Erlanger Poetenfest
2011 - Sonntags-Matinee (Programmtext):
Eindrücke von Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf
Sponsel, Erlangen
Der entmündigte Souverän
Über die Macht der Parteien und die Wut der Bürger
Podiumsdiskussion mit Friedrich Dieckmann (links außen; W), F.C. Delius (2. von links; W), Moderation: Wilfried F. Schoeller (Mitte), Daniela Dahn (2. von rechts; W) und Jens Bisky (rechts; W) aus Sicht des Publikums:
Fotomontage mit Angabe der Quelle
frei verwendbar
Programmtext: "Sonntagsmatinee: Der
entmündigte Souverän. Über die Macht der Parteien und die
Wut der Bürger
Podiumsdiskussion mit Jens Bisky, Daniela Dahn, Friedrich Christian
Delius, Friedrich Dieckmann und anderen, Moderation: Wilfried F. Schoeller
Enttäuschung und Wut paaren sich mit der Einsicht:
Wir Bürger sind nicht mehr gefragt. Europäische Strukturmaßnahmen
oder die Schuldenkrise, technologische Großprojekte oder der Waffenexport
– die politischen Parteien und die Parlamente handeln über unsere
Köpfe hinweg. Warum wird unsere Beteiligung an Entscheidungen nicht
mehr eingefordert, wo wir doch laut Grundgesetz der Souverän sind?
Oder handelt es sich um eine Täuschung und in Wirklichkeit vollzieht
sich keine Entscheidung mehr ohne juristisches Geplänkel im Vorfeld
oder langwierige, lähmende Bürgerproteste? Das Dilemma der Wahrnehmung
politischen Handelns und unserer eigenen Rolle darin könnte nicht
größer sein.
Dahinter stellen sich andere Fragen: nach der Macht der Lobbyisten
zum Beispiel. Oder nach der Veränderung von Politik hin zur Verwaltung
der Sachzwänge, die nur Fachfrauen und Fachmänner erfordert,
aber kein Wahlvolk. Nach dem Mangel an formulierten Alternativen, die unseren
Überdruss entkräften und unser Engagement binden könnten.
Nach der Entmachtung der Parlamente durch eine Eurokratie, die vorschreibt,
welchen Sprit wir nicht mehr tanken und welche Beleuchtungskörper
wir nicht mehr verwenden dürfen, sich selbst jedoch nicht der Kontrolle
von unten stellt.
Mit dem Ende der Ostwest-Spaltung vor zwei Jahrzehnten ist die Welt
größer geworden, aber auch die Notwendigkeit globalen Handelns,
dessen Nachvollzug uns schwerfällt. Sind wir also notwendigerweise
in der prekären Lage, dass die Politik über unsere Zustimmung
hinweggehen muss? Es bleiben zwei Optionen: Resignation oder Rebellion.
Wilfried F. Schoeller
Sonntag, 28. August, 11:00 Uhr, Redoutensaal. Eintritt:
5,– / erm. 3,50 Euro"
Der Redoutensaal war mit rund 500 Gästen wieder voll. Das ist eine gute Nachricht und spricht für das interessierte und kritische Erlanger Publikum und seine Gäste. Das Thema ist brandaktuell und somit sehr treffend gewählt. Weshalb alle fünf - durchaus interessanten und hörenswerten - TeilnehmerInnen an der Matineerunde aus Berlin stammen, wurde nicht erläutert und erschloss sich uns nicht.
Der Moderator stellte zunächst fest, dass Bürger vielfach gar nicht gefragt werden, dass Entscheidungen an ihnen vorbei in irgendwelchen Gremien auf wenig transparente Weise erfolgen. Aber auch Abgeordnete seien vielfach überfordert, wenn ihnen kurzfristig komplizierte Sachverhalte zur Abstimmung vorgelegt werden, so dass der fatale Eindruck entstehe, echte Demokratie, wie sie gedacht sei, finde immer weniger - bis teilweise gar nicht mehr - statt. Das hatte und habe zur Folge, dass zunehmend Unbehagen, PolitikerInnen-Verdrossenheit und Wut über "die da oben" entstand, die es weder richtig können und manchmal anscheinend nicht einmal wollen. Manche zögen sich zurück, de-demokratierten zu Nichtwählern - Delius nannte sie "Feinde der Demokratie", Dieckmann sprach hingegen vom demokratischen Recht auch nicht zu wählen - , andere seien schon immer auf dem "Niveau" von Desinteresse und Unwissen gewesen, massiv unterstützt durch das 1987 geschaffene Privatfernsehen, das der allgemeinen Verdummung Vorschub leiste mit der besonderen Gefahr, dass die Öffentlich-Rechtlichen Medien sich diesem "Niveau" immer mehr anpassen. Überhaupt hätten die Medien ziemlich versagt. Rechtzeitig warnende und kritische Stimmen seien selbst von solchen medialen Institutionen wie dem Spiegel über lange Jahre weggeschoben worden.
Durch den Zusammenbruch des (Pseudo-) Kommunismus habe sich der Raubtierkapitalismus so richtig brutal entfalten können, obwohl auch kritisch von Daniela Dahn bemerkt wurde, dass die Neoliberalisierung und Deregulierung bereits mit Nixon begonnen habe, als das System von Bretton Woods wegen der expansiven (Vietnamkriegs-) Finanzierungsprobleme aufgegeben wurde. Auch Clinton habe bei der Deregulierung der Finanzmärkte mitgewirkt. Deutschland habe sich zu lange mit seinem Wiedervereinigungsthema eingenistet, es komme seiner Führungsrolle in Europa nicht richtig nach (man sei wieder so weit wie 1880).
Das Niveau der Wahlkämpfe wurde am Beispiel des aktuellen in Berlin beklagt, zu wenig bekannte Namen stünden auf den Listen.
Kompetenz, Niveau und Engagement der Eliten wurde kritisiert, was eine engagierte Zuhörerin animierte, sich erregt darüber zu empören, wie wenig Intellektuelle sich zur allgemeinen Krisenlage äußerten. Ein Erlanger Original meinte, das Gehirn Merkels zu kennen und die allgemeine Lösung zu wissen (Revolution), was aber niemand so richtig ansprechen wollte.
Für sein - unseres Erachtens wichtiges - Thema "Politikbeschleunigung" konnte der Moderator die Runde nicht gewinnen. Schade, denn das das Durchpeitschen der "Rettungsgesetze" ist nicht nur eine Entmündigung der BürgerIn, sondern auch des Parlaments, das offensichtlich vielfach als bloßer Abnickverein missbraucht wird und sich als solcher auch missbrauchen zu lassen scheint. Solche Abgeordnete brauchen wir nicht. Der letzte Versuch von Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble wird aber durch die Initiative Lammerts erst einmal gebremst. Die große Gefahr, dass der Kapitalismus nicht unbedingt die Demokratie an seiner Seite brauche, wurde von Daniela Dahn thematisiert, die vor diesen Entwicklungen eindringlich warnte. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die Demokratie und Volksabstimmungen selbst auch Schwächen haben, wie man drastisch an Ungarn, aber auch an Italien sehen könne. Hierzu schweige die EU. Das Beispiel Drittes Reich hätte hier natürlich noch besser gepasst, denn Hitler kam ganz legal an die Macht und das Parlament entmachtete sich damals auch ganz freiwillig.
Leider wurden die ständigen Rechtsbrüche der Regierungen und Institutionen (z.B. EZB) nicht erwähnt, obwohl die Entwicklung inzwischen sogar konservativen CDU-PolitikerInnen viel zu weit geht, wie man z.B. an den aktuellen Widersprüchen und den Kritiken von Bundestagspräsident Lammert, von Bundespräsident Wulff oder von Exministerpräsident Teufel von Baden-Württemberg (Pacta servanda sunt), erkennen kann. Daniela Dahn wies auch auf den wichtigen Monitorbeitrag dieser Woche hin, in dem berichtet wurde, wie in Brüssel Gesetze von LobbyistInnen gemacht werden. Von 260 BeraterInnen zur Bewältigung der Finanzkrise seien allein 200 genau aus dem Bankstersystem, das die Krise herbeigeführt habe. Das alles hat natürlich mit Demokratie, Recht, Transparenz, Vernunft und effektiver Problemlösung nicht mehr das Geringste zu tun. Hier sind wieder einmal die Böcke zuhauf zu Gärtnern gemacht geworden.
Einige wichtige Institutionen, wie die Wissenschaft, insbesondere die Ökonomien seien ihren Aufgaben nicht angemessen nachgekommen. Die Volkswirtschaft sei viel zu sehr von den Betriebswirten bestimmt. Das veranlasste sogar einen aus der Runde, ein Berufsverbot für Betriebswirte zu fordern (lachen, Beifall). Auch die Gewerkschaften hätten sich zu lange zurückgehalten. Es habe sich abgezeichnet, dass es mit dem Wachstum nicht mehr so weitergehe. Man habe Jahrzehnte seine hohen Wachstumsraten weitgehend durch Ausbeutung der dritten Welt erwirtschaftet, nun müsse man sich darauf einstellen, dass ein gewisses Ende des Wachstums und der Schuldenwirtschaft erreicht sei (> hierzu Roman Herzog). Und damit stünden verstärkt Verteilungskämpfe an. Daniela Dahn wies daraufhin, dass in den USA nur 3% fast das gesamte Vermögen angehäuft hätten. Aber der Amerikaner, der zu den 97% gehörte, die wenig oder nichts hätten, fragte sich nicht, warum das so sei, sondern nur, warum er nicht bei den 3% sei (>Wann lernen die USA vernünftiges und verantwortliches Wirtschaften?). Der grundlegende gesamtgesellschaftliche Solidaritätsmangel werde nicht erkannt, aber inzwischen, Gottseidank der Cross-Border-Leasing Irrweg. Hier wurde ein Leipziger zitiert, der spöttisch gemeint haben soll, ob sich die Stadt Leipzig nicht auch neue Bürger leasen könne, die die Leasingprojekte unterstützten.
Am Ende trat die wichtige Frage, die sich durch die
ganze Debatte zog, noch einmal in den Mittelpunkt: was können wir
tun, was müßten wir tun? Aufklärung, Bildung (insbesondere
nach Dahn "ökonomische Alphabetisierung") Öffentlichkeit, Engagement,
Mut, Protest, Ausdauer sind hier - um das kritische Merkelwort konstruktiv
zu verwenden - alternativlos. Aber, der Moderator wies zu Recht zum wiederholten
Male auf die enorme Komplexität der Sachverhalte, Probleme und des
Krisengeschehens hin und damit auf das Paradoxon
(oder gar eine Aporie),
wie können wir zielgerichtet handeln, wo wir - einschließlich
Experten - die Sachverhalte doch noch gar nicht richtig verstehen? Diese
Frage blieb im Raum stehen und könnte vielleicht in einer künftigen
Poetenfestmatinee noch einmal zentral aufgegriffen werden. Denn wir handeln
und müssen handeln, ob wir wollen oder nicht. So wenig, wie wir nicht
nicht-entscheiden können, so wenig können wir nicht nicht-handeln,
denn auch warten oder nichts tun ist - genau betrachtet - ein Handeln.
Daniela Dahn wies hier auch noch auf die große Bedeutung des Internets
als Gegenöffentlichkeit und Gegenmacht zum angepassten und teils von
den Herrschenden vereinnahmten Mainstream-Journalismus hin.
(Faust II, A V, Palast, Mephisto Vers 11187) |
Das Hamburger Abendblatt (4.1.7)
hat die Öffnungszeiten in der deutschen Geschichte dargestellt: "Die
Ladenöffnungszeiten - wie im Bild die längeren Öffnungen
bei Ikea - sind in Deutschland seit gut hundert Jahren gesetzlich geregelt.
Im Kaiserreich durften die Läden durchgehend öffnen und viele
hatten sogar bis 23 Uhr geöffnet. Danach gab es Schlusszeiten, die
die Öffnung auf 5 bis 21 Uhr begrenzten. Allerdings gab es Ausnahmen,
und auf dem Land war die Kontrolle des Gesetzes nur unterentwickelt. Die
Regulierung wurde während der NS-Zeit beibehalten. Nach dem Krieg
herrschte zunächst eine uneinheitliche Regelung, im Süden schlossen
die Läden später als im Norden. Für die Verbraucher war
dieser Wirrwarr unpraktisch, sodass das Ladenschlussgesetz 1956 auf die
Planbarkeit von Einkäufen abzielte. Liberalisiert wurde es dann noch
einmal 1989 und 1996."
Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org |
noch nicht korrigiert: irs