundierte, motivierte und begründete Abhängigkeit, wie die Zitatauszüge im folgenden belegen werden.
Insgesamt ist zu bemerken, daß sich zum Phänomen der Hörigkeit und emotionalen Abhängigkeit nur wenig wissenschaftliche Veröffentlichungen und unter diesen wenigen so gut wie keine empirischen Arbeiten finden.
Ich möchte zunächst auf den neuzeitlichen Erfinder - R v. Krafft-Ebing - der Lautgestalt bzw. des Wortes Hörigkeit, als einer besonderen und wichtigen Variante der emotionalen Abhängigkeit, eingehen. Die in ihr erörterte Problemvielfalt, besonders auch die schwierigen Übergänge in den Normalbereich, aber auch ihre forensischen Bezüge zur zivilen Geschäfts- und strafrechtlichen Schuldfähigkeit lassen diese klassische Erstarbeit immer noch interessanter und bedeutender als viele neuere Arbeiten erscheinen:
Krafft-Ebing: Über geschlechtliche Hörigkeit (1892)
„Abhängigkeit ist immer und
überall von jeder menschlichen Vereinigung unzertrennlich. Auf dem
Gebiete der Freundschaft und der Geselligkeit, der Familie und der Staatsgemeinschaft,
überall ist Vereinigung mit einem gewissen Mass von Beschränkung
und Unterordnung verknüpft und in jedem menschlichen Verhältniss
finden sich Personen, die durch ein ungewöhnliches Mass von Anhänglichkeit
und Respect oder von Willensschwäche und Unselbstständigkeit
in grössere Abhängigkeit von anderen Menschen gerathen, als der
typischen Form des Verhältnisses entspricht. Denn diese typische Form,
die jeweils in socialer Geltung befindliche Ansicht über die richtige
Form eines Verhältnisses, ist natürlich das Kriterium und das
Mass für Abweichungen abnormer Natur. Dass z. B. ein Sohn sich vom
Vater selbst erworbenes Vermögen gegen seine Absicht abnehmen lässt
und jener es für sich confiscirt, lässt sich heute nur aus einer
ungewöhnlichen, auf physischer Besonderheit basirenden thatsächlichen
Autorität erklären.
Einst aber war es geltendes Recht
und galt als selbstverständlich.
Auch hinsichtlich der geschlechtlichen
Beziehungen ist, wenn die Verbindungen einige Dauer haben sollen, ein gewisses
Mass von Abhängigkeit eines Theiles vorn anderen, oder beider voneinander
durchaus nothwendig. Gesetz und Sitte haben auch für diese Beziehung
typische Formen geschaffen, welche zwar mit der Zeit wechseln, aber jeweils
massgebend sind für die Frage, ob in einem concreten Verhältniss
individuelle psychische Eigenschaften eine Abweichung vom normalen Grade
der Abhängigkeit bewirkt haben. Das Mass der Rechte und Pflichten
ist bekanntlich zwischen Mann und Weib noch sehr ungleich vertheilt, aber
eine Grenze ist überall von Recht und Sitte gezogen, deren Ueberschreitung
durch einen Theil oder den anderen als ungewöhnlich betrachtet und
von der geltenden Anschauung missbilligt wird. Willensschwache Menschen,
die auch in anderen Verhältnissen leicht in nicht mehr legitime Abhängigkeit
gerathen, werden selbstverständlich im geschlechtlichen Verhältnisse
um so leichter das Opfer der Uebergriffe des anderen Theiles. Furcht, den
Genossen zu verlieren, der Wunsch, ihn immer zufrieden, liebenswürdig
und zum geschlechtlichen Verkehr geneigt zu erhalten, sind hier die Motive
des unterworfenen Theiles. Ein ungewöhnlicher Grad von Verliebtheit
einerseits, der - namentlich beim Weibe - durchaus nicht immer nur einen
ungewöhnlichen Grad von Sinnlichkeit bedeutet, und Charakterschwäche
andererseits sind die einfachen Elemente des ungewöhnlichen Vorganges.
[FN01]
Das Motiv des anderen Theiles ist
Egoismus, der freien Spielraum findet.
Auch hier ist das, was Recht und
Sitte vorschreiben, wechselnd, aber jeweils das Kriterium und Mass der
ungewöhnlichen Erscheinungen. Nur das, was über die als normal
geltenden Pflichten hinaus aus einem besonderen inneren Antrieb vom abhängigen
Theile geleistet und geduldet wird, ist die Erscheinung, die uns hier beschäftigt.
Solche Erscheinungen a1so, die
im Leisten und Dulden über das Mass des jeweils als normal Betrachteten
vermöge psychischer Besonderheit des beherrschten Theiles hinausgehen,
bilden das grosse Erscheinungsgebiet der geschlechtlichen Abhängigkeit.
Nennen wir diese Erscheinung kurz „geschlechtliche Hörigkeit" [FN02],
denn sie tragen ganz den Charakter der Unfreiheit. Der Wille des herrschenden
Theiles gebietet über den des unterworfenen Theiles wie der des Herrn
über den Hörigen. (Der Ausdruck Sklave oder Sklaverei, obwohl
er oft auch in solchen Situationen bildlich gebraucht wird, wurde hier
vermieden, weil dies Lieblingsausdrücke des Masochismus sind.) ...
Die Erscheinungen der Geschlechtshörigkeit
sind in ihren Formen mannigfaltig und die Zahl der Fälle ist eine
ungemein grosse. In geschlechtliche Hörigkeit gerathene Männer
finden wir im Leben bei jedem Schritt. Hierher gehören unter den Ehemännern
die sogenannten Pantoffelhelden, namentlich die alternden Männer,
die junge Frauen heiraten und das Missverhältniss der Jahre und körperlichen
Eigenschaften durch unbedingte Nachgiebigkeit gegen alle Launen der Gattin
auszugleichen trachten; hierher, auch ausserhalb der Ehe, gehören
die überreifen Männer, die ihre letzten Chancen in der Liebe
durch unangemessene Opfer zu verbessern trachten; hierher aber auch die
Männer jeden Alters, die von heisser Leidenschaft für ein Weib
ergriffen, bei ihm auf Kälte und Berechnung stossen und auf harte
Bedingungen capituliren müssen; verliebte Naturen, die von notorischen
Dirnen sich zur Eheschliessung bewegen lassen; Männer, die, um Abenteurerinnen
nachzulaufen, alles im Stich lassen und ihre Zukunft aufs Spiel setzen,
Gatten und Väter, die Weib und Kind verlassen und das Einkommen der
Familie einer Hetäre zu Füssen legen; Männer, die sich Testamente
und Schenkungen abtrotzen und abschmeicheln lassen, und endlich jene Männer,
die sich von der Habsucht oder Rachsucht des Weibes, in dessen Gewalt sie
durch Liebesleidenschaft gerathen sind, zu verbrecherischen Thaten hinreissen
lassen.
So zahlreich aber auch die Beispiele
männlicher Hörigkeit sind, so muss doch jeder halbwegs unbefangene
Beobachter des Lebens zugeben, dass sie an Zahl und Gewicht
der Fälle gegen die weiblicher Hörigkeit weit zurückbleiben.
Dies ist leicht erklärlich. Für den Mann ist die Liebe fast stets
nur Episode, er hat daneben viele und wichtige Interessen; für das
Weib hingegen ist sie der Hauptinhalt des Lebens, bis zur Geburt von Kindern
fast immer das erste, nach dieser noch oft das erste, immer mindestens
das zweite Interesse. [FN03]
...
Deshalb bedeutet für eine
Frau der Mann, den sie hat, das ganze Geschlecht. Seine Wichtigkeit für
sie wächst dadurch ins Ungeheuere. Dazu kommt endlich noch, dass das
normale Verhältniss, wie es Gesetz und Sitte zwischen Mann und Weib
geschaffen haben, weit davon entfernt ist, ein paritätisches zu sein
und selbst schon überwiegende Abhängigkeit des Weibes genug enthält.
Um so tiefer hinab in die Hörigkeit werden sie die Concessionen drücken,
welche sie dem Geliebten macht, um seine ihr fast unersetzliche Liebe zu
erhalten, und um so höher steigen die unersättlichen Ansprüche
der Männer, die entschlossen sind, ihren Vortheil auszubeuten und
eine Industrie aus der Ausbeutung der grenzenlosen weiblichen Opferfähigkeit
zu machen.
Dahin gehört der Mitgiftjäger,
der sich mit hohen Summen dafür bezahlen lässt, die leicht geschaffenen
Illusionen einer Jungfrau über ihn zu zerstören; der planmässig
vorgehende Verführer und Compromittirer der Frauen, der auf Lösegelder
und Schweiggelder speculirt, der goldverschnürte Krieger und der Musiker
mit der Löwenmähne, die rasch ein gestammeltes „Dich oder den
Tod!“ hervorzulocken wissen, das eine Anweisung auf bezahlte Schulden und
gute Versorgung ist; dahin gehört aber auch der Soldat in der Küche,
dessen Liebe die Köchin mit Liebe plus Sättigungsmitteln aufwiegt,
der Geselle, der die Ersparnisse der Meisterin, die er geheiratet hat,
vertrinkt, und der Zuhälter, der die Prostituirte, von der er lebt,
mit Schlägen zwingt, täglich eine bestimmte Summe für ihn
zu verdienen. Das sind nur einige der unzähligen Formen der Hörigkeit,
in welche das Weib von seinem mächtigen Liebesbedürfniss so leicht
gezwungen wird, und an diese schliesst sich das Verbrechen an, zu dem ein
Mann, der ein verliebtes Weib beherrscht, dies noch viel leichter bestimmen
kann, als ein Weib den Mann; um ebensoviel leichter als die Geschlechtshörigkeit
des Weibes häufiger und schwerer ist als die des Mannes.
Das, was hier Geschlechtshörigkeit
genannt wird, ist bei Mann und Weib von hohem criminal- psychologischen
Interesse. Bei dem hohen, oft alle anderen Dinge, selbst Leben, Freiheit
und Ehre übersteigenden Werth, den für ein leidenschaftliches
Individuum der geschlechtliche Besitz eines anderen erlangen kann, ist
es begreiflich, dass von jeher unzählige Verbrechen um diesen Preis
begangen worden sind.
Das Individuum des entgegengesetzten
Geschlechtes kann dabei selbstverständlich sowohl indirecte, unschuldige
Veranlassung der That sein, wenn ein Nebenbuhler beseitigt oder ein Gut
erbeutet wird, um es dem geliebten Wesen zu Füssen zu legen, als auch
directe schuldige Veranlassung, indem es seine Macht über den unterworfenen
Theil dazu missbraucht, ihn in die Arme des Verbrechens zu treiben. ...
Es wäre wohl zu überlegen,
ob nicht in den Strafgesetzbüchern für angestiftete Delicte des
weiblichen Geschlechtes ein allgemeiner Strafmilderungsgrund bewilligt
werden sollte, wie er dem jugendlichen Alter nach deutschem Gesetz (§
57) bis 18 Jahre und nach österreichischem (§ 46 a) bis 20 Jahre
zusteht. Es ist Unrecht, ein Geschlecht im Civilrecht (Eherecht) als minderwerthig
zu behandeln und es vor dem Strafrecht als gleich verantwortlich zu betrachten.
Sehr richtig lässt Beaumarchais in Figaro's Hochzeit ein Weib sagen:
„On nous traite en mineures lorcequ'il s'agit de nos droits et en majeures
lorcequ'il est question de nos devoirs.“ {Man behandelt uns geringer,
wenn es unsere Rechte betrifft und bedeutsamer, wenn es um unsere Pflichten
geht} ...
"Geschlechtliche Hörigkeit
ist keine Perversion, sie ist nichts krankhaftes, die Elemente, aus denen
sie entsteht, Liebe und Willensschwäche, sind nicht pervers, nur ihr
gegenseitiges Stärkeverhältniss erzeugt das abnorme Resultat,
das den eigenen Interessen, oft Sitten und Gesetzen, so sehr widerspricht.
Das Motiv, aus welchem der unterworfene Theil hier handelt und die Tyrannei
erduldet, ist der normale Trieb zu einer Person des anderen Geschlechtes,
dessen Befriedigung der Preis seiner Hörigkeit ist. Die Acte des unterworfenen
Theiles, in denen die geschlechtliche Hörigkeit zum Ausdruck kommt,
geschehen auf' Befehl des herrschenden Theiles, um seiner Habsucht etc.
zu dienen. Sie haben für den unterworfenen Theil gar keinen selbstständigen
Zweck; sie sind für ihn nur Mittel, den eigentlichen Endzweck, den
Besitz des herrschenden Theiles zu erlangen oder zu bewahren. Endlich ist
Hörigkeit eine Folge der Liebe zu einem bestimmten Individuum; sie
tritt erst ein, wenn diese Liebe erwacht ist. ..."
Der bekannte Berliner Nervenarzt, Psychotherapeut und Erfinder des Autogenen Trainings, J. H. Schultz schreibt in „Geschlecht Liebe Ehe“ zur Hörigkeit, daß diese Menschen ihrer freien Willensbestimmung beraubt sind, ich gebe die ganze Passage und den Kontext wieder [FN04]:
„Eine andere, rein seelische Gefahr des Liebeslebens können wir uns am besten durch das Beispiel des Fetischismus erklären. Genau so wie ein Fetischkranker durch irgendeinen für andere Menschen völlig sinnlosen Gegenstand in unüberwindliche geschlechtliche Erregung versetzt wird, kann auch ein Mensch durch irgendeine Eigenheit eines Menschen anderen Geschlechts völlig sinnlos geschlechtlich erregt werden; er kann diesem Reiz ohne jede Hemmung und jedes Urteil verfallen und in einer völlig tollen Verliebtheit seine Selbstbestimmung und Selbstbeherrschung völlig verlieren. Wir sprechen dann von einer Hörigkeit, da diese Menschen ebenso ihrer freien Willensbestimmung beraubt sind wie in alten Zeiten, als Menschen noch zum Privatbesitz gehörten wie leblose Gegenstände, die hörigen Leibeigenen. Wir sehen dann Liebes- und Eheverbindungen, die für die Umgebung völlig unbegreiflich sind. Handelt es sich um zwei sonst wertvolle und gesunde Partner, so hat ein derartiges Geschehen nur die Bedeutung einer Sonderbarkeit ohne tieferen Belang. Häufig aber können wir beobachten, daß Männer oder Frauen guter Art und wertvollen Charakters Geschlechtspartnern hörig werden, die als Charakter und Persönlichkeit im höchsten Maße gefährlich und minderwertig sind. Wir sehen Hörigkeiten wertvollster Menschen an Kriminelle, an Schwachsinnige, an schwer Entartete usw. Häufig haben derartige hörige Menschen in klaren Augenblicken durchaus das Bewußtsein, daß ihre Leidenschaft eigentlich unverständlich sei, aber immer werden sie wieder unter ihren Zwang gerissen, immer wieder werden sie von den unwiderstehlichen Mächten ihrer Hörigkeit überwältigt. Wir haben also wieder dasselbe Verhalten, wie wir es beim Fetischisten oder beim sogenannten Perversen finden: der Mensch ist nicht mehr freier Herr seines Liebeslebens, er kann nicht mehr seine Liebe schenken - und alle wirkliche Liebe ist doch ein Geschenk, das größte Geschenk, das dieses Leben geben kann! -, sondern sie folgen einem ihnen selbst unheimlichen, ja, in nüchternen Augenblicken oft in höchstem Maße widerwärtigen und verächtlichem Drange und Zwange; sie sind, wie von Gebsattel einmal sehr richtig für die Perversionen ausführte, völlig süchtig geworden und ihrer Leidenschaft ausgeliefert wie ein Trinker oder ein Morphinist. Welch namenloses Unglück durch diese Störung des Liebeslebens geschehen kann, ist wohl jedem Menschen- und Lebenskenner klar. Nicht selten sehen wir derartige Zustände bei alternden Menschen beider Geschlechter, die plötzlich von einer völlig ‘wahnsinnigen Leidenschaft’ für irgendeinen, meist jugendlichen Menschen befallen werden, ohne daß eine sachliche Beobachtung an dem Gegenstand dieser Neigungen irgendeine Erklärung für die Tiefe der Ergriffenheit finden könnte. Jedem erfahrenen Arzt sind Fälle bekannt, wo hochstehende, lebenstüchtige Männer von 50 Jahren und mehr Beruf, Heim, Familie und Haus verließen und einer solchen Hörigkeit für Zeit oder Dauer zum Opfer fielen.“
Ernest Bornemann führt
in seinem Lexikon der Liebe - Materialien zur Sexualwissenschaft aus:
„Hörigkeit, geschlechtliche, ein Begriff, den Richard Freiherr von Krafft-Ebing (1840 - 1902) im Jahre 1892 zur Bezeichnung der Tatsache gewählt hat, daß eine Person einen ungewöhnlich hohen Grad von Abhängigkeit und Unselbständigkeit gegenüber einer anderen Person erwerben kann, mit der sie im Sexualverkehr steht. Diese Hörigkeit kann gelegentlich bis zum Verlust jedes selbständigen Willens und bis zur Erduldung der schwersten Opfer gehen. Krafft-Ebing hat aber nicht versäumt zu bemerken, daß ein gewisses Maß solcher Abhängigkeit »durchaus notwendig ist, wenn die Verbindung einige Dauer haben soll«. Es ist interessant, daß Sigmund Freud (1856 - 1939) sich 1918 dieser Auffassung angeschlossen hat, indem er schrieb: »Ein solches Maß von sexueller Hörigkeit ist in der Tat unentbehrlich zur Aufrechterhaltung der kulturellen Ehe und zur Hintanhaltung der sie bedrohenden polygamen Tendenzen.« Aber, sagt Freud, Krafft-Ebbings Ableitung aus dem zufälligen Zusammentreffen von Verliebtheit und Charakterschwäche bei dem einen Partner mit Egoismus bei dem anderen gehe nicht tief genug: »Analytische Erfahrungen gestatten es aber nicht, sich mit diesem einfachen Erklärungsversuch zu begnügen. Man kann vielmehr erkennen, daß die Größe des überwundenen Sexualwiderstandes das entscheidende Moment ist, dazu die Konzentration und die Einmaligkeit des Vorgangs der Überwindung. Die Hörigkeit ist demgemäß ungleich häufiger und intensiver beim Weibe als beim Manne, bei letzterem aber in unseren Zeiten immerhin häufiger als in der Antike. Wo wir die sexuelle Hörigkeit bei Männern studieren konnten, erwies sie sich als Erfolg der Überwindung einer psychischen Impotenz durch ein bestimmtes Weib, an welches der betreffende Mann von da an gebunden blieb. Viele auffällige Eheschließungen und manches tragische Schicksal - selbst von weitreichendem Belange scheinen in diesem Hergange ihre Aufklärung zu finden« (Das Tabu der Virginität, 1918). Keine sexuelle Emanzipation wird je die Möglichkeit der H. überwinden können, denn sie ist keine Frage des Rechts, sondern der sexuellen Empfindsamkeit. Und die läßt sich weder sozial noch juristisch regeln.“
Weiter berichtet das ZPID über
eine Veröffentlichung von Karin Gundel (1987):
„AB: Die Phänomene Hörigkeit und Gehorsam werden analysiert und gegeneinander abgegrenzt. Die physischen, psychischen und sozialen Voraussetzungen der Hörigkeit, ihr kriminogenes Potential, die besonderen Techniken des Hörigmachenden und die Fehler des Hörigwerdenden werden beschrieben. Die Besonderheiten beider Geschlechter in diesen Dimensionen werden einander gegenübergestellt. Typische Konstellationen männlicher Hörigkeit in der gesellschaftlichen Oberschicht des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts werden dargestellt. (Autor - ZPID)“
Michael Gerards von der ZPID
berichtet über eine Arbeit von Anita Eckstaedt (1989):
„AB: Aus psychoanalytischer Perspektive wird gezeigt, dass die Verleugnung nach innen und nach außen weiterer Abwehrmaßnahmen bedarf. Letztere sind veraendernde Manipulationen am Objekt mit dem Ziel, die Realität dem inneren Beduerfnis entsprechend zu veraendern. Dem Objekt bleibt nur die Trennung, oder aber es wird durch Verfuehrung oder Drohung in ein Hörigkeitsverhaeltnis entsprechend der folie à deux gezwungen. Implikationen für den analytischen Prozess, in dem das ineinandergreifende und umkehrbare Wechselverhaeltnis von Täter und Opfer von besonderer Bedeutung ist, werden diskutiert. (Zeitschrift/ Michael Gerards - ZPID)“
Das Buch der Journalistin Karin Dietl-Wichmann "Hörigkeit. Die Sehnsucht nach Unterwerfung. Betrof- fene erzählen, wie sie zu Ge- fangenen einer bizarren Lei- denschaft wurden." wird in jeder Fallvorstellung auf 2 Seiten kommentiert von dem Psychoanalytiker Dr. Wilhelm Schmid-Bode. Die Interpre- tationen sind für mich teilwei- se nicht nachvollziehbar. | Prolog
KAPITEL 1: Die Sehnsucht nach Lust und Erschrecken 15 KAPITEL 2: Eine Hohepriesterin des Leids .... KAPITEL 3: Wenn Abhängigkeit zur Sucht wird KAPITEL 4: Die Faszinationskraft der Gosse KAPITEL 5: Elisabeth, die ferne Herrin der Grausamkeit KAPITEL 6: Das Unvermögen, sich selbst zu lieben KAPITEL 7: Wolfgang, der nie wußte, warum .... KAPITEL 8 Fesseln und Peitsche statt Nähe und Zärtlichkeit KAPITEL 9: Die Gier, um jeden Preis geliebt zu werden KAPITEL 10 Der blinde Traum von Harmonie und Verstehen Resümee (Dr. Wilhel Schmid-Bode) Literaturhiwneise |
Achner & Bischof behandeln
das Problem der emotionalen Abhängigkeit und Hörigkeit im Zusammenhang
mit der Schuldfähigkeit (ich zitiere aus dem Psyndex).
„AB: Auf der Basis einschlägiger Literatur und relevanter psychiatrischer Gutachten wird das Phaenomen Hörigkeit in seinen unterschiedlichen theoretischen Modellen transparent gemacht und psychopathologisch durchleuchtet. Die daraus erwachsenden Konsequenzen fuer die Begutachtung der Schuldfaehigkeit werden aufgezeigt. Es wird dargelegt, dass Hörigkeit auf einer neurotischen Persoenlichkeitsverfassung mit depressiven und histrionischen Strukturanteilen sowie auf (in der Regel nicht perversen) masochistischen Neigungen unterschiedlicher theoretischer Konzeption basiert. Für die Begutachtung der Schuldfähigkeit höriger Straftäter werden Beurteilungsrichtlinien vorgeschlagen, unter anderem die Verwendung der "Beeinträchtigungsschwere-Skala" von Schepank und der Beurteilungskriterien von Rasch, wobei in jedem Fall eine differenzierte psychopathologische Analyse der zugrunde liegenden neurotischen Struktur vorzunehmen ist. Das Suchtkonzept [FN05] wird als nicht geeignet für die strafrechtliche Begutachtung Höriger betrachtet. Abschließend werden drei einschlägige Gutachtenfälle referiert. (Autor/Jutta Rohlmann - ZPID)“
Hildegard
Adler (1994)
Adler, H. (1994). Hörigkeit - eine neurotische
Perversion. Psyche, 48, (9-10), 886-902.
An der Arbeit von Hildegard Adler
(1994) mißfällt mehreres. Schon der Titel „Hörigkeit -
eine neurotische Perversion“ demonstriert eine sehr fragwürdige und
diskriminierende
Sprache - nicht etwa im Jahre 1892, sondern 1994 -, wie sie für
weite Teile der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie leider typisch ist.
Ihre Eingangsdefinition:
Diese Definition ist bereits
mehrfach fraglich und auch noch in sich widersprüchlich [FN09].
Das Beispiel Prof. Unrat ist zwar nicht schlecht, aber es handelt sich
bei ihm doch nur um eine Erstmanifestation.