Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=30.07.2012
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 01.04.15
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20
D-91052 Erlangen
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Anfang_Anton
Reiser__Überblick__Rel.
Aktuelles __Rel.
Beständiges _ Titelblatt__
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Willkommen in unserer Internet Publikation
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Kunst, Ästhetik,
Psychologie der Kunst, Bereich Theater, und hier speziell zum Thema:
Anton Reiser
Nach Karl Philipp Moritz in einer Bearbeitung von Mirja
Biel / Joerg Zboralski
Eindrücke von der Inszenierung
am 16.7.2012 im Theater Garage
Bildrechte © JOCHEN QUAST links Bild-1 (Christian
Wincierz), Mitte Bild-8 (Christian Wincierz, Robert Naumann) und Ausschnitt
aus Bild 2, rechts (Robert Naumann (vorne), Christian Wincierz (hinten))
von Rudolf Sponsel, Erlangen
__
Theater-Info [Team]
Aus der Ankündigung: "PREMIERE: 07. Juli | Garage | Dauer 1 Stunde
20 Minuten ohne Pause
REGIE, BÜHNE & KOSTÜME: Mirja Biel / Joerg Zboralski
DRAMATURGIE: Linda Best
MIT: Robert Naumann, Christian Wincierz.
Ein junger Student, der ärmlichen Verhältnissen entstammt,
mittellos und leicht depressiv, erhofft sich eine Karriere und einen gesellschaftlichen
Aufstieg. Doch seine Karriere kommt nicht ins Rollen und er sehnt sich
verzweifelt nach Anerkennung und Ruhm in der Gesellschaft. Eine Biografie
aus dem Jahre 2011? Weit gefehlt! Es ist die Geschichte eines jungen Mannes
aus dem 18. Jahrhundert. Anton Reiser wächst in einem zerrütteten
Elternhaus auf und wird vernachlässigt. Dies prägt ihn fürs
Leben. Mit sich selbst hadernd, unfähig sich selbst zu akzeptieren,
erlebt er in Folge Zurücksetzungen während seiner Schulzeit und
Demütigungen durch seine Klassenkameraden. Alle um ihn herum meinen
genau zu wissen, wie er denken und handeln soll. Er flüchtet sich
in die Welt der Bücher und des Theaters und findet dort spannende
Lebensentwürfe und verwandte Schicksale. Er beginnt daraus neue Hoffnung
zu schöpfen und entfernt sich mehr und mehr vom wirklichen Leben.
Reisers Flucht in die Theaterkunst wird zu einer Art Ersatzreligion, um
dem eigenen verfehlten Leben zu entrinnen. Letztendlich stürzen ihn
aber seine weltfremden Träume in immer tiefere Depressionen. Sein
Leben ist ein einziger „Widerspruch von außen und von innen (…)“.
ANTON REISER ist die feinfühlige Selbstanalyse eines introvertierten
jungen Mannes, der unter falscher Selbsteinschätzung und gestörter
Wahrnehmung leidet. Durch seine narzisstische Selbsterhöhung, seine
Lust an der Selbstzerstörung und seine Unfähigkeit, das Leben
in einem höheren Sinne zu deuten, wird er zum heutigen Zeitgenossen.
Karl Philipp Moritz (1756–1793) hat sich mit ANTON REISER seine eigene
Lebensgeschichte von der Seele geschrieben. Der psychologische Roman ist
das bis heute bekannteste Werk von Karl Philipp Moritz und ein Schlüsseltext
der deutschen Aufklärung."
Eindrücke
zu Inszenierung und Verlauf
Vorbemerkung: Es ist für mich schwierig, mich auf die Inszenierung
zu beschränken, weil ich mich mit Karl Philipp Moritz' Seelenerfahrungskunde
schon seit längerem beschäftige und bereits 1998 eine Internetseite
darüber anlegte. Anton Reiser lag bei uns schon lange auf der Anrichte,
obwohl allein schon der Untertitel "Ein psychologischer Roman" gerade für
einen Psychologen als Pflicht erscheint wie der Besuch der Inszenierung
vor Ort. Ich will mich hier aber zunächst auf diese Inszenierung konzentrieren,
so gut ich es eben kann, ganz kann es natürlich nicht gelingen, weil
ich mich dem Vor- und Nebenwissen nicht völlig entziehen kann..
Die Inszenierung ist klar gegliedert und besteht neben dem Vorspiel
und dem Schluss aus den vier Teilen nach dem Roman, wobei zum Einstieg
aus den jeweiligen Vorreden zitiert wird.
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_1: v.l.: Christian
Wincierz (CW) |
|
Prolog: In
höchster Erregung
Bevor der durchsichtige Vorhang aufgeht, steht ein junger Mann (Christian
Wincierz) zitternd und gelegentlich leicht nach Luft ringend da. Mein erster
Eindruck war höchste innere Erregung, die sich im Zittern Abfuhr verschaffte.
Ich meinte auch ein gelegentliches leichtes nach Luft
ringen wahrzunehmen, was eine Assoziation in Richtung Hyperventilation
auslöste, was gut passte, weil Hyperventilieren ja ebenfalls mit hoher,
wenn auch angstebesetzter Erregung einhergeht.
Hier steht ein Mensch in höchster Erregung, was für
mich gut zur Zeit der Pubertät und Selbstfindungphase passt. Jedenfalls
sind mir solcher Art Erregungzustände aus meiner eigenen Erfahrung
aus der Jugend un dem dem heranwachsender Alter vertraut.
Der "Zittereinstand" dauerte eine ganze Weile - bis der
durchsichtige Vorhang dann aufging - , mehrere Minuten. Er war damit
sehr eindringlich und bahnte damit die weiteren Assoziationen, Einfälle
und Interpretationen. [Erst später, gegen Ende des ersten Teils wird
beim Selbstmordversuch das Zittern erneut Thema]
Das rockfetzige
Lied "ICH BIN WICHTIG" zu Beginn ("Vorspiel") liefert unmittelbar
eine Erklärung für die Zeit der Erregung, die, entwicklungspsychologisch
gesehen, zunächst einmal gar nichts mit einer narzißtischen
Persönlichkeitsstörung zu hat, wie so mancher Interpret
in den Premierekritiken meinte, sondern schlicht ein "normales" Phänomen
im Selbfstfindungsprozess in der Pubertät,
des Jugend- und heranwachsenden Alters. Da gehören auch exaltierte
Verhaltens- und Erlebensweisen dazu. Was also mit 16, 17, 18 entwicklungspsychologisch
passend erscheint, wird 10 oder 20 Jahre später natürlich verwundern
und Kopfschütteln hervorrufen.
Der spektakuläre Prolog endet mit einem Paukenschlag:
Zitterer-Protagonist I (CW) sagt "Liebe" und fällt um. Damit ist ein
Kernthema (> Themen...)
herausgehoben: Bedeutung der Liebe (aber). |
Erster Teil. [Vorrede
Original] Herkunft, Kindheit, 12-14, Herkunft, Beim Hutmacher in
B., Krank, Fieber, Selbstmordversuch, Zurück nach H.
Es tauchte sodann eine zweite Figur (Robert Naumann)
auf, die zu Beginn des Stückes die Rolle als Vorleser - aus Anton
Reiser (Reclamausgabe) und Kommentator einnahm.
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_2: v.l.: Robert Naumann
(vorne), Christian Wincierz (hinten)
Herkunft: Rob: "Mitten in die eheliche Zwietracht
hinein wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß
er von der Wiege an unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein
Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige
Flüche und Verwünschungen. Und ob er gleich Vater und Mutter
hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und
Mutter verlassen,, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen,
an wen er sich halten sollte. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem
Leben aus seiner Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze
schwarzer Gedanken gemacht. Seine junge Seele schwankte beständig
zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern
und dem Rest seiner Mitmenschen hin und her. Und so hatte er keinen, zu
dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund
unter Großen noch Kleinen."
Es wird die schreckliche Zeit beim selbstgerechten
Hutmacher, natürlich ein guter Christ, der seine Abhängigen drangsalierte
und ausbeutete, ohne auch nur die geringsten Skrupel, Zweifel oder Gewissensbisse
zu haben (Abwehrmechanismus
der Dissoziation und Abspaltung) geschildert. Hier wurde Anton krank und
fieberte heftig und lange, ohn dass man sich um ihn besonders kümmerte:
"Allein, sei es nun, daß diese unnatürliche
Überspannung seiner Seelenkräfte oder die für seine Jahre
zu große Anstrengung seines Körpers zur Arbeit ihn zuletzt niederwerfen
mußte - er ward gefährlich krank. Seine Pflege war nicht die
beste. Er phantasierte im Fieber und lag oft ganze Tage lang allein, ohne
daß sich jemand um ihn bekümmerte. Die Szenen seines Lebens
verwirreten sich untereinander. Und obgleich Anton nach einiger Zeit wieder
gesundete, so blieb von diesem Tage an der Vorsatz fest bei ihm, im L.schen
Hause nicht länger mehr zu bleiben, es koste auch, was es wolle. Dem
Hause gegenüber war eine lateinische Schule, die Anton vergeblich
zu besuchen gehofft hatte - und wenn er gar die erwachsenen Schüler
herauskommen sähe, so hätte er alles darum gegeben, dieses Heiligtum
nur einmal inwendig betrachten zu können. Er fühlte sich selbst
als ein verächtliches, weggeworfenes Geschöpf. Es war dies eine
der grausamsten Situationen in seinem ganzen Leben. Er suchte sich vor
allen Menschen zu verbergen; jeder Laut war ihm zuwider, er eilte auf das
Plätzchen hinter dem Haus an den Fluß hin und blickte oft stundenlang
sehnsuchtsvoll in die Flut hinab. Verfolgte ihn dann selbst da irgendeine
menschliche Stimme aus einem der benachbarten Häuser, so deuchte es
ihm, als treibe die Welt ihr Hohngelächter über ihn, so verachtet,
so vernichtet glaubte er sich.
In einer dieser fürchterlichen Stunden war der Lebensüberdruß
bei ihm zu mächtig, er fing auf dem schwachen Brette, worauf er stand,
an zu zittern und zu wanken. ICH WILL WEG VON HIER!- Seine Knie hielten
ihn nicht mehr empor; er stürzte in die Flut.
Das ganze Haus lief zusammen, Anton wurde gerettet,
von diesem Augenblick an aber als ein gefährlicher Mensch betrachtet,
den man so bald wie möglich aus dem Hause fortschaffen müsse.
- Der Hutmacher L. schrieb den Vorfall sogleich an Antons Vater, und dieser
kam vierzehn Tage darauf mit unmutsvoller Seele nach B., um seinen mißratenen
Sohn nach H. wieder abzuholen.
Das Herz seines Vaters war gegen Anton kalt und
verschlossen; denn dieser betrachtete ihn als einen, in dessen Herzen der
Satan seinen Tempel errichtet habe - Doch je näher die Abschiedsstunde
herannahte, desto leichter wurde Anton ums Herz."
Zweiter Teil. [Vorrede
Original] Schule wird durch Spenden möglich, Außenseiter
Angst und Depression, Katastrophieren und Hineinsteigern, Theaterfaszination,
Faust, Höllenzustände, Verfall und Einsamkeit.
Bei allen Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die angedacht
werden, spielt Erleben der eigenen Bedeutung eine grandiose Rolle. Und
daher bewegt Anton Reiser auch am meisten ein Leben als Schauspieler, obwohl
ihm auch die Rolle des Pfarrers, der vor vollem Hause predigt, zwischenzeitlich
sehr zusagt. Das lässt sich in die einfache Formeln bringen: Ich suche
Beachtung und Anerkennung durch große und beeindruckende Rollen,
ich will von der Menge geliebt und bewundert werden.
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_3: v.l.: Christian
Wincierz, Robert Naumann
Der zweite Teil endet: Chr/Rob: "Ich muß zu allererst zu mir selber
finden. Ich muß es erst entwirren, dieses Chaos von Himmel und Hölle,
von Schmerz und Freude, das mich zerfetzt. Ich muß mich wochenlang
ins Zimmer einschließen, werde nicht einen Schritt auf die Straße
gehen, in dieser Zeit lerne ich Texte und mache Sprachübungen. Zehn,
zwölf, vierzehn Stunden täglich. Oder die ganze Nacht. Ich werde
tagelang im Park spazieren und werde nächtelang durch die Straßen
laufen. Ich werde immerzu Texte sprechen und nichts von dem wahrnehmen,
was um mich herum geschieht. Wenn ich bei den Sprachübungen müde
werde , schlage ich mir ins Gesicht, um mich zu bestrafen. Ich muß
es schaffen. Ich muß! Ich werde es beweisen.
Ich muß lesen, lesen! Ich kann nichtmal richtig deutsch. Ich
muß alles kennen, alles wissen! Ich muß Rollen lernen, lernen,
lernen! Ich muß es allein herausfinden. Wie und worum man lacht und
weint. Was Schmerz und Verzweiflung ist. Was Haß und Liebe ist. Was
Sehnsucht ist und Erfüllung. Ich allein werde die Form des Ausdrucks
eines Tages finden.
Ins Theater, ins Theater - ich muß ins Theater."
Dritter Teil. [Vorrede
Original] 16 LJ, Lesewut, Flucht in die Bücherwelt, Shakespeare,
Publikum und Schauspieler, Das Menschen-Ich muss weg.
Chr/Rob: " Reiser war nun etwas übers sechzehn Jahr. Er fühlte
die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind,
nur einer. Diese Unbedeutsamkeit, dies Verlieren unter der Menge war es
vorzüglich, was ihm oft sein Dasein lästig machte. Er suchte
sich nun ganz in sich zurückzuziehen und fing mit einer Art von Wut
zu lesen an."
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_6: v.l.: Christian
Wincierz (Schemen hinten), Robert Naumann (vorne) |
|
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_5: v.l.: Robert Naumann
(hinten), Christian Wincierz (vorne) |
Der hier kurze dritte Teil endet mit Rob: "Das Menschen-Ich muss weg!
Lieber Mensch, sieh endlich von dir ab: Jeder Mensch ist reiner Stoffwechsel.
Der totale Feind ist die Ich-Erkenntnis, die dich sehr „wichtig" macht.
Die totale „Wichtigtuerei" entsteht, wenn die miese „Ich-Autonomie" sich
als Virus an dir festbeißt und dir die Luft zum Atmen nimmt. Der
Selbstverwirklichungsfanatismus des Menschen ist der blanke Horror: Privatmeinungen
sind obszön und irrelevant. Wie "ich" etwas finde, ist komplett bedeutungslos.
"Sich selbst zu finden" ist unmöglich, ekelhaft, antirevolutionär
und widerlich. Deinen eigenen Traum zu leben ist selbstgerecht, stinkend
ohnmächtig und banal."
Vierter Teil. [Vorrede
Original] Reise- und Wanderlust, Bemühen um eine Rolle,
Absage: am Boden zerstört, "Ruhm und Beifall zu erwerben, das war
von jeher Antons höchster Wunsch gewesen", Schauspieler Hinterherlauferei
(Schicksalsnarretei),
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_4: v.l.: Robert Naumann
(vorne), Christian Wincierz (hinten)
Der vierte Teil ist vor allem dadurch bestimmt, dass Reiser der Schauspieltruppe
meist vergeblich (Schicksalsnarretei) hinterher reist. Als er sie am Ende
doch noch findet, hat er sie dennoch verloren:
.
"Als er in L in dem Gasthofe, den man ihm genannt hatte, eintrat, fand
er denn auch schon eine ziemliche Anzahl von den Mitgliedern der C'schen
Truppe vor. Allein er wunderte sich über deren Niedergeschlagenheit,
bis er die Nachricht zu hören bekam, daß der Prinzipal der Truppe
gleich bei seiner Ankunft in L. die gesamte Theatergarderobe verkauft habe
und mit dem Geld davongegangen sei.
Anton verstand zunächst nicht recht und stellte Nachfrage um Nachfrage
- bis es auch endgültig an seine Ohren drang: Die Schauspielergesellschaft
C war also nun eine zerstreuete Herde - und auch an diesem Ort blieb für
ihn nichts zu hoffen.
Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun
sprang sie. -
Schluss. Song:
I did it my way, Russische Roulette, Prolog Musik ICH BIN WICHTIG, Kuss
und Schuss ins Publikum.
Bildrechte © JOCHEN QUAST Bild_8: v.l.: Christian
Wincierz, Robert Naumann
CHRISTIAN: I did it my way
(Anmutung: bewusst gequält, latent jammerig vorgetragen - ein scharfer
Kontrast zum positiven Inhalt des Liedes: sein Leben trotz Hindernissen
oder Fehlern annehmen und persönlich angemessen zu gestalten)
Die Vorstellung endet mit wohlverdientem langem Beifall.
Publikumsgespräch.
Nach der (vorgezogenen) Vorstellung fand mit den beiden Haupdarstellern
Robert Naumann, Christian Wincierz, dem Regieassistenten Florian Götz
und der Regisseurin Linda Best ein Publikumsgespräch mit ca. 30-35
Interessierten statt. Hier wurde u.a. gefragt, ob spontane Umsetzungen
stattfanden (Nein, alles streng nach Drehbuch und Regie); nach der Authenzität
der Texte (alles gehört zu dem Roman); ob playback angewandt wurde
(Ja, der Text zum Schluss wurde zwar projiziert und scheinbar von der Leinwand
abgelesen, tatsächlich aber vom Band eingespielt). Der Schluss schien
einigen etwas rätselhaft. Der Kuss wurde aus dem Publikum als narzisstische
Ausdrucksform interpretiert. Das russische Roulette gab Rätsel auf
(Leben als Schicksals-Lotterie?), mehr als der Schuss ins Publikum. Die
vielen Spiegelungen unterstrichen wohl das Narzissmusthema.
Eindrucksfazit.
Als Generalbotschaft blieb mir hängen, dass das allzuviele oder
intensive Kreisen um das eigene Ich, die eigene Rolle, die eigene Bedeutung
nicht gut tut, keine Lösung ist. Diese Botschaft mag stimmen, aber
es fehlt die positive Orientierung. Zwar kann das Lied My Way als Positivorientierung
verstanden werden. Offen blieb: wie kommt man zu einer solchen positiven
Haltung, insbesondere, wenn man aus widrigen und prekären Verhältnissen
kommt? Hier wäre vielleicht ein Epilog frei nach Brecht eine Variante,
über die das Theater nachdenken könnte. Das könnte man auch
damit verbinden, dass der Roman ja unvollendet geblieben ist (Moritz starb
3 Jahre nach Veröffentlichung des vierten Teils im Alter von nur 37
Jahren). Hier könnte auch einfließen, dass Karl Philipp Moritz
viel erreicht hatte (schließlich kennen wir ihn heute noch und beschäftigen
uns mit ihm), gerade angesichts seiner widrigen Hintergrund- und Rahmenbedingungen.
Das hilft aber nichts, wenn man es nicht so bewertet, denn frei nach den
Stoikern gilt wohl: Nicht die Tatsachen sind schlimm (oder gut), sondern
wie man sie bewertet (was die Bedeutung, den Wert und Nutzen kognitiver
Therapie unterstreicht).
Die Komödiantisierung und Oberflächenkritik
des Narzissmus greift angesichts solcher Ausgangsbedingungen ein wenig
zu kurz. Zumal die Neigung und Sehnsucht nach (nicht-erotischer) Liebe,
Beachtung, Bewunderung aus der Kindheitserfahrung entwickelt und einfach
verstehbar dargestellt wurde - ohne dass man hierzu Psychologe sein müßte.
So gesehen waren die Lesungen aus dem Buch unmittelbar verständlich
präsentiert.
Insgesamt sehr anregend, für mein Alter vielleicht
etwas zu viel und zu schnell. Das steckt viel Arbeit drin, daher ein dickes
Kompliment an alle, die dies ermöglichten, nicht zuletzt auch an die
Technik.
Besonderheiten
der Inszenierung des Multimedia-Spektakels:
-
Die Aufgabe, einen 499 Seiten Roman in ein - zeitgemäß ansprechendes
- 80 Minuten Theaterstück vom Umfang eines 36 Seiten Skripts - repräsentativ
- abzubilden. Das dies beabsichtigt ist, ergibt sich aus der Gliederung
nach den vier Teilen des Romans. Eine inhaltliche Überprüfung
am Beispiel der Herkunft ergab eine stimmige Repräsentation.
-
Doppelbesetzung, Wechsel und Kommentator, Rollenvielfalt.
-
Spiegelungen, technische und multimediale Projektionen
Die
großen Themen Anton Reisers
-
Die Bedeutung - und die Ungerechtigkeit - des Milieus und der Herkunft.
-
Die Prägung des Milieus, Elternhaus, Familie, Herkunft und gesellschaftliche
Stellung.
-
Entwicklungspsychologie der Kindheit, Jugend- und heranwachsenden Zeit.
("Entwicklungsroman")
-
In eine Atmosphäre von Streit, Zwist und Zwietracht, Beschimpfungen
und Entwertungen hineingeboren - wogegen offenbar auch eine pietistisch
religiöse Einstellung nicht schützt.
-
Bedeutung - unstimmiger - religiöser Kindheits- und Jugenderfahrungen.
-
Kritik des Pietismus, u.a.: "Alles bis auf die kleinsten häuslichen
Beschäftigungen hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges und feierliches
Ansehn. In allen Mienen glaubte man ›Ertötung‹
und ›Verleugnung‹ und in allen Handlungen ›Ausgehen aus sich selbst‹ und
›Eingehen ins Nichts‹ zu lesen." [I,2]
-
Mangelnde Liebe, Anerkennung und Förderung im Elternhaus.
-
Entwicklung einer grenzenlosen Sehnsucht nach Bedeutung, Anerkennung, Bewunderung
(> histrionsische,
narzißtische
Störung?)
-
Das große Thema der Selbstbeobachtung
(Introspektion).[Anmerkungen
zum Selbstbeobachtungsproblem]
-
Die zunehmende Bedeutung von Phantasie, Tagtraum, Ersatz- und Wunschwirklichkeiten.
-
Die Entdeckung der großen Möglichkeiten der Sprache, insbesondere
des Lesens (multimedial in der Inszenierung sehr drastisch, unmittelbar
plakativ durch die Buchstabenprojektionen eindringlich veranschaulicht).
-
Übermächtig starke Wünsche nach Bildung und Wissen.
-
Katharsis durch Ersatzhandlungen
(> Psychopathologie
...), wobei eine unterdrückte Aggression und destruktive Wünsche
mit pyromanischer Komponente zum Ausdruck kommen.
-
Die große Bedeutung unmittelbarer Erfahrung von Bedeutung (öffentlich
predigender Pfarrer, Theaterleute).
-
Die starken seelischen Erregungsphasen in der Pubertätsphase
und heranwachsenden Zeit. Krisenzeiten des Lebens (> Schnittpunkte
des Lebens).
-
Narreteien des Schicksals (hinterher suchen der Schauspieltruppe)
-
Unbefangene der Annahme von Herausforderungen (Rollenbewältigungen).
-
Hin- und Herrschwanken zwischen polarisierenden Wünschen (Extraversion
- Introversion).
-
Tiefgreifende Ambivalenzkonflikte.
-
Psychosmatische Reaktionen, Erkranken an widrigen Bedingungen, Scheitern,
Chancenlosigkeit; Hypochondrie.
-
Manisch-depressive bzw. bipolare Grundstörung.
-
Ausgrenzung, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Selbstmordversuch.
-
Extreme Bedeutung der Außenwelt, überwertige Orientierung an
Stellung, Rang, Status (Kompensation der frühen Entbehrungen?)
-
Einen Beruf, die eigene Stellung und Möglichkeiten angemessener Selbstverwirklichung
zu finden.
-
Suchen einer ich-angemessenen Lebensform und Stellung im Leben und in der
- für Anton Reiser besonders wichtigen - Gesellschaft.
-
Interessant ist schließlich auch noch, womit sich Anton Reiser nicht
beschäftigt: Freundschaft, echte Beziehungen, Hingabe, Sexualität,
Verliebtheit, Liebe (zwischen Mann und Frau > Anton
Reiser, die Frauen, Liebe und Sexualität).
Exkurs
I: Zur Psychopathologie Anton Reisers.
Rob/Chr: "Jaaa, als einmal wirklich in der Nacht
ein Haus abbrannte, so empfand Anton bei allem Schreck eine Art von geheimen
Wunsche, daß das Feuer nicht
»so bald gelöscht werden möchte.
Dieser Wunsch hatte nichts weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern
entstand aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderungen,
Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt
bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde.
Chr: Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur
angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung."
[> Von
der Lust am Untergang]
Martens Nachwort der Reclamausgabe
(S.545-567) enthält eine bis auf wenige Ausnahmen - z.B. die meines
Erachtens falsche Unsicherheitshypothese S. 552 unten - stimmige und eindrucksvolle
Psychopathographie Anton Reisers. Die Sehnsucht oder sogar Sucht nach Beachtung
und Bewunderung ist sicher eher auf den Mangel an Liebe, Anerkennung und
Beachtung daheim im Elternhaus zurückzuführen. Daraus ergab sich
ein massives Selbstwert- und Befindensproblem.
Beispiele aus Reiser:
"Als er von Pyrmont wieder nach Hause gereist
war, schnitzte er sich alle Helden aus dem Telemach von Papier, bemalte
sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer und ließ sie einige
Tage lang in Schlachtordnung stehen, bis er endlich ihr Schicksal entschied
und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm,
jenem den Schädel zerspaltete und rund um sich her nichts als Tod
und Verderben sahe.
So liefen alle seine Spiele,
auch mit Kirsch- und Pflaumkernen, auf Verderben und Zerstörung hinaus.
Auch über diese mußte ein blindes Schicksal walten, indem er
zwei verschiedne Arten als Heere gegeneinander anrücken und nun mit
zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfallen ließ, und
wen es traf, den traf's.
Wenn er Fliegen mit der Klappe
totschlug, so tat er dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer
jeden mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die
Totenglocke läutete. Das allergrößte Vergnügen machte
es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt
verbrennen und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen
Aschenhaufen betrachten konnte.
Ja, als in der Stadt, wo seine
Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand
er bei allem Schreck eine Art von geheimen Wunsche, daß das Feuer
nicht so bald gelöscht werden möchte.
Dieser Wunsch hatte nichts
weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern entstand aus einer dunklen
Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen,
wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit
aufhören würde." [Q]
Exkurs
II: Zur Psychologie und Psychopathologie der Pubertät
und des heranwachsenden Alters - bei Anton Reiser.
Die Pubertät ist charakterisiert durch die Entwicklung der Geschlechtsreife,
der Selbstorientierung, Selbstbehauptung und Selbstfindung. Die sog. peer-group
und die Stellung, die man in ihr einnimt, wird sehr bedeutend, das Elternhaus
nervt und verliert an Einfluss. Man versteht sich selbst nicht so recht,
fühlt sich hin- und hergerissen, will einmal das und dann wieder das
Gegenteil. Man möchte frei und unabhängig seibn, sein eigenes
Leben leben, ohne so richtig zu wissen, wie es aussieht und was konkret
bedeutet. Hotel Mama wird nicht selten gerne genutzt, soziale Pflichten
weniger. Eine wichtige Rolle spielt im allgemeinen die Auseinandersetzung,
das sich zurechtfinden, mit den sexuellen Regungen. Das scheint bei Anton
Reiser überhaupt keine Rolle zu spielen. Das ist umso verwunderlicher,
als es ja in den allermeisten Theaterstücken eine Rolle spielt und
ihm schon aufgrund seiner großen Interesses für das Theater
nicht verboregn bleiben konnte.
Recherche
und Fazit zu Anton Reiser, die Frauen, die Liebe und die Sexualität
(>
Karl
Philipp Moritz und die Liebe):die Sexualität spielt in Anton Reisers
Entwicklung, Pubertät und Jugend keinerlei Rolle. Es gehört für
mich zu den Merkwürdigkeiten Anton Reisers, dass Liebe zwischen Mann
und Frau, Sexualität oder eine Freundin keine Rolle spielen. Die Abwesenheit
dieses Themas scheint die Reiser-Forschung bislang nicht zu beschäftigen.
Ich habe den ganzen Text noch einmal aus Zeno.org in ein Worddokument zusammengebunden,
um systematisch nach bestimmten Worten (Mädchen, verliebt, Sex, Freundin,
Liebe) zu suchen. Hierbei ergab sich folgendes (woraus ich das Fazit oben
zog):
Mädchen: S. 111, 114, Dienstmädchen 192.
S. 241: "Dieser Anfang bezog sich zum Teil auf Philipp Reisers verliebte
Launen, womit ihn dieser oft quälte, indem er ihm alle die allmählichen
Fortschritte erzählte, die er in der Gunst seines Mädchens getan
hatte – und seine Hoffnungen und Aussichten, die sich alle auf die Erreichung
der Gegengunst seines Mädchens beschränkten. – Wofür nun
Anton Reiser gar keinen Sinn hatte, dem es nie eingefallen war, sich die
Liebe eines Mädchens zu erwerben, weil er es für ganz unmöglich
hielt, daß ihm bei seiner schlechten Kleidung und bei der allgemeinen
Verachtung, der er ausgesetzt war, je ein solcher Versuch gelingen würde.
–
Denn so wie er die Verachtung, welche auf seinen Geist fiel, gleichsam
mit zu sich selber rechnete, so rechnete er auch die schlechte Kleidung
mit zu seinem Körper, der ihm denn ebenso wenig liebenswürdig
als sein Verstand achtungswürdig vorkam. – Kurz, es war ihm der ungereimteste
Gedanke von der Welt, daß er je von einem Frauenzimmer geliebt werden
sollte. – Denn von den Helden, die in den Romanen und Komödien, die
er gelesen hatte, von Frauenzimmern geliebt wurden, machte er sich ein
so hohes Ideal, das er nie zu erreichen imstande zu sein glaubte. –
Die eigentlichen Liebesgeschichten waren ihm daher
auch höchst langweilig, und am langweiligsten die Erzählungen
von den Liebesabenteuern, womit ihn sein Freund Philipp Reiser unterhielt,
und die er manche Stunde bloß aus Gefälligkeit für ihn
anhörte."
S. 253: "Was aber nun die eigentlichen Leiden Werthers
anbetraf, so hatte er dafür keinen rechten Sinn. – Die Teilnehmung
an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang – er mußte sich
mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn rühren
sollte – denn ein Mensch, der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes,
ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fiel,
sich selbst jemals als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer
zu denken. – Wenn Werther von seiner Liebe sprach, so war ihm nicht viel
anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiser von den allmählichen Fortschritten,
die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte, oft stundenlang unterhielt.
–"
S. 364: "Nie aber in seinem Leben ist seine Teilnahme
an einem fremden Schicksale stärker gewesen, als sie es gerade diesen
Abend an dem Schicksale der Liebenden war, welche durch den drohenden Todesstreich
getrennt werden sollten. Es traf bei ihm zu, was Homer von den Mädchen
sagt, die um den erschlagenen Patroklius weinten, sie beweinten zugleich
ihr eigenes Schicksal."
Sex kam gar nicht vor, außer im Namen eines
Rektor: "Sextroh"
Verliebt, S. 283: "Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde
er natürlich und wahr. – Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für
jemanden verliebte Klagen zu dichten. – Eine Situation, in welche er sich
mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte,
daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte – indem
er sein ganzes Äußre einmal für so wenig empfehlend hielt,
daß er gänzlich Verzicht darauf getan hatte, je zu gefallen;
so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der dar über
klagt, daß er nicht geliebt wird – was er also hievon wußte,
das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. – [284]
Demohngeachtet gerieten ihm die verliebten Klagen, die er entwarf, nicht
ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus
Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte.
– Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande,
wo er vom Überrest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung
nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht
zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen und konnte sich wieder
in seine Stelle versetzen. – Der letzte Vers dieser verliebten Klagen schien
ihm daher auch unter den Händen zu geraten. –"
Freundin kommt im Text gar nicht vor.
Literatur (Auswahl)
-
Moritz, Karl-Philipp (1785-1790). Anton Reiser [GP,
ZO;
ohne originale Texthervorhebungen]
-
Moritz, Karl-Philipp (1785-1790). Anton Reiser. Mit Textvarianten, Erläuterungen
und einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Martens. Stuttgart: Reclam
[mit Texthervorhebungen > S. 538].
-
Fürnkäs, J. (1977). Der Ursprung des psychologischen Romans.
Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Stuttgart
-
Kaiser, Joachim (2002, Hrsg.): Das Buch der 1000 Bücher. Harenberg
Verlag.
-
Kim, Hee-Ju (2005). Ich-Theater. Zur Identitätsrecherche in
Karl Philipp Moritz' 'Anton Reiser'. Diss. Deutsch Universitätsverlag
Winter.
-
Košenina, Alexander (2009). Karl Philipp Moritz. Literarische Experimente
auf dem Weg zum psychologischen Roman. [Inf]
-
Müller, L. (1987). Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis:
Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Frankfurt/M.
-
Schrimpf, H.J. (1963). Karl Philipp Moritz' Anton Reiser. In: B. v. Wiese
(1963, Hrsg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. 1,
Düsseldorf: , S. 95-131.
Allgemeine Theaterliteratur.
Sucher, C. Bernd (1996). dtv-Lexikon Theater. Sachlexikon. München:
dtv.
Sucher, C. Bernd (1999). dtv-Lexikon Theater. Personenlexikon.
München: dtv.
Beide Bände vereinigt in der Digitalen Bibliothek Bd. 64.
Links (Auswahl: beachte)
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Medienstimmen zur Inszenierung in der Garage:
Andere Theaterfassungen
Schauspiel Staatstheater
Stuttgart 2007/ 08
Anton Reiser. Nach dem Roman von Karl Philipp Moritz Anton Reiser soll
werden, was andere von ihm erwarten. Er soll ihre Vorstellungen und Wünsche
erfüllen. Im Elternhaus, bei der Ausbildung, in der Schule, im Studium,
am Hof; jeder, der ihm einmal ein Essen oder ein Dach über dem Kopf
gab, meint genau zu wissen, wie Anton zu denken und zu handeln hat. Wie
süchtig stürzt er sich in die Welt der Literatur. Reiser will
all diese Leben führen. Aber wie und wo kann er diese vielen Lebensentwürfe
verwirklichen? (90 Min.). Inszenierung: Anja Gronau. Bühne: Kathrin
Hieronimus. Kostüme: Olaf Habelmann. Dramaturgie: Frederik Zeugke
Mit Thomas Eisen, Sebastian Schwab, Peter Sikorski. Wiederaufnahme (Schauspielhaus)
Allgemeine
Theater-Links:
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Sonstiges
"Ich bin wichtig" im Internet:
Glossar,
Anmerkungen und Endnoten:
GIPT
= General and Integrative
Psychotherapy, internationale
Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
___
Überblick: Aus
dem Team nach Angaben des Theaters * Eindrücke
* Entwicklungsroman * Histrionsische
Persönlichkeitsstörung und narzisstische
Persönlichkeitsstörung * Problematik
und allgemeine Kriterien der Konzeption von Persönlichkeitsstörungen.*
Pubertät
aus Sicht von Psychologen, Psychopathologen und Pädagogen. * Literatur
zur Pubertät und Adoleszenz * Zum
Identitätsproblem in der Pubertät (Adoleszenz) * Introspektion:
DAS
SELBST ALS GEGENSTAND DER BEOBACHTUNG, Anmerkungen
zum Introspektionsproblem in der IP-GIPT * Karl
Philipp Moritz und die Liebe * Pyromanie
* Vorreden:
Erster
Teil [5] * Zweiter Teil [121]
* Dritter Teil [237] * Vierter
Teil [381].* Werkorientierte
Interpretation. *
___
Aus
dem Team nach Angaben des Theaters
Mirja Biel wurde 1977 in Kiel geboren.
Ausbildung zur Theatermalerin am Theater Lübeck. Studium der Kunstgeschichte,
Neueren Deutschen Literatur und Theaterwissenschaft in Berlin. Assistenzen
beim Theater der Welt, am Maxim Gorki Theater und Thalia Theater, u. a.
bei Stephan Kimmig. Studium der Schauspiel-Regie an der Theaterakademie
Hamburg u. a. bei Nicolas Stemann, Niels-Peter Rudolph und Andreas Kriegenburg.
Inszenierungen gemeinsam mit Joerg Zboralski am Theater Bremen, Theater
Osnabrück, Deutsches Theater Göttingen und am Nationaltheater
Mannheim. ANTON REISER ist ihre erste Arbeit am Theater Erlangen. [E]
Joerg Zboralski
wurde im Ruhrgebiet
geboren. Er studierte an der staatlichen Kunstakademie Düsseldorf
und war Meisterschüler von Gerhard Richter.
Seitdem regelmäßige Ausstellun-gen im In- und Ausland und Teil
des Künstlerduos Janka/Zboralski-Union. 2002 Förderpreis der
Stadt Düsseldorf, New York Stipendium. Theaterproduktionen bei Theater
der Welt, am Schauspielhaus Bochum (mit Sybille Berg), Hebbel am Ufer Berlin,
und Musikprogramm für Theaterformen 2009/10 und 2011 Staatstheater
Braunschweig und Schauspiel Hannover. [E]
Linda Best, geboren 1976, studierte
in Erlangen Theaterwissenschaften, Nordische Philologie und Germanistik.
Nach dem Magisterabschluss und einigen Gastassistenzen am Theater Erlangen
war sie vier Jahre lang als Regieassistentin und Regisseurin am Theaterhaus
Jena engagiert, wo sie sich besonders mit neuer Dramatik, Collagen und
Stückentwicklungen beschäftigte. 2008 machte sie sich selbständig,
inszenierte weiterhin am Theaterhaus Jena und arbeitete als Produktionsdramaturgin
kontinuierlich mit der Schweizer Gruppe Far A Day Cage zusammen. Im Duo
mit der Schauspielerin Lea Schmocker zeigte sie in Erlangen unter dem Label
Best&Schmocker verschiedene szenische Lesungen. Seit der Spielzeit
2011/2012 ist Linda Best als Dramaturgin am Theater Erlangen engagiert.
PREMIEREN: TITUS, DIE KLEINE HEXE, WARTEN AUF GODOT, SHAKESPEARE IS DEAD
- GET OVER IT!, ANGSTMÄN, ANTON REISER, GLOCKENSPIEL, 3. jet - TAGE
für Kinder und Jugendliche [E]
Robert Naumann wurde 1985 in Halle
an der Saale geboren. Er studierte an der Hochschule für Musik und
darstellende Kunst Frankfurt am Main und arbeitete während seines
Studiums als Sprecher beim Hörfunk. Sein Schauspieldebüt gab
er an der Komödie Düsseldorf als Harold in HAROLD UND MAUDE mit
Regina Lutz als Maude. Zuletzt spielte er am Gallustheater in Frankfurt
in LIEBSCHAFTEN bei Sarah Kortmann. Seit der Spielzeit 2009.2010 ist er
festes Ensemblemitglied am Theater Erlangen. Premieren: TITUS, DIE
KLEINE HEXE, WARTEN AUF GODOT, DAS VERSPRECHEN,
ANGSTMÄN, ANTON REISER, TEXT, Wiederaufnahmen: EIN SOMMERNACHTSTRAUM,
DIE GESCHICHTE VOM ONKELCHEN, MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER, FAUST. DER
TRAGÖDIE ERSTER TEIL [E]
Christian Wincierz wurde 1982
in Mühlhausen/ Thüringen geboren und erhielt seine Ausbildung
am Schauspielstudio Frese in Hamburg. Sein erstes Engagement führte
ihn an das Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Danach wechselte er 2004 an
das Staatstheater Braunschweig. Er arbeitet u.a. mit Constanze Kreusch
in ROMEO UND JULIA, Mario Portmann in MOBY DICK, Kay Neumann in DAS WEISSE
RÖSSL und Katja Ott in SCHMACKEL BUNZ. Er gehört seit der Spielzeit
2009.2010 zum Ensemble des Theater Erlangen. Premieren: LEONCE UND LENA,
DIE KLEINE HEXE, DER MANN DER DIE WELT Aß, DAS VERSPRECHEN, ANGSTMÄN,
ANTON REISER, Wiederaufnahmen: EIN SOMMERNACHTSTRAUM, MUTWERK, FAUST. DER
TRAGÖDIE ERSTER TEIL, DER KAKTUS. [E]
___
Eindrücke.
Meine "Eindrücke" von Theateraufführungen sind zwar an manchen
Stellen gelegentlich kritisch, sind aber nicht als traditionelle Theaterkritiken
misszuverstehen. Hierzu bin ich gar nicht ausgebildet und habe auch zu
wenig Theaterkenntnis und -erfahrung. Ich kann also die vielfältige
Leistung von Dramaturgie, Regie, Musik, Bühnentechnik und Darstellung,
besonders der SchauspielerInnen gar nicht angemessen bewerten. Und deshalb
möchte ich mich auch mit
Eindrücken begnügen. Ich
verlange vom Theater nicht mehr, als dass es Interesse weckt, berührt
und zur Auseinandersetzung mit der Aufführung und dem ihm zugrundliegenden
Stück anregt.
___
Entwicklungsroman.
W120718
führt aus: "Der Ausdruck Entwicklungsroman bezeichnet einen Romantypus,
in dem die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung
mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird. Der Entwicklungsroman
schildert den Reifeprozess des Protagonisten, der seine Erlebnisse und
Erfahrungen reflektierend verarbeitet und seiner Persönlichkeit einverleibt.
Die Begriffe Bildungsroman und Erziehungsroman sowie Entwicklungsroman
grenzen eng aneinander, wobei letzterer sich dadurch auszeichnet, dass
aus Sicht des Lesers betrachtet nicht unbedingt eine höhere Befähigung
oder Bildung als Ergebnis am Ende der Entwicklung der Hauptfigur stehen
muss.
Häufig sind es in Entwicklungsromanen negative Erfahrungen, die die
Entwicklung der Persönlichkeit beeinflussen. Sie veranlassen den Romanhelden,
„in sich zu gehen“, verhelfen ihm zur Erkenntnis, dass er unerreichbare
Ziele verfolgt, ungerechtfertigte Ansprüche erhoben oder schwere Fehler
begangen hat. Indem er dies eingesteht, schafft er sich die Möglichkeit,
umzukehren und seiner Entwicklung eine andere Richtung zu geben (Desillusion)
im Falle eines Bildungsromans – oder zu scheitern bzw. neutral auszugehen
aus Sicht des Betrachters im Erziehungsroman oder Entwicklungsroman."
___
ertöten
schwaches Verb - (Gefühle, Regungen o. Ä.) absterben lassen,
ersticken, unterdrücken
Zum vollständigen Artikel klicken Sie hier. [Q]
___
Herkunft: Am Beispiel der Herkunft kann
z.B. geprüft werden, ob die Abbildung aus dem Roman in die Theaterversion
repräsentativ und stimmig ist. Durch Vergleichen kann man sich leicht
überzeugen, dass die Abbildung für die Herkunft hier repräsentativ
und stimmig ist:
Original Herkunft [ZO]
|
|
Theaterversion Herkunft |
"Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann
man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt
ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder
Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen
des unauflöslich geknüpften Ehebandes.
Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in
seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn
er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich
halten sollte, da sich beide haßten und ihm doch einer so nahe wie
der andre war. In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen
zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr
belohnendes Lächeln. Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat
er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der
Klagen. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner
Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer
Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.
Da sein Vater im Siebenjährigen Kriege mit zu Felde war, zog seine
Mutter zwei Jahre lang mit ihm auf ein kleines Dorf. Hier hatte er ziemliche
Freiheit und einige Entschädigung für die Leiden seiner Kindheit.
Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sahe, von dem Kornfelde,
das sich einen sanften Hügel hinanerstreckte und oben mit grünem
Gebüsch umkränzt war, von dem blauen Berge und den einzelnen
Gebüschen und Bäumen, die am Fuß desselben auf das grüne
Gras ihren Schatten warfen und immer dichter und dichter wurden, je höher
man hinaufstieg, mischen sich noch [16] immer unter seine angenehmsten
Gedanken und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden
Bilder aus, die oft seine Phantasie sich vormalt. Aber wie bald waren diese
beiden glücklichen Jahre entflohen! Es ward Friede, und Antons Mutter
zog mit ihm in die Stadt zu ihrem Manne. Die lange Trennung von ihm verursachte
ein kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht, aber bald folgte auf die betrügliche
Windstille ein desto schrecklicherer Sturm. Antons Herz zerfloß in
Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern unrecht geben sollte, und doch
schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete,
mehr recht habe als seine Mutter, die er liebte. So schwankte seine junge
Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und
Zutrauen zu seinen Eltern hin und her." |
|
"Mitten in die eheliche Zwietracht hinein wurde Anton geboren,
und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an
unterdrückt ward. Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein
aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und
Verwünschungen. Und ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er
doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen,,
denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er
sich halten sollte. Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben
aus seiner Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze
schwarzer Gedanken gemacht. Seine junge Seele schwankte beständig
zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern
und dem Rest seiner Mitmenschen hin und her. Und so hatte er keinen, zu
dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund
unter Großen noch Kleinen."
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Histrionsische
Persönlichkeitsstörung und narzisstische Persönlichkeitsstörung.
> Zur Problematik
und allgemeine Kriterien der Konzeption von Persönlichkeitsstörungen.
Die Abgrenzung ist nicht einfach, wie der in
der Tabelle ausgeführte Bereich zeigt. Mit dem Konzept der narzisstischen
Persönlichkeitsstörung wird viel Schindluder getrieben, besonders
von PsychoanalytikerInnen [Kritik
PA]. Die "Diagnose" narzißtische Persönlichkeitsstörung
wird im (blauen) Diagnose ICD-10 nicht eigens aufgeführt, aber im
(grünen) ICD-10 der Forschungskriterien im Anhang I, S. 208 (und auch
im DSM-IV, der amerikanischen Klassifikation psychischer Störungen)
, von dem die Kriterien offenbar übernommen wurden.
Histrionsische
Persönlichkeitsstörung |
narzisstische
Persönlichkeitsstörung |
Im ICD-10 wird ausgeführt:
"F60.4 histrionische Persönlichkeitsstörung
Persönlichkeitsstörung mit folgenden
Merkmalen:
-
Dramatisierung bezüglich der eigenen Person,
theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen.
-
Suggestibilität, leichte Beeinflußbarkeit
durch andere.
-
oberflächliche und labile Affektivität.
-
Egozentrik, Selbstbezogenheit und fehlende Bezugnahme
auf andere.
-
dauerndes Verlangen nach Anerkennung, erhöhte
Kränkbarkeit
-
Verlangen nach aufregender Spannung und nach Aktivitäten,
in denen die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
-
andauernd manipulatives Verhalten zur Befriedigung
eigener Bedürfnisse.
Dazugehörige Begriffe:
infantile Persönlichkeit(sstörung)
hysterische Persönlichkeit(sstörung)"
Zur "Normalbedeutung" der histrionsischen "hysteroiden")
Charakterstruktur im Sinne Fritz Riemann siehe bitte hier. |
"Narzißtische Persönlichkeitsstörung
A. Die allgemeinen Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung
(F60) müssen erfüllt sein.
B. Mindestens fünf der folgenden Merkmale:
-
Größengefühl in Bezug auf die eigene
Bedeutung (z. B. die Betroffenen übertreiben ihre Leistungen und Talente,
erwarten ohne entsprechende Leistungen als bedeutend angesehen zu werden)
-
Beschäftigung mit Phantasien über unbegrenzten
Erfolg, Macht, Scharfsinn, Schönheit oder idealer Liebe
-
Überzeugung, «besonders» und einmalig
zu sein und nur von anderen besonderen Menschen oder solchen mit hohen
Status (oder von entsprechenden Institutionen) verstanden zu werden oder
mit diesen zusammen sein zu können
-
Bedürfnis nach übermäßiger Bewunderung
-
Anspruchshaltung; unbegründete Erwartung besonders
günstiger Behandlung oder automatische Erfüllung der Erwartungen
-
Ausnutzung von zwischenmenschlichen Beziehungen,
Vorteilsnahme gegenüber anderen, um eigene Ziele zu erreichen
-
Mangel an Empathie; Ablehnung, Gefühle und Bedürfnisse
anderer anzuerkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren
-
häufiger Neid auf andere oder Überzeugung,
andere seien neidisch auf die Betroffenen
arrogante, hochmütige Verhaltensweisen und
Attitüden."
|
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I did it my way
Harald Juhnke: https://www.youtube.com/watch?v=FxqPb2f5KGQ.
Übersetzung: https://www.magistrix.de/lyrics/Frank%20Sinatra/My-Way-Uebersetzung-111405.html
___
Introspektion.
Im Beiheft zur Inszenierung hat das Theater Erlangen interessante Informationen
zu Karl-Philipps Moritz mitgeteilt, so z.B.:
|
DAS
SELBST ALS GEGENSTAND DER BEOBACHTUNG.
"Man redet von Zufriedenheit und Glückseligkeit
immer im Allgemeinen, und so selten davon, wie wir in den einzelnen Augenblicken
unsres Lebens vergnügt und glücklich seyn könnten. Es ist
vielleicht noch eine schwer zu beantwortende Frage: ob und wie wir immer
glücklich und zufrieden seyn können und sollen? Oft wiederholte
Beobachtungen über uns selbst würden uns hier noch am besten
zu statten kommen.
Den ganzen Tag über ist
in der Seele eine beständige Ebbe und Fluth, sie mag auch so unmerklich
seyn, wie sie wolle. Keiner unsrer Augenblicke ist dem ändern völlig
gleich. Aber wer bemerkt das? Wer nimmt sich Zeit die Geschichte seiner
Gedanken zu beschreiben, und sich selber zum Gegenstande seiner Beobachtungen
zu machen?
Wer das thun will, muß sich gleichsam in
Gedanken von sich absondern, und sein Schicksahl wie das Schicksahl eines
Fremden betrachten. Wer Beobachtungen über sich selber zum Besten
andrer Menschen anstellen will, muß die Zeit über, da er es
thut, von allen Leidenschaften frei sein, übrigens aber starke Leidenschaften
haben, weil sonst die Geschichte seiner Gedancken und seiner Empfindungen
nicht so nützlich seyn wird. Er muß also die Kunst lernen, in
manchen Augenblicken seines Lebens sich plötzlich aus dem Wirbel seiner
Begierden herauszuziehen, um eine Zeitlang den kalten Beobachter zu spielen,
ohne sich im mindesten für sich selber zu interessieren.
Auf die Art könnte einer die
Geschichte seiner Augenblicke, zum Nutzen der Menschheit, beschreiben,
und wenn er nach und nach das Besondre wegließe, was ihn auszeichnet,
so könnte er zuletzt einen allgemeinen Grundriß finden, worauf
sich die Glückseligkeit eines jeden, wie ein Gebäude errichten
ließe, daß übrigens in tausenderlei Betracht von den ändern
unterschieden seyn könnte, nur daß es einerlei Grundlage mit
ihnen hätte. (...)
Es scheint aber mit einer
widrigen Idee bei ändern Menschen verbunden zu seyn, Beobachtungen
über sich selber anzustellen; und man kann den Gedanken nicht gut
vermeiden, daß man seiner eignen Person eine zu große Wichtigkeit
beilegt, indem man gerade selber der Gegenstand dieser Beobachtungen seyn
will. -Aber kann es denn ein anderer seyn? Können wir in die Seele
eines ändern blicken, wie in die uns-rige? und opfern wir uns nicht
beinahe eben so auf, wenn wir, ändern zum Besten, den Zustand unsrer
Seele zergliedern, wie derjenige, der ändern Menschen, nach seinem
Tode, durch die Zergliederung seines Körpers nützlich wird." |
Anmerkungen
zum Introspektionsproblem in der IP-GIPT:
___
Karl Philipp Moritz
und die Liebe
Insgesamt sind die Informationen, die zu dem Thema vorliegen, mehr
als spärlich:
"5. August Moritz heiratet die fünfzehnjährige
Tochter des Buchhändlers Carl Friedrich Matzdorff (und Schwester des
Verlegers Carl August Matzdorff), Christiane Friederike.
Dezember Moritz und seine Frau werden nach einer aufsehenerregenden
Entführung der Frau durch Johann Christian Siede geschieden. 27. April
Moritz verheiratet sich wieder mit der gerade von ihm geschiedenen Christiane
Friederike." [Quelle]
In der Rowohlt Monographie von Willi Winkler heißt
es im letzten dünnen Kaptel "Glück, Ehestand und Tod" (123-130):
"Klischnig heiratet, und auch Moritz will sich jetzt verehelichen. Es ist
ja am Ende eine wahre Schande, wenn ich allein ein Hagestolz EN337
bliebe!, zitiert ihn sein treuer Freund Klischnig wie in einem Iffland'schen
Lustspiel. Gewiss hatte Moritz bisher auch der chronische Geldmangel von
einer Heirat abgehalten, (doch er fühlt sich sichtlich wohler in Gesellschaft
von Männern. ... " (S. 123)
"Christiane Friederike Matzdorff, mit der ich seit
wenigen Wochen verlobt bin, und in kurzem auf immer verbunden seyn werde,
ist, wenn überhaupt, erst sechzehn Jahre alt, als Moritz sie am 5.
August 1792 heiratet und eine neue Kette des Unglücks und der Demütigungen
einleitet, die letzte. Stolz führt er sie bei Frau Herz ein, nimmt
dann aber die Salonniere beiseite und sagt: Nicht wahr, ich habe da [...]
einen sehr dummen Streich gemacht? EN342
Die Theatromanie hat er keineswegs ganz abgelegt,
und als Schauspieler seines eigenen Lebens ist er die Idealbesetzung. Moritz
hat ein Talent für Sonderbarkeiten. Ein Freund besucht ihn, um ihm
seine Aufwartung zu machen, wird aber gebeten, sich noch ein wenig zu gedulden;
der Herr Professor wolle ihm ein schönes Gemälde zeigen. Erst
nach einer Viertelstunde darf der Besuch näher treten und wird vom
Diener in eine vom Sonnenuntergang beglänzte Weinlaube geführt,
in der sich Moritz kunstgerecht inszeniert: «Er selbst und seine
junge Frau saßen, in ein [>125] weißes Neglige' gekleidet,
an einem runden Tische, und hatten einige Teller voll Obst, Weintrauben,
Pflaumen, Feigen, Pfirsichen, nebst einem Blumentopfe mit violetten Astern
vor sich. <Halt! rief er mir in noch einiger Entfernung zu, bleiben
Sie stehen.> Hierauf schlang er den rechten Arm um den Nacken seiner Frau,
hielt mit dem linken ihr Angesicht, und gab ihr einen Kuß. - <Wie
macht sich das? fragte er mich hierauf. <Finden Sie das Gemälde
nicht Geßnerisch? - Sehen Sie, Freund! Hier unter dieser Weinlaube
genieße ich das Glück der Liebe. - Das ist nun ein schöner
Moment, in welchem Sie uns hier finden. Der kommt nicht wieder! - So hätte
uns ein Künstler sehen und malen sollen. - Da geht die Sonne unter,
und taucht den schönen Moment ins Meer.» EN343 ...
... Denn das liederliche Weib, es brennt ihm nur
Wochen nach der Hochzeit durch und, um den Schmerz voll zu machen, auch
noch mit einem Konkurrenten, mit einem anderen Autor, dessen bisherige
Werke sich so seltsam komplementär, gleichzeitig so vulgär an
Moritz' Leben anlehnen, dass sie hier lieber in der Fußnote versteckt
bleiben. EN345 Dem umlaufenden Klatsch zufolge soll Moritz den beiden nachgereist
sein und den Liebhaber mit gezogener Pistole zur Herausgabe seiner Ehefrau
gezwungen haben. Das ist bei Moritz' schwächlicher Konstitution eher
unwahrscheinlich, entspräche aber den Umgangsformen in den zeitgenössischen
und vom Kritiker Moritz heftig bekämpften Theaterstücken. ...
Das junge Paar wiederum kümmert sich nicht um das allgemeine Gespött
und findet wundersamerweise wieder zusammen. Nach der Scheidung beantragen
die Eheleute einen königlichen Dispens und bitten, nachdem die Ursachen
unserer Mishelligkeiten gehoben sind347, um die Erlaubnis zur Wiederverheiratung.
Gemeinsam unternehmen sie noch eine Kunstfahrt nach Dresden, wo Moritz
zum Besten der gelehrten Welt die Gemäldegalerie studieren will. Todkrank
kehrt er zurück nach Berlin." (S. 128)
Anmerkung zur Quellenangabe EN343:
im ersten Bd. bei GB findet sich kein Eintrag, vermutlich ist die Information
aus dem 2. Bd.: Jördens, Karl Heinrich (1812). Denkwürdigkeiten,
Charakterzüge und Anekdoten aus dem Leben der vorzüglichsten
deutschen Dichter und Prosaisten / Herausgegeben von Karl Heinrich Jördens.
- Zweiter Band. - Leipzig: Kummer.
___
Problematik
und allgemeine Kriterien der Konzeption von Persönlichkeitsstörungen.
Zur Problematik der Konzeption und den Therapiemöglichkeiten
von Persönlichkeitsstörungen finden Sie hier [Fiedler1,
Fiedler2,
Fiedler3]
eine ausführliche Auseinandersetzung, u.a. auch die rabiate Kritik
von Karl Jaspers: "... Einen Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus
festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die
Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung,
die bei näherer {>366}Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation
abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer
Menschenauffassung nie vergessen werden." [Kritik zu Fiedlers Zitierstil
in dieser wichtigen Frage: F05].
Lit: Jaspers, Karl (1948). Allgemeine Psychopathologie, 5.A.. Berlin: Springer.
Eine nicht minder fundamentale Kritik am Konzept der Persönlichkeitsstörung
wird von dem Verhaltenstherapeuten Hans Lieb - "Persönlichkeitsstörung"
Zur Kritik eines widersinnigen Konzeptes - formuliert. [F26]
In den Leitlinien
(Abruf 14.9.11) wird ausgeführt:
"I. Die charakteristischen und dauerhaften inneren
Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Be-troffenen weichen insgesamt deutlich
von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben ("Normen") ab. Diese
Abweichung äußert sich in mehr als einem der folgenden Bereiche:
-
Kognition (d. h. Wahrnehmung und Interpretation von
Dingen, Menschen und Ereignissen; Einstellungen und Vorstellungen von sich
und anderen)
-
Affektivität (Variationsbreite, Intensität
und Angemessenheit der emotionalen Ansprechbarkeit und Reaktion)
-
Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung
-
Die Art des Umgangs mit anderen und die Handhabung
zwischenmenschlicher Beziehungen
II. Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das
daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen
Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig
ist (nicht begrenzt auf einen speziellen "triggernden Stimulus" oder eine
bestimmte Situation).
III. Persönlicher Leidensdruck, nachteiliger
Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides sind deutlich dem unter II)
beschriebenen Verhalten zuzuschreiben.
IV. Nachweis, dass die Abweichung stabil, von
langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen
hat.
V. Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen
oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters
erklärt werden, es können aber episodische oder chronische Zustandsbilder
der Kapitel F00 bis F07 neben dieser Störung existieren oder sie überlagern.
VI. Eine organische Erkrankung, Verletzung oder
deutliche Funktionsstörung des Gehirns müssen als mögliche
Ursache für die Abweichung ausgeschlossen werden (falls eine solche
Verursachung nachweisbar ist, soll die Kategorie F07 verwendet werden).
..."
___
Pubertät
aus Sicht von Psychologen, Psychopathologen und Pädagogen.
Lexikon der Psychologe:
"Pubertät, üblicherweise als sog. "Reifezeit" zwischen Kindheit
und eigentlichem Jugendalter (d.h. Adoleszenz) bezeichnet (Jugendpsychologie).
Der lateinische Ursprung – pubescere: "Wachstum der Schamhaare" – weist
auf die biologischen Veränderungen hin, die den Eintritt in die Reifezeit
markieren. Von diesem biologischen Begriff unterscheidet sich ein Pubertätskonzept,
das mit dem soziokulturellen Wandlungsprozess des Jugendlichen einhergeht
und als "kulturelle Pubertät" die Diskussionen um die "gestreckte
Pubertät" schürte: Lebenszeitlich verlängertes Jugendstadium
(Bernfeld) – worunter die Jugend einer Partei, einer Kunstbewegung, der
Revolution usf. zu verstehen war – wurde dem von Lazarsfeld so bezeichneten
Konzept der "verkürzten Pubertät" des Proletariers gegenübergestellt.
Auftreten, Wachstum und geschlechtsspezifische bzw. -typische Akzentuierung
der sekundären Geschlechtsmerkmale bestimmen die weibliche und männliche
Erscheinungsform Jugendlicher. Die sekundären Geschlechtsmerkmale
stehen – im Gegensatz zu den primären – nicht in einem unmittelbaren
Zusammenhang mit der Fortpflanzung, wohl aber in einem mittelbaren (z.B.
Brustwachstum). Die Entwicklung der Reproduktionsorgane, z.B. Ovarien und
Testes, die endokrinologischen Veränderungen, die Veränderung
des Fettanteils zu Muskelgewebe, die wachsende Belastbarkeit von Atmungs-
und Blutkreislauf zusammen mit den sich nach und nach ausbildenden sekundären
Geschlechtsmerkmalen und das – verglichen mit der Kindheit – überproportionale
Wachstum machen die Pubertät aus (Abb. 1).
Speziell der erste Längenwachstumsschub wird zusammen mit seinen
Disproportionen als Vorpubertät zum Signal der eigentlichen biologischen
Reifung. Das in der schematischen Abb. 2 dargestellte Zusammenhangsmuster
von Hormonen und ihren Eingriffsorganen gibt keine erklärenden Hinweise
auf die "innere Uhr", die beispielsweise den Zeitpunkt der Menarche auszulösen
in der Lage ist. Auch dürfte die Produktion der Sexualhormone nicht
geschlechtsspezifisch, sondern geschlechtstypisch sein. Typisch sind Merkmale,
"die überwiegend, aber nicht ausschließlich, bei einem Geschlecht
gefunden werden". Das sog. endokrine Geschlecht resultiert aus dem relativen
Überwiegen der Androgen- resp. Östrogenproduktion."
In Orter & Montada (Entwicklungspsychologie, 4. A.1998) kommt der
Eintrag "Pubertät" nach dem Sachregister auf 1295 Seiten nicht vor.
Das Thema wird dort unter im Kapitel 6 "Jugendalter" abgehandelt, darin
auch ausführlich auch das Thema Identität im Jugendalter.
In Harbauer, Lempp, Nissen & Strunk (Kinder- und Jugendpsychiatrie,
3. A. 1976) gibt es viele Einträge im Sachregister. "Puberträtskrisen
und Störungen der psychosexuellen Entwicklung" nehmen ein ganzes Kapitel
(174-225) ein.
Auch Stone & Chruch widmen dem Thema in ihren zwei Bänden "Kindheit
und Jugend" (1978) mehrere Kapitel. U.a. führen sie aus (Bd.2, S.
277):
"Die Sexualität des Jugendlichen
Ein großer Teil der Selbst-Bewußtheit des Jugendlichen
betrifft die voranschreitende sexuelle Entwicklung, die mit der nahenden
biologischen Reife einhergeht. Für viele Jugendliche stellt sich die
ganze Welt als libidinös, sexualisiert dar, so daß die harmlosesten
Gegenstände und Kreignisse eine erotische Bedeutung annehmen. Um mit
FREUD zu sprechen, bedeutet die Pubeszenz das Ende der Latenz und den Beginn
der erwachsenen Genitalität. Die Psychoanalytiker sehen die Aufgabe
dieser Altersstufe in der Bewältigung (der Hemmung, Beherrschung lind
Ausrichtung) der Sexualität und in der Entwicklung der Fähigkeit,
sie in den Dienst einer reifen Liebe zu stellen, sowie in der Sublimierung
der überschüssigen sexuellen Energien in produktive Arbeit. Wie
FREUD sagt, wird in jedem Tätigkeitsbereich das Verhalten durch die
Sexualität beeinflußt und übt seinerseits einen Einfluß
auf diese aus. Auch wenn Wir FREUDS These nicht akzeptieren, wonach die
Libido Grundlage konstruktiven Handelns ist, müssen wir dennoch zugeben,
daß sie, insbesondere im Verhalten des Jugendlichen, immer gegenwärtig
und von Wichtigkeit ist. ..."
Literatur zur
Pubertät und Adoleszenz
-
Bell, Ruth (1993 f, Hrsg.). Wie wir werden. Was wir fühlen.
Ein Handbuch für Jugendliche über Körper, Sexualität,
Beziehungen. Reinbek: Rowohlt.
-
Dolto, Francoise & Dolto-Tolitch, Catherine (1989). Von
den Schwierigkeiten, erwachsen zu werden. Stuttgart: Klett-Cotta.
-
Meyers Lexikonredaktion (1997). Schülerduden Sexualität.
Ein Sachlexikon für Schule, Ausbildung und Beruf. Die Vielfältigkeit
der Sexualität. Wissen und Orientierungshilfe rund ums Thema. Mannheim:
BI.
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Nitsch.
Cornelia; Beil, Brigitte & Schelling, Cornelia von (1995). Pubetrtät.
Kein Grund zur Panik. Ein Buch für Töchter, Söhne, Mütter
und Väter. München: Mosaik.
Spranger, Eduard (1963, 27.A.). Psychologie des Jgendalters.
Heidelberg: Quelle & Meyer.
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Oerter, Rolf & Dreher, Eva (1998). Jugendalter. In (310-395):
Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz/ PVU.
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Zum
Identitätsproblem in der Pubertät (Adoleszenz)
"Für Jugendliche
Erst mit Beginn der Pubertät stellt sich die Frage: Wer bin ich
überhaupt?
Die eigene Identität:Wie findet man sie?
Mit Einsatz der Pubertät beginnt die Suche nach der eigenen Identität,
also nach einer eigenständigen, unverwechselbaren Persönlichkeit.
Und zuvor? Da empfindet sich ein Kind meist selbstverständlich als
Teil der Familie und identifiziert sich mit ihr. Aus dieser Zugehörigkeit
bezieht es seine Sicherheit und sein Selbstvertrauen, und bloß das
Bild, das die Eltern von ihm haben, ist prägend: Wird es als »brav«,
»wild«, »begabt«, »sportlich« oder
»unsportlich« charakterisiert, dann schätzt es sich weitgehend
selbst so ein. Auch das Urteil der Lehrer über seine Leistungen und
sein Sozialverhalten bestimmt sein Gefühl für sich selbst. Doch
je älter ein Kind wird, desto wichtiger werden für sein Selbstbewußtsein
die Beziehungen zu gleichaltrigen Freunden — sie sind es, die einen Großteil
der Schützenhilfe bei der Suche nach einer eigenen Identität
leisten.
Voraussetzung für eine feste Identität: sowohl Eigenständigkeit
als auch Anpassungsbereitschaft
Aber was bedeutet Identität überhaupt? Eine eindeutige Definition
ist kaum möglich, da der Begriff zu vielschichtig ist. Doch fraglos
besitzt man dann eine gefestigte persönliche Identität, wenn
man sich im Einklang erlebt, sowohl mit sich selbst als auch mit der Umwelt:
Voraussetzung dafür ist einerseits das Erlangen von Individualität,
also von Eigenständigkeit und persönlicher Willensfreiheit -deswegen
ist die Verselbständigung während der Pubertät so wichtig
—, andererseits die Fähigkeit, als soziales Wesen zu handeln und sich
in eine Gemeinschaft zu integrieren. Dieser Lernprozeß setzt natürlich
schon in der Kindheit ein, doch in der Pubertät wird er, durch die
Ablösung von der Familie, zur Herausforderung. Da mit Beginn dieser
Lebensphase Eltern und andere Erwachsene ernsthaft in Frage gestellt werden,
gerät das kindliche Selbstverständnis ins Wanken — worauf soll
der Teenager seine Identität jetzt gründen? Nun, da er beginnt,
sich mit anderen Augen zu sehen als bisher, sein Körper und seine
Ansichten sich schnell verändern, tauchen auf einmal existentielle
Fragen auf: Wer bin ich überhaupt? Wie sehe ich mich selbst, wie ...
.... "
Aus Nitsch
et al. (1995), S. 98-99 |
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Für Eltern
Teenager probieren immer wieder neue Rollen aus, bevor sie zu sich selbst
finden
Eltern verfolgen verblüfft - mal fasziniert, mal besorgt -, wie
viele Verwandlungen ihr Teenager im Laufe der Pubertät durchmacht:
Da wird die freche, selbstbewußte Tochter zu einem säuselnden,
willenlosen Geschöpf um dem angebeteten Freund zu gefallen, der selbstbewußte
Sohn, der sich zu Hause von niemandem mehr etwas sagen läßt,
tut alles, was die starken Burschen seiner Clique fordern. Oder aus dem
gepflegten, modebewußten Youngster wird plötzlich ein ausgeflippter
Typ im Punk-Look; kaum haben sich die Eltern damit abgefunden, verkriecht
er sich in seine vier Wände und liest nur noch anspruchsvolle Literatur
Und aus dem übermütigen und unbeschwerten Töchterchen wird
in der Pubertät ein ernstes, zurückgezogenes Mädchen, denn
nun, da sie sich von einem Wildfang in eine junge Frau verwandeln soll,
weiß sie überhaupt nicht mehr weiter. Verunsichert fragen sich
die Eltern: »Was ist mit unserem Kind bloß los? Wann kommt
es endlich wieder zur Vernunft?« Was anders ausgedrückt bedeutet:
Wann findet es zu einer gefestigten Identität?
Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung sind nicht außergewöhnlich
und können die unterschiedlichsten Ursachen haben. Zu den häufigsten
Auslösern gehören:
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die radikale Veränderung der vertrauten Umgebung. Ein Umzug oder ein
Schulwechsel in einer Phase, in der sich der Jugendlice ohnehin unsicher
und verloren fühlt, kann seine innere »Heimatlosigkeit«
noch verstärken. Er braucht Zeit und den Halt der Erwachsenen, um
die Ereignisse in seine Persönlichkeit und sein Leben zu integrieren,
um also wieder »zu sich zu komrnen«.
Identitätskrisen werden durch die unterschiedlichsten Umstände
ausgelöst
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Spannungen in der Familie. Scheinbar unlösbare Konflikte, also eine
»Identitätskrise« im Elternhaus bringt Teenager leicht
aus dem Lot. Vor allem, wenn die Eltern sich absolut nicht mehr verstehen
oder sogar dabei sind, sich zu trennen, und jeweils versuchen, das
Kind auf ihre Seite zu ziehen, weiß es gar nicht mehr, wo es selbst
steht. In einen Konflikt hineingezogen, der ... .... "
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Pyromanie, pyromanisch.
Lust an Feuern, Bränden, Zündeln.
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Vorreden:
Vorrede
Erster Teil. "Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls
eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils
aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen
Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr
wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien,
der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände,
die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem
Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern
soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn
es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen
und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies
nun keine so leichte Sache, daß gerade jeder Versuch darin glücken
muß – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer
Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit
des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles
Dasein wichtiger zu machen." [PG1]
Vorrede
Zweiter Teil. "Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über
dies Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt,
zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für
leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten
Verstande Biographie und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines
Menschenlebens bis auf seine kleinste Nüancen ist, als es vielleicht
nur irgendeine geben kann.
Wem nun an einer solchen getreuen
Darstellung etwas gelegen ist, der wird sich an das anfänglich Unbedeutende
und unwichtig Scheinende nicht stoßen, sondern in Erwägung ziehen,
daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus
einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung
äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen.
Wer auf sein vergangnes Leben
aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne
Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber
sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit
verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen
sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich –
und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und
Wohlklang auf. " [ZO2]
Vorrede Dritter
Teil."Mit dem Schluß dieses Teils heben sich Anton Reisers Wanderungen
und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an. Das in diesem Teil
Enthaltne ist eine getreue Darstellung der Szenen seiner Jünglingsjahre,
welche andern, denen diese unschätzbare Zeit noch nicht entschlüpft
ist, vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann. Vielleicht enthält
auch diese Darstellung manche nicht ganz unnütze Winke für Lehrer
und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung
mancher ihrer Zöglinge behutsamer und in ihrem Urteil über dieselben
gerechter und billiger zu sein!" [ZO3]
Vorrede Vierter
Teil. "Dieser vierte Teil von Anton Reisers Lebensgeschichte handelt
so wie die vorigen eigentlich die wichtige Frage ab, inwiefern ein junger
Mensch sich selber seinen Beruf zu wählen imstande sei.
Er enthält eine getreue
Darstellung von den mancherlei Arten von Selbsttäuschungen, wozu ein
mißverstandener Trieb zur Poesie und Schauspielkunst den Unerfahrnen
verleitet hat.
Dieser Teil enthält auch
einige vielleicht nicht unnütze und nicht unbedeutende Winke für
Lehrer und Erzieher sowohl als für junge Leute, die ernsthaft genug
sind, um sich selbst zu prüfen, durch welche Merkzeichen vorzüglich
der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet.
Man sieht aus dieser Geschichte,
daß ein mißverstandener Kunsttrieb, der bloß die Neigung
ohne den Beruf voraussetzt, ebenso mächtig werden und eben die Erscheinungen
hervorbringen kann, welche bei dem wirklichen Kunstgenie sich äußern,
welches auch das Äußerste erduldet und alles aufopfert, um nur
seinen Endzweck zu erreichen.
Aus den vorigen Teilen dieser
Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft
für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale
war, wodurch er von Kindheit auf aus der wirklichen Welt verdrängt
wurde und, da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in
Phantasien als in der Wirklichkeit lebte – das Theater als die eigentliche
Phantasiewelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten
und Bedrückungen sein. – Hier allein glaubte er freier zu atmen und
sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden.
Und doch hatte er hiebei ein
gewisses Gefühl von den reellen Dingen in der Welt, die ihn umgaben,
und worauf er auch ungern ganz Verzicht tun wollte, da er doch einmal so
gut wie die andern Menschen Leben und Dasein fühlte.
Dies machte, daß er
mit sich selbst im immerwährenden Kampfe war. Er dachte nicht leichtsinnig
genug, um ganz den Eingebungen seiner Phantasie zu folgen und dabei mit
sich selber zufrieden zu sein; und wiederum hatte er nicht Festigkeit genug,
um irgendeinen reellen Plan, der sich mit [332] seiner schwärmerischen
Vorstellungsart durchkreuzte, standhaft zu verfolgen.
Eigentlich kämpften in
ihm so wie in tausend Seelen die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum
mit der Wirklichkeit, und es blieb unentschieden, welches von beiden obsiegen
würde, woraus sich die sonderbaren Seelenzustände, in die er
geriet, zur Genüge erklären lassen.
Widerspruch von außen
und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. –
Es kömmt darauf an, wie
diese Widersprücke sich lösen werden!" [ZO4]
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Werkorientierte Interpretation
ist
eine natürliche Idee, die sich viele KünstlerInnen auch wünschen,
woran sich aber viele InterpretInnen nicht halten. Bei der werkorientierten
Interpretation wird bewusst auf Rückgriffe auf andere Werke und die
Biographie der KünstlerIn verzichtet.
Jede Kritik ist eine Bewertung und verlangt daher,
streng betrachtet, ein Bewertungsverfahren, das im allgemeinen aber unbekannt
ist. So haftet der Kritik nicht selten etwas Willkürlich-Zufälliges
und Subjektiv-Persönliches an. Daher besteht seit jeher ein spannungsvolles
Verhältnis zwischen KünstlerIn und KritikerIn. Häufig spielen
auch ganz profane - wenn auch selten zugegebene - Fragen eine Rolle: wie
viel Platz steht für die Kritik zur Verfügung, wie schnell muss
sie geschrieben sein, wie hoch ist das Honorar, was erwartet der Finanzier,
die Redaktion, die LeserIn? Ist die KünstlerIn berühmt, hat sie
Einfluss? Versteht, schätzt oder mag man sie?
Die von uns bevorzugten 4 Grundsätze und Regeln
werkorientierter Interpretation sind: (1) Inhaltsangabe, Hintergrund, Zeit-
und Rahmenbedingungen und Verlauf der Handlung. (2) Leitmotive und Hauptthemen
des Werkes. (3) Ausdrucksmittel: Sprache, Stil, Erwähnen und weg lassen,
Dramaturgie und Spannung. (4) Besondere Analyse spezieller Themen. (5)
Werkorientierte Wirkung und Interpretation der LeserInnen (Hierzu bringt
W
ein interessantes Zitat von Marcel Proust: "„In Wirklichkeit ist jeder
Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers
ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem
Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht
sonst nicht hätte erschauen können. Dass der Leser das, was das
Buch aussagt, in sich selber erkennt, ist der Beweis für die Wahrheit
eben dieses Buches und umgekehrt.“ – Marcel Proust: Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit".)
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Querverweise
Standort: Anton Reiser.
*
Theater in der
IP-GIPT.
Überblick Kunst,
Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie der Kunst in der IP-GIPT.
Literatur- und Link-
Liste zu den Seiten: Kunst, Ästhetik, Psychologie und Psychopathologie
der Kunst.
Biographie
und Psychopathographie. * Überblick
Psychodiagnostik in der IP-GIPT.
*
*
Dienstleistungs-Info.
*
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS). Anton
Reiser Nach Karl Philipp Moritz in einer Bearbeitung von Mirja Biel / Joerg
Zboralski. Eindrücke von der Inszenierung am 16.7.2012 im Theater
Garage. Aus unserer Abteilung Kunst, Ästhetik, Psychologie der Kunst.
IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/kunst/theater/AReiser/AntReis.htm
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gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen
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01.04.15 Linkfehler
geprüft und korrigiert.
03.08.12 Ergänzungen
zu: Karl Philipp Moritz
und die Liebe.
01.08.12 * Literatur
zur Pubertät und Adoleszenz * Zum
Identitätsproblem in der Pubertät (Adoleszenz) *