"Persönlichkeitsstörung" Zur Kritik eines
widersinnigen Konzepts
Die Kritik von Hans Lieb (1998)
von Rudolf Sponsel, Erlangen.
Zusammenfassung
Hans Lieb, Verhaltens- und Systemischer Therapeut hat 1998 ein flammendes
Buch gegen das Konzept "Persönlichkeitsstörung" und seine Anwendung
geschrieben. Ich bin auf das Buch gestoßen, als ich mich mit Fiedlers
Integrativer
Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen auseinandersetzte
(aber nie abschloss). Die Klarheit und Deutlichkeit dieses Buches hatte
mich - damals wie auch heute noch - beeindruckt (S. 22; Texte von Hans
Lieb sind grün unterlegt):
"Die Diagnose "Persönlichkeitsstörung" wird in Entlassungsberichten und Therapieanträgen immer häufiger benutzt; Veröffentlichungen hierzu nehmen zu. Daß die Rede von der "gestörten" Persönlichkeit inhuman, in sich widersinnig und im Grunde genommen nutzlos ist, soll in diesem Buch gezeigt werden. Daß sie eigentlich nicht in die Landschaft verhaltenstherapeutischen Denkens paßt, haben kritische Autoren gezeigt (z.B. Reinecker im Nachwort von Turkat 1996). Worin besteht ihr Nutzen? Was verdanken wir ihr?" |
"Aus diesen Gründen schlage ich vor, immer dann, wenn von einer "Persönlichkeitsstörung" gesprochen wurde oder wird, von "Persönlichkeitsstilen" zu sprechen." |
Der Aufbau der Argumentation lässt sich gut über das
Inhaltsverzeichnis nachvollziehen, hier die Hauptkapitel:
|
Zunächst stellt der Autor die Konzeption der Persönlichkeitsstörungen
dar (S. 11ff):
"1.1 Begriff und Klassifikation von "Persönlichkeitsstörungen"
Mit "Persönlichkeitsstörungen" sind wiederholt beobachtbare typische Verhaltensmuster von Personen gemeint, die vor allem in ihren Interaktionen als unflexibel, sozial wenig angepaßt und von üblichen Normen abweichend bezeichnet werden und die wenig Bereitschaft zeigen, diese Eigenarten als problematisch zu befinden. Die Klassifikation solcher "Störungen" hat im wesentlichen zwei Quellen. Zum einen ist sie eine Fortsetzung der jahrhundertealten Tradition psychiatrischer Klassifizierungen. Zum anderen ist die Beschreibung "gestörter Persönlichkeiten" ein Resultat therapeutischer Erfahrungen sehr verschiedener Therapieschulen. Hier hat sich nämlich gezeigt, daß es eine Gruppe von Personen gibt, deren Kernproblem nicht durch die Beschreibung bestimmter Symptome erfaßt wird, [>12] sondern irgendwie mit "der Personen selbst" zu tun hat. Vor allem in der Verhaltenstherapie hat hier die Anwendung störungsspezifischer Techniken gegen Symptome (z.B. gegen Angst, Depression usw.) wenig gefruchtet. Vielmehr scheint es so zu sein, daß die Symptome Teil einer Grundeigenschaft der jeweiligen Person sind, die daher in ihrer personalen Eigenart verstanden und behandelt werden muß. ... Das Ziel dieser Typisierungen ist einerseits ein rein klassifikatorisches und zum anderen ein therapeutisches. Das eher psychiatrisch-klassifikatorische ist bemüht, die "Persönlichkeitsstörungen" von den klassischen Psychosen oder Neurosen abzugrenzen bzw. zu untersuchen, welche "Persönlichkeitsstörungen" mit welchen anderen Krankheiten zusammenhängen. Wesentlich für diese Unterscheidung ist, daß eine diagnostizierte "Persönlichkeitsstörung" sich immer auf die Person als Ganzes bezieht und nicht nur ein klinisches Syndrom beschreibt. Ein für alle "Persönlichkeitsstörungen" charakteristisches Merkmal wiederum ist, daß diese "Persontypen" ihr auffälliges Verhalten ich-synthon erleben und beschreiben und nicht - wie etwa sogenannte "neurotische" Patienten - ich-dysthon. Ich-Synthonie bedeutet hierbei, daß ein Patient sich mit seinem als gestört bezeichneten Verhalten vollkommen identifiziert und dieses nicht im Sinne einer Selbstdistanzierung problematisiert. Zum Wissensbestand psychiatrischer Klassifikationen gehören die für diesen Bereich üblichen Forschungen der Epidemiologie (wie häufig treten bestimmte Typen auf) und der Nosologie (wie einheitlich sind sie zu identifizieren und mit welchen anderen Störungen gehen sie einher). Unter dem Begriff der sogenannten "Komorbidität" wird beispielsweise danach geforscht, welche Arten von Störungen gehäuft mit anderen auftreten und welche eher isoliert. Das therapeutische Ziel besteht darin, für diese Klientel besondere therapeutische Behandlungsformen bzw. therapeutische Strategien zu finden. Beispielsweise müsse auf die, Ich-Synthonie" dieser Gruppe anders eingegangen werden als auf die Ich-Dysthonie anderer Störungsformen. Vielfach werden typische therapeutische Krisen als Teil des interaktioneilen Verhaltens bestimmter "Persönlichkeitsstörungen" verstanden - z.B. die Stagnation der Autonomieentwicklung bei einer "dependenten Persönlichkeitsstörung" oder die Frustration auf seiten der Therapeuten bei "Abwertungsstrategien" von Borderline-Patienten." |
Im Laufe seiner Auseinandersetzung kommt der Autor zu folgenden Ergebnissen
(S. 169ff):
"6. Person ja - "Störung" nein: Ein Fazit
Was ist nun das Fazit dieser kritischen Analyse? Es gibt ein deutliches Contra gegen den Begriff der ,"Persönlichkeitsstörung" und aller damit zusammenhängender Annahmen. Das heißt aber nicht, daß nicht auch wertvolle Ansätze in diesem Konzept enthalten wären, wie schon in Kapitel 2 gezeigt worden war. Zu viel ist gut, um alles zu ignorieren - zu viel ist unnütz oder schadet, um alles kritiklos beizubehalten. 6.1 Zusammenfassung: Der Nutzen
6.2 Zusammenfassung: Der Schaden 6.2.1 Offener Schaden
a) Sie lernen nicht, die Anwendung therapeutischer Techniken mit einem würde- und verantwortungsvollen Umgang mit dem Pati- [>171]enten, also Technik mit Moral zu verbinden. Alles, was gut und hilfreich für die therapeutische Arbeit ist, kann man besser und effektiver ohne Störungsdenken anwenden. Therapeuten verlieren ihre Achtung vor "schwierigen" weil "gestörten" Patienten und vermitteln, da man nicht nicht kommunizieren kann, Miß- oder Verachtung. Wer "Persönlichkeitsstörung" sagt, meint es so. b) Das Konzept verhindert, daß Therapeuten ihre eigene Rolle für negative Entwicklungen in therapeutischen Prozessen erkennen und anerkennen. Es wird immer zur Exkulpation von Therapeuten benutzt werden, auch wenn davor gewarnt wird. Die Verlockung ist zu groß, lieber an die "Vulnerabilität" des Patienten als an eigene Anteile in therapeutischen Krisen zu denken. Dieses Konzept bietet sich als Ausstieg vor unangenehmen Fragen nach der eigenen Kränkbarkeit, Aggressivität, Ängstlichkeit, Abhängigkeit usw. an. Die in Kapitel 2 beschriebenen und hier in Kapitel 6.2.1 zusammengefaßten positiven Aspekte stammen in keinem Falle dem Störungsdenken selbst. Die Entwicklung therapeutischer Flexibilität, das bedürfnisorientierte Verstehen sich in Beziehung schwierig verhaltender Menschen und alle anderen positiven Seiten: Nichts davon resultiert aus dem Gedanken, daß ein Patient "gestört" sei. Es hat damit nichts zu tun. Umgekehrt zeigt sich: Die Anwendung hilfreicher Therapieansätze auf Personen, die als gestört bezeichnet werden, ist ein von dieser Bezeichnung ganz unabhängiger Vorgang. Es ist ein Irrtum oder eine Täuschung zu sagen, die von Beck und Freeman, Fiedler, Benjamin, Linehan oder anderen dargestellten und z.T. hervorragenden Therapieansätze würden aus Diagnosen oder gar aus Störungsdiagnosen hervorgehen. Aus dem Persönlichkeitsstörungskonzept folgt nur die gesellschaftliche Macht sich gesund Nennender über die von ihnen als krank Bezeichneten. Daß das Störungsdenken oder die Vergabe entsprechender Diagnosen keine positive Auswirkung auf die Therapie hat, läßt sich einer Studie von Schmitz und Fydrich (1996) entnehmen, die mit einer Population "persönlichkeitsgestörter Patienten" in einer verhaltenstherapeutisch-psychosomatischen Fachklinik durchgeführt worden ist. Hier hat sich ge- [>173]zeigt, daß bei den durch die Forscher so diagnostizierten Patienten sehr gute therapeutische Resultate erzielt worden waren, ohne daß die Therapeuten diese Diagnose vergeben hatten. Dies zeigte sich vor allem für Patienten, denen die Forscher die Diagnose "selbstunsichere Persönlichkeitsstörung" gegeben hatten. Man kann das so deuten, daß hier Therapeuten "Störungen" behandeln, ohne es zu merken. Zutreffender und hilfreicher ist wohl eine andere Deutung: Daß hier Therapeuten Personen mit Problemen behandelt haben, die in einem von der Therapie völlig unabhängigen Prozeß als "gestört" eingeschätzt worden sind. Die Therapie selbst bedurfte der Störungsdiagnosen nicht. Sie hätten hier nur gestört. Betrachtet man sich die auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie in der Literatur empfohlenen Methoden und Therapiestrategien für "Persönlichkeitsstörungen", so fällt eines auf: Es gibt überhaupt keine spezielle Therapie dieser so bezeichneten Klientel! Vielmehr werden bekannte und nützliche Interventionen, die in der VT immer eingesetzt werden, einfach auch auf diese Probleme angewandt. Das Inventar reicht von Angstbewältigungs- und Selbstsicherheitstrainings über kognitive Therapien bis zu interaktionellen Strategien zur Veränderung der therapeutischen Beziehung. Turkat (1996) berichtet z.B. über sein verhaltenstherapeutisches Vorgehen bei "Persönlichkeitsstörungen". Betrachtet man sein Procedere genauer, fällt auf, daß die Störungsdiagnose erstens keinerlei besondere Bedeutung für die Therapie hat (aber sicher die Beziehung zwischen Therapeut und Patient stört) und daß zweitens sein psychotherapeutisches Rationale dem der Behandlung anderer Patienten mit anderen Problemen vollkommen gleicht (seine Bausteine: Datenerhebungen - Hypothesenbildung - Absprache der Hypothesen und Therapieplanung mit Patienten - Durchführung typischer verhaltenstherapeutischer Interventionen für bestimmte [universelle] Probleme). Wir sehen: Es gibt gar keine Behandlung der Persönlichkeits-"Störung", sondern nur eine solche von Problemen, die Menschen berichten, die als gestört bezeichnet werden und die von dieser Bezeichnung vollkommen unabhängig ist (vgl. z.B. die Fallbeschreibungen in Turkat, 1996, S. 41f. und die allgemeinen Angaben zur Behandlung verschiedener "Persönlichkeitsstörungen" S. 53). Auch die von Linehan (1989) entwickelte "dialektische Verhaltenstherapie" stellt sich zwar in fruchtbarer und sensibler Weise auf die Klientel ein, für die sie entwickelt wurde: Auf die sogenannten Borderline- [>174]Patienten. Im Detail ist dieses "Sich-einstellen-auf" aber nichts, was Therapeuten in verschiedenem Ausmaß nicht bei allen Patienten anwenden: Soziales Training, Umgang mit Streß und Selbstkontrolltechnik, Thematisierung der Suizidneigung und spezieller Widerstände gegen die Therapie, Konfrontation mit selbst- und fremdschädigenden Konsequenzen bei Verlust der Impulskontrolle, Bearbeitung von Suchtverhalten und, besonders wichtig, die Erarbeitung einer Strategie zum Umgang mit häufig fluktuierenden emotionalen Instabilitäten (vgl. zusammenfassend z.B. bei Fiedler, 1994c, S. 255 und 1994a, S. 406). Vereinfacht gesagt: Eine in sich stimmige individuelle Problemanalyse mit daraus abgeleiteten Zielen und dann dazu führenden Strategien genügt für die Therapie. Die Kenntnis ähnlicher Problemkonstellationen bei bestimmten Patientengruppen ist hierbei nützlich und wichtig. Man mag sie "Borderline" nennen, es bedarf aber sicher keiner Störungsdiagnose. Es hat nichts mit "Störungen" zu tun, wenn ein Therapeut in einem rein methodischen Sinne (vgl. Kapitel 3.1) einen einzelnen Patienten als Beispiel einer bestimmten Patientengruppe identifiziert (d.h. daß er das "Typische" an den als Borderline bezeichneten Patienten kennt und nun einen bestimmten Patienten dieser Gruppe zuordnet) und dies in seine therapeutischen Überlegungen einbezieht. Das hilft, sich vom Einzelfall nicht irritieren zu lassen, schwierige Abläufe wie z.B. das Auf- und Abwerten des Therapeuten durch den Patienten besser als Teil seiner Dynamik zu verstehen und entsprechende therapeutische Antworten darauf zu finden, die zu übersehen man sonst verführt wäre. Das hat mit der Diagnose einer "Störung" aber nichts zu tun. Noch deutlicher wird dies bei der kognitiven Therapie dieser Klientel. Die Identifikation bestimmter problematischer Denkschemata bei einer Person ist immer ein individueller Vorgang und bedarf keiner Diagnose. Wenn auch hier bestimmte Schemata schneller und leichter identifiziert werden, weil man sie von anderen ähnlichen Patienten kennt, ist dies ein in der Psychologie und Erkenntnistheorie bekannter und erforschter Vorgang der Typen- und Clusterbildung. Wir fassen ja bei jeder Beschreibung eines Menschen immer zusammen, weil schon die Entwicklung von Begriffen solcher Zusammenfassungen bedarf. Und wir nehmen wahr, was wir kennen bzw. was uns unsere Erkenntniskategorien wahrzunehmen vorgeben. Der Begriff Apfel ist die Abstraktion aller einzelnen Äpfel - so dient auch der Begriff "Borderline" der Zusammenfassung sich ähnlich verhaltender Men- [>175]schen. Diese Beschreibung von Gemeinsamkeit kann für die Therapie hilfreich sein. Das soll hier nicht bestritten werden. Die Ideen Linehans, Benjamins oder Kernbergs zum Umgang mit dieser Klientel sind äußerst wertvoll. Hier geht es aber darum, daß der Störungsbegriff keine fruchtbare, wohl aber negative therapeutische Konsequenzen hat. Liest man die Darstellung therapeutischer Strategien für bestimmte "Persönlichkeitsstörungen" also genauer, so fällt zusammenfassend auf, daß die Rede von "Störungen" nicht nötig ist, um die jeweils beschriebenen Therapiestrategien zu verstehen und anzuwenden. Oft verzichten die entsprechenden Autoren im Verlauf ihrer Texte sogar selber auf diesen Begriff. So spricht etwa Turkat (1996) oft explizit nicht von "Störungen", sondern einfach von "Persönlichkeiten", die etwa bei der "narzißtischen" auf Akzeptanz fixiert, egozentrisch oder impulsiv seien. Das bedeutet, daß zur Herstellung einer guten Arbeitsbeziehung, ebenso wie für die Auswahl therapeutischer Strategien, die Zuordnung von Eigenschaften zu Personen wichtig ist und nicht die Störungskategorie. Wichtig ist, ob eine Person mißtrauisch ist, um sich auf sie einzustellen und nicht, ob sie darin als "gestört" bezeichnet wird! Turkat verwendet in seinem Buch. "Die Persönlichkeitsstörungen" oft nur in der jeweiligen Überschrift einzelner Kapitel den Terminus "Persönhchkeitsstörung". In der Darstellung der Erstgespräche oder der "Modifikationsprogramme" für Patienten mit entsprechenden Problemen spricht er dann nur noch von charakteristischen Persönlichkeiten statt von "Persönlichkeitsstörungen" (z.B von der "histrionischen Persönlichkeit" (S. 79), von der "auf Eindruck fixierten Persönlichkeit" (S. 82) oder von der "selbstunsicheren Persönlichkeit" (S. 86)). Wenn man nicht erkennt, daß alles, was gut und nützlich ist, nichts mit dem Störungsdenken zu tun hat oder wenn man alle hier genannten Schäden und Probleme des Störungsdenkens hinnimmt wegen dem Positiven, das (scheinbar) damit zusammenhängt, liegt ein indirekter Schaden für Patienten und Therapeuten vor. Denn dann zieht man nur allzu leicht aus der Anerkennung diese positiven Aspekte oder aus Erfolgen in der Therapie als gestört bezeichneter Patienten den logisch falschen Schluß, daß diese Erfolge auch das gesamte damit in Zusammenhang gebrachte Denken bestätigen oder rechtfertigen. Tatsächliche Hilfe für als gestört bezeichnete oder gedachte Personen gilt dann als Evidenz für die Existenz der Störung selbst. Den Schaden für diesen Trugschluß tragen die stigmatisierten Patienten." |
Jaspers zur Psychopathiediagnose
"... Einen Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer {>366}Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden." Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. A. 1948, S. 365f. |
z.B. Diagnostik site: www.sgipt.org. |
Änderungen wird gelegentlich überarbeitet,
ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
01.06.15 Linkfehler geprüft und korrigiert.
.