Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    Abteilung Politische Psychologie - Bereich Staatslehre -  Präambel * Sprache *
    IP-GIPT DAS=23.07.2005 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TT.MM.JJ
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_

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    Willkommen in der Abteilung Allgemeine und Integrative Politische Psychologie, Bereich Staatslehre, hier speziell zum Thema:

    Neuwahl 2005
    Dokumentation eines konzertierten absurden Theaters

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

      Überblick
    • Vorgeschichte und Grundlagen.
      • Artikel 68 GG.
      • Interpretation Artikel 68 GG.
      • Vertrauensfrage Willy Brandt 1972.
      • Vertrauensfrage Helmut Kohl 1982.
      • Vertrauensfrage Gerhard Schröder zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan 2001.
      • Das 1983er Fehl-Urteil des BVerfG.
    • Chronik der Ereignisse.
      • Anlage: Landtagswahlergebnisse 2001-2005 in Prozent. 
    • Rede und Begründung des Bundeskanzlers zur Vertrauensfrage am 1.7.2005.
    • Rede und Begründung des Bundespräsidenten am 21.7.2005.
    • Kommentare (Auswahl).
    • Literatur (Auswahl).
    • Links (Auswahl: beachte).
    • Anmerkungen und Endnoten.
    • Querverweise.




    Vorgeschichte und Grundlagen

    Artikel 68 GG
    Artikel 68 Grundgesetz
    [Vertrauensfrage, Auflösung des Bundestages]
    (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
    (2) Zwischen dem Antrage und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen. 
     
    Interpretation. Der Artikel bedarf keiner Interpretation, daß er unzweideutig und völlig unmißverständlich zum Ausdruck bringt, daß die Vertrauensfrage das tatsächliche Vertrauen des Kanzlers in seine parlamentarische Mehrheit zu klären hat. So waren die Vertrauensfrage Brandts (1972), Kohls (1982) und Schröders (2005) unecht und damit eine Rechtsbeugung des Grundgesetzes. Echt war nur die Vertrauensfrage Schröders 2001 zum Bundeswehreinsatz im Afghanistankrieg, die der Disziplinierung der Grünen diente.
     
    Vertrauensfrage Willy Brandt 1972 [Q,2]
    Willy Brandt Biographie: Mißtrauensvotum 1972. Die Welt dokumentiert [Q] "Niemand ist gegen Neuwahlen" Willy Brandt stellte im Jahre 1972 die Vertrauensfrage - die Rede von Willy Brandt.

    Vertrauensfrage Helmut Kohl 1982
    Der Spiegel: "Die Abstimmung wurde zur Politsatire. Im Gegensatz zu Brandt verfügte der Pfälzer unübersehbar über eine satte Mehrheit im Bundestag: Noch am Vortag war der Haushalt für 1983 problemlos durchgewinkt worden. Die Vertrauensfrage beantworteten nur acht Abgeordnete mit Ja. 248 Abgeordnete der Koalition aus FDP, CDU und CSU hatten sich der Stimme enthalten.
        Schon Willy Brandt hatte für sein Vorgehen harsche Kritik geerntet, Kohl wurde damit überschüttet. "Ein Stück absurdes politisches Theater", spottete die "Süddeutsche Zeitung" im Vorfeld der Abstimmung. Staatsrechtler warfen Kohl vor, er biege sich die Verfassung zurecht. Sogar Wegbereiter Brandt - der seine eigene Entscheidung von 1972 mit dem damaligen Patt im Bundestag begründete - kritisiert des Kanzlers "robuste Dickfelligkeit" mit der er an der "fiktiven Vertrauensfrage" festhalte, anstatt zurückzutreten. Doch der Rücktritt war für Kohl genauso wenig eine Option, wie er es für Brandt gewesen war - der Amtsbonus wiegt schwer im Wahlkampf."  [Q]
        Begründung Bundespräsident Carstens am 7. Januar 1983 [Q]

    Vertrauensfrage Gerhard Schröder zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan 2001
    Der Spiegel: "Gerhard Schröder nutzte das Machtinstrument im November 2001: Er verband die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan, und brachte so die aufmüpfigen Grünen zurück in Stellung." [Q]

    Das 1983er Fehl-Urteil des BVerfG  [Q]
    Das Urteil vom 16.02.1983 (2 BvE 1/83 u.a.) wurde vom BVerfG l aufgrund vielfältigen Interesses auf seine Webseite gestellt. Es kann dort vollständig eingesehen und heruntergeladen werden. Hier nur die Leitsätze [Zitat-Anfang]:

    "L e i t s a t z

    zum Urteil des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983
    - 2 BvE 1/83 –
    - 2 BvE 2/83 –
    - 2 BvE 3/83 –
    - 2 BvE 4/83 -
     
    1. Im Organstreit kann der einzelne Bundestagsabgeordnete die behauptete Verletzung jedes Rechts, das mit seinem Status als Abgeordneter verfassungsrechtlich verbunden ist, im eigenen Namen geltend machen. An der Gewährleistung der in GG Art 39 Abs 1 S 1 festgelegten Dauer der Wahlperiode hat der Status des Abgeordneten Anteil.
     
    2. Die Anordnung der Auflösung des Bundestages oder ihre Ablehnung gem GG Art 68 ist eine politische Leitentscheidung, die dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten obliegt. Ein Ermessen im Rahmen des GG Art 68 Abs 1 S 1 ist dem Bundespräsidenten freilich nur dann eröffnet, wenn im Zeitpunkt seiner Entscheidung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen.
     
    3. GG Art 68 normiert einen zeitlich gestreckten Tatbestand. Verfassungswidrigkeiten, die auf den zeitlich vorangehenden Stufen eingetreten sind, wirken auf die Entscheidungslage fort, vor die der Bundespräsident nach dem Auflösungsvorschlag des Bundeskanzlers gestellt ist.
     
    4.1 GG Art 68 Abs 1 S 1 ist eine offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist.
     
    4.2 Die Befugnis zur Konkretisierung von Bundesverfassungsrecht kommt nicht allein dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch anderen obersten Verfassungsorganen zu. Dabei sind die bereits vorgegebenen Wertungen, Grundentscheidungen, Grundsätze und Normen der Verfassung zu wahren.
     
    4.3 Bei der Konkretisierung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung ist zumal ein hohes Maß an Übereinstimmung in der verfassungsrechtlichen wie verfassungspolitischen Beurteilung und Bewertung der in Rede stehenden Sachverhalte zwischen den möglichen betroffenen obersten Verfassungsorganen unabdingbar und eine auf Dauer angelegte, stetige Handhabung unerläßlich. Eine politisch umkämpfte und rechtlich umstrittene Praxis von Parlamentsmehrheiten und Regierungsmehrheiten reicht als solche hierfür nicht aus.
     
    5. Vertrauen im Sinne des GG Art 68 meint gem der deutschen verfassungsgeschichtlichen Tradition die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers.
     
    6. Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des GG Art 68 anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, daß er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des GG Art 68 Abs 1 S 1.
     
    7. Eine Auslegung dahin, daß GG Art 68 einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des GG Art 68 nicht gerecht. Desgleichen rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht.
     
    8.1 Ob eine Lage vorliegt, die eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll ermöglicht, hat der Bundeskanzler zu prüfen, wenn er beabsichtigt, einen Antrag mit dem Ziel zu stellen, darüber die Auflösung des Bundestages anzustreben.
     
    8.2 Der Bundespräsident hat bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach GG Art 68 mit der Verfassung vereinbar sind, andere Maßstäbe nicht anzulegen; er hat insoweit die Einschätzungskompetenz und Beurteilungskompetenz des Bundeskanzlers zu beachten, wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.
     
    8.3 Die Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien, zu Neuwahlen zu gelangen, vermag den Ermessensspielraum des Bundespräsidenten nicht einzuschränken; er kann hierin jedoch einen zusätzlichen Hinweis sehen, daß eine Auflösung des Bundestages zu einem Ergebnis führen werde, das dem Anliegen des GG Art 68 näher kommt als eine ablehnende Entscheidung.
     
    9. In GG Art 68 hat das Grundgesetz selbst durch die Einräumung von Einschätzungsspielräumen und Beurteilungsspielräumen sowie von Ermessen zu politischen Leitentscheidungen an drei oberste Verfassungsorgane die verfassungsgerichtlichen Überprüfungsmöglichkeiten weiter zurückgenommen als in den Bereichen von Rechtsetzung und Normvollzug; das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf das in GG Art 68 selbst angelegte System der gegenseitigen politischen Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind, kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung entgegentreten.
     
    BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

    - 2 BvE 1/83 –
    - 2 BvE 2/83 –
    - 2 BvE 3/83 –
    - 2 BvE 4/83 –
     
    Verkündet
    am 16. Februar 1983
    Höfel
    Amtsinspektor
    als Urkundsbeamter
    der Geschäftsstelle" [Zitat-Ende]
     



    Chronik der Ereignisse
    Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ist es in nicht ganz zwei Legislaturperioden geglückt, die SPD in einen bis dahin unvergleichlichen Niedergang zu führen: sie verliert über 10 Wahlen in Folge. Der letzte und offenbar entscheidende Höhepunkt dieses Niedergangs ergibt sich mit der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen - Auslöser für die vorgezogenen Neuwahlen.

    22.05.2005    Wahlniederlagen der SPD und NRW Wahl: [1,2,3,] s.a. Das Drama der SPD.
    23.05.2005    Zu dem Treffen des Bundeskanzlers mit den Fraktionsvorsitzenden  [Q]
    25.05.2005    Interviews Bundeskanzler Schröders mit der ZEIT: "Neuwahlen sind gut für unser Land" [Q]
    13.06.2005    Bundespräsident Horst Köhler im SPIEGEL-Gespräch. [Q1]
    01.07.2005    Rede und Begründung des Bundeskanzlers zur Vertrauensfrage [Q]
    21.07.2005    Fernsehansprache von Bundespräsident Horst Köhler zur Parlamentsauflösung  [Q]
    21.07.2005    Kommentar des Bundeskanzlers zur Parlamentsauflösung des Bundespräsidenten  [Q]

    Anlage: Landtagswahlergebnisse 2001-2005 in Prozent [Q]

    Abkürzungen der Bundesländer [Schulden der Länder; Vergleich: Kaiserrreich * Weinmar * Hitler ]
    BW  Baden-Württemberg [Schuldenporträt]
    BY   Freistaat Bayern  [Schuldenporträt Strauß und Stoiber]
    BE   Berlin
    BB  Brandenburg   [Schuldenporträt Stolpe]
    HB  Freie Hansestadt Bremen   
    HH  Freie und Hansestadt Hamburg   [Schuldenporträt]
    HE  Hessen   [Schuldenporträt Koch]
    MV  Mecklenburg-Vorpommern
    NI  Niedersachsen  [Schuldenporträt Schröder]  
    NW  Nordrhein-Westfalen   [Schuldenporträt] 
    RP  Rheinland-Pfalz   [Schuldenporträt Kohl] 
    SL  Saarland   [Schuldenporträt Lafontaine] 
    SN  Freistaat Sachsen [Schuldenporträt]  
    ST  Sachsen-Anhalt
    SH  Schleswig-Holstein   [Schuldenporträt Simonis] 
    TH  Freistaat Thüringen   [Schuldenporträt] 


    Rede und Begründung des Bundeskanzlers zur Vertrauensfrage am 1.7.2005  [Q]

    Bundeskanzler Schröder: "Wir brauchen jetzt klare Verhältnisse."

    Herr Präsident, meine Damen und Herren!
    Am Montag dieser Woche habe ich dem Herrn Bundestagspräsidenten mitgeteilt, dass ich es in der gegebenen Situation als meine Pflicht ansehe, im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen.
        Mein Antrag hat ein einziges, ganz unmissverständliches Ziel:
    Ich möchte dem Herrn Bundespräsidenten die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und die Anordnung von Neuwahlen vorschlagen können.
        Der für meine Partei - und für mich selber - bittere Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen war das letzte Glied in einer Kette zum Teil empfindlicher und schmerzlicher Wahlniederlagen. In der Folge dessen wurde deutlich, dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen. Endgültig mit diesem Ausgang der Landtagswahl am 22. Mai wurden negative Auswirkungen für die Handlungsfähigkeit im parlamentarischen Raum unabweisbar.
        Die "Agenda 2010" mit ihren Konsequenzen schien zum wiederholten Male ursächlich für ein Votum der Wählerinnen und Wähler gegen meine Partei. Wenn diese Agenda fortgesetzt und weiterentwickelt werden soll - und das muss sie -, ist eine Legitimation durch Wahlen unverzichtbar.
        Es ist daher ein Gebot der Fairness und der Aufrichtigkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, gegenüber meiner Partei, gegenüber dem Partner in der Koalition, gegenüber dem Hohen Haus und auch gegenüber mir selbst, die Vertrauensfrage zu stellen.
        Meine Damen und Herren, alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien haben sich mit Nachdruck für die Auflösung des Bundestages ausgesprochen. Die Wählerinnen und Wähler unterstützen mit überwältigender Mehrheit meinen Wunsch nach Neuwahlen. Dessen sollten wir uns heute alle bewusst sein.
        Meine Damen und Herren, viermal wurde bislang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Vertrauensfrage gestellt. Zweimal - von Helmut Schmidt und mir -, um sich der Mehrheit im Bundestag zu versichern. Zweimal - von Willy Brandt und Helmut Kohl -, um den Weg zu Neuwahlen frei zu machen.
        Mir ist wohl bewusst: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich bei der Formulierung des Artikels 68 sicher nicht von der Überlegung leiten lassen, durch eine gewollte Niederlage die Tür zu einer Auflösung des Parlamentes zu öffnen. Aber - und auch darüber geben uns die Beratungen im Parlamentarischen Rat Auskunft - sie wollten ebenso wenig die Möglichkeit einer Neuwahl verwehren, wenn dies die Lage gebietet.
        Nach den bösen Erfahrungen von Weimar lehnte es der Parlamentarische Rat ab, dem Bundespräsidenten ein generelles Recht zur Auflösung des Bundestages einzuräumen. Aber auch dem Parlament blieb das Recht zur Selbstauflösung verwehrt.
        Dem Parlamentarischen Rat verdanken wir mithin Regelungen, die Deutschland zu einer der stabilsten, erfolgreichsten und angesehensten Demokratien der Welt gemacht haben. Dafür sind wir dankbar - auch wenn die Erfolgsgeschichte unserer deutschen Demokratie nicht allein der Weisheit oder dem Weitblick unserer Gründergeneration geschuldet ist, sondern vor allem dem demokratischen Gemeinsinn und dem klugen Instinkt der Bürgerinnen und Bürger, die stets für ein inneres Gleichgewicht unseres Gemeinwesens gesorgt haben.
        Unsere Staatspraxis, die auch durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß bestätigt wurde, ist eindeutig: Der mit der Vertrauensfrage verbundenen Konsequenz von Neuwahlen stehen keine zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen.
        Die entscheidende Frage lautet also: Kann der Bundeskanzler noch des stetigen Vertrauens der Mehrheit des Hohen Hauses sicher sein?
        Denn die drängenden Probleme unseres Landes, die Fortsetzung der begonnenen Reformen, die Krise der Europäischen Union, die Herausforderungen der Globalisierung und die Gefahren für Frieden, Sicherheit und Stabilität in unserer einen Welt dulden keinen Zustand der Lähmung oder des Stillstandes.
        Meine Damen und Herren, ich habe mir die Entscheidung, zunächst die Vertrauensfrage, danach mich und meine Regierung einer neuen Wahl zu stellen, reiflich und gewissenhaft überlegt. Aus der Opposition hat es Forderungen nach meinem Rücktritt gegeben.
        Aber was dann?
    Der Weg nach Artikel 63 Grundgesetz setzt mehrere erfolglose Wahlgänge voraus und ist damit äußerst kompliziert und der Würde des Hohen Hauses nicht angemessen. Genau aus diesem Grund hat bereits mein Amtsvorgänger diesen Weg 1982 entschieden abgelehnt.
        Helmut Kohl betonte vor dem Deutschen Bundestag am 17. Dezember 1982, dass - ich zitiere ihn wörtlich  - "der Vorwurf der Manipulation.... gerechtfertigt wäre, wenn ich den Weg des Rücktritts gemäß Artikel 63 des Grundgesetzes wählen würde."
        Und weiter, meine Damen und Herren: "In der augenblicklichen Situation würde es niemanden überzeugen, wenn ein derartiges Verfahren eingeschlagen würde, um den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages zu nötigen. Ich bin der Auffassung, das der von mir gewählte Weg zur Auflösung des Bundestages überzeugend und verfassungsrechtlich einwandfrei ist."
        Ich teile diese Argumentation meines Vorgängers, meine Damen und Herren.
    Meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen haben in unserem Land einen tief greifenden Veränderungsprozess eingeleitet. Dieser Reformprozess ist in seinem Umfang und in seinen Konsequenzen einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik.
        Wir haben in Angriff genommen, was unsere Vorgängerregierung unterlassen hatte. Wir haben begonnen, wozu CDU, CSU und FDP 16 Jahre Zeit, aber niemals den Mut hatten. Mit den Reformen der "Agenda 2010" haben wir wichtige Bereiche unserer Gesellschaft in ihren Strukturen grundlegend erneuert - in der Gesundheitsversorgung, in der Rentenpolitik und auf dem Arbeitsmarkt.
        Diese Reformen sind notwendig, um unseren Sozialstaat auch in Zukunft zu erhalten und unsere Wirtschaft auf die Herausforderungen der Globalisierung und des Älterwerdens unserer Gesellschaft einzustellen. Diese notwendigen Reformen mussten gegen massive Widerstände von Interessengruppen durchgesetzt werden.
        Einige haben in dieser Situation auf unverantwortliche Weise die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger instrumentalisiert. Mit populistischen Kampagnen wurden Ängste geweckt und geschürt, weil die Reformen zunächst mit Belastungen verbunden sind, ihre positiven Wirkungen aber erst später, teilweise durchaus erst in einigen Jahren zu spüren sein werden. Nur zu gut erinnern wir uns an die öffentliche Aufregung bei der Einführung der Praxisgebühr und an die Protestwelle beim Beschluss der so genannten "Hartz IV"-Gesetze im vergangenen Jahr.
        Keine Frage: Das Reformprogramm der "Agenda 2010" hat zu Streit zwischen den Parteien und in den Parteien geführt. In den regierenden Parteien und Fraktionen ist es zu inneren Spannungen und auch zu Konflikten um die richtige Richtung gekommen. Und, das will ich nicht verschweigen, meine Partei hat darunter besonders gelitten. Die SPD hat seit dem Beschluss der "Agenda 2010" bei allen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren - in vielen Fällen sogar die Regierungsbeteiligung in den Ländern. Das war ein hoher Preis für die Durchsetzung der Reformen.
        Dass wir diesen hohen Preis - zuletzt in Nordrhein-Westfalen - zu zahlen hatten, hat innerhalb meiner Partei und meiner Fraktion zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs der SPD geführt. Das gilt in ähnlicher Weise für unseren Koalitionspartner. Es ging - und es geht - um die Frage, ob die Reformen der "Agenda 2010" überhaupt notwendig sind oder ob sie nicht gar zurückgenommen werden sollten.
        Diese Debatte hat soweit geführt, dass SPD-Mitglieder damit drohten, sich einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei anzuschließen, die vor Fremden­feindlichkeit nicht zurückschreckt. Einige haben diesen Schritt vollzogen, an die Spitze jener Partei hat sich ein ehemaliger SPD-Vorsitzender gestellt.
        Meine Damen und Herren, solche eindeutigen Signale aus meiner Partei, der führenden Regierungspartei, musste und muss ich ernst nehmen, zumal in den Wochen vor dem 22. Mai fast täglich darüber in den Medien berichtet wurde, auch aus dem parlamentarischen Raum heraus.
        Am 22. Mai lag die Frage offen auf dem Tisch, ob bei diesem Wahlausgang eine volle Handlungsfähigkeit für mich und meine Politik noch gegeben war. Zumal die Mehrheit für diese Regierung im Deutschen Bundestag von Anfang an denkbar knapp war.
        Diese Mehrheit hat sich durch den Verlust nicht nachzubesetzender Überhangmandate weiter reduziert und beträgt nur noch drei Stimmen, wenn die so genannte Kanzlermehrheit erforderlich ist.
        Grundvoraussetzung für die gesamte Regierungspolitik, ganz besonders aber für unsere Außen- und Sicherheitspolitik, sind Planbarkeit und Verlässlichkeit. Dies betrifft grundsätzliche Fragen wie die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zur Europäischen Union, die weitere Vertiefung unserer Beziehungen zu Russland und den Ausbau unserer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu China.
        Hierfür ist die Bundesregierung auf die Geschlossenheit der Koalitions-Fraktionen angewiesen. Auch hier sind vermehrt abweichende, jedenfalls die Mehrheit gefährdende Stimmen laut geworden.
        Meine Damen und Herren, über die Zweifler und jene, die mit Austritt oder abweichendem Stimmverhalten gedroht haben, will und kann ich moralisch nicht rechten, denn das stetige Vertrauen gemäß Artikel 68 unseres Gesetzes ist keine moralische, sondern eine politische Kategorie.
        Artikel 38 Absatz 1 erlaubt den Abgeordneten, abweichende Positionen einzunehmen. Diese Tatsache unterliegt nicht einer moralischen Bewertung oder gar einer moralischen Verurteilung von Abgeordneten.
        Da aber der Bundeskanzler auf dauerhaftes Vertrauen angewiesen ist, um nach innen wie nach außen seine Politik verwirklichen zu können, muss er ein solches abweichendes Ankündigen, Fordern oder Verhalten stets politisch bewerten. Klar abweichende Positionierungen mögen subjektiv betrachtet als durchaus berechtigt angesehen werden, müssen aber vom Bundeskanzler politisch anders beurteilt werden, denn er braucht eine stetige und verlässliche Basis für seine Politik.
        Ebenso klar muss auch sein, dass dort, wo Vertrauen nicht mehr vorhanden ist, öffentlich nicht so getan werden darf, als gäbe es dieses Vertrauen.
        Ich habe auch das erleben müssen. Auch das ist Bestandteil meiner politischen Bewertung. Und die ist eindeutig: eine Bewertung der politischen Kräfteverhältnisse vor und nach der Entscheidung, Neuwahlen anzustreben, muss - dessen bin ich ganz sicher - dazu führen, dass ich unter den aktuellen Bedingungen nicht auf das notwendige, auf stetiges Vertrauen im Sinne des Artikel 68 rechnen kann.
        Meine Damen und Herren, was die bestehenden Kräfteverhältnisse anbelangt, so muss ich auch die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesrat berücksichtigen. Die Situation im Bundesrat ist dabei nicht nur eine Frage der Mehrheit, sondern sie ist zunächst einmal eine Frage der Haltung, wie die Zahl der Einsprüche nach abgeschlossenem Vermittlungsverfahren exemplarisch zeigt.
        In der laufenden Wahlperiode hat die Bundesratsmehrheit nach abgeschlossenem Vermittlungsverfahren in 29 Fällen Einspruch gegen das entsprechende Gesetz eingelegt. Das, meine Damen und Herren, ist fast so häufig wie in den ersten zwölf Wahlperioden der Jahre 1949 bis 1994 zusammen.
        Ersichtlich geht es der Bundesratsmehrheit in diesen wie in anderen Fällen, etwa in der Steuerpolitik oder beim Subventionsabbau, nicht mehr um inhaltliche Kompromisse oder staatspolitische Verantwortung, sondern um machtversessene Parteipolitik, die über die Interessen des Landes gestellt wird.
        Ich kann es aber weder der Regierung noch den Regierungsfraktionen zumuten, immer wieder Konzessionen zu machen und doch zu wissen, dass die Bundesratsmehrheit ihre destruktive Blockadehaltung nicht aufgeben wird. Nur eine durch die Wählerinnen und Wähler klar und neuerlich legitimierte Regierungspolitik wird bei der Mehrheit des Bundesrats zu einem Überdenken der Haltung führen - wenn auch nicht kurzfristig zu einer Änderung der Mehrheit.
        Meine Damen und Herren, das Ziel des Machterhalts um der Macht willen rechtfertigt niemals Entscheidungen gegen die bessere Einsicht und gegen den Rat des Gewissens.
        Ich handele in der Gewissheit, dass die von mir begonnene Politik der Reformen richtig und notwendig ist - für unser Land und für seine Menschen.
        Darum werde ich mich auch mit all meiner Energie und mit ganzer Kraft darum bemühen, dass die Wählerinnen und Wähler mich beauftragen, das Begonnene fortzuführen.
        Die Vertrauensfrage gibt daher jedem Abgeordneten die Chance, sich zu entscheiden.
    Mit einer Enthaltung, auch mit einem "Nein" eröffnen die Mitglieder dieses Hohen Hauses dem Herrn Bundespräsidenten die Möglichkeit, die Entscheidung über die Zukunft der Politik und über die Zukunft unseres Landes dem Souverän, unseren Bürgerinnen und Bürgern, in die Hand zu geben.
        Ich bin davon überzeugt, dass dieser Weg mit dem Sinn und den Bestimmungen unserer Verfassung im Einklang ist. Ich bin davon überzeugt, dass der Herr Bundespräsident die richtige Entscheidung treffen wird.
        Meine Damen und Herren, ich weiß mich mit den weitaus meisten unserer Landsleute darin einig, dass in der gegenwärtigen Situation die Wähler zu ihrem Recht kommen sollten. Nicht im Zuge eines Plebiszits, nicht im Rahmen einer Volksabstimmung, die unsere Verfassung eben nicht vorsieht, sondern bei Neuwahlen, die das erklärte Ziel meiner heutigen Vertrauensfrage sind.
        Insoweit - und das lässt sich gar nicht bestreiten - richtet sich die Vertrauensfrage über den Deutschen Bundestag hinaus natürlich und in letzter Konsequenz an die Wählerinnen und Wähler selbst.
        Vordergründig betrachtet handelt es sich um einen Vorgang, mit dem der Bundeskanzler sein eigenes Schicksal der Entscheidung des Volkes anvertraut. Die wahre Dimension unserer heutigen Entscheidung weist aber weit darüber hinaus: tatsächlich geht es um die Möglichkeit des demokratischen Souveräns, die Grundrichtung der künftigen Politik selbst zu bestimmen.
        Geben wir also den Menschen die Wahl und die Freiheit, selbst zu entscheiden, welchen Weg unser Land gehen soll, welchen Staat sie sich wünschen, welchen Stellenwert soziale Gerechtigkeit künftig haben soll und wie viel Solidarität das Zusammenleben in unserem Gemeinwesen prägen soll. Wecken wir ihren Lebensmut und ihr Vertrauen in die Zukunft. Lösen wir sie aus jenen Ängsten und Bedrückungen, die auch Folge des Niederredens unseres Landes und der Leistungen seiner Menschen durch die Opposition sind. Einer Opposition im Übrigen, die sich aus Furcht vor der Verantwortung fast jeder konstruktiven Zusammenarbeit mit uns verweigerte. Ich füge hinzu: oder die vollzogene Zusammenarbeit im Nachhinein desavouierte. Einer Opposition, die aus schierem Opportunismus den Bürgerinnen und Bürgern auch jetzt verschweigt, welche konkreten Pläne sie hat.
        Meine Damen und Herren, auch in der Politik gilt: Festklammern an dem, was immer schon war oder was man einmal hat, führt geradewegs in die Erstarrung. Und bewahren kann nur derjenige, der zur Veränderung bereit ist.
        Wenn wir also Energien freisetzen, Bewegungen ermöglichen und weitere Reformen in Gang setzen wollen, dann müssen wir auch mit den üblichen Regeln der politischen Mechanik, mit der Physik der Macht gleichsam, brechen.
        Die von uns begonnenen Reformen gilt es, entschlossen fortzuführen, damit wir den sich immer rascher wandelnden Anforderungen im Innern und nach außen gerecht werden.
        Im Innern heißt das für uns, die soziale Marktwirtschaft zu bewahren und unser Gesellschaftsmodell weiterzuentwickeln, das Produktivität und ökonomische Effizienz mit Solidarität und Gerechtigkeit verbindet. Es ist gewiss: Der Wandel verlangt einen langen Atem. Verlangt Beharrlichkeit und Standfestigkeit. Verlangt Überzeugungskraft und Willensstärke.
        Nach außen heißt das, unsere Rolle als Garant der europäischen Einigung und Integration entschieden und aus tiefer Überzeugung anzunehmen.
        Unseren geeinten Kontinent weiter voranzubringen, dazu braucht es wie bisher die Dynamik und Verlässlichkeit der deutsch-französischen Partnerschaft. Und es heißt, Deutschlands Rolle als angesehene Friedensmacht zu stärken: im Kampf gegen Hunger, Armut und Unterdrückung in der Welt, im Kampf gegen Terror und Fanatismus und im Einsatz für einen effektiven Multilateralismus, für eine internationale Ordnung des Rechts, für eine Stärkung der Vereinten Nationen, in denen Deutschland seiner internationalen Verantwortung gemäß einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat anstrebt.
        Dies alles sind Aufgaben, denen wir nicht genügen können, wenn die Gefahr eines Legitimationsverlustes unseren Energien keinen Raum lässt. Darum braucht es heute das Votum des Hohen Hauses. Darum braucht es, wenn mir das Vertrauen der Mehrheit versagt bleibt, das Urteil des Souveräns: des Volkes. Es ist keine Zeit zu verlieren. Die Reformen dulden keinen Aufschub. Sie bedeuten auch Abschied von Gewohntem. Das zu sagen, verlangt die Aufrichtigkeit, die wir den Bürgern schuldig sind.
        Meine Sache - und der Auftrag der deutschen Sozialdemokratie - ist es, dafür zu sorgen, dass wirtschaftliche Effizienz eben nicht auf Kosten der Schwachen erzielt wird, dass also die soziale Balance keinen Schaden nimmt.
        Meine Damen und Herren, diese Regierung tut ihre Pflicht. Sie tut, was für unser Land notwendig ist. Diese Regierung hat das durch die Vorgänger-Regierung auf dem Land lastende Phlegma, die Realitätsverweigerung und die Reformunwilligkeit überwunden.
        Es sind - und ich bin stolz darauf - gute Jahre für unser Land gewesen, die unser Land nach innen liberaler, toleranter, sicherer und demokratischer und nach außen selbstbewusster, freier und geachteter gemacht haben.
        Wir brauchen jetzt klare Verhältnisse. Darum stelle ich die Vertrauensfrage.
    Öffnet der Bundestag den Weg zu Neuwahlen, dann haben, wenn der Herr Bundespräsident so entscheidet, unsere Bürgerinnen und Bürger das Wort.
        Ich vertraue auf die Vernunft und die Einsicht der Deutschen. Ich vertraue auf den Mut und die Kraft meiner Partei, die in den 142 Jahren ihrer stolzen Geschichte jederzeit Verantwortung für das Ganze, für sozialen Fortschritt, Gerechtigkeit, Teilhabe und Demokratie wahrgenommen hat.
        Für genau diese Werte werde ich weiter kämpfen."
     



    Rede und Begründung des Bundespräsidenten am 21.7.2005
    Fernsehansprache von Bundespräsident Horst Köhler zur Parlamentsauflösung 21.07.2005 [Q]

    "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
    ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt.
    Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.
        In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen.
        Der Bundeskanzler hat am 1. Juli vor dem Bundestag deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht.
        Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der Bundeskanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft tragfähig. Die Lagebeurteilung des Bundeskanzlers hat mir auch der Vorsitzende der SPD-Fraktion aus seiner Sicht bestätigt.
        Ich weiß: Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen Unbehagen wegen des Verfahrens empfunden, das eingeschlagen worden ist. Sie zeigen damit, wie wichtig ihnen das Grundgesetz ist. Darüber freue ich mich. In der Tat hat sich unsere Verfassung in über 50 Jahren bewährt. Sie sieht aus guten Gründen nur ausnahmsweise vorgezogene Wahlen vor. Das Grundgesetz ermöglicht es aber dem Bundeskanzler, eine parlamentarische Vertrauensfrage mit dem Ziel zu stellen, vorgezogene Wahlen herbeizuführen. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war dies zweimal der Fall: 1972 und 1983. Eine Niederlage des Bundeskanzlers bei dieser Abstimmung allein reicht jedoch nicht aus, um den Bundestag aufzulösen. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine von stetiger Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll verfolgen kann. So gibt es das Bundesverfassungsgericht vor. Und so sieht der Bundeskanzler seine Lage.
        Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft. Dazu habe ich viele Gespräche mit den verantwortlichen Politikern und mit Rechtsexperten geführt. Ich bin den Bürgerinnen und Bürgern dankbar, die mir in Gesprächen, Briefen und E-Mails ihre Meinung mitgeteilt haben.
        Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1983 hat der Bundespräsident die Einschätzung des Bundeskanzlers zu beachten, es sei denn, eine andere Einschätzung ist eindeutig vorzuziehen. Ich habe Respekt vor allen, die gezweifelt haben, und ich habe ihre Argumente gehört und ernsthaft gewogen. Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist. Ich bin davon überzeugt, dass damit die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestages gegeben sind.
        Damit ist es nach dem Grundgesetz meine Pflicht als Bundespräsident, zu entscheiden, ob ich Neuwahlen ansetze oder nicht. In meiner Gesamtabwägung komme ich zu dem Ergebnis, dass dem Wohl unseres Volkes mit einer Neuwahl jetzt am besten gedient ist.
        Es ist richtig, dass in der heutigen Situation der demokratische Souverän - das Volk - über die künftige Politik unseres Landes entscheiden kann. Die Parteien fordere ich auf, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Vorstellungen über die Lösung der Probleme sachlich und wahrhaftig zu vermitteln. Ich bin ganz sicher: Wir haben die Begabung und die Fähigkeit, unsere Freiheit zu sichern und einen modernen Sozialstaat zu gestalten.
        Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
    jetzt haben Sie es in der Hand.
    Schauen Sie bitte genau hin. Demokratie heißt, die Wahl zu haben zwischen politischen Alternativen.
    Machen Sie von Ihrem Wahlrecht sorgsam Gebrauch."



    Kommentare (Auswahl) [siehe auch Chronik der Ereignisse]

    Frontal21 zum absurden Theater um die sog. Vertrauensfrage
    "'Köhler darf den Bundestag nicht auflösen'. Verfassungsrechtler Schenke: 'Der Kanzler hat nach wie vor die politische Mehrheit'. Der Bundespräsident darf nach Ansicht des Verfassungsrechtlers Professor Wolf-Rüdiger Schenke den Bundestag nicht auflösen, 'weil die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind.' Das sagt Schenke in einem Interview mit dem ZDF-Magazin Frontal21. Es gebe keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Bundeskanzler Schröder das Vertrauen der Mitglieder des Bundestages verloren habe, so der Mannheimer Jurist." Zugleich belegt Frontal21 eindrucksvoll, was deutsche Parlamentarier von Artikel 68 GG nicht wissen. Wieder einmal bestätigt sich grausam wie unlängst bei der Abstimmung zur Europäischen Verfassung, daß die meisten Parlamentarier und "Volksvertreter" vom Grundlegenden nichts wissen und im Grunde genommen aus dem Parlament geprügelt gehören.

    IP-GIPT PWK5-27:  Absurdes und verwahrlostes Theater mit der Vertrauensfrage. Rechtsbeugung als Staatsprinzip.

    Schulz tituliert Köhler als Vollzugsbeamten. [Q]



    Literatur (Auswahl)



    Links (Auswahl: beachte) [sieh auch Chronik der Ereignisse]
    Bundespräsident * Bundeskanzler * Bundestag * Bundesverfassungsgericht * Linksammlung BVerfG * Bundesjustizministerium * Bundeswahlleider * Die Linke.PDS * CDU * CSU * SPD * GRÜNE * FDP *
    Misstrauensvotum * Vertrauensfrage *



    Anmerkungen und Endnoten
    __



    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    tt.mm.jj

    Querverweise
    Überblick Programm Politische Psychologie in der IP-GIPT.
    Staatslehre und Staatsrecht und der IP-GIPT:
    Aristoteles Staatslehre * John Lockes Eigentumsbegriff * Michels Gesetz oligarischer Entwicklungen * Freiheit. Vom vielfältigen Mißbrauch eines Grundwertes * Gemeinwohl * Subsidiaritätsprinzip  * Geldtabu * Staatsverschuldung * Staatsquote * Rechtsbeugung als Staatsprinzip * 50 Jahre Bundesverfassungsgericht *  Toleranz, Kirche und Staat nach John Locke *  Vorbilder * Vorschläge * Heilung der Schuldentollwut * Politik-Axiome *
    *
       
      Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org, z.B. Staatslehre site:www.sgipt.org. 
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    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Neuwahl 2005. Dokumentation eines konzertierten absurden Theaters. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/politpsy/staatsl/neuwahl5.htm
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    korrigiert: irs 23.07.05