"Integrative Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen"
Fiedler, Peter (2000). Integrative
Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Göttingen:
Hogrefe.
373
Seiten. ISBN 3-8017-1355-5 DM 69.00 Eingang des Rezensionsexemplars
am 3.3.2000.
Engagierte Rezension in 10 Teilen von Rudolf Sponsel, Erlangen (09.00-11/01)
Fiedler
0-3: Teil 0 Teil
1 Teil
2 Teil
3
Fiedler
4-6: Teil
4 Teil
5 Teil
6
Fiedler
7-9: Teil
7 Teil 8
Teil 9 Anhang:
Materialien,
Belege, Querverweise
Einführung: Dem Inhaltsverzeichnis nach, daran kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, ist das Buch von Peter Fiedler ein wichtiges und interessantes Buch für PsychotherapeutInnen aller Schulen - trotz verschiedener Mängel und Schwächen, auf die ich jeweils themabezogen eingehen möchte. Nicht zuletzt deshalb, weil das Thema Psychotherapie der PS (Persönlichkeitsstörungen) sehr nahe und damit pragmatisch an den internationalen Diagnosekatalogen (DSM und ICD) ausgerichtet ist. Persönlichkeitsstörungen sind - auf Grund zahlreicher Komorbidäten - nicht nur schwierig zu (differential) diagnostizieren, sondern auch die Psychotherapie und - möglicherweise auch eine interdisziplinäre - Therapie sind nicht gerade einfach. Besonders verdienstvoll ist es daher auch, die Stärken und Schwächen der verschiedenen und hauptsächlichen Therapieschulen vergleichend zusammengestellt zu haben und damit einer evaluativen Bewertung zugänglich zu machen. Ein Highlight ist zweifellos auch das Aufgreifen und die Diskussion des "Stigmatisierungsproblems" im 2. Kapitel, das mit der Etikettierung einer Persönlichkeitsstörung einhergehen kann und daher von nicht wenigen TherapeutInnen zum Leidwesen der EpidemiologInnen gern vermieden wird. Das Problem wird aber durch ein radikales Zitat des großen Psychopathologen Karl Jaspers ethisch noch einmal verschärft, wenn Jaspers (1913) sagt: "Menschlich aber bedeutet die Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht." [F00]
Inhaltsverzeichnis
"Integrative Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen"
1
Einführung S.1
1.1 Die Indikationsfrage in der Psychotherapie S. 3 1.2 Integrative Psychotherapie S. 9 2 Prolog: Das
Stigmatisierungsproblem
11
2.2 Einschränkung
der Stigmatisierungshypothese 15
3 Persönlichkeit
und Persönlichkeitsstörung
4
Integrative Psychotherapie
5
Grundkonzepte der Psychotherapie
6 Selektive
Indikation: Welches Grundkonzept passt zu
|
7
Differenzielle Indikation:
Störungsspezifische Psychotherapie 158 7.1 Borderline-Persönlichkeitsstörung
160
8 Adaptive
Indikation
Anhang: Die Struktur-Analyse Sozialer Beziehungen (SASB; Track-Version) 339 Literatur 343 Namenverzeichnis 363 Sachwortverzeichnis
368
|
Teil 1 Einführung [in eckigen Klammern kritische Anmerkungen / Fußnoten von RS]
"Nach wie vor herrscht im Bereich der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ein eigenwilliger 'Omnipotenzanspruch' vor: Der sieht - etwas überspitzt - so aus, dass sich nicht nur Verhaltenstherapeuten und Psychoanalytiker, sondern auch die Gesprächspsychotherapeuten sowie die Interpersonellen Psychotherapeuten für persönlichkeitsbedingte Probleme von Menschen grundsätzlich, und zwar über alle Persönlichkeitsstörungen hinweg, für zuständig halten. Das spricht für ein gesundes Selbstbewußtsein der Wortführer und ihrer Anhänger in den Therapieschulen. Nicht jedoch entspricht eine solche Sicht der Empirie. Für die Patienten können solchermaßen überzogene Fehleinschätzungen von Therapeuten hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Verfahren fatale Folgen haben." (S.1)
Die folgenden Beobachtungen des Autors zeigen, daß die Beziehung zwischen praktizierenden PsychotherapeutInnen und ForscherInnen nach wie vor sehr zu wünschen übrig läßt, woran sich aber unbedingt etwas ändern sollte:
"Nun sollte man eigentlich annehmen, dass Forschungsergebnisse
über Therapieerfolge in der Praxis zur Kenntnis genommen werden und
dass möglichst viele Institutionen und Therapeuten sich das jeweils
bessere Therapieverfahren möglichst schnell zu eigen machten.
Das jedoch ist mitnichten der Fall.
Im Ringen um Behalt und Erweiterung von Marktanteilen
und unter grober Vernachlässigung überprüfbarer und überprüfter
Erfolgszahlen wird innerhalb der Therapieschulen immer noch viel zu häufig
'an Treu und Glauben' festgehalten - nicht gerade selten (wie die obigen
Zahlen andeuten) in unbedachter Verantwortungslosigkeit den Patienten gegenüber.
Und genau wegen dieser Konkurrenz der Therapieschulen
ergibt sich denn heute eine hochgradig unbefriedigende Situation: Fragen
nämlich Patienten einen Psychotherapeuten, ob und welche Therapieart
bei ihren persönlichen Problemen besonders zu empfehlen sei (also:
ob beispielsweise eine Verhaltenstherapie, eine Gesprächspsychotherapie
oder Psychoanalyse) und ob diese als Einzel- oder Gruppentherapie durchgeführt
werden sollte, oder wann besser mit der Gesamtfamilie oder mit dem
Partner, dann werden diese Patienten häufig keine klare Antwort bekommen.
Eigentlich ein Grund zur Empörung: Denn dieser unbefriedigende Zustand
besteht jetzt schon mehr als 100 Jahre! Solange ist es nämlich her,
seit Bernheim (publiziert: 1891) in Frankreich für die psychologische
Behandlung von Patienten "Psychotherapie" [F01]
als Begriff einsetzte.
Psychotherapie, wie sie Bernheim, Janet [F02]
und viele Kollegen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts verstanden, war
übrigens ein Prototyp fiir integratives Denken und Handeln, was etwas
in Vergessenheit geraten ist. Denn leider haben Sigmund Freud und seine
Schüler versucht, aus der damals bestehenden Verfahrensvielfalt eine
Glaubensgemeinschaft mit strikten Methodenvorschriften zu formen. Sie legten
damit den Grundstein für jene ungute Situation der Konkurrenz der
Therapieschulen gegeneinander, vor der wir heute stehen und die nach wie
vor schwer zu überwinden ist.
Wann ist endlich Schluss mit der abgrenzenden Konkurrenz
psychotherapeutischer Richtungen und Schulen? Angesichts der bestehenden
Vielfalt von mehr oder weniger wirksamen Psychotherapieverfahren wäre
es endlich an der Zeit, Bilanz zu ziehen.
Gerade jetzt?
Warum nicht?
Wenn man genau hin schaut, kann man bei Durchsicht der in den
letzten Jahren erschienenen Publikationen in zunehmender Zahl sogenannte
schulübergreifende Perspektiven entdecken.
Viele Anzeichen sprechen dafiir, dass das
Vorhaben Integrative Psychotherapie in den kommenden Jahren
endlich
zu einem Mainstream-Thema wird, mit dem sich nicht mehr nur einige wenige
Außenseiter in der Psychotherapieszene beschäftigen." (S.2)
Die Indikationsfrage in der Psychotherapie
"Integrative Psychotherapie
(bei Persönlichkeitsstörungen) zielt ausdrücklich
auf einen Blick über die eigene Therapieschule hinaus. Fast zwangsläufig
ergibt sich die Notwendigkeit des Therapieschulenvergleichs. Genau in diesem
Zusammenhang berührt das Thema eine der wichtigsten Fragen
in der Psychotherapie überhaupt. Dabei handelt es sich um die Indikationsfrage
der Psychotherapie, wie sie von Paul (bereits 1967) als die wichtigste
Aufgabe der Psychotherapieforschung überhaupt herausgestellt wurde:
Aktueller Exkurs: Aus diesem Grunde stellen wir angesichts der aktuellen Diskussion um das Problem der sog. Qualitätssicherung fest: Eine Psychotherapieforschung und Lehre, die sich über die praktizierenden PsychotherapeutInnen erhebt und diese nicht gleichberechtigt in die Forschung einbezieht, wird zu Recht von den Praktizierenden abgelehnt und kann auch letztlich weder zu einer wirklichen Forschungsentwicklung noch zu einer angemessenen Qualitätssicherung beitragen. Genau diese Überhebung ist es, die mit zu dem Graben zwischen Forschung und Praxis, wie er oben beklagt wurde, beiträgt. Während Freud 1927 mit seinem unhaltbaren Junktim-Dekret weit über unsere Forderung grundsätzlich gleichberechtigter Einbeziehung der Praktizierenden in alle Psychotherapieforschungsfragen hinausschoß, hat sich in der Wissenschaft das andere Extrem des Dünkels der Erhebung über die Praxis weitgehend zum Standard eingebürgert.
Es folgen (S. 3-9) die speziellen Indikationsfragen - die in den Kapiteln 5-8 ausführlich behandelt werden:
"Selektive
Indikation (1)
Welches Psychotherapiekonzept
und von wem durchgeführt ist bei welchen Personen mit welcher Persönlichkeitsstörung
und welchen weiteren spezifischen Problemen und unter welchen Rahmenbedingungen
am effektivsten?
...
Selektive
Indikation (2)
Bei welcher Persönlichkeitsstörung
welcher Person mit weiteren spezifischen Problemen ist welches Behandlungskonzept
und von wem durchgeführt, unter welchen Rahmenbedingungen am effektivsten?
...
Differenzielle
Indikation (1)
Bei welcher Persönlichkeitsstörung
und bei Vorliegen welcher weiteren spezifischen Probleme ist welche Art
der Komposition oder Zusammenstellung unterschiedlicher Behandlungsmaßnahmen
und unter welchen Rahmenbedingungen durchgeführt am effektivsten?
...
Differenzielle
Indikation (2)
Bei welchen weiteren spezifischen
Problemen von Personen mit Persönlichkeitsstörungen und
von wem durchgeführt ist eine Behandlung unter welchen Rahmenbedingungen
am effektivsten?
...
Differenzielle
Indikation (3)
Sollten Persönlichkeitsstörungen
überhaupt behandelt werden - oder sollten sie nicht besser
als markante persönliche Stile betrachtet werden, von denen zum Beispiel
eine Ressourcen-Orientierung in der Psychotherapie ausgehen könnte?
...
Adaptive Indikation(1)
Mit welchen, möglicherweise
wechselnden Zielen ist welche Behandlung bei Personen mit Persönlichkeitsstörungen
und weiteren spezifischen Problemen und von wem durchgeführt am effektivsten?
...
Adaptive Indikation(2)
Unter welchen Rahmenbedingungen
ist welche Behandlung bei Personen mit Persönlichkeitsstörungen
und weiteren spezifischen Problemen und von wem durchgeführt am effektivsten?
...
Indikation
zur Supervision
Welche Probleme der Psychotherapeuten
sollten bei welchen Patienten mit welchen persönlichkeitsbedingten
und weiteren spezifischen Problemen von wem und wie behandelt werden?"
Speziell zur Supervision bei Persönlichkeitsstörungen macht Peter Fiedler innovative und weitreichende Vorschläge, die für die Praktizierenden besonders wichtig und interessant sind, weshalb sie hier noch etwas ausführlicher dargestellt werden sollen (hervorgehobene Fettungen von RS), wobei vor allem auch mitbedacht werden sollte, daß die Umsetzung solcher Vorschläge eine besonders wirksame und sinnvolle Qualitätssicherungsmaßnahme wäre - und zwar voraussichtlich viel besser als alle Psy-BaDo zusammen genommen. (Querverweis Evaluation in der GIPT)
"Inzwischen scheint
es an der Zeit, herkömmliche Supervisionsformen zu überdenken
und durch neue Möglichkeiten anzureichern. Supervision - insbesondere
bei Persönlichkeitsstörungen - dient nicht mehr nur der Besprechung
von Problemen in der Behandlung. Sie dient der Prävention therapeutischer
Risiken und bekommt damit häufig die Qualität der Krisenintervention
und des Krisenmanagements. Als solche dient sie kontinuierlich
der Erhöhung therapeutischer Kompetenzen, wozu schlichte
Besprechungen nicht immer hinreichend sind. Balintgruppen und andere Supervisi-[
S. 9]ons- bzw. Intervisionsgespräche sind zwar unverzichtbar, kommen
als ausschließlich praktizierte Form aber langsam "in die Jahre"!
Neue Möglichkeiten
wie Audio- und Video-Techniken beispielsweise bieten heute
den Vorteil einer detaillierten Verhaltensbeobachtung. Sie erlauben eine
gezielte Einflussnahme und Anreicherung der therapeutischen Kompetenz.
Inzwischen kann nurmehr sehr bedingt davon die Rede sein, dass Ton- oder
Video-Aufzeichnungen zu Supervisions- oder Forschungszwecken die Vertraulichkeit
der Therapiebeziehung stören. Das Gegenteil scheint eher zuzutreffen,
wie sich empirisch gut belegen lässt. Patienten können nämlich
sicher davon ausgehen, dass eine video-supervidierte Therapie bessere Erfolgsaussichten
zu garantieren vermag. Gegenübertragungsprobleme der Therapeuten können
besser geklärt werden. Und ein emotionaler oder gar sexueller Missbrauch
der Patienten durch ihre Therapeuten ist vor laufender Kamera gleichfalls
kaum zu erwarten. Oder umgekehrt: Auch Manipulationsversuche durch Patienten
werden bei Ton- und Video-Aufzeichnungen eingeschränkt zu erwarten
sein. Einige Therapeuten gehen inzwischen sogar so weit, den Patienten
Tonaufzeichnungen der Therapie mit nach Hause zu geben, damit diese ihrerseits
die Therapiesitzung nochmals gründlich nachbearbeiten können
( -> Kapitel 8).
Weiter sollte
in der Supervision zusätzlich zur Fallbesprechung stärker die
Möglichkeit des direkten Trainings der Therapeuten im Umgang
mit schwierigen Therapiesituationen genutzt werden. Supervisionsformen
wie das Micro-Teaching haben sich inzwischen in Therapie- und Forschungsprojekten
als wesentliche Quelle der Fortentwicklung therapeutischer Kompetenz erwiesen
(übrigens nicht nur für angehende Therapeuten). Videoanalysen,
Verhaltenstraining und Micro-Teaching sollten ganz allgemein mehr und mehr
in herkömmliche Supervisionsformen integriert werden. Wir werden auf
Fragen, die mit Schwierigkeiten der Therapeuten zusammenhängen, kontinuierlich
im Buch eingehen."
Integrative Psychotherapie (hervorgehobene Fettungen von RS)
"Begonnen wird in diesem Buch jedoch mit zahlreichen Argumenten, weshalb es sich zukünftig lohnen könnte, die Therapieschulenperspektive zugunsten einer Integrativen Psychotherapie weiter zu entwickeln. Der Kurzcharakterisierung von Persönlichkeitsstörungen ( -> Kapitel 2 und 3) folgend steht das -> Kapitel 4 in dieser Hinsicht im Mittelpunkt. Dort soll ein Rahmenmodell für die schulenübergreifende Integration unterschiedlicher Therapiekonzepte entwickelt werden. Das vorgeschlagene Konzept gilt nicht nur für Persönlichkeitsstörungen, sondern auch darüber hinaus. Dazu gibt es bereits einige Vorläufer, auf die wir eingehen werden (z.B. Grawe, 1998; Wagner & Becker, 1999 [F02] ). Diese bereits vorhandenen Integrationsvorschläge haben [Seite 10] bisher allerdings nur in Ansätzen Akzeptanz gefunden. Dies lag u.a. daran, dass sie gegenüber den herkömmlichen schulenspezifischen Ansätzen zu große, zumeist nur schwer überwindbare Diskrepanzen aufgebaut haben."
Es kommt nun ein konstruktiver Vorschlag zu den Therapieschulen (gefettet von RS):
"Die in diesem Buch entwickelte und vorgeschlagene Integrationsperspektive setzt jedoch ausdrücklich auf die besonderen Vorteile der bisherigen Therapieschulen, die - wenn sie denn schon Vorteile darstellen - bei der Suche nach Integrationspunkten nicht vorschnell aufgegeben werden brauchen.
Andererseits: Dass sich trotz Betonung und Erhalt grundsätzlicher Vorteile der bisherigen Therapiekonzepte dennoch die Notwendigkeit zum Umdenken ergibt (oder besser: die Notwendigkeit zum Weiterdenken über das Gewohnte hinaus), das lässt sich nicht vermeiden. Dass dem Leser, der einer Therapieschule eng verbunden ist, bei der Lektüre dieses Buches viele Vorschläge etwas fremdartig anmuten werden, weil sie auf den ersten Blick mit den eigenen Denkgewohnheiten schwer vereinbar scheinen, lässt sich nicht umgehen. Hätte ich dieses Buch mit Blick auf eine grundsätzliche Akzeptanz über alle Schulen hinweg schreiben wollen, hätte ich es nicht schreiben können.
Integrativ arbeitende Psychotherapeuten kommen nicht daran vorbei: Sie müssen zukünftig kritisch um- und weiterdenken. Wäre das nicht der Fall, würde Integrative Psychotherapie lediglich das Festhalten an der gewohnten psychotherapeutischen Praxis beinhalten. Das jedoch kann mit Integration nicht gemeint sein. Die nach wie vor vorhandenen Misserfolge, Rückfallzahlen und Dropout-Raten verlangen geradezu nach Innovation. Gleichzeitig fordere ich alle Leser zur hochgradig kritischen Lektüre auf. Für jede begründete Verbesserung meiner Vorschläge bin ich dankbar. Auch jede grundsätzliche Alternative zu meiner Integrationsidee ist sehr erwünscht. Andererseits sollte jede prinzipielle Zurückweisung möglichst gleichzeitig Vorschläge enthalten, wie Integrative Psychotherapie zukünftig besser, als von mir hier vorgedacht, aussehen könnte. Kritik und Vorschläge, die in die Richtung zielen, in den ausgetretenen Pfaden nur einer einzigen Therapieschule weiter zu wandern, gehen einer ernsthaften Frage nach den Möglichkeiten einer Integration therapeutischer Ansätze aus dem Weg."
Nun, dem Wunsch nach "hochgradig kritischer Lektüre" dieses Buches komme ich gern nach. Und es ist trotz der vielen Vorzüge dieses Buches auch notwendig. Denn sehr ärgerlich ist es, daß von den mindestens 1000 Arbeiten, die seit Johann Christian Reil (1803) zur allgemeinen und integrativen Psychotherapie veröffentlicht wurden, Peter Fiedler, selbst von der Verhaltenstherapie kommend, wiederum nur zwei Werke von Autoren mit verhaltenstherapeutischem Hintergrund zitierwürdig findet. Das haben alle anderen nicht verdient: Fair, kollegial? [F02]
Mögen Sie, werte LeserIn, diese Problem-Trias
bei den nun folgenden Überlegungen Peter Fiedlers im Hinterkopf behalten:
"Viele Jahre habe ich jetzt schon über diese
pointierte Feststellung von Karl Jaspers nachgedacht. Bereits in den siebziger
Jahren war sie Leitschnur für mich, als viele in meinem Alter im Kontext
der Antipsychiatrie-Bewegung gegen jedwede vorschnell stigmatisierende
psychiatrische Diagnose ins Feld zogen. Schließlich war sie wesentlicher
Grund und Motor, ein Buch über Persönlichkeitsstörungen
zu schreiben (Fiedler,
1994 a) - also etwas zu tun, was ich mir gerade wegen dieses Satzes
bis weit in die achtziger Jahre hinein überhaupt nicht hätte
vorstellen können. Wenn die Stigmatisierung oder das Labeling im Bereich
psychischer Störungen ein Problem ist, dann galt und gilt dies insbesondere
für eine Diagnose im Bereich der Persönlichkeitsstörungen.
Inzwischen bin ich mir da jedoch nicht mehr so sicher.
Über das, was mich zunehmend verunsichert und was mich inzwischen
zu einer differenzierteren Position geführt hat, möchte ich gern
einleitend zu diesem Buch berichten. Doch zunächst zum wichtigen und
nach wie vor berechtigten Kern in dieser Feststellung von Karl Jaspers."
2.1 Begründung
der Stigmatisierungshypothese
... "Eine diagnostizierte Persönlichkeits-Abweichung
bezieht sich immer auf die Person als Ganzes - eben als eine Verallgemeinerung
über konkretes Handeln hinaus. [S.11f]
2.1.1 Diagnose
Die diagnostische Feststellung einer Persönlichkeitsstörung
markiert einige für die betreffende Person und für ihre sozialen
Beziehungen entscheidenden Veränderungen: Bis zu diesem Zeitpunkt
vollzogen sich Fremdzuschreibungen von Persönlichkeitseigenschaften
im Rahmen sozialer Erwartungen. Sie begründeten damit wesentlich die
Berechenbarkeit und Beständigkeit einer Person ("zuverlässiger
Mensch"; "kreative Person"; "linker Typ"). In dem Perspektivenwechsel solcher
oder ähnlicher Persönlichkeitseigenschaften in Richtung
Persönlichkeitsstörung drückt sich nun einerseits
eine zunehmende Beunruhigung des sozialen Systems aus ("zwanghafte
Person", "dissozialer Mensch", "paranoider Typ"). Die Person-Handlungen
haben offensichtlich wiederholt ein tolerierbares Maß überschritten.
Und die Bezugspersonen antizipieren einen möglichen Verlust kollektiver
Kontrolle über das erreichte Ausmaß sozialer Devianz.
Erklärung
Das Stigmatisierungsproblem setzt nun genau dort ein, wo sich
ein Konsens über die Notwendigkeit der Korrektur oder Beendigung
wiederholt gezeigter Verhaltensdevianz mit den Betroffenen nicht mehr
herstellen lässt. "Persönlichkeitsstörung" ist nämlich
auf eine eigenwillige Weise nicht nur Diagnose. Die Feststellung, dass
die "Person" gestört ist, beinhaltet zugleich eine Erklärung.
Es ist offensichtlich ab Diagnose nicht mehr so
sehr die soziale Systemik oder die Interaktion, die gestört ist. Es
ist die Person: Persönlichkeitsstörung. Die Person ist
gestört. Folglich und plötzlich ist die Person "Ursache" für
Schwierigkeiten, die man mit ihr hat, und damit - etwas überspitzt
gesagt - "Täter". Eine solche Sicht kann zunächst beruhigen,
hat der Diagnostizierende selbst doch offensichtlich mit den Problemen,
die er sieht, weniger oder gar nichts mehr zu tun.
"Person" ist gestört. Und genau da setzt Jaspers
Kritik an: Dasjenige, was den Bezugspersonen wie den professionellen Helfern
für die bis dahin bestehenden eigenen Schwierigkeiten wegen
der "anderen Person als Störungsursache" Erklärung, damit
Entlastung
und Beruhigung eröffnet, birgt für den Betroffenen selbst
die Gefahr einer überdauernd fixierenden Merkmals-, Person- und Identitätszuschreibung
in sich. Das genau meint Stigmatisierung."
Die nun folgende Differenzierung des
Autors erscheint mir sehr hilfreich und praktisch für die alltägliche
diagnostisch- differentialdiagnostische Tätigkeit (allein schon deshalb
könnte sich ein Kauf dieses Buches lohnen):
"Persönlichkeit
Persönlichkeitsstil
Persönlichkeitsabweichung
Persönlichkeitsstörung
Es ist wirklich hochbedeutsam, was die Diagnose einer Personstörung
interaktionell bewirken kann. Mit der Diagnose „Personstörung" wird
nämlich zugleich auch noch [S. 13] die Möglichkeit zur Konsensfindung
mit den Betroffenen über die ihnen zugeschriebenen Persönlichkeitsstörungen
eingeschränkt."
Nun werden die Persönlichen Stile
und das sehr wichtige Phänomen der Ich-Syntonie erörtert, um
sodann das terminologische Highlight einzuführen:
"2.1.2 Stigmatisierung
Stigmatisierung ist der soziale Prozess einer eigentümlichen Wandlung von Interaktionsproblemen zu Persönlichkeitsstörungen — also konkret: die Personperspektivierung eines interaktionellen Problems.
Interaktion
Interaktionsstörung
Ursachensuche
Personperspektivierung
Persönlichkeitsstörung
Das zentrale Problem dieser Diagnosestellung liegt nämlich darin,
dass zwar der aktuelle Prozess dieser Art "Entstehung" von Persönlichkeitsstörung
ausgesprochen
interpersoneller Natur ist. Im Ergebnis jedoch verschiebt sich der
Blick einseitig auf die lebensgeschichtliche, möglicherweise
biologisch
begründbare Gewordenheit der Person ("Du wirst immer mehr
wie Dein Vater!").
Für die Interaktionspartner, Diagnostiker wie
für den Psychotherapeuten ist dies - wie gesagt - insofern eine beruhigende
Situation, als bei ihnen "der Gedanke an ihrer etwaigen Mitschuld an dieser
Störung oder gar am Scheitern der Beziehung 'ver- [S. 15]
nünftigerweise' kaum mehr oder gar nicht mehr aufkommen wird" (Glatzel,
1977, S. 127) - und dies, obwohl sie gerade eben noch selbst
(und zwar: entscheidend) zu ihrer Entstehung - qua Diagnose - beigetragen
haben.
Diagnostiker und Therapeuten werden es vielleicht
gar nicht bemerken, haben sie sich doch bei der Personbeurteilung "nur
an die Diagnosekriterien" gehalten. Doch genau das - so Karl Jaspers
- ist beleidigend."[F05]
"2.2 Einschränkung der Stigmatisierungshypothese
Soweit die Begründung der Stigmatisierungsgefahren der Persönlichkeitsdiagnostik.
Und jetzt komme ich dazu, diese Sicht etwas anzuzweifeln. Sie stimmt nämlich
nur teilweise. Was mich zunehmend an dieser Sicht hat zweifeln lassen,
sind zwei Dinge:
"Metakommunikation
Die Diagnose ist ganz offensichtlich nicht das Problem. Die
Frage ist vielmehr, wie Metakommunikation mit den Betroffenen erreicht
werden kann. Die von Jaspers beschworenen Stigmatisierungsgefahren liegen
offensichtlich in der Negativ-Konnotation der Begriffe, die wir
kurz und knapp für Persönlichkeitsstörungen benutzen - konkret:
in unseren vorschnell und unbedacht verwendeten Kürzeln wie z.B. "paranoid",
"schizoid" oder "zwanghaft", mit denen ohne Respekt vor dem persönlichem
Stil eines Menschen aus dessen Personeigenarten auf eine vielleicht beleidigend
erlebte Weise diagnostizierbare Störungen gemacht werden.
Es leuchtet ein, dass zwischen den persönlich
und mit positiver Intention stilisierten Handlungswelten der Betroffenen
und der kurzsichtigen Negativklassifikation von Bezugspersonen, Diagnostikern
und Therapeuten häufig eine Verständigung nur schwer möglich
ist oder gar unmöglich wird. Dies gilt zumindest solange, wie der
persönliche Sinn und die subjektive Bedeutsamkeit persönlicher
Interaktionsmerkmale nicht erkannt ist und ausdrückliche Berücksichtigung
findet (Lieb, 1998).
Begriffe wie "paranoid" und "zwanghaft" setzen nun
einmal gleichzeitig Sinn und Bedeutung, sind Erklärung und signalisieren
"Unbeeinflussbarkeit". Sie verleiten dazu, Menschen mit höchst befremdlichen
und bizarren Persönlichkeitseigenarten mit Unverständnis, Ablehnung
und Ausgrenzung zu begegnen. Wiederum ist es nur zu verständlich,
wenn sich aus diesem zwischenmenschlichen "Missverstehen" Konflikte und
Probleme einstellen und eskalieren: wechselseitiger Zorn, Gefühle
der Gereiztheit und Bedrohung bis hin zu Handgreiflichkeiten.
Das wird unmittelbar anders, wenn man eine Person
statt paranoid als wachsam-misstrauisch, statt dissozial
als abenteuerlich-furchtlos, statt narzisstisch als selbstbewusst-ehrgeizig,
oder statt zwanghaft als gewissenhaft-sorgfältig bezeichnet."
Hm. Da bin ich skeptisch. Es läuft auf dasselbe hinaus, wie die Schein-Euphemismen in den Zeugnissen. Dann kommen bald neue "Persönlichkeits-Knacker (Übersetzer)" auf den Markt, die erklären was gewissenhaft-sorgfältig "wirklich" bedeutet. Es ist auch nicht ehrlich. Die Formulierung "gewissenhaft-sorgfältig" kennzeichnet als Persönlichkeitsmerkmal eine breite Bandbreite von Akzentuierung, so daß sich etwa folgende Skala ergibt:
durchschnittlich gewissenhaft-sorgfältig
akzentuiert
= überdurchschnittlich gewissenhaft-sorgfältig (Stil)
überwertig gewissenhaft-sorgfältig (zwanghafte Abweichung)
extrem gewissenhaft-sorgfältig (hochgradig zwanghaft)
Hinzu kommt, so zumindest Karl Lenonhard,
daß ein und derselbe Charakterzug, unterschiedlich motiviert oder
bedingt sein kann. Die Differentialdiagnose hat es also in sich. Bleiben
wir beim Beispielthema:
Leonhard
(S. 14): "Ähnlich ist die Sachlage, wenn man bei einem Menschenein
ausgeprägtes Pflichtgefühl findet. Es kann wieder eine
Eigenart der Strebungs-Neigungs-Sphäre vorliegen, es ist aber auch
möglich, daß ein anankastischer Zug vorhanden ist. Die Unterscheidung
ergibt sich daraus, daß bei einem einfach charakterlichen Pflichtgefühl
ein ruhiges, gewissermaßen selbstverständliches Verhalten erkennbar
ist, das von keiner Spannung getragen wird, während beim anankastischen
ein unruhiges Fragen, ob des Guten genug getan sei, besteht."
Nun, letztendlich geht es hier um
Definitionen. Wie schwierig das im Psychischen ist, wissen wir alle (hierzu).
Nicht zuletzt ist daraus, wie Mauthner schon 1906 [F08]
vorhersagte, der Behaviorismus hervorgegangen, der in Sachen Erleben nichts
verstanden und nichts gekonnt hat und deshalb hat er die Probleme bezüglich
seiner Fähigkeiten und Ansprüche für unlösbar erklärt,
also ignoriert. Das ist aber keine Problemlösung, sondern ein Abwehrmechanismus
und ein Symptom: der Behaviorismus ist eine Störung. Es ist klar,
daß keine der existierenden Psychotherapieschulen bisher auch nur
annäherend in der Lage war, Elementares zu begreifen und zu leisten;
aber auch die akademische Psychologie hat hier so gut wie nichts zu bieten;
die Erlanger logisch- konstruktiv orientierte Psychologie ist inzwischen
auch tendenziell versandelt; so scheine ich derzeit wohl einer der letzten
zu sein, der eine Idee noch nicht aufgegeben hat und konsequent verfolgt:
die praktisch-operationale Normierung einer Psychologiesprache nach dem
Motto: wer seiner Putzfrau den Ödipuskomplex, den Unterschied
zwischen wünschen, wollen, denken, vorstellen
oder fühlen nicht erklären kann, der kann psychologisch
gar nichts erklären und sollte den Beruf wechseln [F07].
"2.2.3 Therapeutische Konsequenzen
Um die grob angedeuteten Perspektiven und Vorschläge noch etwas
weitergehend zu konkretisieren, möchte ich jetzt einige erste Konsequenzen
ziehen und bereits einige Vorschläge für die praktische Therapiearbeit
unterbreiten.
Transparenz
Der wichtigste Vorschlag zur Überwindung und Vermeidung negativ
konnotierter Stigmatisierung (bzw. zur Überwindung der angedeuteten
Compliance-Probleme) zielt auf die Notwendigkeit einer möglichst weitgehenden
Transparenz
- einer Transparenz, die sich zuvorderst um Verständnis für den
Patienten bemüht. Und dazu bietet eine richtig erläuterte Diagnose
eine wesentliche Voraussetzung.
Therapeuten kommen nicht umhin, die Persönlichkeitsdiagnose
zu übersetzen, und zwar in eine Sprache, die aus dem persönlichen
Störungs-Problem des Patienten eine Perspektive für die therapeutischen
Interaktion werden lässt.
Transparenz und Metakommunikation sind gemeint -
und zwar, um sich mit dem Patienten über die Notwendigkeit und Möglichkeiten
der weiteren Therapie mög- [S. 21] lichst eindeutig zu verständigen.
Gemeint ist weiter die metakommunikative Begründung einer wechselseitigen
Unabhängigkeit, und zwar durch Offenlegung der gemeinsamen wie - was
noch wichtiger ist - der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten von Patient
und Therapeut in der Therapie. Das ist leichter gesagt, als getan. Dazu
muss nämlich die zumeist negativ-gegensozial formulierte Diagnose
"negativistisch", "paranoid" oder "zwanghaft" in eine für den Patienten
akzeptierbare interaktionelle Sprache übersetzt werden - und zwar
so, dass der Patient sich selbst in der Diagnose wiederfindet (vgl. Schmitz,
1999).
Positivierung
Eine solche Positivierung gelingt nach aller Erfahrung dann am besten,
wenn man versucht, sich den positiven Sinn der persönlichkeitsbedingten
Widerständigkeit, Andersartigkeit oder Nicht-Compliance zu erschließen,
weil sich im positiven Sinn von Widerständigkeit vielleicht ein akzeptierbares
Motiv wiederfindet. Das wachsame Misstrauen paranoider Patienten, das Verweigern
von Kooperation passiv-aggressiver Patienten, das ängstliche Vermeiden
selbstunsicherer Persönlichkeiten ist möglicherweise durchaus
einsichtig. Wertschätzendes Verstehen von Gründen und Ursachen
für Andersartigkeit, Widerständigkeit und Nicht-Compliance der
Patienten durch die Therapeuten werden hier vorgeschlagen.
Nicht gemeint ist, dass die Therapeuten diese
Gründe selbst in jedem Fall teilen bzw. akzeptieren müssen. Gemeint
ist, dass die Gründe als sinnvoll aus der Sicht von Patienten
verstehbar und nachvollziehbar sind. Genau dies ist der Schlüssel
zur Metakommunikation, in welcher der Therapeut durchaus eigene Ansichten,
eigene Ziele, eigene Vorstellungen über seine Probleme und deren Behandlung
entwickeln und vertreten kann (-> Kapitel 8.3).
Wichtiges Element dieser Art Metakommunikation ist
die Toleranz. Nur Toleranz beinhaltet Akzeptanz der Problemsicht und Zielperspektive
der Patienten. Weiter schließt sie ein, dass es gewichtige persönliche
Gründe für Patienten geben könnte, sich nicht auf
die Therapie und nicht auf Veränderungen im Leben einzulassen.
Es gehört zu den verbrieften Grundrechten der Menschen, ihre Persönlichkeit
frei entfalten zu können. Dies gilt jedenfalls so lange, wie die Betreffenden
nicht mit Recht und Gesetz in Konflikt geraten (-> Kapitel 3.3).
Patienten handeln durchaus verantwortlich (nicht
immer verantwortungsvoll, jedoch: verantwortlich), wenn sie sich bewusst
nicht
ändern wollen. Voraussetzung für verantwortliches (mitverantwortliches)
Handeln ist jedoch, dass es gelingt, dem Handeln von Patienten Sinn und
Bedeutung zurückzugeben. Das wäre vorrangiges Ziel der Therapie,
erreichbar nur durch Transparenz und Metakommunikation. Und dabei könnte
eine aufklärende Diagnose und Ätiologieerklärung wichtige
Voraussetzung wie Hilfe sein. "Jetzt weiß ich endlich wieder, wer
ich bin!" Selbst in der eigenen Persönlichkeit wieder gefundener Sinn
für eigenes Handeln ist als therapeutisches Ziel gelegentlich hinreichend."
Aus dem Schlußtext möchte ich abschließend noch einmal besonders für diejenigen einen Satz akzentuiert herausheben, die irrtümlich meinen, sie könnten völlig beliebig in die Persönlichkeiten ihrer PatientInnen eindringen, herum experimentieren und schalten und walten wie es ihnen gefällt:
"Es gehört zu den verbrieften Grundrechten der Menschen, ihre Persönlichkeit frei entfalten zu können." [F09]
"Persönlichkeit
Jeder Mensch hat seine ganz eigene und unverwechselbare Art und Weise
zu denken, zu fühlen, wahrzunehmen und auf die Außenwelt zu
reagieren. Die individuellen menschlichen Eigenarten stellen eine einzigartige
Konstellation von Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen dar, die
man als Persönlichkeit bezeichnet.
Die Persönlichkeit gestattet es, zu funktionieren, zu wachsen
und sich an das Leben anzupassen. [F10]
Die Persönlichkeit mancher Menschen wird jedoch starr und unflexibel.
Statt ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, kreativ und unabhängig
auf Herausforderungen zu reagieren, bedingen es die charakteristischen
Persönlichkeitsstile geradezu, dass die Betreffenden unglücklich,
unerfüllt oder außerstande sind, ihr Leben aus eigener Kraft
befriedigend zu gestalten. Statt anpassungsförderliche Persönlichkeitsstile
herauszubilden, entstehen bei diesen Menschen Persönlichkeitsstörungen.
Persönlichkeitsstörung
Unter Persönlichkeitsstörungen werden vor allem sozial unflexible,
wenig angepasste und im Extrem normabweichende Verhaltensauffälligkeiten
verstanden. Im Sinne der modernen psychiatrischen Diagnosesysteme dürfen
Persönlichkeitsstörungen nur dann als psychische Störung
diagnostiziert werden:
Energischen Widerspruch formuliere ich zu Peter Fiedlers Wissenschaftsverständnis:
"Für die Durchführung empirischer Studien und experimenteller Untersuchungen zur Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung ist es erforderlich, die Realität in hohem Maße auf Einzelaspekte zu reduzieren." (S. 23)
Das ist eine fundamentale wissenschaftliche Fehleinstellung. Nur umgekehrt kann ein anständiger Schuh daraus werden:
Die Durchführung empirischer Studien und experimenteller Untersuchungen zur Persönlichkeit und Persönlichkeitsentwicklung ist so zu gestalten [Zur Heilmittelklasse J gestalten], daß sie der komplexen Realität in hohem Maße entsprechen. Ist das nicht möglich, ist nicht die komplexe Wirklichkeit auf die Beschränktheit der Wissenschaft zu reduzieren, sondern es sind angemessene Methoden zu entwickeln, die dieser komplexen Wirklichkeit Rechnung tragen. Nicht die Realität hat sich an die Wissenschaft anzupassen, sondern die Wissenschaft an die Realität [Zur Heilmittelklasse J anpassen].
Daß der Behaviorismus und die Verhaltenstherapie in ihrem traditionell verkürzten Verständnis von Forschung und Empirie hier weitgehend überfordert sind, rechtfertigt natürlich in keinem Maße, die Welt so auf den Kopf zu stellen. Schematheoretisch [hierzu]: Das hat mit einer wirklichen wissenschaftlichen Grundhaltung nichts mehr zu tun, das ist VT-Politik, die nicht auf deutsche Lehrstühle gehört, sondern in die Privatwirtschaft, Berufs- und Fachverbände. [F12]
Biologische Basis: "Für die Persönlichkeitsentwicklung spielt bei allen Menschen die genetische und biologische Prädisposition eine herausragende Rolle." (S. 23)
Behandlungsmöglichkeit
und Behandlungsoptimismus: "Salutogenese und Pathogenese
Klinische Psychologen und Psychotherapeuten sind viele Jahre davon
ausgegangen, dass Persönlichkeit und die spätere Entwicklung
von Persönlichkeitsstörungen in der Kindheit geprägt oder
angelegt werden und danach weitgehend unveränderlich erhalten bleiben.
Neuerliche Erkenntnisse sprechen jedoch gegen diese Annahme in ihrer Ausschließlichkeit
(Fiedler, 1999 b). Heute geht man weitgehend übereinstimmend davon
aus, dass sich Persönlichkeitsentwicklung fortsetzt und dass die Persönlichkeitsreifung
ein kontinuierlicher Prozess ist, der das ganz Leben weitergeht. Dies betrifft
auch die Möglichkeit positiver Veränderungen oder die Beeinflussbarkeit
von Persönlichkeitsstörungen. Genau diese Perspektive der Salutogenese
der Persönlichkeitsentwicklung und damit einhergehend eine immer gegebene
günstige positive Beeinflussbarkeit auch gravierender Persönlichkeitsstörungen
ist es letztlich, die es hoffnungsvoll und sinnvoll werden lässt,
Persönlichkeitsstörungen psychotherapeutisch zu behandeln." (S.
23f)
Kommentar
zu den grundlegenden Problemen des Persönlichkeits-Störungs-Konzeptes
Das Grundproblem besteht in folgenden Aussagen, die schwer
miteinander in Einklang zu bringen sind: (1) Einerseits ist die Persönlichkeit
biologisch "prädisponiert". (2) Zudem muß eine Persönlichkeitsstörung
sich wie ein roter Faden vom Heranwachsendenalter an durchs Leben ziehen
- im Gegensatz zu "Neurosen", die aktualisiert werden können, latent
oder manifest vorhanden sind und dann aber auch wieder verschwinden können.
Der ICD-10 formuliert ganz klar (dt. 1991, S. 211) (Fettung von
R. S.): "Persönlichkeitsstörungen beginnen in der Kindheit
oder Adoleszenz und dauern im Erwachsenenalter an." (3) Andererseits
soll sich eine Persönlichkeit im Lebensverlaufe auch ändern können,
was ja auch vielfach belegt ist: die Menschen verändern sich, aber
die Frage bleibt: in welchen Merkmalen? (4) Auf (3) beruht die Behandlungsmöglichkeit
und der Behandlungsoptimismus. (1) und (2) stützen sich. (2) steht
in Widerspruch zu (3) und (4). Dies verlangt natürlich nach einer
Klärung: ja, was kann man denn nun psychotherapeutisch bei einer Persönlichkeitsstörung
"beeinflussen"? Diese Gretchen-Frage wird von Peter Fiedler nicht ausreichend
und zufriedenstellend geklärt. Im Grunde übergeht er sie und
behauptet einfach, daß es so sei. Das ist diesem Kardinal- und Grundproblem
aber nicht angemessen und keine Problemlösung. Aus einer solchen Haltung
entstand einmal der Behaviorismus, der mit den schwierigen Instrospektionsproblemen
heillos überfordert war. Ignorieren ist keine Lösung und gilt
nicht in der GIPT.
Ich gebe an dieser Stelle eine Antwort
aus der Sicht der GIPT: Markante oder charakteristische Persönlichkeitsmerkmale
sind psychotherapeutisch bestenfalls nur teilweise direkt beeinflussbar,
tendenziell eher nicht, weil Persönlichkeit ja gerade als etwas kontinuierlich
Charakteristisches definiert wird. Es kommt daher besonders darauf
an, ungünstige Merkmalsmanifestationen J
auszugleichen,
zu J
kontrollieren
und zu J
lernen
J
vorzubeugen,
d. h. entsprechende Vorkehrungen zu treffen.[F13:
zum Theta Präfix]. Das ist sehr wichtig, denn wer sich in der
Kunst des Unmöglichen versucht, muß - schon per definitionem
- darin scheitern. Also was geht, und was geht nicht? Die Beantwortung
dieser Frage ist fundamental für den Therapieerfolg. Nehmen wir als
Beispiel das Persönlichkeitsmerkmal "Impulsivität".
Merkmals-Beispiel Impulsivität: Impulsivität bedeutet eine überdurchschnittlich schnelle und starke Reagibilität. Sie läßt sich z. B. beim Aufmerksamkeits- Defizit- Hyperaktivitäts- Syndrom (AD-H-D, ADD, ADS) mit RitalinR oder beim Tourette Syndrom mit TiapridexR medikamentös beeinflussen. Ich habe hierzu ein Therapiekonzept entwickelt, das mit psychologischen Mitteln der Impulsivität beizukommen versucht, wobei das Konzept ausdrücklich davon ausgeht, daß das Persönlichkeitsmerkmal impulsiv nicht wegtherapiert werden kann. Also geht es im Prinzip um Merkmals- oder Symptom-Management. Ein sehr wichtiger Teil des Konzeptes ist das genaue Studium, wie sich die impulsive Reagibilität zeigt, wie sie entsteht und wie sie verläuft. Dieser Teil dient dann künftig der J Vorbeugung. Letztendlich lassen sich mit diesen Ansatz durchaus Effekte erzielen, die dem Augenschein nach, wenn das Therapiekonzept anschlägt und gelingt, wirken, als sei ein Stück Impulsivität "verschwunden". Tatsächlich ist nicht die Impulsivität verschwunden, sondern ihre Erscheinungs-, Ausdrucks- oder Äußerungsform, was aber sehr wichtig im Alltag sein kann. So kommt es z. B. in der GIPT-Sozialtherapie nicht darauf an, ob jemand seine kleptomanischen Motive verliert, sondern "nur", daß sie sich nicht mehr durchsetzen können, daß ihnen J vorgebeugt wird, daß sie J kontrolliert oder J ausgeglichen (J kompensiert, J verschoben [hierzu: FN14]) werden können.
"3.2
Persönlichkeitsstörungen
Viele Klinische Psychologen und Psychotherapeuten haben sich wegen
der beschriebenen Probleme mit einer Diagnose und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
bisher sehr zurückgehalten. Dies hatte neben der bereits beschriebenen
Stigmatisierungsproblematik verschiedene weitere Gründe (Schulte &
Wittchen, 1988): Zum einen hatten Psychotherapeuten gegenüber der
kategorialen Diagnostik in der Psychiatrie lange Zeit grundsätzliche
Vorbehalte. Die Orientierung an einer nosologischen Klassifikation erschien
ihnen zu grob. In ihrer therapeutischen Arbeit bevorzugten sie eher den
ideographischen Prozess der konkreten Definition und Analyse eng umschriebener
Verhaltensprobleme. Und sie wollten sich möglichst vorurteilsfrei
an eine Behandlung der persönlichen Lebensprobleme ihrer Patienten
annähern.
Diese Ablehnung der psychiatrischen Klassifikation
wurde nun in den vergangenen Jahren zunehmend aufgegeben. Dies geschah
in dem Maße, wie die Klassifikationssysteme differenzierter wurden
und theorielastige Begriffe wie Psychopathie, Hysterie und
Neurose
ausdrücklich gestrichen wurden. Das Diagnostische und statistische
Manual psychischer Störungen (DSM-IV; APA, 1994) wie auch die aktuelle
ICD-10 (WHO, 1993) verzichten inzwischen allgemein - und so auch bei den
Persönlichkeitsstörungen - auf intuitive Erfahrungen der Diagnostiker.
Beide Systeme fordern die Beurteilung des Problemverhaltens anhand konkreter
Verhaltens- und Kontextindikatoren. Weiter verwenden DSM und ICD den Störungsbegriff,
und zwar ohne weitergehende Implikationen in Richtung "Erkrankung"." (S.
26)
So weit so gut. Vielleicht sollte an dieser Stelle aber noch einmal deutlich hervorgehoben werden, daß wir es in der Praxis mit einem individuell einmaligen Menschen zu tun haben, der in seiner idiographischen Einzigartigkeit wahrgenommen, beurteilt und behandelt werden muß. Wissenschaftlicher Reduktionismus ist in der Praxis ein Kunstfehler. Das folgende wird zeigen, daß der Integrative Psychotherapeut Peter Fiedler die hohe Kunst der Umdeutung anscheinend noch besser beherrscht als die SystemikerInnen (kursiv fett von mir hervorgehoben).
"Prototypenperspektive
In beiden Systemen finden sich heute sog. typologische Systematisierungen.
Diese folgen Modellüberlegungen, die in der Kognitiven Psychologie
als sog. "Prototypenmodell der Kategorisierung" entwickelt wurden (z. B.
Mervis & Rosch, 1981). Die Prototypenperspektive stellt folgende Anforderungen
an eine Klassifikation psychischer Störungen (vgl. Fiedler, 1998 a):
"Qualitativ gewichtet"? Was ist denn das? Das hört sich an wie eine contradictio in adjecto, also ein gescheckter Rappe oder ein eckiger Kreis (Name einer früheren nordbayrischen Literaturgruppierung). Eine Gewichtung ist immer eine Quantifizierung, und das Quantitative ist gerade nicht qualitativ, sondern die Ausprägung eines Qualitativen.
Und noch schlimmer: sobald man die Kriterien unterschiedlich gewichtet, gilt das einfache Kardinalzahlaxiom der Auswahl zur Äquivalenzklassenbildung ja nicht mehr. Das ist zwar methodisch lösbar, aber nicht bei den Vorgaben die Peter Fiedler vorgibt, das ist ein in sich widerspruchsvolles System, also logisch wertlos. Man merkt an diesen Stellen, daß Peter Fiedler, das zeigt sich schon in seinem Buch über die Persönlichkeitsstörungen die DSM- und ICD-Klassifikatorik völlig unkritisch übernimmt und die Probleme nicht anspricht - ob er sie bemerkt, wissen wir nicht - sondern selbst noch neue hinzufügt. Diese unkritische Haltung setzt sich auch in der Darlegung der "Achsen" im DSM fort:
"3.2.2 Multiaxiale Diagnostik
Persönlichkeitsstörungen werden im multiaxialen Diagnosesystem
des DSM auf einer eigenen Achse II diagnostiziert. Dieser Aspekt
macht erstens darauf aufmerksam, dass Persönlichkeitsstörungen
mit spezifischen psychischen Störungen in einen Zusammenhang gestellt
werden können (beispielsweise mit einer Phobie oder Essstörungen,
die im DSM auf der Achse I zu finden sind). Das ist die inzwischen, wenn-gleich
etwas unglücklich so bezeichnete "Komorbidität" ( -> 3.3).
Persönlichkeitsstörungen können auf
Grund einer sorgsamen Problemanalyse zweitens auch zur Hauptdiagnose
avancieren, wenn die spezifischen Störungen z. B. als Folge einer
persönlichkeitsbedingten Störungsentwicklung erklärlich
werden - oder wenn keine spezifischen, sondern nur Persönlichkeitsstörungen
vorliegen.
Die gesonderte oder Komorbiditäts-Diagnose
kann schließlich drittens auch als Beurteilungshilfe betrachtet
werden, wenn es im Verlauf der Behandlung spezifischer psychischer Störungen
(Angst, Depression usw.) wiederholt zu Beziehungsschwierigkeiten zwischen
Patient und Therapeut kommt, die den weiteren günstigen Verlauf der
Therapie behindern oder gar in Frage stellen." (S. 28)
Das
Achsen- und Dimensionsproblem der Störungen
"auf einer eigenen Achse". Das ist eine Formulierung, als hätte
das DSM-Komitee da etwas ganz Tolles und Außergewöhnliches gemacht
oder vollbracht. Was soll denn das sein: die "Achsen" im DSM? "Achsen"
repräsentieren wohl die Idee, Dimensionen von Störungen, Bedingungen
und Einflüssen vernünftig zu differenzieren. Das wird allerdings
im DSM weder konsequent noch hinreichend vollbracht. Positiv ist aber zu
vermerken, daß immerhin ein Anfang gemacht wird. Wie man das konsequent
und angemessen machen muß, habe ich ausgeführt
unter. Am wenigsten einsichtig ist die Trennung zwischen "Achse"
I und II. Begründungen sucht man ohnehin vergeblich. Persönlichkeitsstörungen
könnten genauso gut mit jeder Störung in Verbindung gebracht
werden, wenn sie auf Achse I angeordnet wären. Es bleibt mir deshalb
dunkel, was Peter Fiedler veranlaßt, die "Achse" II so zu feiern.
Grob gesichtet wäre folgende "Achsen"-, besser Dimensions-Einteilung
sinnvoll:
Es folgen nun in Kapitel 3.4 die Einzelbeschreibungen. Hier fehlen die einzelnen operationalen Kriterien im DSM und ICD, was wahrscheinlich seitenumfangs- und verlagsbedingte Marketinggründe für sein Buch "Persönlichkeitsstörungen" hat, wo sowohl die ICD-10 als auch die DSM-IV Kriterien vollständig mitgeteilt werden. Sehr positiv ist der systematische und konsequent durchgehaltene Aufbau nach "Störung", "Stil" und "Funktion" zu würdigen, wobei besonders der Abschnitt "Stil" die Übergänge zur Normalität beschreibt.
"3.6 Komorbidität und Prognose
Von zunehmender Bedeutung für die Psychotherapieplanung und Psychotherapieforschung
erweist sich inzwischen die Tatsache, dass sich bei vielen Menschen mit
spezifischen psychischen Störung gleichzeitig auch noch eine oder
sogar mehrere Persönlichkeitsstörungen diagnostizieren lassen.
Dies ist insbesondere beobachtbar, seitdem im DSM und in der ICD das sog.
Komorbiditätsprinzip gilt.
Komorbidität
Bei gleichzeitigem Vorliegen mehrerer psychischer Störungen bei
einer Person werden in den Diagnosesystemen DSM-IV wie ICD-l0 Mehrfachdiagnosen
als sog. Komorbiditätsdiagnosen vorgeschlagen. Komorbiditätsdiagnosen
ermöglichen der Forschung differenzierende Aussagen über Ursachen-
und Verlaufsbedingungen psychischer Störungen. In der Praxis erfordern
Komorbiditätsdiagnosen üblicherweise eine [S. 48] Berücksichtigung
der verschiedenen Störungen bei der Planung und Durchführung
differenzieller Therapieangebote.
Der Sachverhalt, um den es bei der "Komorbidität"
geht (oder besser: der Feststellung von Mehrfachdiagnosen bei ein und der
selben Person), ist inzwischen so bedeutsam, dass sich Psychotherapeuten
diesen Befunden nicht mehr verschließen sollten (vgl. Fydrich, Schmitz,
Dietrich, Heinicke & König, 1996; Tyrer, Gunderson, Lyons &
Tohen, 1997)." (S. 47f)
Sehr informativ sind die Übersichtstabellen zur Komorbiditätsforschung, PS und andere Störungen (S. 49) und der PS untereinander (S. 51). Nicht gut - bis geradezu desorientierend - erklärt ist die Odds-Ratios Tabelle [F16] auf S. 53, hier ist für die nächste Auflage unbedingt ein praktisch verständliches und relevantes Ablesebeispiel zu wünschen.
Es folgt demnächst Kapitel 4 (Rezension fünfter Teil = Teil 4, da bei 0 die Zählung begonnen wurde)
Kritische Kommentare
/ Fußnoten Sponsel
[F00] In meiner Ausgabe von 1948, 5. Auflage lautet
dieser Satz [Unterschied gefettet]: "Menschlich aber bedeutet die
Klassifikation und Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung,
die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht."
Mehr > F05.
[F01] Psychotherapiebegriff.
Schneider, P. J. (1824). Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische
Krankheiten oder Heilmittel in Beziehung auf psychische
Krankheitsformen. Innentitel: Medicinisch-practische Adversarien. Zweite
Lieferung. Tübingen: Laupp, enthält auf S. XIV die Wortschöpfung
"psychologisch-therapeutisch". Schneider
war einer der frühen alllgemeinen und integrativen Heilmitteltheoretiker
(neudeutsch Wirkfaktoren oder Heilwirkfaktoren). Siehe zudem
[F02].
[F02] Psychotherapiegeschichte.
Der Autor ist in der integrativen und allgemeinen Psychotherapiegeschichte,
wie wir später noch drastischer sehen werden, nicht sehr gut bewandert
oder wissenschaftspolitisch zu sehr engagiert, wodurch er seine wissenschaftliche
Kompetenz oder Redlichkeit in diesem Punkt relativiert. Bereits Karl
Philipp Moritz' Gnothi Seauton ("Erkenne Dich selbst") oder Magazin
zur Erfahrungsseelenkunde 1783 mit teilweise außerordnetlich
"modernen" Ideen kann als die erste allgemeine und integrative Fachzeitschrift
betrachtet werden. Das erste große und systematische Werk zur
Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie wurde 1803 von Johann Christian
Reil verfaßt. J. A. C. Heinroth
(1773-1843) erhielt 1811 in Leipzig den ersten Lehrstuhl für
psychische
Therapie. Und die humane Revolutionierung in der Psychiatrie
setzte wohl mit Pinels Befreiung der PsychiatriepatientInnen von ihren
Ketten ein (Bild hier). Erfreulich
ist anzumerken, daß er auf Janet hinweist, sehr bedauerlich ist,
daß keines von Janets Werken im Literaturverzeichnis auftaucht und
Janet auch im Namensregister nicht erwähnt wird. Das hat Janet bei
seiner großen und integrativen Leistung für die Psychotherapie
nicht verdient. Eine angemessene Würdigung von Janet finden
Sie hier. Eine Kurz-Geschichte der historischen und Internationalen
Integrativen Psychotherapiebewegung finden
Sie hier und die neuere und aktuelle Entwicklung wird hier unter
[F03] geschildert.
[F03] Neuere Integrative Psychotherapiebewegung
(aus Sponsel 1997): "Ich möchte
nun noch auf die Aktuellere Entwicklung der Allgemeinen und Integrativen
Psychotherapie eingehen. Die Entwicklung verlief die letzten 15 Jahre sehr
stürmisch. Die International Academy
of Eclectic Psychotherapists in der z. B. auch Ellis Mitglied ist,
hat sich 1982 gegründet. Sie veranstaltet seither Weiterbildungen
und Kongresse und gibt die Zeitschrift Journal of Integrative
and Eclectic Psychotherapy heraus. Die Society
for Exploration of Psychotherapy Integration, eingedeutscht kurz SEPI,
wurde 1983 gegründet und seither werden regelmäßig Weiterbildungen
in vielen Ländern der Welt durchgeführt und in der Zeitschrift
„Journal of Psychotherapy Integration" dokumentiert. Ihr gehören
derzeit über 500 Mitglieder, u. a. auch viele prominente PsychotherapeutInnen
und PsychotherapieforscherInnen an (z. B. Lazarus,
Beck, Mahoney, Wachtel, Garfield).
Die SEPI versteht sich als eine Einrichtung, die das Gespräch zwischen
den Schulen und schulenübergreifende Entwicklungen fördert. Das
FPI um Hilarion Petzold gibt seit 1975 die Zeitschrift „Integrative Therapie"
heraus und bildet seit 1973 aus. Am 18.11.1993 benannte sich die DGGK (Deutsche
Gesellschaft für Gestalttherapie und Kreativitätsförderung)
nach 20 Jahren in DGIK (Deutsche
Gesellschaft für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung
e. V.) um. Ca. 700 Mitglieder. Zahlreiche Veröffentlichungen zur
Theorie und Praxis der Integrativen Therapie sind erschienen. Der Lehrstuhl
Grawe in Bern betreibt seit 1992, inzwischen mit jährlichem Beginn,
eine Allgemeine Psychotherapieausbildung. Im inzwischen wohl berühmtberüchtigten
Buch „Psychotherapie im Wandel", das man in seinen drei Teilen differenziert
bewerten muß, heißt es auf S. 787: Zitat: 'Wir sind der
Überzeugung, dass es schon heute möglich ist, in Psychotherapieausbildungen
und in der Psychotherapiepraxis eine Annäherung an eine solche Allgemeine
Psychotherapie zu verwirklichen. Wir müssen damit nicht warten, bis
ein noch besser ausgearbeitetes und besser empirisch überprüftes
Konzept vorliegt.' Zwei vormals verhaltenstherapeutische Ausbildungsinstitute
(München und Bamberg) haben sich in CIP, Centrum für Integrative
Psychotherapie, umbenannt. Die Ausbildung dort ist aber nicht wirklich
allgemein und integrativ, sondern schwerpunktmäßig verhaltenstherapeutisch,
wobei man sich völlig ungerechtfertigt die kognitive Therapie einverleibt
hat. Die Schweizer Gruppe Blaser, Heim, Ringer und Thommen legte nach 8-jähriger
Arbeit 1992 ihr eklektisch-integratives Werk einer effektiven Kurzzeitpsychotherapie
vor, das in der Berner Psychiatrischen Universitätspoliklinik entwickelt
wurde. Dort wird auch ausgebildet. In Grawe et al. 1994 wird eklektischen
und integrativen Therapien eine außerordentlich gute Effizienz in
22 klinischen Wirksamkeitsnachweisen bestätigt. In Freiburg bildet
Kollegin Schramm unter dem Psychiater Prof. Berger in Interpersoneller
Psychotherapie nach Klerman & Weissman aus und unter Berger wird ebenfalls
integrativ, inclusive Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, ausgebildet.
Die MedizinerInnen sind überhaupt dabei, sehr stark integrativ auszubilden
und damit in Richtlinienverfahren Doppelqualifikationen zu erwerben. Ich
habe in meinem Buch (Sponsel 1995) rund 800 Arbeiten (von geschätzten
1000) zur Allgemeinen und Integrativen Therapie recherchiert und dokumentiert.
Und bereits 1984 habe mit einer Stichprobe von N=1091 ProbandInnen eine
umfassende integrative Psychotherapieerfolgskontrollstudie
mit vielen Kontrollgruppen durchgeführt."
[F04] Sponsel, R. (1997d).
Theorie und Praxis einer allgemeinen und speziellen
psychologischen Heilmittellehre, Psychotherapiesprache und Methodologie.
Überarbeit. Sonderdruck des Vortrags auf dem 4. Dt. Psychologentag
des BDP, 19. Kongreß für Angewandte Psychologie 2.-5. Oktober
1997 in Würzburg. 34 S., mit über 20 Illustrationen und Graphiken.
Ringheftung DIN A4 DM 10.00. Erlangen: IEC
[F05] Jaspers-Zitat. Mehr
einer Gewohnheit folgend habe ich das Jaspers-Zitat überprüft.
Tatsächlich findet sich in meiner 5. Auflage von 1948 (748 Seiten)
das Zitat wie oben [F00] ausgeführt. Da Fiedler
die erste Auflage zitiert, wollte ich nicht ausschließen, daß
sich das Zitat in der 1. Auflage in der angegebenen Form findet. Ich habe
mir eine erste Auflage von 1913 (338 Seiten) besorgt und eingesehen, aber
das Zitat dort überhaupt nicht finden können. Eine Mail-Anfrage
bei Peter Fiedler ergab, daß er dieses Zitat ungeprüft von Tölle
übernommen
hat. Das hat mich nun aus zwei Gründen ein wenig irritiert: (1) erstens
sollte jeder, der Psychopathologie betreibt, einen Original-Jaspers in
seinem Bücherschrank stehen haben, und erst recht dann, wenn Peter
Fiedler (2) angibt: "Viele Jahre Jahre habe ich jetzt schon über diese
pointierte Feststellung von Karl Jaspers nachgedacht." (S.11). So
frage ich mich: wenn man einen Satz für so bedeutsam hält, warum
besorgt man sich dann nicht den Kontext und denkt mit und in diesem Kontext
nach? In meiner fünften unveränderten Auflage befindet es sich
auf S. 365 im Kapitel "Charakterologie" und hier im Abschnitt "c) Aufbau
des Charakters überhaupt". Jaspers fährt nach dem Zitat fort:
"Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung
nie vergessen werden." Diese Ergänzung und der Kontext ist wichtig,
weil man sonst denken könnte, daß Jaspers wie Rogers und weite
Teile der Humanistischen Psychotherapie jegliche "feststellende Diagnostik"
ablehnt. Denn der Nachsatz bedeutet doch wohl ganz offensichtlich,
daß Jaspers sehr wohl weiß, daß man in der psychopathologischen
Diagnostik um Feststellen und Klassifizieren nicht herumkommt und er betreibt
beides in der "Allgemeinen Psychopathologie" ja auch selbst. Aber er sieht
a u c h, was das e b e n f a l l s heißt. Und das gibt er uns
als Mahnung mit auf den Weg: sieh, was du tust, wenn Du Persönlichkeiten
klassifizierst und feststellst, Du maßt Dir etwas an, was letztlich
nicht geht und die Kommunikation abbricht. Diese Mahnung wird sehr
verständlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es im
Bereich der Persönlichkeitsstörungen - den früheren "Psychopathien"
- eine besonders labelnde und teilweise entwertende Diagnostik, der die
Gefahr der Stigmatisierung innewohnt, unvermeidbar ist, wenn man sie denn
betreibt. Und da hilft keine euphemistische Verschleierung, die nur unaufrichtig
und damit anti-jasperisch ist.
[F06]
Leonhard, Karl (1968): Die akzentuierten Persönlichkeiten. Berlin:
VEB Volk und Gesundheit.
[F07]
Links zum Terminologieproblem in der Psychologie: Beispiel Nur_empfinden_fühlen_spüren
Über den Aufbau einer präzisen
Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik
und Psychotherapie
Überblick
der Signaturen: Dokumentations- und Evaluationssystem Allgemeine und Integrative
Psychotherapie
Testtheorie
der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie.
Probleme der Differentialdiagnose
und Komorbidität aus Sicht der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie
Introspektion, Bewußtseins-
und Bewußtheitsmodell in der Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie
[F08]
Mauthner, Fritz (1906). Zur Sprache und zur Psychologie. Stuttgart: J.
G. Cotta'sche. Seite 303: "Die Psychologen vermeiden bereits, ihre
Werke einfach 'Psychologie' zu nennen, und es wird wohl nicht lange dauern,
bis der Gegenstand dieser Wissenschaft, die menschliche Seele, aus der
Reihe der technischen Ausdrücke ausgeschieden sein wird."
[F09] In Vorbereitung:
Sponsel, Rudolf. Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie als Eingriff
in das Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Über
den speziellen Abwehrmechanismus der Ausblendung und Verdrehung eben dieses
Eingriffs. Erlangen: IEC
[F10] Das ist
nur die eine Seite dieser Medaille. Persönlichkeit in meinem Verständnis
heißt auch, die Umwelt, das Leben an sich anzupassen: die Umwelt
zu gestalten, ihr den eigenen Stempel aufzuprägen versuchen, wodurch
ja manche Persönlichkeitsgestörte überhaupt erst so stressig,
lästig oder sogar gefährlich werden. Zu
den Heilmittelklassen J anpassen
und J gestalten.
[F11] Der Ausprägungsbegriff
wird in der Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie
sowohl mehrdeutig als auch verkürzt im Sinne einer Intensitätsausprägung
verwendet. Dies hat mich z. B. bewogen sämtliche Ausprägungsbegriffe,
die ich mit dem Terminus "Quantoren" bezeichne, einer Analyse zu
unterziehen (siehe
bitte hier).
[F12] Es ist ein Trauerspiel, mitanzusehen,
wie die Fach- und Berufspolitik die deutschen klinischen Lehrstühle
erobert hat. Das alles hat mit Wissenschaft nicht mehr viel zu tun, sondern
nur noch mit Wissenschaftspolitik. Während sich die psychosomatischen
Lehrstühle fest im psychoanalytischen Würgegriff befinden, sind
die allermeisten klinisch-psychologischen Lehrstühle fest in verhaltenstherapeutischer
Hand. Wissenschaft? Oder Skandal und das Ende der Wissenschaft? Zur
Wissenschaftskritik und zum Wörterbuch der Beschimpfung der Szientistischen
Spieler. Entsprechend sieht es natürlich mit der Zulassung neuer
psychotherapeutischer Verfahren durch den sog. Wissenschaftlichen Beirat
aus. Diese "Wissenschaft" ist in großer Gefahr, völlig zu verwahrlosen.
[F13] Terminologie:
Mit dem griechischen Buchstaben Theta J
(nach Jerapeia
(therapeia): Heilung) kennzeichnen wir Psychische Funktionen, wenn sie
Heilmittel- oder Heilwirkfaktoren-Qualität (Funktion) annehmen,
z. B. J
einsehen, J
zulassen unterdrückter Erinnerungen, J
stellen (konfrontieren), J
sich überwinden und
J
mutig sein, Jdifferenzieren,
J
entspannen, J
lernen, J
loslassen, J
beherrschen ... Um deutlich zu machen, daß wir ein Wort nicht
alltagssprachlich, sondern im Rahmen einer psychologisch-psychotherapeutischen
Fachsprache verwenden, kennzeichnen wir das Wort mit dem griechischen Buchstaben
y
(Psi, mit dem das griechische Wort für Seele = yuch,
sprich: psyche beginnt). Viel Verwirrung gibt es in und um die Psychologie,
weil viele ihrer Begriffe zugleich Begriffe des Alltags und anderer Wissenschaften
sind. Um diese babylonische Sprachverwirrung, die unökonomisch, unkommunikativ
und entwicklungsfeindlich ist, zu überwinden, ist u. a. das Programm
der Erlanger Konstruktivistischen Philosophie und Wissenschaftstheorie
entwickelt worden: Kamlah & Lorenzen (1967). Zu einigen psychologischen
Grundfunktionen siehe bitte: vorstellen.
Ausführlicher zum Terminologieproblem.
[F14] Verschieben. In der Tiefenpsychologie ist
verschieben auch ein Abwehrmechanismus (= Motivationswandler). Beispiel:
Nehmen wir an, jemand kann das Rauchen nur dadurch aufgeben, daß
sie oder er stattdessen Kaugummi kaut. Dann ist im Grunde keine Heilung
des Kernproblems erfolgt, aber möglicherweise eine äußerst
nützliche Verschiebung gelungen, wenn es sich auch noch um einen "Gesundheitskaugummi"
handelt, den die ZahnärztIn so wertschätzt.
[F15] polythetisch: Aus dem
Griechischen, zusammengesetzt aus poly = viel und Thetik = Inbegriff von
Thesen oder dogmatischen Lehren . Die historische Bedeutung von "dogmatisch"
paßt hier gut. Genauer wäre multiäquivalent. Und methodologisch
notwendig wäre ein Hinweis auf die Äquivalenzklassenbildung
und ihre Problematik. Der Unsinn einer solchen unnötigen und problematischen
Klassenbildungs-Diagnostik und wie man sie vermeiden kann und sollte, wurde
von mir hier dargelegt.
[F16] Odds Ratios: "Die Wahrscheinlichkeitsangaben
kennzeichnen das empirisch gegebene Risiko, dass bei gegebener Hauptdiagnose
eine oder mehrere weitere Persönlichkeitsstörungsdiagnosen vergeben
werden. Odds Ratios mit Werten größer als vier gelten
üblicherweise als klinisch relevante Zusammenhänge, und Werte
größer als acht als hochbedeutsam." (S. 52). Kritik: Wahrscheinlichkeitswerte
können üblicherweise nur Zahlen zwischen 0 und 1 sein. Eine Prozentdarstellung,
die auch noch möglich wäre, ist nicht angegeben. Also, so darf
man das nicht machen, das ist nachlässigster Zahlen-Szientismus.
Ausgewählte
Veröffentlichungen des Autors auf seiner Homepage (Uni
Heidelberg):
https://www.psychologie.uni-heidelberg.de/AE/klips/mitarbeiter/fiedler/index.html
In seiner Präsentation in der
Homepage des Psychologischen Instituts der altehrwürdigen Universität
Heidelberg gibt Peter Fiedler folgende ausgewählte Veröffentlichungen
an: