Materialien zum Fundamentalismus und seiner Überwindung durch Toleranz.
Ein Brief über Toleranz
Epistola de tolerantia * A Letter Concerning Toleration
John Locke (1632-1704)
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Einführung: Es gibt zur Forderung
nach Toleranz in religiösen Fragen keine Alternative. Wer das Toleranzprinzip
nicht anerkennt, ist ein gefährlicher Feind der Menschheit, der Menschenrechte
und der Zivilisation. Die Toleranzidee hat eine lange Geschichte, wenn
es auch in vielen fundamentalistischen Gesellschaften gefährlich war,
sie zu äußern. Das gilt sicher auch noch für die Zeit John
Lockes.
John Locke war ein englischer, universal gebildeter
Enzyklopädist, Philosoph, Erkenntnis-, Rechts- und Staatstheoretiker
(entwarf im Auftrag Shaftesburys die Verfassung für Carolina), Naturwissenschaftler,
Mathematiker, Arzt, Psychologe, Theologe, Ökonom und Pädagoge
in staatspolitischen Diensten und ein bedeutender Aufklärer. Obwohl
er religiös war und wie so viele religiöse Denker nicht die Vorstellungskraft
besaß, auch dem Atheismus ethisch-moralische
Kompetenz zuzubilligen, nahm er für seine Zeit eine ungewöhnlich
tolerante Haltung in religiösen Fragen ein und setzte sich in seinem
59-seitigen Werk "Ein Brief über die Toleranz", geschrieben 1685/86
in Amsterdam und erschienen von 1689 bis 1692, sehr klar und sehr deutlich
für die Religionsfreiheit ein, was hier ein bißchen näher
ausgeführt werden soll.
Locke, John
(1689, dt. 1957). Ein Brief über Toleranz. Übersetzt, eingeleitet
und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus. Hamburg: Meiner
Ausgabe (gerade Seiten Englisch, ungerade deutsch),
Einleitung (Detaillierter Aufbau der Schrift hier): [Toleranz
als Merkmal der wahren Kirche und die Merkmale eines wahren Christen] 1-13
|
Geschichte und Ereignisse in England und Schottland bis Großbritannien
Europa:
Wissenschaft, Technik, Geographie, Philosophie, Religion, Kirche, Staatslehre,
Kultur
Lebensdaten John
Locke 1632-1704
Sehr interessant ist die ausführliche Einleitung Ebbinghaus' zum geschichtlichen Hintergrund (A. Zur Politischen Geschichte IX bis XVIII) und zur Geschichte des Toleranzbriefes (B. Zur Geschichte von Lockes Toleranzbrief XVIII. bis XXI). Im Anschluß an die geschichtliche Information und Erörterung führt Ebbinghaus aus:
II. Gedankengang des Toleranzbriefes von 1689 (85)
"Einleitung: Toleranz ist das Merkmal der wahren Kirche. Intoleranz widerspricht dem Liebesgebote Jesu und dem von ihm gegebenen Beispiel. (S. 3-11). Damit aber nicht das Gemeinwohl als Vorwand für religiöse Tyrannei und die Toleranz als Vorwand für Liberti-[>XXII]nismus gebraucht werden kann, ist die genaue Abgrenzung der Aufgaben des Staates und der Kirche unerläßlich. (11)
A. Aufgaben von Staat und Kirche. (13-27)
I. Aufgabe der Staatsgewalt ist, Leben, Gesundheit, körperliche Unverletzlichkeit und äußeren Besitz der ihr Unterworfenen durch gesetzlichen Zwang zu sichern. (13) Dagegen kann die Befugnis der Staatsgewalt nicht auf das Seelenheil der Menschen ausgedehnt werden, denn:
II. Die Kirche ist eine freiwillige Gesellschaft von Menschen,
die sich zusammentun, um Gott in der Weise zu verehren, wie sie glauben,
daß es ihm annehmlich und für sie wirksam sei. Jedem steht Ein-tritt
und Austritt frei. (19/21)
1. Ordnung der Kirche. (al-25) Diese und ihre Verwalter werden
von ihr bestirmnt. Die bischöfliche Verfassung, deren Geistliche ihre
Befugnis von den Aposteln ableiten, ist für sie nicht not
wendig, (23) denn:
2. Kirchenzucht. Sie ist beschränkt auf Aufforderungen,
Ermahnungen, Ratschläge. Einzige mögliche Strafe ist der Ausschluß.
(25/27)
B. Die Toleranzpflicht. (27-55)
1. Diese Pfticht verbietet der Kirche nicht die Exkommunikation Abtrünniger.
Aber diese darf nicht rnit Minderung bürgerlicher Rechte verknüpft
sein. (27/29)
2. Keine Privatperson kann Rechte gegen andere aus religiösen
Gründen haben; ebensowenig eine Kirche gegen die andere. (29-37)
3. Geistliche müssen nicht allein Toleranz üben, sondern
auth den ihnen Anbefohlenen zur Pflicht ma-chen. (37-43)
4. Toleranzpflicht der Obrigkeit. Diese kann so wenig die Verantwortung
für das Seelenheil der Bür-ger tragen wie für deren Privatangelegenheiten
(43/45), denn
C. Das Recht der Kirche (55-97)
Dieses ist gegründet auf die Pflicht der Menschheit zur öffentlichen
gemeinsamen Verehrung Gottes. Daraus folgen Rechte der Kirche bezüglich
des Kultus und des Glaubens.
I. Das Recht der Freiheit des Kultus. (57-79)
1. Die Obrigikeit darf keine kultischen Hanchungen erzwingen,
weil deren Verrichtung ohne die Überzeugung, daß Gott sie angeordnet
hat, für Gott beleidigend ist. (57)
2. Über gleichgültige Dinge kann die Obrigkeit Gesetze
geben, aber nicht zum Zwecke der Regelung des Gottesdienstes. (57-63)
Nur Nebenumstände des Gottesdienstes (Zeit, Ort, Klei],
Stellung des Menschen in der Andacht) unterliegen menschlicher Bestimmung,
sofern Gott nichts darüber angeordnet hat. (63/65)
3. Die bürgerliche Gewalt kann auch keine schon eingeführten
Zeremonien verbieten, außer sofern es sich um unsittliche Riten handelt.
Vor allem kann sie nicht im Gottesdienst verbieten, was sie im bürgerlichen
Leben unter dem Gesichtspunkt erlaubt, daß dadurch niemandem Un-recht
geschieht. Dagegen gelten Einschränkungen des Gebrauches von äußeren
Dingen, die irn Interesse des Gemeinwohls erfolgen, auch im Gottesdienst.
(65-69)
4. Auch götzendienerische Kirchen dürfen nicht gewaltsam
unterdrückt werden. Denn da jede Kirche die andere für abgöttisch
hält, würde dann niemand mehr seines Rechtes sicher sein. (69-78)
Daß Götzendiener nach dem Gesetz Mosis auszurotten sind, beweist
nichts für Christen, denn:
II. Das Recht der Freiheit des Glaubens. (79-97) Glaubensartikel
sind entweder praktisch oder spekulativ.
1. Die spekulativen. (79/81)
Schluß: Erörterung der Staatsgefährlichkeit der
Sekten.
Religiöse Sekten sind gefährlich, nur wenn man sie bedrückt.
Erst wenn die abscheulichen Rechtsberaubungen aufhören, zu denen sich
Priester und weltliche Machthaber allezeit zusammengefunden haben, kann
Friede im Staate herrschen. (97-113)
Anhang: Über Ketzerei und Schisma
Ketzer und Schismatiker kann es nur innerhalb ein und derselben Religion
geben. Die Religion wird bestimmt durch eine für Glauben und Gottesdienst
angenommene Regel (Bibel, Koran usw.). Wer nun erne Kirchenspaltung dadurch
hervorruft, daß er eine Glaubensmeinung als notwendig behauptet,
deren Notwendigkeit nicht in der Glaubensregel enthalten ist, ist ein Ketzer.
Tut er dasselbe mit Bezug auf Anordnungen des Gottesdienstes, so ist er
ein Schismatiker. Ein solches Verhalten ist, wie aus den Prämissen
hervorgeht, ungerechtfertigt. (113-121)"
Die Toleranzpflicht (S. 29f):
"Zweitens hat keine Privatperson in irgendeiner Weise ein Recht, eine
andere Person im Genuß ihrer bürgerlichen Rechte zu benachteiligen,
weil diese zu einer anderen Kirche oder Religion gehört. Alle Rechte
und Freiheiten, die ihm als Menschen oder Bürger zustehen, müssen
ihm unverletzlich erhalten bleiben.Diese gehören nicht zu den Angelegenheiten
der Religion. Keine Gewalt, kein Unrecht darf ihm angetan werden, er sei
Christ oder Heide. Ja wahrhaftig, wir dürfen uns nicht mit den engen
Maßen bloßer Gerechtigkeit begnügen: Barmherzigkeit, Güte
und Freigiebigkeit muß hinzukommen. Das schärft uns das Evangelium
ein, befiehlt uns die Vernunft und fordert jene natürliche Brüderlichkeit
von uns, in die wir hineingeboren sind."
Jeder
ist in Religionsfragen selbst die höchste Autorität (S. 47):
"Nun enthüllt weder die Sorge für das gemeine Wesen noch
das Recht der Gesetzgebung der Obrigkeit den zum Himmel führenden
Weg mit größerer Gewißheit als ihn jeden Privatmannes
Forschung und Studium diesem enthüllt. Ich habe einen schwachen Körper,
der unter einer verzehrenden Krankheit zusammengebrochen ist, für
die es, nehme ich an, nur ein Heilmittel gibt — aber ein unbekanntes.
Ist es deswegen Sache der Obrigkeit, mir ein Heilmittel vorzuschreiben,
weil es nur eins gibt und weil es unbekannt ist? Weil es nur einen Weg
für mich gibt, dem Tode zu entrinnen — werde ich deswegen sicher gehen,
wenn ich tue, was immer die Obrigkeit anordnet? Solche Dinge, die jedermann
aufrichhtig bei sich selbst untersuchen und deren Kenntnis er durch Nachdenken,
Studium, Forschung und eigne Anstrengung erlangen muß, können
nichht als der Sonderberuf irgendeiner Art Menschen angesehen werden. Fürsten
sind allerdings von Geburt anderen Menschen an Macht überlegen aber
ihrer Natur nach gleich. Weder das Recht noch die Kunst des Regierens zieht
notwendig die gewisse Kenntnis anderer Dinge nach sich und am wenigsten
der wahren Religion. Denn wenn es so wäre, wie konnte es dazu kommen,
daß die Herren der Erde in Religionssachen so weit voneinander abweichen?
"
Auch die Kirche
darf die Autorität in Religionsfragen nicht beanspruchen (S. 49f)
"Einige werden vielleicht sagen, sie nehmen nicht an, das unfehlbare
Urteil, dem alle Menschen in religiösen Angelegenheiten zu folgen
verbunden sind, stehe der staatlichen Obrigkeit zu, sondern der Kirche.
Was die Kirche bestimmt hat, das befiehlt die staatliche Obrigkeit zu beobachten,
und sie sorgt durch ihre Autorität dafür, daß niemand in
Religionssachen anders handelt oder glaubt, als die Kirche" lehrt. So daß
das Urteil über diese Dinge bei der Kirche ist; die Obrigkeit ihrerseits
unterwirft sich diesem in Gehorsam und verlangt den gleichen Gehorsam von
anderen. Ich antworte: Wer sieht nicht, wie oft der Name der Kirche, der
zur Zeit der Apostel so ehrwürdig war, in den folgenden Zeiten gebraucht
worden ist, um dem Volke Sand in die Augen zu streuen? Aber wie dem auch
sei, es hilft uns im vorliegenden Falle nicht. Der einzige und nur schmale
Weg, der zum Himmel führt, ist der Obrigkeit nicht besser bekannt
als privaten Personen, und folglich kann ich den nicht mit Sicherheit zum
Führer nehmen, der wahrscheinlich den Weg ebensowenig kennt wie ich
selbst, und der sicherlich weniger besorgt für mein Heil ist als ich
selbst es bin. Wie viele unter den vielen Königen der Juden gab es
denn, als dessen blinder Gefolgsmann ein Israelit sich nicht in Abgötterei
und folglich ins Verderben gestürzt hätte? Aber dessen ungeachtet
heißt Ihr mich guten [<49] Mutes sein und sagt mir, daß
jetzt alles gefahrlos und sicher sei, weil jetzt das, wofür Befolgung
verlangt wird, nicht die eignen Verordnungen der Obrigkeit in Religionssachen
sind, sondern nur die Verordnungen der Kirche. Welcher Kirche, ich bitte
Euch? Sicherlich derjenigen, die jener am besten gefällt. Als wenn
der, der mich durch Gesetze und Strafen in diese oder jene Kirche einzutreten
zwingt, nicht sein eignes Urteil über die Sache dazwischen schöbe.
Welchen Unterschied macht es denn, ob er selbst mich leitet oder mich an
die Leitung anderer ausliefert? Ich hänge in beiden Fällen von
seinem Willen ab, und er ist es, der in beiden Fällen über meinen
Zustand in der Ewigkeit bestimmt. Würde ein Israelit, der auf Befehl
seines Königs Baal verehrt hat, in einer irgendwie besseren Lage sein,
weil jemand ihm erzählt hat, daß der König nichts Religiöses
nach seinem eignen Kopfe anordne noch seinen Untertanen irgendwelche Handlungen
der Gottesverehrung anbefehle, außer was durch den Rat der Priester
gebilligt und durch die Doktoren jener Kirche für göttliches
Recht erklärt sei? Wenn die Religion einer Kirche dadurch wahr und
heilsam wird, daß das Haupt dieser Sekte, die Prälaten und Priester
und die Leute dieser Klasse alle miteinander sie mit aller Macht in den
Himmel heben und preisen, welche Religion kann dann jemals für irrig,
falsch und verderblich gehalten werden?"
Menschen
können nicht zu ihrem Heil gezwungen werden. (S. 53f)
"Nach allem aber ist die Haupterwägung, die diese Kontroverse
schlechterdings beendet, diese: Auch wenn die religiöse Meinung der
Obrigkeit stichhaltig wäre und der Weg, den sie vorschreibt, wahrhaft
evangelisch, so wird doch, wenn ich davon nicht in meinem Innern durchaus
überzeugt bin, für mich kein Heil in seiner Verfolgung liegen.
Kein Weg, welchen auch immer ich gegen die Aussprüche meines Gewissens
wandele, wird mich je zu den Wohnungen der Seligen bnngen. Ich mag reich
werden durch ein Handwerk, zu dem ich keine Lust habe, ich rnag von einer
Krankheit gesunden durch Heilmittel, zu denen ich kein Zutrauen habe, aber
ich kann nicht selig werden durch eine Religion, der ich mißtraue,
und durch einen Gottesdienst, den ich verabscheue. Es ist vergebens, daß
ein Ungläubiger das äußere Gehaben des Bekenntnisses eines
anderen annimmt. Glaube und innere Aufrichtigkeit allein sind die Dinge,
die Annehmbarkeit bei Gott verschaffen. Das scheinbarste und am meisten
gerchätzte Heilmittel kann keine Wirkung auf den Patienten haben,
wenn sein Magen es von sich gibt, sobald es genommen wird, und man wird
vergebens eine Medizin in den Sclund eines Kranken hineinstopfen, die seine
besondere Konstitution mit Sicherheit in Gift verwandelt. Mit einem Worte:
was sonst aud in der Religion zweifelhaft sein mag, so ist doch wenigstens
dies sicher, daß keine Religion, an deren Wahrheit ich nicht glaube,
für mich wahr oder nützlich sein kann. Vergebens zvvingen daher
Fürsten ihre Untertanen, in die Gemeinschaft ihrer Kirche mit dem
Anspruch, ihre Seelen zu retten. Wenn diese glauben, werden sie aus eigner
Zustimmung kormnen, wenn sie nicht glauben, wird ihr Kommen keinen Wert
für sie haben. Wie groß immer schließlichl die Vorspiegelung
von gutem Willen und Menschenliebe und die Sorge für das Heil der
Menschenseelen sein mag, Menschen können nicht zu ihrem Heil, sie
mögen wollen oder nicht, gezwungen werden. Und daher müssen sie,
wenn alles geschehen ist, ihrem eignen Gewissen überlassen werden."
Locke lehnt
Toleranz gegenüber Atheisten ab (S. 95f).
"Letztlich sind diejenigen ganz uns gar nicht zu dulden, die die Existenz
Gottes leugnen. Versprechen, Verträge und Eide, die das Band der menschlichen
Gesellschaft sind, können keine Geltung für einen Atheisten haben.
Gott auch nur in Gedanken wegnehmen, heißt alles auflösen. Auch
abgeschen davon können die, die durch ihren Atheismus alle Religion
untergraben und zerstören, sich nicht auf eine Religion berufen, auf
die hin sie das Vorrecht der Toleranz fordern könnten. Was andere
praktische Meinungen, aud wenn sie nicht gänzlich von allem Irrtum
frei sind, angeht, so kann es keinen Grund geben, sie nicht zu dulden,
wenn sie nicht dahin zielen, eine Herrschaft über andere oder [<95]
bürgerliche Straflosigkeit für die Kirche. in der sie gelehrt
werden einzuführen."
Fritz Mauthners vierbändige Geschichte des Atheismus im Abendland ist vermutlich die umfassendste. In Bezug auf John Locke und dessen Bedeutung für den Atheismus bietet er eine viel ausführlichere Auseinandersetzung als z.B. Minois, die deshalb hier auch vollständig präsentiert werden soll. Aus Mauthner Bd. 2, 13. Abschnitt "Die Ganzfreien und die Eigenen", S. 538-552:
"In dem unvergleichlichen Totengespräche, das unter dem Titel "le Diner du Comte de Boulainvilliers" bekannt ist, wendet sich Voltaire [>539] sehr scharf gegen seines verehrten Locke "Reasonableness of Christianity"; es sei nichts an den Versuchen, eine positive Religion verbessern zu wollen; der Versuch, den Katholizismus zu reformieren, habe Ströme von Blut gekostet; ein Baum, der immer nur giftige Früchte getragen habe, müsse mit der Wurzel ausgerodet werden. Das Christentum könne mit der Vernunft zusammen nicht bestehen. Locke habe noch einmal die christliche Religion und die Rechte der Menschheit miteinander versöhnen wollen; da habe er aber keine vier Schüler ge-funden. Die Stelle enthält das härteste Urteil über die Kompromisse, die Locke für nützlich gehalten hatte; scheint mir übrigens recht zweischneidig für Voltaire, der (mit einem etwas jüngeren Kompromisse) sich für einen konfessionslosen Deisten ausgab und heimlich wohl auch über die dünnen Dogmen des Deismus lachte.
John Locke ist nach seiner Stellung im Kampfe um die Geistesfreiheit nicht einfach durch ein einziges Schlagwort zu bestimmen; in der Philosophie ein Bahnbrecher von starker Wirkung und von noch stärkerer Nachwirkung, weil er durch seinen Sensualismus die Grundlage für den späteren Materialismus, durch seine kritische Psychologie eine der Grundlagen der Aufklärung gelegt hatte, weil er die Toleranz überzeugender gepredigt hatte als alle anderen; der Staatsreligion aber stand er unfreier gegenüber als die Deisten. Locke ist den Deisten eben nicht zuzurechnen. Sein Hauptwerk, der "Essay concerning human understanding" (1690), war freilich eine große Tat der Befreiung, leitete nicht nur zu den Enzyklopädisten, sondern auch zu Hume und Kant hinüber; aber selbst seine Sprachkritik hinderte ihn nicht, das Bekenntnis zu kirchlichen Dogmen abzulegen. Er sprach es zuerst aus, daß die Bibel, und wenn sie unfehlbar wäre, doch den Willen Gottes in menschlichen Worten ausdrücke und die Meinung darum immer ungewiß sei. Seine Leugnung der angeborenen Ideen, seine sprachkritische Untersuchung des Gewissens und der Moral schienen ihn zu Behauptungen zu führen, die zwar das durch die Naturordnung gelehrte Dasein eines Gottes anerkannten, aber schon die Verbindung der Moral mit dieser Naturreligion leugneten. Vom Moralpredigen hielt dieser Sprachkritiker sehr wenig. Eine Offenbarung bezweifelt Locke nicht geradezu; da eine Offenbarung aber keine Idee mitteilen könne, die nicht vorher durch die Sinne und durch die Vernunft in uns gekommen sei, da solche Vernunftideen immer zuverlässiger seien als irgendein Beweis dafür, daß die Offenbarung von Gott stamme, so sei es um die Offenbarung immerhin eine prekäre Sache. Derselbe Locke, der so der Religion den Boden entziehen zu wollen scheint, erklärt dann das Übervernünftige für den eigentlichen Gegenstand des Glaubens, macht aber wiederum die Vernunft zum Richter über das Übervernünftige. [>540]
Weniger widerspruchsvoll als in seinem philosophischen Essay ist Locke in dem theologischen Buche "Vernünftigkeit des Christentums" (1695). Sein Ausgangspunkt ist protestantisch: Ablehnung aller theologischen Sophismen und Zurückgehen auf die Heilige Schrift. Mit dieser Anerkennung, daß die Bibel das Wort Gottes sei, und mit seinem einzigen Dogma, daß der Glaube an Jesus als den Messias für das Heil der Seele genüge, schließt sich Locke zwar den freiesten und duldsamsten englischen Sekten an, trennt sich aber von den stärksten Begründern eines Vernunftglaubens, die schon zu seiner Zeit vom Messias und vom Seelenheil zu reden aufhörten. Den Sündenfall Adams führt Locke ebenfalls an, sehr vernünftig und sehr milde, aber er führt ihn doch an. Und behauptet wie ein Sonntagsprediger, den Heiden habe die Autorität einer göttlichen Gesetzgebung gefehlt, also die sittliche Wahrheit. Und läßt sich soweit herab, der Sensualist Locke, zu lehren, daß der Glaube (den er aber deutlich von einer wissenschaftlichen Überzeugung unterscheidet) den Gehorsam ersetzen und zur Seligkeit führen könne.
Schon aus diesen Andeutungen wird es klar, daß Locke in dem ganzen Buche "Reasonableness of Christianity", der Überschrift untreu, den Boden der Vernunftreligion verläßt und als ein bibelgläubiger Christ sich darauf beschränkt, die ursprüngliche Religion Jesu dem gewordenen und positiven Christentum vorzuziehen. Der englische Deismus hat freilich Lockes "Reasonableness" für sich in Anspruch genommen und den Titel so gedeutet, als hätte Locke dasselbe sagen wollen wie Toland mit seinem Buche "Christianity not mysterious": die Lehren des Evangeliums seien nur insofern verbindlich, als sie schlicht, verständlich und notwendig seien; in Wahrheit aber steht Locke in seiner theologischen Schrift auf einem ganz anderen Standpunkte als in seinem berühmten philosophischen Essay; im Essay verwirft er alle Ideen, die sich nur auf eine supranaturalistische Herkunft berufen können, als Theologe begnügt er sich nicht mit einer natürlichen oder vernünftigen Offenbarung, sondern scheint auf Gottes Wort zu schwören wie nur irgendein angestellter Geistlicher einer protestantischen Kirche. Im ,,Essay" hatte er, eigentlich ganz sprachkritisch, gezeigt, daß eine Offenbarung schon darum nicht möglich wäre, weil der von Gott Inspirierte mit den alten Mitteln der Sprache etwas Neues, nie noch Gehörtes gar nicht ausdrücken könnte; als Theologe hält er eine übervernünftige Offenbarung für möglich und für nützlich. Die gleichen Widersprüche finden sich, wenn man den Essay und die Reasonableness vergleichen will, auch in Bezug auf den Unsterblichkeitsglauben und den Wunderglauben. Man traut seinen Augen nicht, wenn man vom Essay herkommt und Reasonableness zur Hand nimmt: dort ein Philosoph, [>541] der höher steht als alle bloß religiösen Freidenker, hier fast ein christlicher Schreiber, der sich deutlich gegen den Unglauben der Deisten wendet. Man hüte sich dennoch, den Vorwurf der Heuchelei gegen Locke zu erheben.
Auch in dem theologischen Buche wird angenommen, daß die Vernunft allein zur Not hätte zu den neuen Sittlichkeitsgeboten Jesu kommen können; aber "es ist ein kürzerer und sichererer Weg für die Vorstellungen der Menge, daß einer, der mit sichtbarer Autorität von Gott gesandt ist, als König und Gesetzgeber den Menschen ihre Pflichten nennt"; von der Vernunft allein hätten wir die Wahrheiten der Offenbarung nicht mit solcher Klarheit gehabt.
Die Widersprüche in den Schriften des außerordentlichen Mannes Widersprüche lösen sich vielleicht, wenn man annimmt, daß Locke nur halb bewußt und ziemlich arglos das einemal als ein zeitloser Philosoph, das anderemal als ein Staatsmann seiner Zeit schrieb. Er war ja nicht selbst aus vornehmem Hause, gelangte aber durch seine Verbin-dung mit dem späteren Grafen Shaftesbury, mit dessen Sohne und dessen berühmtem Enkel zu ansehnlichen Stellungen im Staate. Vielleicht werden seine unklaren Vorstel-lungen über Vernunft und Offenbarung so erhellt durch den Satz, den der Politiker schrieb: "Die meisten Menschen können nicht wissen, deshalb müssen sie glauben." Locke hatte sich sofort der Regierung Wilhelm III. angeschlossen und mag in diesem Sinne einen christlichen Glauben gelehrt haben, der ungefähr auf dem Standpunkte der low church die Vereinigung aller Sekten förderte und die trennenden Sätze für gering achtete.
Im Sinne der Regierung veröffentlichte Locke (1689 — 1692) seine drei Briefe über die Toleranz (kurz vor seinem Tode begann er einen vierten); nicht in ihrem Dienste; er war trotz der gerügten Widersprüche ein fester Charakter, schrieb er doch den ersten dieser Briefe in Holland, auf der Flucht vor den Verfolgungen Jacobs II.; und war doch dieser erste Brief zumeist gegen die eben einsetzenden Dragonaden Ludwigs XIV., des Beschützers von Jacob, gerichtet. Locke trat ganz fromm und unschuldig auf. Die Toleranz habe nur Vorzüge und gar keine Gefahren. So kam er, der Verteidiger des christlichen Hauptdogmas, zu der radikalsten Forderung des modernen Unglaubens schon vor mehr als zweihundert Jahren, zu der Forderung einer völligen Trennung von Kirche und Staat. Man beachte für diesen Zeitpunkt den Umstand, daß die mittelalterliche Behauptung einer Unterwerfung des Staates unter die Kirche noch nicht verstummt war, daß aber eben erst Hobbes eine Unterwerfung der Kirche unter den Staat verlangt hatte. Es war der kühne Gedanke Lockes, diesem Streite durch eine saubere Scheidung oder Trennung ein Ende zu machen. [>542]
Diese Forderung ist bis heute eigentlich nur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika erfüllt. Und es besteht ein pragmatischer Zusammenhang zwischen Lockes Forderung und dem gegenwärtigen Zustand in Nordamerika. Locke war noch ein jüngerer Mann, als er durch Vermittlung des späteren Grafen von Shaftesbury den Auftrag erhielt, für Carolina, welcher Staat gewissermaßen eine Privatprovinz englischer Lords wurde, eine Verfassung auszuarbeiten. Diese Verfassung, 1669 bestätigt, verlangt zwar von jedem Bürger, daß er das Dasein Gottes anerkenne und sich zu irgendeiner Vereh-rung Gottes verpflichte, gestattet aber die Gründung einer neuen Kirche oder Sekte, sobald auch nur sieben Personen in irgendeinem Glaubensartikel übereinstimmen. Jeder Bürger muß Mitglied einer solchen Kirche sein und keine Kirche soll eine andere beunruhigen belästigen oder verfolgen. Diese Grundsätze sind in die Praxis der Vereinigten Staaten beinahe ganz übergegangen. Solche Nachwirkung eines deutschen Philosophen ist nie zu verzeichnen; es wäre denn der Philosoph zufällig ein König in Deutschland gewesen, und dann wurde sein Werk von seinen Nachfolgern gewiß wieder abgetragen.
So bleibt die Gesamtpersönlichkeit Lockes trotz aller Widersprüche zwischen seinen philosophischen und seinen kirchlichen Anschauungen achtunggebietend; er war sich schwerlich bewußt, daß die Grundsätze seiner psychologischen Erkenntniskritik mit der Zeit gutmachen würden, was er als staatsmännischer Theologe gesündigt hatte; er stak tief in seiner englischen Gegenwart und vergaß seine Philosophie, so oft er über kirchliche Einrichtungen schrieb; aber die Freiheit seines Wesens verleugnete sich nicht in seinen grundlegenden Untersuchungen über die Erziehung und über die Duldung. Zwischen seinen Schriften kann man mehr Unstimmigkeiten entdecken als in seiner Weltanschauung; es wäre aber Sache einer Monographie, zu zeigen, wie er nicht nur in Büchern verschiedener Absicht (den philosophischen und den theologischen), sondern auch in Niederschriften verschiedener Offenheit (Büchern, Briefen und Tagebüchern) verschieden dachte. Für unseren Zweck mag es genügen, etwas eingehender seine Lehre von Gott und die zeitliche Stellung seiner Lehre von der Toleranz zu besprechen; je rückständiger er den Deisten gegenüber in der Lehre von Gott war, desto mehr ist die kühne Fassung seiner Toleranzlehre zu bewundern.
Für den Theologen Locke scheint mir der Hauptpunkt zu sein, daß er sich etwas von seinem Kinderglauben erhalten hatte und daß er zeitlebens sich gern mit religiösen Fragen beschäftigte. Obgleich nun sein Denken eigentlich kirchlich gerichtet war, ist er zunächst den Rechtgläubigen ein Greuel gewesen, und neuerdings haben sich, seitdem er zu den Klas[>543]sikern der Philosophie gerechnet wurde, katholische und protestantische Gelehrte vergebens bemüht, eine positive Religion in Locke hineinzulegen; der Grund ist einfach der, daß der sprachkritische Psychologe Locke da selbst auf keinem festen Boden stand, daß er mit den Jahren immer entschiedener die psychologische Ana-lyse und den Empirismus auf die Entstehung der Religion anwandte, aber immer wieder in die Metaphysik des Kinderglaubens zurückfiel. Es wird also nicht die Schuld meiner Darstellung sein, wenn keine Entscheidung darüber fällt, ob Locke der Landesreligion positiv oder negativ gegenüberstand.
Das ist nicht einmal für seine Gottesidee klar zu beantworten. Eines der wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand war das: der Mensch besitzt keine angeborenen Ideen. Also kann auch die Gottesidee nicht angeboren sein. Wie schon der ungezogene Skeptiker la Mothe le Vayer beruft sich Locke (auch für die Ungleichheit der moralischen Ideen) auf die Berichte der Reisenden, die überall ungleiche Gottesvorstellungen gefunden haben. Auch unter den Monotheisten,[FN1] ja unter den Menschen desselben Landes gebe es Unterschiede des Gottesbegriffs. Das Kind nehme blindlings die Vorstellungen seiner Eltern und seiner Lehrer an, und zwar mit den Worten oder Namen, bei denen es sich etwas denke. Bei ungebildeten Leuten und bei Kindern herrsche ein ganz lächerlicher Religionsbegriff; viele Gebildete wiederum verschweigen ihren Atheismus aus Furcht vor Strafe oder aus Rücksicht auf ihre Umge-bung. Die Gottesidee sei also nicht angeboren, sondern entstehe wie andere zusammengesetzte Ideen durch Verknüpfung von Begriffen; man verbinde die Begriffe Dasein, Wissen, Macht, Güte, steigere sie alle durch die Idee der Unendlichkeit und komme so zu einer bestmöglichen Vorstellung von Gott, aber ganz gewiß zu keiner richtigen. Nachdem Locke so, genau genommen, die Gottesidee zu einer Erfindung des Menschen gemacht und die Lehre der Deisten, daß der Glaube an Gott zu unserer Natur gehöre, abgelehnt, nachdem er auch das Vertrauen auf die Offenbarung für ungehörig erklärt hat, nachdem er sogar die Bündigkeit des ontologischen Beweises leugnet, will er dennoch das Dasein Gottes wie den klarsten Satz der Geometrie bewiesen haben, trotz des Pochens auf seine Originalität nicht viel anders, als Descartes dies "bewiesen" hat. Der Mensch wisse, daß er existiert; ein Nichts könne unmöglich seine Ursache sein. Also — dieses "also" ist nicht zwingender als in anderen Gottesbeweisen — müsse er von einem ewigen, allmäch [>544]tigen und allwissenden Wesen geschaffen worden sein; von der Allgüte ist an dieser Stelle des Essays (B. IV, Kap. 10, 1—6) nicht die Rede. Zu bemerken ist, daß Locke dieses Wesen gewöhnlich in der Sprache seines Kinderglaubens benennt (Gott, Schöp-fer, die Allmacht, König der Könige), daß er aber im Essay auch mit "Gottheit" und "höchstes Wesen" die Sprache der Naturreligion redet, daß er sogar einmal fast wie Spinoza den Satz bildet: "Ich muß so sein, wie ich bin; Gott und die Natur haben mich so gemacht" (B. III, Kap. 6, 4).
Was nun gar die "Eigenschaften" Gottes betrifft und sein Wirken auf die Welt, so steht Locke beinahe auf dem Boden des Katechismus. Wir haben schon gehört, daß Gott ewig, allmächtig und allwissend ist; auch ist er ein rein geistiges Wesen, also unkörperlich und unsichtbar; auch Güte und Gerechtigkeit wird gelegentlich doch erwähnt. Gottes Einzigkeit wird scholastisch aus seiner Vollkommenheit und seiner Unendlichkeit bewiesen. Und obgleich die Menschenähnlichkeit Gottes durch die reine Geistigkeit und durch die Unkörperlichkeit ausgeschlossen scheinen sollte, wird dem Gotte dennoch ein Wille, will sagen ein menschlicher Wille, beigelegt; denn einen anderen als einen menschlichen Willen kennen wir ja nicht. Es gab in England am Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur deistische Freidenker, sondern selbst Geistliche in Amt und Würden, die sich nicht mehr vermaßen, so genau katechismusgemäß die Eigenschaften Gottes zu kennen. Aber Locke wurde durch diesen strammen Kinderglauben nicht verhindert, die Duldung anderer Bekenntnisse zu verteidigen, ja, wie wir gleich sehen werden, die Toleranz auch auf die Heiden auszudehnen, die z. B. die Einzigkeit Gottes nicht zugaben.
Bevor ich jedoch auf die Toleranzschriften Lockes näher eingehe und meine Darstellung um einige Züge aus der Geschichte der religiösen Duldung in England erweitere, will ich doch Lockes Stellung zum Atheismus mit einigen kurzen Folgerungen aus seiner Ideenkritik abzuschließen suchen. Lockes gegen Descartes gerichtete Behaup-tung, daß es keine angeborenen Ideen gebe, war nämlich nicht nur — wie schon bemerkt — für alle Moralbegriffe bedenklich, sondern auch, bis zu Ende gedacht, für den Got-tesbegriff selbst. Als Sensualist hat er nicht einmal von der Substanzidee eine ausreichende Vorstellung; er weiß zur Not, daß etwas da ist, erfährt aber niemals, was das ist. Nicht anders steht es bestenfalls um die geistige Substanz, als welche Gott definiert wird; können wir uns noch vorstellen, daß er existiert, so wissen wir doch ganz gewiß nichts über seine Eigenschaften auszusagen. Und weder Physik noch Theologie können irgend etwas anfangen mit einem Dinge, das für uns keine Eigenschaften hat. Dazu kommt noch, daß wir nach Locke [>545] weder eine sinnliche (also einzig gewisse), noch eine intuitive, sondern nur eine demonstrative Erkenntnis besitzen, nämlich so, daß wir aus der Gemeinsprache die Eigenschaften geistiger Wesen (wir kennen aber nur die Menschen) entnommen und auf den Gottesbegriff übertragen haben, nicht ohne diese Eigenschaften durch den Begriff der Unendlichkeit über alle Erfahrung hinaus zu steigern. Wir haben demnach mit dem Gottesbegriffe die Welt der Erfahrung, die für den Psychologen Locke die allein erkenntnismögliche Welt ist, mehr als einmal verlas-sen. Der Analytiker der Psychologie, das ist der Locke, der für die Geistesgeschichte allein in Betracht kommt, mußte sich recht tief hinablassen, um in seinen Nebenwerken die Theologie zu betreiben, die auch für ihn keine mögliche Wissenschaft war. Um z. B. seine eigene Toleranzpredigt zu entwerten dadurch, daß er den Atheisten einmal die Duldung verweigern wollte, weil sie bei keinem Gotte einen Eid schwören könnten.
Mit dem Fremdworte Toleranz wird allgemein und einfach die Duldung verstanden, die der Staat in religiöser Hinsicht übt, die Duldung von Andersgläubigen neben den Bekennern der Staatsreligion. Eine Toleranz in diesem technischen Sinne gab es bei den Griechen und Römern nicht, weil es den Dienst eines einzigen Gottes nicht gab und die Duldung (von örtlichen Störungen in Griechenland abgesehen) selbstverständlich war, gar nicht erst ausgesprochen und erkämpft zu werden brauchte; das christliche Mittelalter wiederum kannte die Sache nicht, duldete überhaupt keine Entscheidung des Staates in religiösen Fragen. Die Toleranz wurde zu einem Schlagworte und zu einem Parteiziele erst, als nach der Reformation große Volksgruppen von der alten Kirche abgefallen waren, protestantische Staatskirchen entstanden und die Duldung der Katholiken in protestantischen Ländern, die der Protestanten in katholischen Ländern zu einer Lebensfrage wurde. Heute ist die Toleranz, auf dem Papiere wenigstens, so ziemlich allerorts durchgeführt, und wo in den sogenannten Kulturländern einzelne Konfessionen in staatsbürgerlicher Hinsicht schlechter behandelt werden (hie und da die Katholiken, überall die Juden), da spielen politische und volkswirtschaftliche Rücksichten oder "völkische" Vorurteile eine größere Rolle als religiöse Gegensätze. Noch vor zwei Menschenaltern konnte ein liberalisierender Philosoph (Krug) sagen, die Toleranz hätte keinen moralischen Wert, wenn sie nicht aus Achtung vor der fremden Persönlichkeit hervorginge, sondern nur aus dem Indifferentismus; heute wäre die Toleranz eine vollendete Tatsache, wenn nicht ein Rest von religiöser Heuchelei die Vollendung hinderte; die meisten leitenden Staatsmänner sind, mögen sie auch in feierlichen Stunden fromme Sprüche formen oder nachreden, religiös [>546] indifferent oder gleichgültig, und Indif-ferentismus stand lange im Verdachte des Atheismus.
Für die Zeit um die Mitte des 17. Jahrhunderts, wo besonders in England die Toleranzbewegung mächtig einsetzte (besonders durch die tapferen Bemühungen des großen Cromwell), ist es für jeden einzelnen streitbaren Schriftsteller schwer zu entscheiden, ob ihn schon damals Mangel an einer religiösen Überzeugung oder just die edelste religiöse Überzeugung, ob ihn am Ende nur die politische Notwendigkeit zu der Forderung der Toleranz getrieben hatte. Wir stehen dort mitten im Dreißigjährigen Kriege. In Deutschland wurde um die wechselseitige Duldung des katholischen und des protestantischen Bekenntnisses, die doch schon durch den Religionsfrieden von 1555 gewährleistet worden war, blutig gekämpft, natürlich nicht um diese Duldung allein. In Frankreich hatte das Edikt von Nantes (1598) den Hugenotten nach den vielen Hugenottenkriegen volle Gewissensfreiheit und staatsbürgerliche Rechte gegeben, aber die Regierung, die die Protestanten in Deutschland unterstützte, nahm den französischen Protestanten ein Recht nach dem anderen, begünstigte die Gegenreformation mit allen Mitteln immer rücksichtsloser, bis 1685 das Edikt von Nantes förmlich aufgehoben wurde; den Hugenotten wurde unter Umständen wieder die Todesstrafe angedroht. Es gehört in andere Zusammenhänge, wie dann später von den Enzyklopädisten, besonders erfolgreich von Voltaire, dem Schüler Lockes, Toleranz gepredigt wurde und wie zwei Jahre vor Ausbruch der großen Revolution ein neues Toleranzedikt herauskam, zwei Jahre nach ihrem Ausbruch während des Ringens um ein konstitutionelles Königtum die Hugenotten endlich in alle staatsbürgerlichen Rechte eingesetzt wurden.
Ganz anders war um jene Zeit der Verlauf der Toleranzbewegung in England. Was vor-her in den Niederlanden praktische Wirklichkeit geworden war, eine Verbindung von politischer und religiöser Freiheit, das wurde in England zunächst theoretisch erstrebt, und etwa fünfzig Jahre später, kurz nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, erreicht als der Niederländer Wilhelm von Oranien König von England geworden war. Man knüpft den Sieg der englischen Toleranzidee gewöhnlich an Lockes "Epistola de tolerantia", die allerdings scheinbar Epoche bildet weil sie unmittelbar nach der Aufhebung des Edikts von Nantes geschrieben und unmittelbar nach der Thronbesteigung Wilhelms — in Holland — gedruckt wurde; aber bei einer solchen gar zu vereinfachten Darstel-lung der Entwicklung vergißt man, daß Locke schon 1667, im Jahre seiner Bekanntschaft mit dem Grafen von Shaftesbury, einen liberalen Essay über die Toleranz herausgegeben hatte und daß schon, als Locke noch [>547] ein Kind war, die Flug-schriften mit toleranter Tendenz in großer Anzahl erschienen. Seitdem nämlich in dem Langen Parlament (1640) der Kampf zwischen dem Königtum und der Volksvertretung revolutionäre Formen angenommen hatte.
Eine andere Vereinfachung dieser Geschichtsdarstellung ist aber nicht abzulehnen, die Behauptung, daß der Haß gegen den Katholizismus und die Furcht vor ihm die ganze englische Revolution vom Langen Parlament bis zur Berufung des Protestanten Wilhelm beeinflußt habe; wie ein roter Faden zieht sich Haß und Furcht antikatholisch durch alle politischen und religiösen Kämpfe. Da ist fast keiner unter den Toleranzpredigern, der nicht die Katholiken von der Duldung ausnehmen wollte; eher will man noch die Socinianer ertragen, die den dreieinigen Gott leugnen.
Auf dem Festlande hatten Männer aus der niederen Geistlichkeit das Volk zu der Reformation bekehrt, und erst nachher hatten einige weise und viele schlaue Fürsten sich der Bewegung angeschlossen und sie zur Stärkung ihrer Macht benützt; in England hatte Heinrich VIII., kurz vorher noch ein Gegner Luthers, wegen einer seiner vielen Ehegeschichten mit der römischen Kurie gebrochen und hatte die Gelegenheit benützt, ohne viel Reformation eine von Rom unabhängige englische Kirche zu gründen und sich zu deren oberstem Haupte zu machen. Es war im wesentlichen zunächst ein englischer Staatskatholizismus, der erst unter Heinrichs Nachfolger einige protestantische Zusätze erhielt und zu der anglikanischen Kirche wurde. Die folgenden Regierungen stützten ihren Absolutismus abwechselnd auf die katholische und auf die anglikanische Kirche, aber nachdem einmal durch den Abfall von Rom und durch die Neuerungen des Erzbischofs Cranmer die Einheit der Kirche umgestoßen und die Untersuchung der Dogmen in Fluß geraten war, siegte das Prinzip des Protestantismus, den Heinrich VIII. gar nicht gewollt hatte, im Volke selbst, und gegenüber der Staatskirche entwickelte sich immer freier und mächtiger ein Sektenwesen, das sich nur durch gleichzeitigen Kampf gegen den Absolutismus behaupten konnte; die revolutionäre Bewegung richtete sich gegen die Übermacht des Königs in Staat und Kirche zugleich. Die demokratischen Politiker und die Anhänger der unabhängigen Kirchen förderten einander gegenseitig.
Man könnte feststellen, daß bei den Königen Karl I. und Karl II. von einer Absicht der Toleranz keine Rede war; sie schienen zwar mitunter über die Duldsamkeit der Independenten noch hinauszugehen, da sie den Katholiken entgegenkamen, aber nur diesen und nur aus politischen, vielleicht gar unter Karl II. aus Geldgründen. Auch die Pres[>548]byterianer waren intolerant; doch die in England mächtigsten Sekten mußten um ihre Anerkennung gegen die Staatskirche zu sehr ringen, um nicht schon aus egoistischen Gründen der Toleranz zuzustimmen, die seit 1640 von sehr vielen Puritanern unter Führung Cromwells als die allein christliche Lehre verteidigt wurde. Vorher war von Toleranz in theologischen Schriften kaum die Rede gewesen; nur etwa der Utopist Thomas Morus und der italienische Begründer eines Völkerrechts, Alberico Gentili, seit 1580 bis zu seinem Tode in England, sprachen von Duldung; es ist beachtenswert, daß die Verfassungen selbständiger englischer Kolonien, wo utopistische und völkerrechtliche Ideale sich versuchen konnten, die Toleranz zuerst gesetzlich einführten; auch Locke arbeitete ja so einen Verfassungsentwurf aus. Aber in der theologischen Schriftstellerei, mögen die Männer nun Geistliche oder Laien gewesen sein, setzten die Flugschriften für Toleranz erst nach der Eröffnung des Langen Parlaments ein. Der puritanische Geistliche Burton verlangt 1641 freie Gemeinden um eine Staatskirche herum, und sein Buch führt den Kampftitel: The Protestation protested; im gleichen Jahre schon geht der puritanische Lord Brook noch weiter: gegen vernünftige Zweifel sei keine Gewalt zu brauchen, jedermann dürfe nach seinem eigenen Gewissen leben, und auch ungebildete Leute sollen predigen dürfen. John Goodwin, wieder ein puritanischer Prediger, will die Andersgläubigen nur bestraft wissen, wenn sie den bürgerlichen Frieden stören, auch habe sich die Kirche auf Ermahnung und höchstens Exkommunikation zu beschränken; wobei zu bemerken ist, daß Exkommunikation bei diesen und ähnlichen Vorschlägen dem Ausgewiesenen einen Schaden irgendwelcher Art nicht zufügen, sondern nur der ganz berechtigten Forderung genügen sollte: wer den Glauben einer kirchlichen Gemeinschaft nicht teilt, hat sie zu verlassen. Roger Williams, der Begründer der (früher erwähnten) schon ganz individualisierenden Sekte der "Sucher" [FN2], will (schon 1644) eine völlige Trennung von Staat und Kirche und Freiheit der Beteiligung am Gottesdienste. John Milton, der Dichter, der nachher die Hinrichtung des Königs aus naturrechtlichen Gründen verteidigte und überhaupt tapfer und kräftig für die puritanische Republik Cromwells eintrat, veröffentlichte bereits 1644 seine "Areopagitica", worin politische Preßfreiheit (wer ein Buch vernichte, bedrohe die Vernunft, denn vielleicht werde eine mit diesem Buche vernichtete Wahrheit nicht zum zweiten Male gefunden werden), aber auch unbedingte religiöse [>549] Freiheit, abgesehen vom Papsttum, gefordert werden; die angeblichen Sekten seien als Zeichen von Gesundheit willkommen zu heißen; schon zwei Jahre früher hatte Milton dem Staate jeden Eingriff in das innere Leben des Bürgers und der Kirche, jede Benachteiligung von Leib und Leben aus naturrechtlichen Gründen untersagt. Wie später unter Wilhelm III. so wurde auch unter Cromwell die Toleranzidee zur herrschenden Staatsräson, so sehr, daß auch die Staatskirche sich dem neuen Geiste nicht verschließen konnte. Der Anglikaner Taylor wünschte keine Einförmigkeit im Gottesdienst, wollte vielmehr (1647) in die Staatskirche alle Sekten aufnehmen oder doch allen Freiheit gewähren, die auf dem Boden des apostolischen Glaubensbekenntnisses standen, was nachher, unter dem Namen "comprehension" begriffen, wohl auch auf die Presbyterianer beschränkt wurde; selbst ein Vizekanzler der konservativen Universität Oxford, John Owen, zuerst Presbyterianer, dann freilich Independent, bewies (1649) die Berechtigung der Toleranz aus der Bibel und lehrte, der Staat hätte seine Kirche zu unterhalten, andere Kirchen zu dulden und sich um die Religion nicht zu bekümmern, solange keine Gefahr für die öf-fentliche Ordnung bestünde. Man erinnere sich, daß das Losungswort der freiesten englischen Sekten — offen oder heimlich — schon lautete: Religion ohne Priester.
Locke war ein Knabe von acht Jahren, als die politische und kirchliche Freiheitsbewegung sich zu den Stürmen des Langen Parlaments vereinigte; zwei Jahre nach der Hinrichtung des Königs erst bezog er die Universität Oxford; und als er sein Hauptwerk herausgab, die Untersuchung über den menschlichen Verstand, gab es in England seit einem Jahre politische Freiheit wie heute und ein viel ehrlicheres Streben nach religiöser Toleranz. Locke war im Puritanismus erzogen worden, dem sein Vater persönliche Opfer gebracht hatte. In Oxford stand er unter dem Einflusse eines Anglikaners, aber die Staatskirche war damals selbst gemäßigt und tolerant. In die Ungnade seines Gönners verwickelt, des ersten Grafen von Shaftesbury, geht Locke wie ein Verbannter nach den Niederlanden. Vorher schon hat er auf Reisen die katholische, die lutherische und die calvinistische Kirche genau kennen gelernt und einige Abhandlungen Nicoles, die von Port Royal herkommen, sehr frei (mit Zusätzen gegen die römische Kirche) ins Englische übersetzt. Als Sekretär im Ministerium Shaftesbury hat er die Personalangelegenheiten der anglikanischen Geistlichen unter seiner Obhut gehabt. Zu seinen Freunden zählte er duldsame Staatskirchler, wie Boyle, versöhnliche Presbyterianer, wie Baxter, Latitudinarier und Unitarier. Er nahm an religiösen Fragen bis in sein Alter einen starken Anteil, ernsthaft. [>550]
In Holland entwickelt er sich zu dem Psychologen des Empirismus, Holland den wir nicht hoch genug schätzen können. Aber in Holland erweitert er auch die Kenntnis ketzerischer Sekten; er wird durch Limborch und Leclerc mit den Remonstranten bekannt, die ihn beeinflussen, studiert die Lehren und die Schicksale der Socinianer und der Mennoniten und lebt zuletzt im Hause eines englischen Quäkers. Niemals kreuzen sich meines Wissens seine Wege mit denen von Spinoza oder Bayle; er wird kein Bibelkritiker wie diese beiden, er formt keine Weltanschauung ohne Gott, wie es Spinoza tat, er stürmt nicht gegen die kirchlichen Autoritäten an wie Bayle, aber er erlebt es in den Niederlanden, daß ein Staatswesen unter dem Zeichen der religiösen Freiheit blühen könne. Die Toleranz, die in England unter Cromwell und besonders schön von dem Pu-ritaner Cromwell selbst erstrebt worden war, ist in den Niederlanden eine Wirklichkeit, wird also für Locke, den Politiker, eine Möglichkeit und bald eine Notwendigkeit. Wir müssen immer eingedenk sein, daß die führenden englischen Deisten und Philosophen Weltleute waren und Politiker, während in Frankreich selbst die Enzyklopädisten nur indirekt die Gesetzgebung beeinflußten und in Deutschland der Philosoph bestenfalls nach seinem Tode und meist nur in den Schulen wirksam wurde. Wir müssen darum noch einen Blick auf die englische Kirchenpolitik werfen, wollen wir das Eingreifen Lockes richtig verstehen.
Der literarischen Bewegung zugunsten der Toleranz entsprach unter Karl I. mancher Antrag der königlich gesinnten Geistlichkeit; aber das Parlament war hochkirchlich, und von London wie von anderen Städten des Ostens kamen Petitionen gegen die Toleranz; das Ende war, daß Ketzerei wieder mit der Todesstrafe bedroht wurde. Unter Cromwell siegte allerdings die Toleranzidee, wobei der Lord Protektor sehr vorsichtig vorgehen und sich mehr auf sein duldsames Heer als auf das unduldsame Parlament stützen mußte; die comprehension wurde durchgeführt; Geistliche fast jedes Sektenbekenntnisses konnten auf Anstellung rechnen, und selbst gegen Katholiken, Socinianer und Juden wurden die strengen Gesetze milde gehandhabt. Aber die Toleranz fiel wieder mit ihrem mächtigen Beschützer; wohl wurde sie immer noch von den Schriftstellern verteidigt — am lebhaftesten von Milton, der (1659) die Trennung von Staat und Kirche forderte — aber das Volk war unduldsam geblieben und war ganz damit zufrieden, als die Restauration der Stuarts nach kurzem Zögern mit einer Tyrannei der Staatskirche einsetzte. Wieder gab es einen Bartholomäustag (1662), diesmal einen unblutigen, an dem zwe¬itausend puritanische Geistliche aus ihren Gemeinden vertrieben wurden.
Gerade die verdächtige Rücksicht, die Karl II. den Katholiken entgegen[>551] bringen wollte, vereinigte alle protestantischen Sekten im gemeinsamen Hasse so sehr, daß das Parlament mit allgemeiner Zustimmung durch die Testakte nicht nur die Katholiken, sondern auch die Dissenters von jedem Staatsamte ausschließen konnte. Schon 1666 war sehr heftig gegen die Katholiken vorgegangen worden, denen man den Brand von London zur Last legte; und 1667 hatte Locke gefügig in seinem "Essay concerning Toleration" die Duldung der Dissenters auch aus wirt-schaftlichen Gründen zwar gepredigt, die Katholiken jedoch ausdrücklich ausgenommen, weil sie selbst unduldsam wären und ihr unfehlbarer Papst von jeder Verpflichtung privater und staatsbürgerlicher Art entbinden könnte. So machte Haß und Furcht, die doch nur den Papisten galten, auch gegen die protestantischen Sekten un-gerecht. Und wiederum versuchten es Karl II. und Jacob II. im Dienste von Frankreich und Rom immer wieder, durch geheuchelte Toleranz und Gewissensfreiheit dem Katho-lizismus die Wege nach England zu ebnen. Es war da also bereits wirklich ein Zeichen geistiger Freiheit, wenn einer den Antipapisten nicht folgte, wenn er Toleranz predigte auf die Gefahr hin, sie könnte einmal auch den Katholiken nützen. In diesem Sinne wirkten — wie schon erzählt — in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts milde Geistliche, wie Tillotson und Burnet, Deisten, wie Blount, und endlich Locke in seinem ersten "Briefe über Toleranz". Der — lateinisch abgefaßt — hatte bei den Gleichgesinn-ten zuerst in Holland und Frankreich und endlich auch in England den stärksten Erfolg. Denn gerade mit der Thronbesteigung Wilhelms III. war, um die welthistorische Bedeutung des Ereignisses so festzuhalten, der europäischen Gegenreformation zum ersten Male ein fester Damm entgegengestellt worden, ein viel festerer als der Westfälische Friede, und die Gewissensfreiheit wurde in England, trotz der krausen Formen englischer Gesetzgebung, durchgeführt. Die Gegenreformation hatte überall der katholischen Kirche ungefähr den Machtbereich verschafft, der ihr noch heute zur Verfügung steht; nach einem vollen Jahrhundert furchtbarer Religionskriege war die Gegenreformation auch nach dem Scheinfrieden von 1648 nicht müßig gewesen; in Frankreich wurde das Edikt von Nantes erst zerrissen und dann aufgehoben, und in England bemühten sich al-le katholischen Fürsten, vor allem der französische König, dem Katholizismus zum Siege zu verhelfen. Darum nennen die Engländer die Berufung ihres gut protestantischen Königs Wilhelm ihre "glorreiche" Revolution, darum ist für die Geistesfreiheit Europas das Jahr 1689 fast ebenso bedeutungsvoll wie das Jahr 1789. Locke schrieb also seinen ersten Toleranzbrief unmittelbar nach Toleranzbriefe der Aufhebung des Edikts von Nantes, und die Veröffentlichung erfolgte 1689. Es war nicht das Manifest eines Deisten, aber es war das Manifest[>552] für Gewissensfreiheit. Wir finden in die-sem Briefe viele Gedanken der Freidenker in besserer Ordnung und überzeugender vorgetragen.
Der Staat und seine Obrigkeit habe sich um bürgerliche Angelegenheiten zu küm-mern, nicht um das Heil der Seelen. Diese Sorge sei ihm nicht von Gott übertragen und seine äußere Gewalt könne niemals ein inneres religiöses Bekenntnis bewirken; auch wäre es hart für die Menschen, ihrem Fürsten in Glaubenssachen gehorchen zu müssen, weil doch jeder Fürst eine andere Religion habe und von allen nur Eine richtig sein könne. Auch die Kirche als eine freiwillige Gemeinschaft dürfe keinen Zwang ausüben, müsse sich auf Ermahnung oder höchstens auf Ausschluß der Ungläubigen beschränken. Also sei es unrecht, wen immer für eine religiöse Meinung oder Handlung in weltlicher Hinsicht zu benachteiligen; selbst die Ausschließung dürfe keinen weltlichen Schaden nach sich ziehen. Da die Entscheidung über die Wahrheit der Lehre dem Staate nicht zustehe, könne er diese Entscheidung keiner Behörde übertragen; noch einmal: es bestehe kein Forum, vor welchem ein Privatmann oder eine Kirche verurteilt werden könnte. Der Geistliche habe natürlich nicht mehr Rechte als seine Kirche, habe über die Freiheit und das Gut Andersgläubiger nicht zu erkennen, habe nach dem Vorbilde Christi selbst duldsam zu sein. Wie jedermann seine körperliche Gesundheit nach seinem Bedünken pflegen dürfe, so dürfe er auch für sein Seelenheil sorgen; höchstens habe die Obrigkeit darüber zu befinden, welche Kirchen sie anerkenne und welche nicht. Die Toleranz gelte gegenüber den Glaubenslehren, aber auch gegenüber den Formen des Gottesdienstes. Der Staat habe kein Recht, andere gottesdienstliche Handlungen zu verbieten als solche, die überhaupt nach dem Gesetze verboten sind. So dürfte der Staat Kindesopferung oder Unzucht, wenn eine kirchliche Gemeinschaft sie forderte, verbieten, nicht aber das Schlachten eines Kalbes, wenn das Kalb Eigentum des Opfernden ist. Auch anordnen darf der Staat keine religiöse Handlung; er kann das Waschen der Kinder zur Pflicht machen, nicht aber die Taufe.
Wie diese Bestimmung die Duldung von Mohammedanern und Juden einschließt, so scheint Locke in diesem Briefe auch für die Katholiken einzutreten, da er lehrt, der Bilderdienst gehe (wie z. B. die Sünden des Geizes oder der Faulheit) den Staat nichts an. Ja sogar den Atheismus scheint er dulden zu wollen, da er dem Staate die Befugnis abspricht, spekulative Meinungen vorschreiben oder untersagen zu wollen. Auch die Moral sei nicht Sache des Staates.
Aber wie auch sonst in seiner Theologie, ist Locke in seinem ersten Toleranzbriefe nicht konsequent; er bringt bewußt oder unbewußt dem öffentlichen Geiste seines Landes das Opfer und flickt in sein Manifest der [>553] Toleranz die allgemein gewünschten Unduldsamkeiten ein. Er hat Sätze aufgestellt, die auch den Katholiken und den Atheisten Gewissensfreiheit gewähren würden, aber oft wird er unduldsam, ohne jene Sätze zurückzunehmen. Gegen die Katholiken gerichtet ist die Einschränkung, daß eine Religion nicht geduldet werden dürfe, deren Behauptungen dem Staate gefährlich seien (daß man Ketzern sein Wort nicht zu halten brauche; daß ein König durch die Exkommunikation seine Krone verliere; daß es ein Königtum von Gottes Gnaden gebe; daß die Toleranz nicht zu gestatten sei) oder deren Bekenner einem Ausländer zu gehorchen haben; gegen die Atheisten wird vorgebracht, daß religiöse Toleranz sich nicht auf Religionsfeinde beziehe und daß die Leugnung Gottes — wie gesagt — die Sicherheit aller Eide aufhebe.
Um so freier äußert sich Locke über die kleinen Konventikel, deren Versammlungen den Politikern und den hohen Geistlichen gefährlich schienen. Er will sie erlaubt wissen, weil erst die Unterdrückung zu Unzufriedenheit und wohl auch zu Aufstand führe. Die Unduldsamkeit habe die Religionskriege erzeugt; Minoritätskirchen, die von der Majoritätskirche geschützt werden, haben von einer Revolution nichts zu erhoffen.
Man kann die Unduldsamkeit gegen Katholiken und Atheisten nicht übersehen. Hat man aber diese Nachgiebigkeit des Politikers Locke festgestellt, so darf man anerkennen: Locke hat die Trennung von Staat und Kirche und den Grundsatz, daß Religion Privatsache sei, schon deutlich ausgesprochen; er konnte es, bewußt oder unbewußt, der Zeit überlassen, für die Duldung auch der Atheisten und der Katholiken zu sorgen. Bezeichnend aber ist es, daß in England noch mehr als hundert Jahre nach Lockes Toleranzbriefen das Bekenntnis zum Atheismus zu einer bürgerlichen Ächtung führte (Lord Byron), während in Frankreich die Schüler Lockes lustig in den gattlosen und materialistischen Sensualismus hinübergingen.
So hat Locke, ein Bahnbrecher nur in der erkenntniskritischen
Psychologie, menschlich und persönlich beschränkt in vielen seiner
Lehren über Staat und Kirche, doch am Ende auch als Toleranzprediger
überaus stark für die Geistesbefreiung der Menschheit gewirkt.
Er gehörte, auch wo er fehlte, niemals zu den kleinen Dogmatikern,
immer zu den großen Zweiflern.
Fußnoten Mauthner:
FN1) Das Wort ist nicht so eindeutig, wie wir in
den niederen und höheren Schulen lernen müssen; sicherlich waren
die alten Israeliten mit ihrem Nationalgott keine "Monotheisten".
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FN2) Die "Suchenden", die sich auch die "Wartenden
(der wahren Kirche) nannten, waren doch wohl eine Nebensekte der Independenten;
sie glaubten sehr wenig, doch selbst der fromme Cromwell spielt einmal,
in einem Briefe, mit der Vorstellung, er sei auch nur ein seeker".
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Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Toleranz Religion site:www.sgipt.org. |