Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=23.01.2003 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 16.07.20
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail: sekretariat@sgipt.org

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    Willkommen in der Abteilung Diagnostik und Differentialdiagnostik in der Allgemeine und Integrativen Therapie, Bereich "Leitlinien", hier zum Thema:

    Persönlichkeitsstörungen schon bei Kindern und Jugendlichen?

    Kritische Fragen an die Leitlinien in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie und Anregung zur Diskussion

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Mit Erstaunen und einem gewissen Entsetzen lese ich in den Leitlinien zur Persönlichkeitsstörung bei KiJugs folgenden unverständlichen, weil im Kontext widerspruchsvollen Text:
     

      "Persönlichkeitsstörungen beginnen in der Kindheit und Jugend, nehmen  eine lebenslange Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form auf Dauer im frühen Erwachsenenalter. Aufgrund des Entwicklungsaspektes einer psychischen Störung im Kindes- und Jugendalter darf in der ICD-10 die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluß der Pubertät, d.h. vor dem 16. – 17.  Lebensjahr nur dann gestellt werden, wenn die geforderte Mindestzahl der Kriterien für die jeweilige Störung erfüllt ist und die Verhaltensmuster bereits in diesem Alter andauernd, durchgehend und situationsübergreifend auftreten. Die Stabilität der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter ist deutlich geringer als im Erwachsenenalter." [Quelle]


    Ich möchte gegen diese Version Grundsätzliches einwenden:

    I.

    Es ist grundsätzlich falsch, weil logisch widerspruchsvoll, Kindern oder Jugendlichen oder auch sogar Heranwachsenden die Diagnose Persönlichkeitsstörung zuzuordnen, da eine solche Diagnose nach ICD und DSM überhaupt erst ab dem heranwachsenden Alter auftreten kann, weil sich da die Persönlichkeit ja erst bildet und auch erst bilden kann. So sehen es jedenfalls die allgemeinen Kriterien für Persönlichkeitsstörungen. Wollte man das Konzept schon bei Kindern oder Jugendlichen einführen, müsste das gesamte bisherige Konzept überarbeitet werden. 

    II.

    Die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung verlangt im ICD und DSM -  im Gegensatz zu Neurosen, Psychosen Anpassungs- und Belastungs- oder auch rückbildungsfähigen organisch bedingten Störungen - eine zeitliche Konstanz, quasi einen symptomatischen "roten Faden", der sich durch das Leben zieht. Dies muß bei Persönlichkeitsstörungen sozusagen retrospektiv (rückblickend) aufgezeigt werden können. Eine solcher Rückblick ist aber faktisch und per definitionem erst im Erwachsenenalter möglich (kaum vor 24). 

    III.

    Eine Stabilität ist entweder da oder nicht da. Es gibt keine mehr oder minder Stabilität, bei KiJugs etwa "deutlich geringere Stabilität" - erst recht nicht, wenn noch nicht einmal klare Operationalisierungen für dieses gummi-nebulöse Mehr oder Weniger  angegeben werden. 

    Damit (I, II, III) ergibt sich summa summarum der zwingende Schluß, daß es nach den ICD und DSM-Kriterien unmöglich ist, für Jugendliche oder gar Kinder die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung zu stellen.

    Es entsteht der Eindruck, als ob hier zwanghaft versucht würde, alle Syndromem, Störungen und Krankheiten, die ICD und DSM für Erwachsene ausweisen, auch bei KiJugs zu etablieren, und zwar ohne umfangreiche epidemiologische_Evaluation - jedenfalls nicht ausgewiesene. Durch welche unanbhängigen, mehrfachen und empirischen Längsschnitt- Untersuchungen wurde belegt, daß bei Kindern und Jugendlichen schon eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden darf?

    Ich frage mich, was die Verantwortlichen für die diagnostischen Leitlinien dazu bringt, solche  fragwürdigen und gefährlichen Leitlinien so schnell in die Öffentlichkeit zu bringen? Umsomehr, wenn man sich vergegenwärtigt, welche fatalen Folgen das Labeln einer schon Kindern zugewiesenen "Persönlichkeitsstörung" haben, also auch ethisch bedenklich sein kann.
    Was für fragwürdige Auswirkungen solche Leitlinien haben, läßt sich aktuell z.B. nachlesen bei:
     

      Böhm, Hartmut; Meuren, Rita & Storm-Wahlich, Magdalena (2002). Die Borderlinestörung als Quelle (nicht)-intentionaler Falschaussagen. Praxis der Rechtspsychologie, 12, 2, Dezember, Themenschwerpunkt Straf- und Maßregelvollzug/ Prognosebegutachtung, 209-223. Dort beruft (Seite 212) man sich auf diese Leitlinien, wonach dann schon kindliche Zeugen eine Borderlinediagnose und damit als unzuverlässig gelabelt werden können.




    Quelle: Leitlinien für Diagnostik und Therapie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie

    "Persönlichkeitsstörungen beginnen in der Kindheit und Jugend, nehmen eine lebenslange Entwicklung und manifestieren sich in typischer Form auf Dauer im frühen Erwachsenenalter. Aufgrund des Entwicklungsaspektes einer psychischen Störung im Kindes- und Jugendalter darf in der ICD-10 die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluß der Pubertät, d.h. vor dem 16. – 17. Lebensjahr nur dann gestellt werden, wenn die geforderte Mindestzahl der Kriterien für die jeweilige Störung erfüllt ist und die Verhaltensmuster bereits in diesem Alter andauernd, durchgehend und situationsübergreifend auftreten. Die Stabilität der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter ist  deutlich geringer als im Erwachsenenalter. Die Zustandsbilder der Persönlichkeitsstörungen dürfen nicht auf andere psychiatrische Störungen zurückzuführen sein und nicht als Folge einer organischen Schädigung oder Erkrankung auftreten. Sie sind gekennzeichnet durch:

    • Beeinträchtigungen mehrerer Bereiche wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmung und
    • Denken sowie der sozialen Interaktion
    • Lange zeitliche Dauer der Verhaltensstörung
    • Tiefgreifende Verwurzelung der Verhaltensweisen und situationsübergreifendes Auftreten
    • Einschränkung der sozialen, schulischen und beruflichen Leistungsfähigkeit
    • Persönliches Leid des Betroffenen, das aber in vielen Fällen erst im Erwachsenenalter auftritt; im Jugendalter ist eine ego-synthone Symptomatik nicht selten."


    Quelle: Persönlichkeitsstörungen: uni-duesseldorf ll kipp033. AWMF meldet 2008, dass die Gültigkeit abgelaufen sei und überprüft werde. Es wird angegeben "Zitierbare Quelle: Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 - ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 141 - 152.



    Aktuell gültige Leitlinien zu Persoenlichkeitsstoerungen im Kindes- Jugendalter
    Aktuell (10.3.15) ist unklar, ob es eine Leitlinie gibt. Die letzte. die bis 2008 Gültigkeit gehabt haben soll, war: [2003: Nr.028/033 Entwicklungs Stufe 1]



    Methodologische Fehlleistungen

    Die Definitionen "Persönlichkeit" und "Persönlichkeitsstörung" sowie der Kriterien sind wie meist unscharf und unklar. Das liegt vor allem am methodologisch so gut wie nicht vorhandenen Niveau psychiatrischer Diagnostik und in der Hauptsache an der fatalen  Fehleinschätzung, die Grundlage aller Psychiatrie sei das Symptom. Die Grundlage aller Psychologie und Psychologie waren, sind und bleiben die Daten des Erlebens und Verhaltens - sowie der Körperdaten. Diese sind das Fundament, sozusagen das Erdgeschoss, auf das man alles aufbauen könnte - wenn es denn vorhanden wäre. Nicht einmal im - zu Unrecht -  viel gerühmten DSM-5.  Fairerweise muss gesagt werden, dass sich auch die PsychologInnen

    Die Arbeit von Schmeck und Schlueter-Mueller (2009)
     

      Die AutorInnen schreiben am Ende (!) ihres Buches SW. 118:
       
        "Die grundlegende Forschungsfrage besteht nach wie vor darin, ob die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter überhaupt existiert."


      Hier fragt sich natürlich jeder halbwegs mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Mensch, ob man diese Frage nicht an den Anfang des Buches stellen muss und wenn man sie nicht positiv beantworten kann, nicht besser auf ein solches Buch verzichten sollte.

      Nicht minder merkwürdig ist die eingangs, S. 12, Mitteilung:
       

        "Nur wenige psychiatrische Diagnosen sind so umstritten wie diejenige einer Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter. In den Leitlinien der „Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ wird festgehalten, dass laut ICD-10 aufgrund des Entwicklungsaspekts von psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluss der Pubertät, d. h. vor dem 16./17. Lebensjahr, nur dann gestellt werden darf, wenn
        1. die geforderte Mindestzahl der Kriterien erfüllt ist und
        2. die Verhaltensmuster bereits in diesem Alter andauernd, durchgehend und situationsübergreifend auftreten."


      Die Mitteilung erscheint insofern absurd, als ja völlig klar ist, dass die Mindestzahl der Kriterien erfüllt sein muss, weil sonst ja nach den Regeln gar keine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Das gilt natürlich genauso für das 2. Kriterium (S. 13) der durchgehenden und situationsübergreifenden Kontinuität der Verhaltensmuster. Anmerkung zum ersten  Irrtum ("Es wird von der Vorstellung ausgegangen, dass sich Entwicklung in Kindheit und Jugend abspielt und mit dem 18. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. ..."): Diesen Irrtum kann nur jemand begehen, der in Entwicklungspsychologie nicht ausgebildet wurde.

      Obwohl also Kontinuität als 2. Kriterium gefordert wird, teilen die AutorInnen im 7. Kapitel, S. 112,  mit:
       

        "Persönlichkeitsstörungen wurden lange mit einem stabilen Verlauf, schlechter Prognose und als nahezu nicht therapierbar assoziiert. Aus der klinischen Erfahrung abgeleitet – weniger aus empirischer Evidenz – schienen einmal diagnostizierte Persönlichkeitsstörungen als kaum veränderbar. Tatsächlich weisen die Ergebnisse empirischer Studien eher in die entgegengesetzte Richtung. Nahezu alle diese Untersuchungen zeigen, dass Persönlichkeitsstörungsdiagnosen nicht so stabil sind, wie immer erwartet. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist jedoch nicht klar, wie diese Ergebnisse eingeordnet werden können."


      Die großen Widersprüche in dieser Arbeit deuten sehr stark darauf hin, dass das gesamte Konzept der Persönlichkeitsstörung sehr fragwürdig ist und damit erst Recht für Kinder und Jugendliche. Auch das spricht nicht für die Kompetenz psychiatrischer Psychodiagnostik, wie schon die Klassifikationssysteme ICD und besonders wieder DSM-5 nahelegen.






    Literatur (Auswahl) > Klassifikation > Diagnostik > Befund > Daten > Symptom > Syndrom >
     
      Leitlinien
      • [2003: Nr.028/033 Entwicklungs Stufe 1]
      • Hofmann, Ronald (2002) Bindungsgestörte Kinder und Jugendliche mit einer Borderlinestörung. Ein Praxisbuch für Therapie, Betreuung und Beratung. Stutttgart: Klett-Cotta.
      • Kernberg, Paulina; Weiner, Alan & Bardenstein, Karen  () Persönlichkeitsstörungen können und müssen viel früher als bisher erkannt und behandelt werden. Stuttgart: Klett-Cotta.
      • Merod, Rudi (2010) Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen. Tübingen: dgvt.
      • Schmeck, Klaus & Schlüter-Müller, Susanne (2009) Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter. Reihe Manuale. Heidelberg: Springer.
      • Schmeck, K. (2001) Temperament und Charakter – Grundlagen zum Verständnis von Persönlichkeitsstörungen. PTT 5, S. 13-19.


      Diagnostik und Differentialdiagnostik

      • Klassifikation > Diagnostik > Befund > Daten > Symptom > Syndrom >




    Links (Auswahl: beachte)
     
      Leitlinien
      • [2003: Nr.028/033 Entwicklungs Stufe 1]
      • https://www.dgkjp.de/leitlinien.


      Diagnostik und Differentialdiagnostik

      • Überblick Diagnostik in der IP-GIPT.
      • Kritik: Integrative Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Teil 1, Teil2, Teil3, Teil4,
      • Dependente Persönlichkeitsstörung.
      • DSM-5 Anspruch, Wirklichkeit, Kritik - Warum psychiatrische Diagnose-Systeme nichts taugen.
      • Der geheimnisvolle Wandel der Borderline Persönlichkeits-Diagnostik vom DSM-III zum DSM-IV.
      Medien
      • Marie Brand und der schoene Schein macht im ZDF-Krimi Propaganda für Persönlichkeitsstörungen im Jugend-/ heranwachsenden Alter.




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    R. Sponsel: Seit 1977 Praxis mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen; Verzicht  auf KV Anerkennung 2001.
    __


    Querverweise
    • Probleme der Differentialdiagnose und Komorbidität
    • Kritik und Alternative zur Traditionellen Diagnostik in der Psychopathologie
    • Testtheorie der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie
    • Krankheit, Symptom, Syndrom, Aufgabe der Heilkunde
    • Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell
    • Norm, Wert, Abweichung (Deviation)
    • Kausalitätsproblem
    • Der Wissenschaftsbegriff und seine aktuelle Bedeutung
    • Über den Aufbau einer präzisen Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, .... und Psychotherapie
    • Überblick der Signaturen: Dokumentations- und Evaluationssystem Allgemeine und Integrative Psychotherapie



    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Persönlichkeitsstörungen schon bei Kindern und Jugendlichen? Kritische Fragen an die Leitlinien in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie und Anregung zur Diskussion. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/diagnos/leitl/ps_kijug.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
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    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    16.07.20  LitErg.
    31.03.15  Restlinkfehler korrigiert.
    10.03.15  Methodologische Fehlleistungen: die Arbeit von Schmeck und  Schlüter-Müller.
    09.03.15  Linkfehler geprüft und korrigiert. Layoutaktualisierung.