Allgemeine Kriterien für (alle) Persönlichkeitsstörungen
ICD-10 F60.x
- Darstellung und Kritik -
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen.
Vorbemerkung
Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung ist oft eine schwere
Belastung für eine PatientIn, die ihr lebenslang zu schaffen machen
kann. Im forensischen Bereich eröffnet sie den Zugang zum 4.
Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB einer sog. "schweren
anderen seelischen Abartigkeit" und damit für dauerhaftes Verschwinden
in den dunklen Ort der Psychiatrie (Prantl),
dem Maßregelvollzug. Und seit einiger Zeit ist man sogar dabei, diese
schwere Diagnose schon für Kinder
und Jugendliche zu eröffnen. Wer glaubte, die "wissenschaftliche"
Abteilung der Psychiatrie würde den Problemen im DSM-5
endlich auf den Grund gehen, wird enttäuscht und ernüchtert feststellen
müssen, dass das DSM-5 nicht etwa besser, sondern schlechter wurde.
Soweit PsychologInnen und PsychotherapeutInnen bei den Klassifikationssystemen
mitgewirkt haben, sind diese natürlich mitverantwortlich.
Hinsichtlich Behandlung und Therapie leidet das
Grundkonzept an einem unauflösbaren Grundwiderspruch:
Wenn zum Begriff der Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung
die Stetigkeit oder Konstanz und Unveränderlichkeit der Wesensmerkmale
über die Zeit gehört, dann sind solche konstanten Merkmale per
definitionem nicht veränder- und damit auch nicht behandelbar. Was
man machen kann, habe ich an der verlinkten Stelle ausgeführt ( J
ausgleichen,
J
kontrollieren,
J
lernen,
J
vorbeugen
> Zum Thetapräfix).
Zum Wesen der grundlegenden und fatalen methodologischen Fehlleistungen
in der Psychiatrie gehört, dass das gesamte psychopathologische Haus
erst im ersten Stock bei den Symptomen beginnt und damit quasi in der Luft
hängt (> DSM-5, Daten-Fehler).
Genau dieser fatale Fehler zeigt sich in der Wissenschaftspoesie der Beschreibung
der Persönlichkeitsstörungen mit einer Vielzahl unbestimmter
"Begriffe", besser Worthülsen. Nämlich im Einzelnen:
"Persönlichkeitsstörungen sind
schwere Störungen der Persönlichkeit"
_ |
Zirkulär vom Typ ein Kreis ist ein Kreis. Drei Begriffe bleiben unbestimmt: schwere, Störung und Persönlichkeit. (3 Fragen, Sum = 3) |
"Sie erfassen verschiedene Persönlichkeitsbereiche und gehen beinahe immer mit ausgeprägten persönlichen Leiden und sozialen Beeinträchtigungen einher." | Fünf Begriffe bleiben unbestimmt: Persönlichkeitsberei- che, beinahe immer, ausgeprägt, persönliches Lei- den, soziale Beeinträchtigungen (5 Fragen, Sum = 8) |
"Persönlichkeitsstörungen treten meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung und bestehen während des Erwachsenenalters weiter." | was heißt "meist"?
Und wie "erscheinen" sie denn?
(2 Fragen, Sum = 10) _ |
"G1. Die charakteristischen und dauerhaften
inneren Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt
deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben («Normen»)
ab. Diese Abweichung äußert sich in mehr als einem der folgenden
Bereiche:"
_ |
Was sind "charakteristische und
dauerhafte innere Erfahrungs- und Verhaltensmuster"?
Wie lange müssen sie "andauern"? Was heißt es genau "insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben («Normen»)" abweichen? Welche Bezugsgruppe? (6 Fragen, Sum = 16) |
G1.1 "Kognition. (d.h. Wahrnehmung und Interpretation von Dingen, Menschen und Ereignissen; entscheidende Einstellungen und Vorstellungen von sich und anderen);" | Was sind "entscheidende Einstellungen
und Vorstellungen von sich und anderen"?
(4 Fragen, Sum = 20) |
G1.2 "Affektivität (Variationsbreite, Intensität und Angemessenheit der emotionalen Ansprechbarkeit und Reaktion);" | Wie werden Abweichungen der "Variationsbreite, In- tensität und Angemessenheit der emotionalen An- sprechbarkeit und Reaktion" festgestellt? (5 Fragen, Sum = 25) |
G1.3 "Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung;"
_ _ |
Wie werden Abweichungen von "Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung" festgestellt? (2 Fragen, Sum = 27) |
G1.4 "Die Art des Umganges mit anderen Menschen und die Handhabung zwischenmenschlicher Beziehungen." | Wie stellt man Abweichungen der "Art des Umganges mit anderen Menschen und die Handhabung zwischen- menschlicher Beziehungen" fest? (2 Fragen, Sum = 29) |
"G2. Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig ist (nicht begrenzt auf einen speziellen auslösenden Stimulus oder eine bestimmte Situation)." | Wann sind viele persönliche und soziale Situationen viel? Was genau bedeutet "unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig"? Wie werden nicht begrenzte spezielle auslösende Stimuli erfasst? Was sind keine bestimmten Situationen? (6 Fragen, Sum = 35) |
"G3. Persönlicher Leidensdruck,
nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides sind dem unter
G2. beschriebenen Verhalten zuzuschreiben."
_ |
Wie wird der persönliche Leidensdruck oder der nachteilige Einfluss, der dem beschriebenen Verhalten zuzuordnen ist, festgestellt? Ab wann zählt es (cut off)? (3 Fragen, Sum = 38) |
"G4. Nachweis, dass die Abweichung stabil,
von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz
begonnen hat."
_ |
Wie ist der "Nachweis, dass die Abweichung stabil, von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen hat" genau zu führen? (3 Fragen, Sum = 41 ) |
"G5. Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters erklärt werden. Es können aber episodische oder chronische Zustandsbilder der Kapitel F5 und F7 neben dieser Störung existieren oder sie überlagern." | Worin genau besteht das Ausschlussverfahren und welche Methoden können hierbei angewendet werden (da ja nicht alle möglichen Störungen berücksichtigt werden können)? Wie sind andere, daneben oder überlagernd bestehende episodische oder chronische Zustandsbilder differential zu diagnostizieren? (2 Fragen, Sum = 43) |
"G6. Eine organische Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche Ursache für die Abweichung ausgeschlossen werden (falls eine solche Verursachung nachweisbar ist, soll die Kategorie F07 verwendet werden)." | Was genau ist zu tun, um eine "organische
Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionsstörung
des Gehirns" als Grund für die Abweichung auszuschließen? (3
Fragen, Sum = 46)
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Jaspers zur Psychopathiediagnose
"... Einen Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer {>366}Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden." Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. A. 1948, S. 365f. |
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z.B. Diagnostik site: www.sgipt.org. |