Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=25.02.2014 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 11.03.14
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
    Mail: sekretariat@sgipt.org_ Zitierung & Copyright


    Anfang_ Kriminalitätstheorien_ Überblick_ Rel. Aktuelles_ Rel. Beständiges _  Titelblatt_ Konzeption_ Archiv_ Region_ Service_iec-verlag _ _Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Forensische Psychologie, Kriminologie, Recht und Strafe, Bereich ..., und hier speziell zum Thema:

    Kriminalitätstheorien
    Integrative Theorie kriminellen Verhaltens

    von Rudolf Sponsel, Erlangen
    _

    Übersicht
    Einführung.
    Kritische Sichtweise.
       Beispiel Homosexualität als soziokulturelles Kriminalitätsprodukt.
    Integrative Kriminalitätstheorie.
       Die sieben Voraussetzungen für konformes (nicht-kriminellen) Verhaltens.
    Belege zu den verschiedenen Auffassungen der Entstehung kriminellen Verhaltens:
       Haferkamps Kriminalität ist normal.
       Markowitschs Rückfall in die Psychobiologie "Kriminalität als Krankheit".
       Rasch über "Die psychiatrische Perspektive".
       Exkurs: Verfügt die forensische Psychiatrie über eine Kriminalitätstheorie? 
           Die Übersichtsarbeit von Hermann (2009).
           Die Anschlussarbeit von Kröber (2009).
           Nedopils individuelles Delinquenzgenese Konzept (2005).
       Toman Der psychoanalytische Ansatz zur Delinquenzerklärung und Therapie.
       Werbiks handlungstheoretische Präferenzen für kriminelle Handlungen.
    Literatur:
      Allgemeine Kriminologische Literatur.
         Kriminalpsychologie.
         Moral, Ethik und normative Entwicklung.
         Abwehr- und Neutralisationsmechanismen.
         Kriminalsoziologie.
         Kriminalpsychopathologie.
         Straftäterbehandlung.
    Links.
    Glossar, Anmerkungen, Endnoten.
       Stichwortübersicht: Eigener wissenschaftlicher Standort * 
       Birnbaums Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde, 
       Vergleich 1. und 2. Auflage, Die psychopathischen Verbrecher * 
       Pönalpsychopathologie * Gene des Bösen * 
       Krafft-Ebing zur Homosexualität * Rassenhygiene * 
       Sprache der Rassenhygieniker, Psycho- und Kriminalbiologen und Psychiater * 
       Zusammenfassungen, Abstracts: 
       Motivationsforderung gehört zur Zwangstherapie und ist eine eigene Methodik * 
       Zwillingsstudie als Methode Erblichkeit zu begründen * 
       Hoche zur Bedeutung der Erblichkeit in Erblichkeit und Entartung (1901) * 

    Querverweise * Zitierung * Änderungen

    Einführung
    Die meisten Kriminalitätstheorien sind nicht integrativ, sondern gehen von bestimmten, zwar meist richtigen, aber doch einseitigen Faktoren oder Komponenten aus. Das mag verwundern, weil Kriminologie ja eine interdisziplinäre Fachrichtung ist. Von einer integrativen Kriminalitätstheorie mag man daher zu Recht erwarten, dass sie die meisten bekannten und begründeten Faktoren und Komponenten einbezieht.
        Da es schon viele informative Netzseiten zur Kriminologie gibt, beschränkt sich diese Seite auf die praktische Anwendung in forensisch-psycho-pathologischen Sachverständigen-Gutachten, d.h. auf die Rekonstruktion oder die individuelle Delinquenzgenese (Mindestanforderungen für Prognosegutachten, Kriterium II. 3.2) kriminellen Verhaltens.

    Kritische Sichtweise
    Kriminalität ist ein menschliches Konstrukt und ein soziokulturelles Produkt. Die Natur kennt keine Kriminalität, oder, die belebte Natur ist von Natur aus "kriminell", weil das Leben der einen den Tod der anderen bedeutet. So lebt der Mensch auf Kosten der Tiere und Pflanzen. Aber so sehen das die wenigsten. Und wenn, neutralisiert  man es mit den Naturgesetzen oder der göttlichen Weltordnung.

       
      Beispiel Homosexualität Krafft-Ebing betrachtete 1898 die Homosexualität als angeborene neuropsychopathische Störung, also als eine erbliche Nervenkrankheit. Sie war bis zur Reform des § 175 StGB bis 1969 unter Strafe gestellt. Bis 1990, also noch im ICD-9, wurde die Homosexualität als Krankheit gewertet. Ab dem ICD-10, also ab 1990, verringerten sich die weltweiten "Kranken" schlagartig um viele Millionen, nämlich um alle Homosexuellen, die nunmehr nicht mehr als psychisch Kranke angesehen wurden. So schnell und einfach kann Heilung gehen ;-) 
        Tatsächlich ist Kriminalität Definitionssache. Sie kommt mit der Einrichtung von Normen in die menschliche Welt. All das, was das Recht im "Normalfall" als kriminell klassifiziert, ist Geheimdiensten, Verfassungsschützern, der Polizei oder dem Militär nicht nur bedingt erlaubt, sondern in bestimmten Fällen gilt es sogar als Pflicht oder als besonders ehrwürdig (töten im Krieg; das Töten von Feinden wird als eine gute Sache angesehen, die Orden verdient und meist durch die etablierten "moralischen" Instanzen, die Staatskirchen, gerechtfertigt und unterstützt wird). Sehr ausgeprägt zeigt sich dies auch in den Religionen, insbesondere wenn sie fundamentalistischen Strebungen nachgeben, extrem derzeit bei islamistischen Gruppierungen. Nun, im Namen Gottes wird seit Jahrtausenden gemordet, geplündert, gefoltert, vergewaltigt, ausgebeutet u.a.m. Mächte verfahren im allgemeinen nach dem Machiavelliprinzip: Recht ist, was der Mächtige, der sein Verständnis durchsetzen kann, als solches definiert. Und für die Mächtigen gilt meist: der Zweck heiligt die Mittel. Und tatsächlich ist natürlich richtig: das Recht ist nur so stark, wie die Faust es durchzusetzen vermag.

    Integrative Kriminalitätstheorie
    Kriminelles Verhalten ist psychologisch zunächst einmal individuelles Verhalten. Zum kriminellen Verhalten wird es per definitionem erst durch ein Rechtssystem, aus dem sich rechtskonformes (nicht kriminelles) oder eben kriminelles (nicht rechtskonformes) Verhalten ergibt.

    Die sieben Voraussetzungen für konformes (nicht-kriminelles) Verhalten:

    1. Erste Voraussetzung für konformes bzw. kriminelles Verhalten ist also das Vorliegen von Rechtsnormen.
    2. Zweite Voraussetzung ist die Kenntnis dieser und das Wissen um diese Normen.
    3. Dritte Voraussetzung ist innere Akzeptanz dieser Normen, sie also für gut und richtig zu bewerten.
    4. Vierte Voraussetzung ist die Motivation, die Normen zu befolgen.
    5. Fünfte Voraussetzung ist, dass die Fähigkeit zur Lenkung (steuern, regeln) ausgebildet ist, diese Normen zu befolgen. Hier ist der Aspekt des grundsätzlichen Könnens, der grundsätzlichen Fähigkeit angesprochen.
    6. Sechste Voraussetzung ist, dass Befinden und Verfassung die Anwendung der Lenkung (steuern, regeln) erlaubt. Nicht immer kann der Mensch sich lenken, wie er gerade will. Sein Bewusstsein kann getrübt oder seine kognitive Verarbeitung kann gestört sein.
    7. Siebte Voraussetzung ist, dass die Situation die individuelle und freie Lenkung auch zulässt und mit der normativen Lenkung verträglich ist.


        Alle diese Voraussetzungen erfordern gewöhnlich eine differenzierte Betrachtung, da die jeweiligen Sachverhalte unterschiedlich klar,  ausgeprägt, kompliziert oder komplex sein und auch von Situationsbedingungen (Gelegenheit und Risikoabwägung) abhängen können.
        Damit man eine Norm befolgen kann, muss sie natürlich existieren und man muss sie zwar nicht im Wortlaut, aber im Bedeutungskern kennen und erfassen.
        Die innere Akzeptanz kann nur sehr oberflächlich allgemeiner Natur sein, wenn man z.B. die Normen bejaht, nicht zu stehlen, zu betrügen oder sich an geschlossene Verträge zu halten. Das muss aber jemand nicht allgemein für sich persönlich übernehmen, sondern er kann es von Bedingungen oder Voraussetzungen abhängig machen bis hin zu seiner augenblicklichen Lust und Laune. Ob eine wirkliche allgemeine Akzeptanz einer Norm vorliegt, entscheidet letztlich die persönliche Lebenspraxis, nämlich ob die Norm im Lebensalltag umgesetzt, gelebt wird.
        Aus der mehr oder minder allgemein und persönlich verinnerlichten Akzeptanz folgt nicht zwingend die entsprechende Motivation. Auch ohne innere Akzeptanz einer Norm, kann eine Motivation erzeugt werden oder bestehen, die Norm einzuhalten, nämlich aus Angst vor dem Erwischtwerden und den damit zusammenhängenden negativen Folgen. Die meisten Menschen dürften sich weniger aus Überzeugung und echter innerer Akzeptanz an die Normen halten, sondern aus Angst vor den Folgen, wenn man erwischt wird. Hierzu zählen auch der Mangel an für günstig befundenen Gelegenheiten. Das ist der Sinn des Spruches: Gelegenheit macht Diebe.
        Die nächsten zwei Voraussetzungen betreffen die Fähigkeit zur Lenkung (Steuerung, Regelung, Selbstkontrolle), die bei impulsiven oder enthemmten Persönlichkeiten eingeschränkt ist. Unter Drogen- oder Gifteinflüssen, aber auch bei psychischen Störungen kann diese Selbstlenkungsfähigkeit erheblich eingeschränkt oder sogar - vorübergehend - aufgehoben sein (§ 20, 21 StGB). Dazu gehören auch situationsbedingte Affektausbrüche. Aber auch der menschliche Normalbereich kennt das Phänomen, was sich z.B. in dem Sprichwort äußert: Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach.
        Nicht vergessen sollte man, die jeweilige Situation zu berücksichtigen. Es gibt normative Zwickmühlen und außergewöhnliche Sondersituationen. Greife ich ein, wenn jemand schikaniert oder malträtiert wird? Das hat der eine oder andere zivilcouragierte Zeitgenosse schon mit seinem Leben bezahlt. Brauche ich dringend Geld, um einem Nahestehenden eine für sein Überleben medizinisch notwendige Leistung zu bezahlen, kann selbst ein sonst rechtstreuer Mensch in schwere Gewissenskonflikte geraten. So hat der Fall Kohlhaas  gezeigt, wie aus einem lauteren Charakter und ehrbaren Bürger unter dem Eindruck von fortgesetzter und gesteigerter Unrechtserfahrung  sich reaktiv ein rasender Soziopath entwickeln kann.

        Mit diesen Voraussetzungsüberlegungen ist nun eine systematische Grundlage für Delinquenzgenese und Delinquenzanamnese angelegt.



    Belege zu den verschiedenen Auffassungen der Entstehung kriminellen Verhaltens:

    Haferkamps Kriminalität ist normal

      "Man sagt heute, die Gesellschaft muß vor der Kriminalität geschützt werden. Man unterstellt, Kriminalität sei etwas wie eine Aggression, getragen von Wesen, die, außerhalb der Gesellschaft stehend, persönlichen, ungezügelten Leidenschaften nachgehen, und denen das Gesellschaftsleben mit seiner Ruhe, Ordnung und Ausgeglichenheit fremd ist. Die Gesellschaft ist so konstruiert, daß sie eigentlich nur gesetzestreue Bürger produziert. Mit der Kriminalität hat sie nichts zu tun, allenfalls mit der Wiedereingliederung der Kriminellen auf die eine oder andere Weise, bleibt die Gesellschaft nur wie sie ist. Kriminalität ist weder für die Gesellschaft noch für ihre einzelnen Mitglieder normal, normal ist nur die Gesetzestreue.
          An dieser Fiktion wird festgehalten, obwohl es schon für Emile Durkheim keine Erscheinung gab, die unwiderleglicher als die Kriminalität alle Symptome der Normalität aufwies, da sie mit den Gesamtbedingungen eines jeden Gesellschaftslebens auf das engste verknüpft ist. Das war immerhin schon 1895 [FN1].
          1938 gelang es Robert K. Merton, die gesellschaftliche Struktur zu entdecken, die auf einige Leute in der Gesellschaft einen unzweideutigen Druck ausübt, kriminell statt gesetzestreu zu handeln. Er fand, diese Leute handeln in ihrer Situation völlig normal [FN2]. Auch die „neue" Kriminalsoziologie Fritz Sacks findet 1968, daß jemand, der in bestimmten gesellschaftlichen Situationen lebt, damit rechnen muß, daß sein Verhalten eine große Wahrscheinlichkeit in sich trägt, als kriminell bezeichnet zu werden [FN3].
      So gibt es in der Kriminalsoziologie keinen Streit mehr darüber: Kriminalität ist für diese Personen normal, läßt ihnen ihre Soziallage doch kaum einen Ausweg. Kriminalität ist dann auch für die Gesellschaft normal, produziert sie doch selbst die „Kriminellen", die sie so heftig bekämpft.
          Es ist unsere Absicht, in Thesen diese Argumentation nachzuzeichnen und fortzuführen und Ansatzpunkte ihrer Vermittlung mit dem Alltagswissen zu finden, um eine Zerstörung der Hypothese von der persönlichen Verantwortung des „Kriminellen" zu fördern. Denn dieses Wissen ist für die „Kriminalität" in besonderer Weise relevant. Vor ihm legitimieren sich erst die Strafen, die einzelne treffen, und der Verzicht auf eine Gesellschaftspolitik, die die strukturellen Gründe der „Kriminalität" abzuschaffen versucht."
          Quelle: Vorwort S. V aus: Haferkamp, Hans (1972) Kriminalität ist normal. Stuttgart: Enke.


    Markowitschs Rückfall in die Psychobiologie "Kriminalität als Krankheit"

      "Zusammenfassung
      Genausstattung und Umwelteinflüsse determinieren die Persönlichkeit. Beide Variablen sind nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen; deswegen stellt delinquentes Verhalten die Summe von genetischen und Umweltausprägungen dar, die bis zur Gegenwart auf das Individuum einwirkten. Kriminelles Verhalten ist von der gesellschaftlich vorgegebenen Norm abweichendes, das entstanden ist durch Hirnveränderungen, die endogen oder durch die Umwelt hervorgerufen wurden. Damit existieren auch nur graduelle Unterschiede zwischen forensisch und nicht-forensisch Straffälligen. Darüber hinaus wird betont, dass bei einer in ihrem Wertesystem labilen oder durch starke externe Einflüsse beherrschten Persönlichkeit leicht aus normentsprechendem normabweichendes Verhalten werden kann."
          Quelle: Markowitsch, Hans J. (2008) In (167-179): Saimeh, Nahlah (2008, Hrsg.)


    Rasch über "Die psychiatrische Perspektive"

      "Der psychiatrische Ansatz wurde in der Kriminologie aus der Beschäftigung dieses Fachs mit der Begutachtung des Täters im Strafverfahren entwickelt. Es galt, kranke Täter zu erkennen und als Nichtschuldfähige von der Bestrafung auszuschließen. Mit der Aufgabe, die »nur« kranken Abweichler von den bösen zu trennen, hatte die Psychiatrie eine eminent politische Funktion übernommen, über die von Seiten der traditionellen forensischen Psychiatrie kaum reflektiert worden ist. Am deutlichsten wird diese Funktion im Umgang mit den sogenannten Psychopathen (Moser 1971). Personen, die unter psychischen Erkrankungen im engeren Sinne leiden, d.h. unter einer Schizophrenie oder einer Zyklothymie, stellen innerhalb der einzelnen Tätergruppen stets nur einen minimalen Anteil, der bei der Entstehung des Gesamtphänomens Kriminalität nicht zu Buche schlägt. Die Gutachterfunktion der Psychiatrie entwickelte sich zu einem Abwehrsystem gegenüber Rechtsbrechern, bei denen eine psychische Normabweichung unverkennbar war, ohne dass ihnen das Attribut »Krankheit« zuerkannt wurde. Dass es sich hierbei nicht um eine wertneutrale Diagnostik handelt, wird daran deutlich, dass die Psychiatrie schließlich bereit war, das diagnostische Konzept der »Soziopathie« und schließlich - quasi euphemisierend - der dissozialen Persönlichkeitsstörung zu entwickeln, d. h., es wurde eine spezielle psychische Abnormität beschrieben, die sich vornehmlich in sozialer Unangepasstheit manifestiert.
          In der traditionellen deutschen Psychiatrie hat der Begriff der Anlage eine grundlegende Bedeutung. Nicht nur Geisteskrankheiten im engeren Sinne, d.h. Psychosen, wurden auf eine Anlage zurückgeführt, sondern auch Persönlichkeitsabnormitäten im Sinne der Psychopathie oder Soziopathie. Insofern lassen sich verschiedene der von der Psychiatrie benutzten Erklärungsmuster für kriminelles Verhalten auch beim biologisch-anthropologischen Ansatz ansiedeln. Die Verlagerung der Ursa-[>147]chen in den körperlichen Bereich spielt auch eine Rolle bei der Diagnostik von frühkindlichen Hirnschäden, die als wirkliche Ausgangsbasis psychopathologischer Persönlichkeitsentwicklungen gelten (z.B. Göllnitz 1954; kritisch M. H. Schmidt 1992). Größere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren das hyperkinetische Syndrom bzw. ADHD (attention deficit hyperactivity disorder) bei Straftätern auf sich gezogen: Neben dem Problem restrospektiver Diagnostik im Erwachsenenalter haben sich jedoch aus den bisherigen Untersuchungen außer dem bekannten Befund, dass aus einem Teil der hyperaktiven Kinder im Erwachsenenalter dissoziale Persönlichkeiten werden, keine erfolgversprechenden, insbesondere Rückfallkriminalität reduzierenden therapeutischen Ansätze ergeben (Ziegler et al. 2003).
          Für den psychiatrischen Laien, der innerhalb der Kriminologie möglichst schlüssige Erklärungen für das in Frage stehende Verhalten erwartet, ergibt sich ein verwirrendes Bild. Innerhalb des Bezugssystems einer anderen Theorie werden Verhaltensauffälligkeiten, die eben noch mit frühkindlichen Hirnschäden in Verbindung gebracht wurden, psychodynamisch interpretiert. Die von den Psycho-Wissenschaftlern angebotenen Erklärungen unterscheiden sich nicht nur in Nuancen, sondern schließen sich gegenseitig aus. Es fällt schwer, die Plausibilität der einen Interpretation gegen die andere abzuwägen: Alles scheint möglich. Ausgehend von der Bemühung der ICD-10-Klassifikation um weitgehende Theorieungebundenheit üben Gutachter in den letzten Jahren gern ätiologische Zurückhaltung oder bemühen sich - modernen Störungsgenesemodellen entsprechend - um eine Integration im Sinne eines »bio-psycho-sozialen« Modells.
          Der andere Bereich, durch den die Psychiatrie mit der Justiz verbunden ist, liegt in der der Psychiatrie durch Gesetz zugewiesenen Behandlung und Verwahrung psychisch kranker Rechtsbrecher. Innerhalb des deutschen Rechtsraums hat die Psychiatrie eine eher ablehnende Stellung gegenüber dieser Aufgabe an den Tag gelegt. Sobald eine psychisch gestörte Persönlichkeit auch das Attribut »kriminell« erhalten hatte, fühlten sich die Psychiater nicht mehr zuständig und waren geneigt, den betreffenden Personenkreis in die Betreuung der Justiz zu schicken."
          Quelle S. 146f: Rasch, Wilfried & Konrad, Norbert (2004). Forensische Psychiatrie. 3. e. A. Stuttgart: Kohlhammer.
    _
    Exkurs: Verfügen die forensische Psychiatrie und der Maßregelvollzug über eine Kriminalitätstheorie?
     
      Die Übersichtsarbeit von Hermann (2009)
      Auskunft zur Exkursfrage sollte die Arbeit von Hermann "Erklärungsmodelle von Delinquenz" im  Bd. 4 (2009) des Handbuchs für Forensische Psychiatrie geben. Mit anderen Worten: können die forensisch-psychiatrischen Gutachter und die Maßregelvollzugsbehandler auf ein forensisch-psychiatrisches kriminologisches Fundament zurückgreifen?
        "1.8 Erklärungsmodelle von Delinquenz   286
        D. Hermann
        1.8.1 Einleitung   286
        1.8.2 Die paradigmatische Verortung von Kriminalitätstheorien   287
        1.8.3 Kriminalitätstheorien   288
        1.8.3.1 Die Klassiker   288
        1.8.3.1.1 Utilitaristische Kriminalitätstheorien   288
        1.8.3.1.2 Biologische Kriminalitätstheorien   289
        1.8.3.1.3 Anomietheorien   291
        1.8.3.1.4 Subkulturtheorien   293
        1.8.3.1.5 Lerntheorien   294
        1.8.3.1.6 Sozialisationstheorien   295
        1.8.3.1.7 Labelingtheorien und ethnomethodologischer Ansatz   297
        1.8.3.1.8 Ökologische Kriminalitätstheorien   300
        1.8.3.2 Neuere Ansätze   303
        1.8.3.2.1 Kontrolltheorien  303
        1.8.3.2.2 Konstruktivistische Kriminalitätstheorie von Hess und Scheerer   307
        1.8.3.2.3 Feministische Kriminalitätstheorien   309
        1.8.3.2.4 Haferkamps handlungstheoretischer Ansatz   311
        1.8.3.2.5 Voluntaristische Kriminalitätstheorie  312
        Literatur   315"


      Wie man dem Inhaltsverzeichnis entnehmen kann, fehlt eine psychiatrische Kriminalitätstheorie. Sie scheint also für die Begutachtung und Behandlung entbehrlich. Und das nicht in irgendeinem Werk sondern im Hauptwerk gegenwärtiger forensischer Psychiatrie. Inhaltlich fällt auf, dass das, worum es vor Gericht immer und ausschließlich geht, die Delinquenz des Einzelfalles, keine Rolle spielt. Kriminalitätsforschung wird hier anscheinend völlig praxisfern rein nomologisch (psychonomisch) verstanden. Es werden keine Einzelfälle, sondern statistische Zusammenhänge aus Stichproben und Gruppen erfasst, die bestenfalls Korrelationen oder Risikozahlen liefern, die ihrerseits wieder mehr als erklärungsbedürftig sind - und als gruppenstatistische Werte auf den Einzelfall gar nicht übertragen werden dürfen.
          [Interne offene Frage: warum zitiert Hermann die Kriminalpsychopathologie von Gschwind & Rautenberg 1987  nicht?]

      Die unmittelbar an Hermann anschließende Arbeit von Kröber (2009)
      Auf die wichtige und zentrale Frage zum Einzelfall geht die nachfolgende Arbeit Kröbers ein:
       

        "1.9 Zusammenhänge zwischen psychischer Störung und Delinquenz   321
        H.-L. Kröber
        1.9.1 Methodische Probleme der empirischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen psychischer Störung und Delinquenz  322
        1.9.2 Klinische Vorstellungen zu den Kausalbeziehungen zwischen psychischer Störung und Delinquenz   328
        Literatur   335"


      Obwohl Kröber S. 321 die für die Praxis entscheidende Frage stellt:
       

        "Wie also sieht dann im Einzelfall die Kausalbeziehung, oder zumindest die Wirkungskette, zwischen einem psychiatrischen Krankheitsbild und einem juristischen Tatbestand aus?" (S. 321)


      kehrt er in den nachfolgenden Ausführungn wieder zur nomologischen Betrachtungsweise zurück. Es werden dann die methodischen Probleme, wie sie sich aus Schandas großer Untersuchung (2006) ergeben haben, dargelegt und ergänzt (S. 326f).

      Nedopils individuelles Delinquenzgenese Konzept (2005)
      Nedopil (2005) hingegen formuliert ausdrücklich einen, von ihm bevorzugten Ansatz, einer individuellen Delinquenzgenese, besonders im Kapitel "9.1 Zusammenhang zwischen Prognose und Therapie im Einzelfall", S. 199:

         
    _
    Toman Der psychoanalytische Ansatz zur Delinquenzerklärung und Therapie
       
      "Nach psychoanalytischer Auffassung (Freud 1900, 1916/17, Jung 1912, Adler 1920, Abraham 1924, Fenichel 1932, 1945, Schultz-Hencke 1940, 1951, Erikson 1950, auch Toman 1960, 1968, 1978) sind die Ursachen für psychische Krankheiten und soziales Fehlverhalten in frühen Störungen der psychischen Entwicklung zu suchen. Zu diesen frühen Störungen gehören ungünstige Umweltveränderungen oder von Anfang an bestehende Umweltdefekte, insbesondere solche in der sozialen Umgebung des Kindes. Eltern, die im unversöhnlichen Konflikt miteinander leben, gravierende Persönlichkeitsstörungen eines oder beider Eltern, Elternverluste, das Fehlen eines Elternteils oder beider Eltern von Anfang an (Aufwachsen in einem Kinderheim) wären Beispiele dafür. Zu diesen frühen Störungen gehören aber auch angeborene oder früh im Leben entstandene Schwächen der psychischen Konstitution des Kindes, insbesondere Schwächen seines Interesses an Kontakt und Erfahrung mit Personen (seine emotionale Bindungsbereitschaft) sowie seiner Toleranz gegenüber sachbedingten temporären Entbehrungen und Versagungen (seine Frustrationstoleranz). Solche konstitutionellen psychischen Schwächen können trotz intakter Umwelt früh im Leben des Kindes zu subjektiven Insuffizienzen und traumatischen Erfahrungen, in der Folge zu psychischen Entwicklungsstörungen führen. ...  ...

      Zusammenfassung
      Psychopathologische und kriminelle Persönlichkeitsentwicklungen nehmen nach psychoanalytischer Auffassung von den frühen Kindheitsphasen ihren Ausgang. Umweltstörungen, darunter vor allem chronische Konflikte unter den Familienmitgliedern und Verluste von Familienmitgliedern, oder konstitutionelle Schwächen, die in den Kindheitsphasen manifest werden, gehören zu den wichtigsten Determinanten psychopathologischer und krimineller Fehlentwicklungen.
          Auf solche Entwicklungsstörungen im ersten Lebensjahr gehen Krankheiten wie Schizophrenie, Manie, Depression, Rauschgiftsucht und psychosomatische Erkrankungen zurück. Im kriminellen Bereich zählen eruptive und absurde Gewalttaten ohne Ansehung der Person und sogar der eigenen Interessen, Entwicklungspsychopathien, schwer narzißtische Persönlichkeiten und anarchistischer Terrorismus hierher. — Auf Entwicklungsstörungen im zweiten und dritten Lebensjahr sind Krankheiten wie Paranoia, Tics und Stottern sowie Zwangsneurosen zurückzuführen, im kriminellen Bereich sadistische Handlungen an anderen Menschen, aggressive Verkehrsvergehen, Gewaltdelikte, Besitzstörungen und Betrügereien aller Komplexitätsgrade. — Auf Entwicklungsstörungen im vierten und fünften Lebensjahr gehen Angst-[>51]Perversionen zurück, im kriminellen Bereich vor allem jene Perversionen und Sexualhandlungen, die mit Gewaltakten und psychischen oder körperlichen Schädigungen der Sexualobjekte verbunden sind.
          Familiäre Umweltstörungen nach dem sechsten Lebensjahr führen mit etwas geringerer Wahrscheinlichkeit zu psychopathologischen und kriminellen Syndromen. Familiäre Umweltstörungen nach dem 15. oder 16. Lebensjahr wirken in de Regel nicht mehr unmittelbar pathogen oder kriminogen.
          Psychotherapie der psychopathologischen und kriminellen Syndrome geht umso eher über die klassische Psychotherapie hinaus, je schwerer die Syndrome und früher in der Kindheit die identifizierbaren Entwicklungsstörungen zurückliegen. In solchen Fällen spielen Anleitung und Anweisung durch den Psychotherapeuten, erzieherischer Beistand und stationäre Behandlung eine entsprechende Rolle in der Psychotherapie."
      Quelle S. 41 und S. 50f: Toman, Walter (41 - 51) In: Lösel, Friedrich (Hrsg.) (1983). Weinheim / Basel: Beltz.


    Werbiks handlungstheoretische Präferenzen für kriminelle Handlungen

      "2 Gründe für die Präferenz krimineller Handlungen
      Soweit Präferenz der kriminellen Handlungsweise angenommen werden kann, können dafür folgende Grunde maßgeblich sein:
      1. Mit strafrechtlichen Normen unverträgliche Zielsetzungen, persönliche Werturteile oder gruppenspezifische Normen.
      2. Die Wahl strafbarer Mittel zur Erreichung erlaubter Ziele wegen a) geringer Verfügbarkeit erlaubter Mittel, b) Defiziten der Handlungsplanung, c) Unfähigkeit, die Wahl erlaubter Mittel durch Handeln zu realisieren.

          Ad 1) Zahlreiche Forscher fassen delinquentes Verhalten als Präferenz einer unmittelbaren Belohnung auf Kosten späterer Belohnungen auf (Mischel 1961, Piliavin et al. 1968). Straftaten werden aber nicht nur begangen, um bestimmte Ziele (d.h. gewollte Handlungskonsequenzen) zu erreichen. Für die Motivation des Straftäters kann die Übereinstimmung der Tat mit bestimmten verinnerlichten Standards oder Normen wesentlich sein. Beispielsweise fassen Jugendliche einen Ladendiebstahl häufig als Leistung (Mutprobe) auf. Der Grund für die Präferenz einer kriminellen Verhaltensalternative kann darin bestehen, daß diese mit einem höheren Risiko verbunden ist. Schließlich kommt es auch vor, daß ein Straftäter ein ethisches Prinzip, welches von der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft anerkannt wird, in einer solchen Weise konkretisiert, daß er sich Ziele setzt, welche dem geltenden Recht widersprechen. Beispielsweise können Hausbesetzungen aus ethischen Forderungen nach „gerechter Verteilung" von Wohnraum entstehen oder zumindest nachträglich unter Bezugnahme auf derartige ethische Prinzipien legitimiert werden. Indem an und für sich konsensfähige ethische Prinzipien auf bestehende gesellschaftliche Verhältnisse angewandt werden, wird man geneigt, bestimmte Verhältnisse als Mißstände anzusehen und die Rechtslage, welche diese Mißstände ermöglichen, als „ungerecht" zu beurteilen: auf diese Weise wird ein Prozeß der Wandlung des Rechtsbewußtseins in Gang gesetzt. „Wie oft ist das Verbrechen wirklich bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral" (Durkheim 1961, S. 160). Daraus mag man erkennen, wie wenig brauchbar der gängige Begriff des „abweichenden Verhaltens" ist: Weder bilden Traditionen, Rechtsnormen und ethische Prinzipien ein widerspruchsfreies System, von dem das Handeln dann mehr oder weniger „abweichen" könnte, noch kann man mit einer zeitlichen Invarianz dieser normativen Orientierungen innerhalb einer Gesellschaft rechnen, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, ein einheitliches Wertsystem für eine Gesellschaft aufzustellen.
          Ad 2) Die Bedeutsamkeit der Wahl „illegitimer Mittel" für das Entstehen krimineller Handlungen ist von der Anomie-Theorie und ihren Weiterentwicklungen (Merton 1968, Cloward 1968, vgl. Dillig in diesem Band) betont worden. Als Grund für die Wahl krimineller Handlungen wird die geringe Verfügbarkeit erlaubter Mittel zur Zielerreichung hervorgehoben:

      „Immer dann, wenn ein System kultureller Werte bestimmte allgemeine Erfolgsziele für den Großteil der Bevölkerung über alles andere erhebt, während die soziale Struktur für einen beträchtlichen Teil der gleichen Bevölkerung den Zugang zu anerkannten Methoden, diese Ziele zu erreichen, unerbittlich beschränkt oder völlig versperrt, kann abweichendes Verhalten in größerem Maße erfolgen" (Cloward 1968, S.318).  [>88]

      Daneben können aber auch bestimmte Defizite der Handlungsplanung für die Präferenz einer kriminellen Handlungsweise verantwortlich gemacht werden. Zur Rekonstruktion von Defiziten benötigt man ein idealtypisches Modell einer rationalen Handlung. Ein solches Modell wurde beispielsweise von Werbik (1978) vorgeschlagen. Diesem Modell entsprechend kann jede Handlung als Antwort auf eine Aufforderung (oder allgemeiner: als Antwort auf eine Situation, welcher der Akteur Aufforderungsgehalt zuschreibt) dargestellt und in die Abschnitte „Beurteilung der Aufforderung", „Suchprozeß" und „Ausführungsphase" untergliedert werden. In jedem dieser Teilabschnitte sind defizitäre Abwandlungen denkbar.
          Im Abschnitt „Beurteilung der Aufforderung" kommen folgende defizitäre Abwandlungen in Frage:

        a) Eine gegebene Situation wird nicht als Aufforderungssituation erkannt oder umgekehrt als solche mißverstanden.
        b) Gegebene Aufforderungen können nicht abgelehnt bzw. nicht eigenständig abgewandelt werden.
        c) Ein negativer Aufforderungsgehalt einer Situation (der Wunsch, die faktisch gegebene Situation zu beseitigen) kann nicht in konkrete Zielsetzungen transferiert werden.
        d) Die Aufmerksamkeit des Akteurs ist „scheuklappenartig" (vgl. Luhmann 1973) nur auf ein einziges Ziel gerichtet. Nur dieses wird bei der Beurteilung von Aufforderungsgehalten beachtet, andere Ziele werden von ihm vernachlässigt.


      Als defizitäre Varianten im „Suchprozeß" können angesehen werden:

        a) Die Erreichbarkeit von Zielen wird falsch eingeschätzt.
        b) Die Auswahl von Mitteln erfolgt allein aufgrund ihrer instrumentellen Tauglichkeit für das Ziel; es findet keine Bewertung der Mittel aufgrund von Normen statt.
        c) Nebenwirkungen von Mitteln (im Hinblick auf andere Ziele des Akteurs) werden nicht beachtet.
        d) Es werden zu wenig alternative Möglichkeiten, das Ziel zu erreichen, erwogen.
        e) Die Bildung von Zwischenzielen und die dementsprechend erforderliche Strukturierung einer Handlungsweise als Sequenz von Operationen erfolgt nicht oder nicht zureichend (vgl. Lösel 1975a, S. 41).
        f) In der Bewertung von Mitteln relativ zu Zielen oder beim Vergleich mehrerer Mittel untereinander treten instabile oder intransitive Präferenzen auf.


      Die Unfähigkeit, eine in einem Planungs- und Abwägungsprozeß ausgewählte Handlungsweise tatsächlich auszuführen, kann auf einer Reihe von Gründen beruhen:

        a) Die Ausführbarkeit des intendierten Handlungsergebnisses [FN1] wurde falsch beurteilt.
        b) Die für die Ausführung des Handlungsergebnisses erforderliche Anstrengung wurde nicht geleistet (mangelnde physische Anstrengung oder mangelnde Auswertung von Informationen).
        c) Die bei der Ausführung auftretende Furcht (vor bedrohlichen Aspekten einer Situation) kann nicht bewältigt werden.
        d) Mißerfolg der Realisierung kann wegen negativer Selbstbewertung nicht in Kauf genommen werden. [>89]


      In den bisherigen Überlegungen wurden als mögliche Gründe für die Präferenz krimineller Handlungsweisen lediglich Aspekte der Handlungsvorbereitung und -durchführung angeführt. Die Erklärung der Handlung durch Hinweise auf solche Gründe stellt gewissermaßen eine erste Stufe einer vollständigen Handlungserklärung dar.
          Auf einer zweiten Stufe einer Handlungserklärung versucht man, die Entstehung derjenigen Aspekte der Handlungsvorbereitung oder -durchführung, die man für die Wahl krimineller Verhaltensalternativen für verantwortlich hält, nochmals auf bestimmte Bedingungen der Sozialisation (Familiensituation, frühere Erfahrungen, soziokulturelle Rahmenbedingungen) zurückzuführen. Meistens sind diese Bedingungen weder notwendig noch hinreichend für das Entstehen bestimmter Zielsetzungen, Werturteile, bestimmter Aspekte der Handlungsplanung oder -durchführung. Nur insofern als bestimmte Bedingungen der Sozialisation grundlegende Voraussetzungen der menschlichen Existenz oder der Erfahrungsbildung und Enkulturation betreffen, könnte man idealisierend annehmen, daß bestimmte Bedingungen bestimmte Handlungen ermöglichen. Hingegen kann praktisch ausgeschlossen werden, daß hinreichende Zusammenhänge zwischen Bedingungen und Handlungen bestehen. Daher ist die Handlungserklärung der zweiten Stufe normalerweise als eine auf einen Einzelfall bezogene Rekonstruktion anzusehen, zumal ja auch die sogenannten „Merkmale" von Sozialisationsprozessen kaum durch ein klassifizierendes Begriffssystem erfaßt werden können. So bedeutet die Bezeichnung einer familiären Beziehung als „intakt" nicht, daß es eine finite Liste von verifizierbaren Bedingungen gibt, mit deren Hilfe Familien in „intakte" und „nicht intakte" eingeteilt werden können, sondern es wird ein gegebener Einzelfall aufgrund von Lebenserfahrungen einer idealtypischen Vorstellung von einer familiären Beziehung zugeordnet. Die „Logik" dieser Handlungserklärungen entspricht nicht dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell."
      Quelle S. 87ff: Werbik, Hans (85 - 95) In: Lösel, Friedrich (Hrsg.) (1983). Weinheim / Basel: Beltz.

          Querverweis: Entwurf für eine Subjektwissenschaftliche Orientierung in der forensisch-psycho-pathologischen Begutachtungssituation.




    Literatur Kriminologie und Kriminalitätstheorien (Auswahl)

    Allgemeine Kriminologische Literatur

    • Albrecht, Peter-Alexis (2010) Kriminologie. Eine Grundlegung zum Strafrecht. 4. Auflage. München: Beck.
    • Bannenberg, Britta & Rössner, Dieter (2005) Kriminalität in Deutschland. München: Beck.
    • Baumann, Imanuel (2006) Dem Verbrechen auf der Spur: Eine Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland, 1880 bis 1980. Göttingen: Wallstein.
    • Becker, Peter (2002) Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
    • Bock, Michael (2013) Kriminologie, 4. Auflage, München: Vahlen.
    • Cremer-Schäfer, Helga & Steinert, Heinz (2013) Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, 2. Auflage, Münster: Westfälisches Dampfboot.
    • Douglas, J. E.; Burgess, A. W.; Burgess, A. G. & Ressler, R. K. (1992, Ed.) Crime Classification Manual. New York: Lexington.
    • Eisenberg, Ulrich (2005) Kriminologie. 6. Auflage, München: C. H. Beck.
    • Galassi, Silviana (2004) Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
    • Göppinger, Hans & Bock, Michael (2008, Hrsg.) Kriminologie. 6. Auflage. München: C. H. Beck.
    • Kaiser, Günther (1996) Kriminologie. 3. Auflage. Heidelberg: Müller.
    • Kaiser, Günther; Kerner, Hans-Jürgen; Sack, Fritz & Schellhoss, Hartmut (1993): Kleines kriminologisches Wörterbuch, 3. Auflage. Heidelberg: C. F. Müller.
    • Kunz, Karl-Ludwig (2008) Kriminologie. 5. Auflage. Stuttgart:
    • Meier, Bernd-Dieter (2010) Kriminologie, 4. Auflage. München: Beck.
    • Schwind, Hans-Dieter (2013) Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 22. Auflage. Heidelberg: Kriminalistik.


    Kriminalpsychologie

    • Dechene, H. C. (1975) Verwahrlosung und Delinquenz. Profil einer Kriminalpsychologie. München: Fink (UTB)
    • Dettenborn, H.; Fröhlich, H.-H.; Szewczyk, H. (1989) Forensische Psychologie. Berlin: VEB Verlag der Wissenschaften.
    • Füllgrabe, U. (1997) Kriminalpsychologie. Täter und Opfer im Spiel des Lebens. Frankfurt: Wötzel.
    • Hartmann, K. (1970) Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung. Berlin: Springer.
    • Jüttemann, Gerd & Thomae, Hans (1987, Hrsg.) Biographie und Psychologie
    • Kühne, A. (1987) Erträgnisse biographischer Forschung in der Kriminalpsychologie. In (277-284): Jütteman & Thomae (1987, Hrsg.)
    • Lösel, Friedrich (1983, Hrsg.) Kriminalpsychologie. Weinheim: Beltz.
    • Quensel, S. (1964). Sozialpsychologische Aspekte der Kriminologie. Stuttgart: Enke.
    • Schneider, H.-J. (1983, Hg.) Kriminalität und abweichendes Verhalten. 2 Bde. Weinheim: Beltz.
    • Toman, Walter (1983)  Der psychoanalytische Ansatz zur Delinquenzerklärung und Therapie, In (41-51): Lösel, F. (1983, Hrsg.)
    • Undeutsch, U. (1967, Hg.) Forensische Psychologie, Handbuch der Psychologie Bd. 11. Göttingen: Hogrefe.
    • Wegener, H. (1981) Einführung in die forensische Psychologie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
    • Werbik, Hans (1983) Perspektiven handlungstheoretischer Erklärungen von Straftätern [mit einer Fallbeschreibung, die vom Betroffenen akzeptiert wurde]. In (85-95): Lösel, F. (1983, Hrsg.)


    Moral, Ethik und normative Entwicklung

    • Kohlberg, L. (dt. 1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt: Suhrkamp.
    • Oser, F. & Althof, W. (1992). Moralische Selbstbestimmung. Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Stuttgart: Klett-Cotta.


    Literatur Abwehr- und Neutralisationsmechanismen

    • Amelang, M., Schahn, J. & Kohlmann, D. (1988) Techniken der Neutralisierung. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 71,3, 178-190.
    • Eifler, Steffanie (2009) Kriminalität im Alltag. Eine handlungstheoretische Analyse von Gelegenheiten. O: VS.
    • Egg, R. & Sponsel, R. (1978) "Bagatelldelinquenz" und Techniken der Neutralisierung. Eine empirische Prüfung der Theorie von Sykes & Matza. Monatsschrift für Kriminologie, 61, 1, 38-50.
    • Hefendehl, Roland (2005) Neutralisationstechniken bis in die Unternehmungsspitze. Eine Fallstudie am Beispiel Ackermann. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 88, 444-.
    • Schagerl, M. (1999) Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Zum Zusammenhang von Neutralisierungstechniken, Normorientierung, Impulsivität und Jugenddelinquenz. Diplom-Arbeit am Psychologischen Institut in Erlangen.
    • Sykes, G. M. & Matza, D. (dt. 1968, orig.) Techniken der Neutralisierung. Eine Theorie der Delinquenz. In: Sack, F. & König, R. (1968, Hg.) Kriminalsoziologie, 360-371. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft.


    Literatur Kriminalsoziologie

    • Haferkamp, Hans (1972) Kriminalität ist normal. Stuttgart: Enke.
    • Sack, F. & König, R. (1968, Hg.) Kriminalsoziologie. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft.


    Literatur Kriminalpsychopathologie

    • Birnbaum, Karl  (1921) Kriminalpsychopathologie. Systematische Darstellung. Berlin: Springer. [Inhalt]
    • Birnbaum, Karl  (1926) Die psychopathischen Verbrecher (1926)
    • Birnbaum, Karl  (1931) Kriminalpsychopathologie und Psychobiologische Verbrecherkunde. Berlin: Springer.
    • Gschwind, Martin & Rautenberg, Erardo Cristoforo  (1987) Kriminalpsychopathologie. Beiträge zur Psychopathologie, Volume 5. Berlin: Springer. [Enthält 15 Fallbeispiele S. 85-112 allerdings unter Ausklammerung der Schuldfähigkeitsfrage]
    • Hermann, D. (2009) Erklärungsmodelle von Delinquenz. In (286-320) Kröber et al. (2009, Hrsg.).
    • Hoche, A. (1901, Hrsg.) Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie unter MItwirkung von Prof. Dr. Aschaffenburg, Privatdozent Dr. E. Schultze, Prof. Dr. Wollenberg. Berlin: Hirschwald.
    • Kröber, H.-L.; Dölling, D.; Leygraf, N.  & Saß, H. (2006-2010, Hrsg.). Handbuch der Forensischen Psychiatrie. 5 Bde. Berlin: Steinkopff (Springer).
      • 2007: Band 1 Strafrechtliche Grundlagen d <er Forensischen Psychiatrie.
      • 2010: Band 2 Psychopathologische Grundlagen und Praxis der Forensischen Psychiatrie im Strafrecht.
      • 2006: Band 3 Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie.
      • 2009: Band 4 Kriminologie und Forensische Psychiatrie.
      • 2009: Band 5 Forensische Psychiatrie im Privatrecht und Öffentlichen Recht.
    • Markowitsch, Hans J. (2008) Kriminalität als Krankheit. Ergebnisse und Thesen aus Sicht der Hirnforschung. In (167-179): Saimeh, Nahlah (2008, Hrsg.)
    • Nedopil, Norbert; Krupinski, Martin  & Wittmann, Johannes (2001) Beispiel-Gutachten aus der Forensischen Psychiatrie. Stuttgart: Thieme.
    • Rasch, Wilfried & Konrad, Norbert (2004). Forensische Psychiatrie. 3. e. A. Stuttgart: Kohlhammer.
    • Saimeh, Nahlah (2005) Differentielle Konzepte zur Dissozialität, Therapieansätze und Grenzen. In: N. Saimeh (2005, Hrsg.) Was wirkt? – Prävention, Behandlung, Rehabilitation Forensik 2005, 20. Eickelborner Fachtagung-
    • Saimeh, Nahlah (2008, Hrsg.) Zukunftswerkstatt Maßregelvollzug. Forensik 2008. 23. Eickelborner Fachtagung. Bonn: Psychiatrie-Verlag.


    Literatur Straftäterbehandlung

    • Dahle, K.-P. (1997). Therapie und Therapieindikation bei Straftätern. In: Steller, M. & Volbert, R. (1997, Hg.), 142-159.
    • Egg, R, (1984) Straffälligkeit und Sozialtherapie. Konzepte, Erfahrungen, Entwicklungsmöglichkeiten. Köln: Heymanns.
    • Egg, R. (1990) Sozialtherapeutische Behandlung und Rückfälligkeit im längerfristigen Vergleich. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 73, 358-368.
    • Egg, R. (1997) Institutionen der Straftäterbehandlung. In: Steller, M. & Volbert, R. (1997, Hrsg.), 160-170.
    • Leygraf, N. (2006) Psychiatrischer Maßregelvollzug. In (193-233): Kröber, H.-L.; Dölling, D.; Leygraf, N.  & Saß, H. (2006-2010, Hrsg.). Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3. Berlin: Steinkopff (Springer).
    • Lösel, F. & Bender, D. (1997) Straftäterbehandlung: Konzepte, Ergebnisse, Probleme. In: Steller, M. & Volbert, R. (1997, Hrsg.), 171-204.
    • Sponsel, Rudolf (1999) Gewissenstypologie und Straftaeterbehandlung. Sozial- und Psychotherapie von normativ Devianten oder / und "Kriminellen". Manuskript des Vortrages auf der 8. Arbeitstagung der Fachgruppe Rechtspsychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e. V. in Nürnberg vom 15.-18. September 1999 Erlangen IP-GIPT: https://www.sgipt.org/forpsy/gewtyp0.htm.
    • Steller, M. & Volbert, R. (1997, Hrsg.) Psychologie im Strafverfahren. Bern: Huber.
    • Vanhoeck, Kris (2000) Motivationsforderung gehört zur Zwangstherapie und ist eine eigene Methodik.  Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 7, 1, 227-236. [Zusammenfassung]

    •  


    Links (Auswahl: beachte)

    Informative Netzseiten Kriminologie

    • https://www.krimlex.de/
    • https://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Hauptseite




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    Stichwortübersicht: Eigener wissenschaftlicher Standort * Birnbaums Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde, Vergleich 1. und 2. Auflage, Die psychopathischen Verbrecher * Pönalpsychopathologie * Gene des Bösen * Krafft-Ebing zur Homosexualität * Rassenhygiene * Sprache der Rassenhygieniker, Psycho- und Kriminalbiologen und Psychiater * Zusammenfassungen, Abstracts: Motivationsforderung gehört zur Zwangstherapie und ist eine eigene Methodik * Zwillingsstudie als Methode Erblichkeit zu begründen * Hoche zur Bedeutung der Erblichkeit in Erblichkeit und Entartung (1901)  *
    __
    Eigener wissenschaftlicher Standort:
     
    . einheitswissenschaftliche Sicht. Ich vertrete neben den Ideen des Operationalismus, der Logischen Propädeutik und einem gemäßigten Konstruktivismus auch die ursprüngliche einheitswissenschaftliche Idee des Wiener Kreises, auch wenn sein Projekt als vorläufig gescheitert angesehen wird und ich mich selbst nicht als 'Jünger' betrachte. Ich meine dennoch und diesbezüglich im Ein- klang mit dem Wiener Kreis, daß es letztlich und im Grunde nur eine Wissenschaftlichkeit gibt, gleichgültig, welcher spezifischen Fachwissenschaft man angehört. Wissenschaftliches Arbeiten folgt einer einheitlichen und für alle Wissenschaften typischen Struktur, angelehnt an die allgemeine formale Beweisstruktur. 
       Schulte, Joachim & McGuinness, Brian (1992, Hrsg.). Einheitswissenschaft - Das positive Paradigma des Logischen Empirismus. Frankfurt aM: Suhrkamp.
       Geier, Manfred (1992). Der Wiener Kreis. Reinbek: Rowohlt (romono).
    Kamlah, W. & Lorenzen, P. (1967). Logische Propädeutik. Mannheim: BI.
    _
    Wissenschaft [IL] schafft Wissen und dieses hat sie zu beweisen, damit es ein wissenschaftliches Wissen ist, wozu ich aber auch den Alltag und alle Lebensvorgänge rechne. Wissenschaft in diesem Sinne ist nichts Abgehobenes, Fernes, Unverständliches. Wirkliches Wissen sollte einem Laien vermittelbar sein (PUK - "Putzfrauenkriterium"). Siehe hierzu bitte das Hilbertsche gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann verständlichen Sprache wiedergegeben." 
    Allgemeine wissenschaftliche Beweisstruktur und  beweisartige Begründungsregel
    Sie ist einfach - wenn auch nicht einfach durchzuführen - und lautet: Wähle einen Anfang und begründe Schritt für Schritt, wie man vom Anfang (Ende) zur nächsten Stelle bis zum Ende (Anfang) gelangt. Ein Beweis oder eine beweisartige Begründung ist eine Folge von Schritten: A0  => A1 => A2  => .... => Ai .... => An, Zwischen Vorgänger und Nachfolger darf es keine Lücken geben. Es kommt nicht auf die Formalisierung an, sie ist nur eine Erleichterung für die Prüfung. Entscheidend ist, dass jeder Schritt prüfbar nachvollzogen werden kann und dass es keine Lücken gibt. 
    __
    LK. Laien-Kriterium. Wünschenswert ist weiterhin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Laien erklärbar sein sollten. Psychologisch steckt dahinter: wer einem Laien etwas erklären kann, sollte es wohl selbst verstanden haben. Siehe hierzu bitte auch das Hilbertsche gemeinverständliche Rasiermesser 1900, zu dem auch gut die Einstein zugeschriebene Sentenz passt: "Die meisten Grundideen der Wissenschaft sind an sich einfach und lassen sich in der Regel in einer für jedermann verständlichen Sprache wiedergeben."
    __
    Birnbaums "Kriminalpsychopathologie und psychobiologische Verbrecherkunde" (1931) gehört, obwohl er Jude war, mit zu den Wegbereitern der rassenbiologisch ausgerichteten NS-Psychiatrie  So schreibt er S. 190:
      "'Rassenhygiene und Kriminalpolitik Wächst so durch diesen Circulus vitiosus das Entartungsproblem sich von der pathologischen Seite her zu einem Kernproblem der wissenschaftlichen Kriminologie aus, so wird damit Hand in Hand die Entartungsbekämpfung zugleich zu einem Zentralproblem der praktischen Verbrechensbekämpfung. Damit tritt nun die Individual-, Sozial- und Rassenhygiene mit ihrem Kampf gegen Alkohol und Geschlechtskrankheiten, ihren Prohibitivvorkehrungen gegen die Fortpflanzung Minderwertiger und ihren sonstigen eugenischen Maßnahmen in engste Fühlung mit der Kriminalpathologie. Insbesondere die Sterilisation kriminell veranlagter Psychopathen tritt hier als Maßnahme in den Vordergrund, die in gleicher Weise rassenhygienische wie kriminalprophylaktische Zwecke erfüllt und darum dringlich eine — gesetzgeberisch eindeutig geregelte — Einfügung in das Bekämpfungssystem gegenüber allen biologisch und sozial Minderwertigen verlangt [FN2]. Im übrigen kommt, von den Entartungserscheinungen selbst ausgehend, ein sozial bedeutsamer und rassisch förderlicher biologischer Reinigungsprozeß aller Sozial- und Rassenhygiene zu Hilfe: Allenthalben macht sich eine Art Selbstausschaltung und Selbstauslese der Degenerativen aus dem sozialen Leben und im weiteren Sinne aus dem Leben überhaupt geltend, wie sie durch die vielfältigen Selbstschädigungserscheinungen bei Entarteten: ihre erhöhte Morbidität und Mortalität, ihre starke Selbstmordneigung, ihre geringe Verehelichungs- und Fortpflanzungstendenz, weiter durch die herabgesetzte Vitalität ihrer an sich geringen Kinderzahl und schließlich auch durch ihre langfristigen Detentionen in Straf- und Irrenanstalten u. dgl. gegeben ist —."
          Damit stellt sich die Frage einer differenzierten Neubewertung seiner Stellung zum Nationalsozialismus als ein psychobiologischer Wegbereiter und harrt weiterer Aufklärung. Der Fall Birnbaum zeigt, dass gute und bemerkenswerte Arbeiten, wie z.B. die psychischen Heilmethoden (1927), mit einem rassenhygienischen Standpunkt einher gehen können, wobei Rassenhygiene in den 1920er Jahren ein weltweit großes Thema war.
      Vergleich mit der ersten Auflage 1921
      Die erste Auflage 1921 umfasst 214 Seiten, die zweite 1931 hat 304 Seiten. Einen Abschnitt "Rassenhygiene" habe ich in der ersten Auflage nicht gefunden. Auch im Sachverzeichnis der ersten Auflage kommt der Eintrag "Rassenhygiene" nicht vor. In beiden Auflagen kommt aber im Inhaltsverzeichnis ein Abschnitt "Die sozialpsychischen Minderwertigkeitsformen" vor. Man sieht also, dass Birnbaum in Bezug auf die "Rassenhygiene" zur zweiten Auflage hin offensichtlich eine Radikalisierung zeigt, obwohl das Thema der "sozialpsychischen Minderwertigkeitsformen" bereits in der 1. Auflage voll entfaltet ist, wie man an folgendem Vergleich sehen kann:
       
      1. Auflage: "Die sozialpsychischen Minderwertigkeitsformen
      Die sozialpsychischen Minderwertigkeitsformen. Umgekehrt sind ganze große und wichtige pathologische Formenkreise gerade dadurch charakterisiert, daß bei ihnen der psychische Oberbau mit seinen sozialpsychischen Direktiven Not leidet. Entweder besteht ein mangelhafter Aufbau des psychischen Systems, ein Zurückbleiben auf sozialpsychisch minderwertiger Stufe, infolge pathologischen Stillstandes oder krankhafter Hemmung und Abirrung der psychischen Entwicklung, so vor allem bei gewissen angeborenen Schwachsinns- und Entartungstypen: gewissermaßen pathologische Formen „primärer" sozialpsychischer Minderwertigkeit; oder es erfolgt, infolge der Zerstörungsprozesse einer organischen Hirnkrankheit, nachträglich ein [>16] pathologischer Abbau der bisher vollwertigen psychischen Organisation mit Rückgang auf ein tieferes sozialpsychisches Niveau, so vorzugsweise bei den Demenzpsychosen: pathologisch bedingte „sekundäre" sozial psychische Minderwertigkeitsformen.
      _
      _
      _
      _
      _
          Aber auch sonst und außerhalb dieser charakteristischen Hauptvertreter wird die Geisteskrankheit oft genug durch die ihr eigenen allgemeinen Veränderungen des psychischen Verhaltens zur Ursache und zum Träger sozialpsychischer Unzulänglichkeiten und dies in dem Maße und Umfange, daß man schließlich die geminderte soziale Wertigkeit allgemein als ein feststehendes psychisches Stigma jedes seelisch Erkrankten anerkennt. Eine Anerkennung, die übrigens den Kranken oft viel mehr als die tatsächliche Abnahme der sozialen Brauchbarkeit beruflich, wirtschaftlich und gesellschaftlich schädigt.
      _
      _
      _
      _
      _
      _
      _
      _
      _
      _
      Allgemeine und enge Beziehungen zwischen sozialer Unzulänglichkeit bzw. sozialem Versagen und psychischen Anomalien sind also grundsätzlich anzunehmen. Strenge Gesetzmäßigkeiten und Parallelen im einzelnen und besonderen bestehen freilich zwischen ihnen nicht. Unsoziale resp. kriminelle Äußerungen sind keineswegs so streng den psychopatholo- gischen zugeordnet, daß etwa einem System von nach ihrer Wesensverwandtschaft zusammengestellten psychopathologischen Erscheinungen ohne weiteres ein analoges kriminalpsychopathologisches entspricht und nun dieses sich folgerichtig aus jenem ableiten läßt. Die Erfahrung lehrt vielmehr, daß klinisch zusammengehörige pathologische Formen, etwa das Alkoholdelirium und der chronische Alkoholismus, lcriminalpathologisch weit auseinander gehen können, während umgekehrt klinisch différente, wie der pathologische Rausch und der epileptische Dämmerzustand, sich kriminalpathologisch recht nahe stehen. Für die Gewinnung eines umfassenden kriminalpsychopathologischen Systems muß man daher von vornherein auf theoretische Ableitungen aus allgemeinen psychiatrischen Aufstellungen nach Art einer klinischen Klassifikation verzichten. Man kann nur versuchen, lediglich aus Spezialerfahrungen heraus für die einzelnen psychopathologischen Erscheinungen und Typen die zugehörigen sozialen Entgleisungs- und Versagungstendenzen nach Art und Höhe der Reihe nach festzustellen.."
      _
      _
      2. Auflage, S. 18f: "Pathologische Störungen der sozialpsychischen Funktionen: die sozialpsychischen Minderwertigkeitsformen. Umgekehrt sind ganze große und wichtige pathologische Formenkreise: psychopathische wie psychotische Fälle der verschiedensten Art, gerade dadurch charakterisiert, daß bei ihnen der psychische Oberbau der Persönlichkeit mit seinen sozialpsychischen Direktiven Not leidet. Bei ihnen besteht entweder von vornherein ein mangelhafter Aufbau des psychischen Systems, ein Zurückbleiben auf einer sozialpsychisch minderwertigen Stufe, der vorwiegend auf pathologischem Stillstand oder krankhafter Hemmung und Abirrung der psychischen Entwicklung beruht. Dies gilt vor allem von gewissen angeborenen Schwachsinns- und Entartungstypen, die damit gewissermaßen pathologische Formen ,,primärer" {anlagemäßiger) sozialpsychischer Minderwertigkeit darstellen. Oder aber es erfolgt nachträglich infolge einer Hirnschädigung (einer organischen Hirnkrankheit u. dgl.) ein pathologischer Abbau der bisher vollwertigen psychischen Organisation mit Rückgang auf ein tieferes sozialpsychisches Niveau. [>19] 
          Dies trifft vorzugsweise bei den zur Geistesschwäche (Demenz) führenden Psychosen zu, die sich damit als pathologisch bedingte „sekundäre" (erworbene) sozialpsychische Minderwertigkeitsformen erweisen.
          Aber auch sonst und außerhalb dieser charakteristischen Hauptvertreter führt die Geisteskrankheit oft genug durch die ihr eigenen allgemeinen seelischen Veränderungen zu einem Versagen der sozialpsychischen Anpassungsfähigkeit und wird so zur Ursache und zum Träger sozialpsychischer Unzulänglichkeiten. Und dies in dem Maße und Umfange, daß man schließlich die geminderte soziale Wertigkeit allgemein als ein feststehendes psychisches Stigma jedes seelisch Erkrankten anerkennt. (Eine Anerkennung, die übrigens den Kranken oft viel mehr als die tatsächliche Abnahme der sozialen Brauchbarkeit beruflich, wirtschaftlich und gesellschaftlich schädigt.) 
      Daß psychische Anomalien tatsächlich mit sozialpsychischen Unzulänglichkeiten einherzugehen pflegen, wird durch die weitgehend übereinstimmenden statistischen Feststellungen erwiesen, wonach der Prozentsatz pathologischer Elemente in allen Sammelbecken sozialer Minderwertigkeit (Fürsorgeerziehungsanstalten, Arbeitshäusern, Gefängnissen, Zuchthäusern usw.) den in der freien Bevölkerung ganz erheblich überschreitet. Rechnet man für letztere mit GAUPP etwa 10%, so steigt er für erstere auf 30% und zum Teil noch darüber.
      Allgemeine und enge Beziehungen zwischen sozialer Unzulänglichkeit bzw. sozialem Versagen und psychischen Anomalien sind also grundsätzlich anzuerkennen. Strenge Gesetzmäßigkeiten und Parallelen im einzelnen und besonderen bestehen freilich zwischen ihnen nicht. Unsoziale resp. kriminelle Äußerungen sind keineswegs so streng den psychopatholo- gischen zugeordnet, daß etwa einem System von psychopatho- logischen Erscheinungen, die nach ihrer Wesensverwandtschaft zusammengestellt sind, ohne weiteres ein analoges kriminalpsychopathologisches entspräche und nun dieses sich folgerichtig aus jenem ableiten ließe. Die Erfahrung lehrt vielmehr: Klinisch zusammengehörige pathologische Formen, etwa das Alkoholdelirium und der chronische Alkoholismus, können kriminalpathologisch weit auseinandergehen, klinisch différente dagegen, wie der pathologische Rausch und der epileptische Dämmerzustand, sich kriminalpathologisch recht nahestehen. Der Grund dafür ist ja ohne weiteres klar: Nicht auf die klinisch-psychiatrische Verwandtschaft, sondern auf die psychologischen Gemeinsamkeiten kommt es kriminologisch an. Für die Gewinnung eines umfassenden kriminalpsychopatholo- gischen Systems muß man daher von vornherein auf theoretische Ableitungen aus allgemeinen psychiatrischen Aufstellungen nach Art einer klinischen Klassifikation verzichten. Man kann nur versuchen, lediglich aus Spezialerfahrungen heraus für die einzelnen psychopathologischen Erscheinungen und Typen die zugehörigen sozialen Versagungs- und Entgleisungstendenzen nach Art und Grad festzustellen und danach zusammenzuordnen.

      Die psychopathischen Verbrecher (1926)
      In der Sprache ein furchtbares Buch, das vor entwertendem Nazivokabular nur so strotzt. Beispiele:

      • Einrichtung  von "Minderwertigen-Abteilungen" im Strafvollzug (S. 206)
      • Entartung / Degeneration (S. 3 gesperrt hier kursiv): "... Unserer speziellen Interessenrichtung nach kann es überdies genügen, wenn wir nur heranziehen, was als hinreichend gesichert gelten kann. Das ist nun einmal die Anerkennung der Entartung als einer empirisch gegebenen biologischen bzw. biopathologischen Erscheinung. Und das ist zum andern ihre Kennzeichnung als eine von der Norm ungünstig abweichende biologische Organisationsform von erblichem Charakter. Und wir stellen nun sogleich auch die Verbindung dieses biologischen Degenerationsphänomen mit den psychopathologischen Objekten unserer Vorlesungen her, indem wir sagen, daß speziell die eben betonte abnorme Konstitution unserer Psychopathen eine solche biologisch ungünstige erbliche Abweichung vom Normalen, eine Entartungsform darstellt."
      Anmerkung: Birnbaum hat auch in dem von ihm herausgegebenen "Handwörterbuch der medizinischen Psychologie" den Eintrag "Entartung" (S. 116-120) verfasst.
    __
    Gene des Bösen
      So lautet der Titel eines Artikels im Tagesspiegel vom 22.06.2011 von Alexander S. Kekulé, wo er u.a. ausführt (Markierungen in eckigen Klammern a,b,c von mir): "...  Wissenschaftler des schwedischen Karolinska-Instituts untersuchten das Umfeld von mehr als 1,5 Millionen Gewaltverbrechern. [a] Für Verwandte ersten Grades besteht gegenüber der Allgemeinbevölkerung eine 4,3-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass sie ebenfalls ein Gewaltverbrechen verüben. [b] Wie Analysen der sozialen Verhältnisse und Zwillingsstudien zeigten, ist dieser Zusammenhang zu 55 Prozent erblich bedingt. Einer der ersten handfesten Hinweise auf die dafür verantwortlichen Gene kam aus Dunedin, einer Provinzstadt am Südzipfel Neuseelands. In einem einzigartigen Projekt werden dort sämtliche 1037 Kinder, die zwischen April 1972 und März 1973 geboren wurden, regelmäßig auf ihre psychische und soziale Entwicklung untersucht. Im Jahr 2002 nahmen sich die Psychologen Terrie Moffitt und ihr Ehemann Avshalom Caspi von der Duke University die Berichte von 442 inzwischen erwachsenen Männern der Dunedin-Studie vor und ließen Gentests durchführen. [c] Dabei zeigte sich, dass eine Genmutation des für die Hirnfunktion wichtigen Enzyms Monoaminooxidase-A (MAO-A) mit Gewaltverbrechen und antisozialem Verhalten korreliert ist – aber nur bei solchen Männern, die in der Kindheit schwer misshandelt wurden.  ..."
          Aus [a] folgt nichts über Vererbung. [b] Die Angaben sind zu allgemein und daher zweifelhaft: hat man eineiige Zwillinge, die getrennt aufwuchsen, herangezogen? [c] scheint der Erblichkeit direkt zu widersprechen, wenn die Mutationen nur bei schwerer Misshandlung auftraten.
          Mit der Hirnforschung und den vielen bunten Bildchen feiert die längst tot geglaubte Psychobiologie ein come back ohne gleichen. Entsprechend geht es in den Medien zu und ein Unsinn jagt den anderen wie ein Artikel aus [Die Welt vom 2.6.13] zeigt: 
          "Ist der Puls zu niedrig, wird das Kind ein Mörder. Die Neigung zur Kriminalität liegt in unseren Genen, zeigen aktuelle Forschungsergebnisse – zumindest teilweise. Denn die genetische Disposition allein macht aus einem Menschen noch keinen Mörder. ... Beide Seiten haben Recht. Die jüngsten Untersuchungen zur Frage des Verbrechergens scheinen nun beide Seiten gleichermaßen zu bestätigen: Denn anscheinend hat Kriminalität wirklich biologische Wurzeln und ist in unseren Genen angelegt. Aber erst das soziale Umfeld – Armut, Vernachlässigung und schlechte Schulbildung etwa – lässt sie auch wirklich zutage treten. "Die Saat der Sünde ist im Gehirn gesät", schreibt der US-Amerikaner Adrian Raine, Kriminologe an der University of Pennsylvania in Philadelphia, in seinem Buch "The Anatomy of Violence". Für ihn steht fest: Es gibt Menschen, die einen angeborenen Hang zur Gewalt haben. Trotzdem sei die Biologie aber kein Schicksal, so Raine. ..."
          Kriminalität kann grundsätzlich nicht vererbt werden, weil sie gar kein Merkmal der Natur ist. Sie ist ein typisch menschliches Konstrukt und soziokulturelles Produkt. Kriminalität kann überhaupt nur dort auftreten, wo Normverstöße und Straftaten definiert sind. Was allenfalls vererbt werden kann sind Faktoren, die Kriminalität begünstigen, wie z.B. Impulsivität, Aggressionsbereitschaft, emotional-kognitive Defizite. 
    __
    Krafft-Ebing zur Homosexualität
      In der mir vorliegenden 15. Auflage von 1918 führt Krafft-Ebing, S. 245f, heute wissenschaftlich abenteuerlich anmutend,  aus (gesperrt hier kursiv):
          "Auf Grund der bis 1877 veröffentlichten Fälle habe ich diese eigenartige Geschlechtsempfindung als ein funktionelles Degenerationszeichen und als Teilerscheinung eines neuro(psycho)pathischen, meist hereditär bedingten Zustandes bezeichnet, eine Annahme, welche durch die fernere Kasuistik durchaus Bestätigung gefunden hat. Als Zeichen dieser neuro(psycho)-pathischen Belastung lassen sich anführen:
          1. Das Geschlechtsleben derartig organisierter Individuen macht sich in der Regel abnorm früh und in der Folge abnorm stark geltend. Nicht selten bietet es noch anderweitige perverse Erscheinungen, außer der an und für sich durch die eigenartige Geschlechtsempfindung bedingten abnormen sexuellen Richtung.
          2. Die geistige Liebe dieser Menschen ist vielfach eine schwärmerisch exaltierte, wie auch ihr Geschlechtstrieb sich mit besonderer, selbst zwingender Stärke in ihrem Bewußtsein geltend macht.
          3. Neben dem funktionellen Degenerationszeichen der konträren Sexualempfindung finden sich oft anderweitige funktionelle, vielfach auch anatomische Entartungszeichen.
          4. Es bestehen Neurosen (Hysterie, Neurasthenie, epileptoide Zustände usw.). Fast immer ist temporär oder dauernd Neurasthenie nachweisbar. Diese ist in der Regel eine konstitutionelle, in angeborenen Bedingungen wurzelnde. Geweckt und unterhalten wird sie durch Masturbation oder durch erzwungene Abstinenz.
      Bei männlichen Individuen kommt es auf Grund dieser Schädlichkeiten oder schon angeborener Disposition zur Neurasthenia sexualis, die sich wesentlich in reizbarer Schwäche des Ejakulationszentrums kundgibt. Damit erklärt sich, daß bei den meisten Individuen schon die bloße Umarmung, das Küssen oder selbst nur der Anblick der geliebten Person den Akt der Ejakulation hervorruft. Häufig ist dieser von einem abnorm starken Wollustgefühl begleitet, bis zu Gefühlen „magnetischer" Durchströmung des Körpers.
          5. In der Mehrzahl der Fälle finden sich psychische Anomalien (glänzende Begabung für schöne Künste, besonders Musik, Dichtkunst usw., bei intellektuell schlechter Begabung oder originärer Verschrobenheit) bis zu ausgesprochenen psychischen Degenerationszuständen (Schwachsinn, moralisches Irresein).
          Bei zahlreichen Urningen kommt es temporär oder dauernd zu Irresein mit dem Charakter des Degenerativen (pathologische Affektzustände, periodisches Irresein, Paranoia usw.). [>246]
          6. Fast in allen Fällen, die einer Erhebung der körperlich geistigen Zustände der Aszendenz und Blutsverwandtschaft zugänglich waren, fanden sich Neurosen, Psychosen, Degenerationszeichen usw. in den betreffenden Familien vor[FN1]).
      Wie tief die eingeborene konträre Sexualempfindung wurzelt, geht auch aus der Tatsache hervor, daß der wollüstige Traum des männlichen Urnings männliche, der des weibliebenden Weibes weibliche Individuen, bzw. Situationen mit solchen, zum Inhalte hat.
          Die Beobachtung von Westphal, daß das Bewußtsein des angeborenen Defektes von geschlechtlichen Empfindungen gegenüber dem anderen Geschlechte und des Dranges zum eigenen Geschlechte peinlich empfunden werde, trifft nur für eine Anzahl von Fällen zu. Vielen fehlt sogar das Bewußtsein der Krankhaftigkeit des Zustandes. Die meisten Urninge fühlen sich glücklich in ihrer perversen Geschlechtsempfindung und Triebrichtung und unglücklich nur insoferne, als gesellschaftliche und strafrechtliche Schranken ihnen in der Befriedigung des Triebes zum eigenen Geschlechte im Wege stehen.
          Das Studium der konträren Sexualempfindung weist bestimmt auf Anomalien der zerebralen Organisation der damit Behafteten hin. Schon der Umstand, daß ausnahmslos hier die Geschlechtsdrüsen anatomisch und funktionell ganz normal befunden werden, spricht für diese Annahme.
          Diese rätselhafte Naturerscheinung hat vielfach zu Erklärungsversuchen geführt.  ..."
      __
      Urning, Urninge Männliche Homosexuelle. [homowiki]
    __
    Pönalpsychopathologie  Psychopathologie der Haft, z.B. Haftpsychosen, Ausdruck Birnbaums (1926).
    __
    Rassenhygiene
      Aufgrund der Geschichte, der weltweiten und besonders der nationalsozialistischen Verbrechen ist eine neutrale Bewertung der Grundidee der Eugenik heutzutage kaum möglich. Wissenschaftlich, weltanschaulich und politisch ein großes Thema um die Jahrhundertwende, besonders der 1920er Jahre, später extrem im Nationalsozialismus propagiert und durch die Rassengesetze 1935 und den Führererlass von 1939 zur Euthanasie umgesetzt. Rassenhygiene war aber bereits vor Hitler weltweit ein großes Thema, wenn auch mit vielen falschen Zungenschlägen und einer Sprache, die einen heute schaudern lässt. Bereits 1923 wurde in München der erste Lehrstuhl für Rassenhygiene geschaffen, auf den Fritz Lenz (Menschliche Auslese und Rassenhygiene) berufen wurde. Im Biogramm bei Schmuhl, H.-W. (2003, Hrsg.), S. 333 wird u.a. ausgeführt: "... 1940 maßgeblich an der internen Diskussion über den Entwurf eines »Gesetzes über die Sterbehilfe bei Lebensunfähigen und Gemeinschaftsfremden« beteiligt, ebenso 1940/41 an der Erarbeitung des »Generalplans Ost«. 1946-1953 Ordinarius und Direktor des Instituts für menschliche Erblehre an der Universität Göttingen." Man sieht, selbst solch exponiert-kriminelle NS-Wissenschaft tat Nachkriegskarrieren keinen Abbruch, Entnazifizierung war weitgehend eine Farce.
      Schmuhl, Hans-Walter (2003, Hrsg.)  Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Bd. 4 der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Herausgegeben  von Reinhard Rürup und Wolfgang Schieder im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft. Göttingen: Wallstein.
          Anmerkung: Zur Zeit findet in Erlangen die ausgezeichnete Ausstellung "... plötzlich gestorben. NS-Rassenhygiene 1933-1945" im Stadtarchiv statt, in der der Gesamtkomplex sehr gut dargestellt wird.
    __
    Sprache der Rassenhygieniker, Psycho- und Kriminalbiologen und Psychiater
      Radikales entwerten und brandmarken gehört zur Geisteshaltung und "Ethik" dieser wohl selbst meist tief Gestörten im Menschlichen und wissenschaftlichen Dünnbrettbohrer. Der Verhältnisblödsinn eigener - echter oder vermeintlicher - Überlegenheit zeigt sich vor allem auf zwei Ebenen: wissenschaftstheoretisch durch leichtfertigen, nicht verstandenen und daher nicht begründeten Universaliengebrauch mit seinen Verallgemeinerungen (DER Verbrecher, DER Schwachsinnige, DER Schizophrene, DER Psychopath, DAS Weib, DIE Minderwertigen,  ...) und ethisch ("Ballastexistenzen", "Minderwertige", "unwertes Leben", Zynismen wie "Gnadentod"), die unheilvoll zusammenspielen. Das wissenschaftliche, ethische und menschliche Niveau ist unsäglich. Die moralisch-pseudowissenschaftliche Verirrung der Entwertungs-Orgiasten wird z.B. auch in  der Bewertung der Frauen deutlich, wo sich etwa ein Möbius nicht entblödete, eine Schrift Über den physiologischen Schwachsinns des Weibes [W] zu veröffentlichen oder in der psychiatrischen Literatur über Irre und Psychopathen, inzwischen euphemistisch Persönlichkeitsgestörte genannt. Einer der eifrigsten Sprachsünder, der mit Minderwertigkeit, Entartung, Degeneration und Rassenhygiene nur so um sich wirft, war zweifellos der Psychiater Karl Birnbaum, der trotzdem bei den Nazis als Jude seine Stellung verlor. Bei nicht wenigen Autoren merkt man regelrecht die Genugtuung, wie es ihnen eine Freude zu sein scheint, anderen Menschen ihre rabiat-entwertenden Etikette aufzudrücken, andere wiederum betreiben das Entwertungs- und Brandmarkungsgeschäft mit kühler, selbstverständlich bis beiläufig anmutender "Sachlichkeit". Jaspers hierzu:
          "... Einen  Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer {>366}Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden."    Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. A. 1948, S. 365f.
    __
    Zusammenfassungen, Abstracts
     
      Motivationsforderung gehört zur Zwangstherapie und ist eine eigene Methodik.  (Vanhoeck) "Zusammenfassung
      Motivation wird oft als ein Konstrukt verstanden, das beim Klienten entweder vorhanden ist oder eben nicht. Eventuell wird für möglich gehalten, der Klient sei "ein bisschen" motiviert. Motivation wird dann als Gegebenheit und Vorbedingung für Therapie aufgefasst: Der Klient muss motiviert sein, bevor es überhaupt Sinn hat, Psychotherapie anzubieten. Und scheitert die Therapie, dann lag es an der mangelnden Motivation des Klienten. Der Therapeut kann aber von seinem Zwangstherapie-Klienten nicht erwarten, dass dieser sich den Therapieerfordenissen anpasst. Im allgemeinen ist davon auszugehen, dass der Klient extrinsisch motiviert ist, z.B. dass ihn Therapie aus dem Vollzug zu bringen oder herauszuhalten habe. Der Therapeut muss daher eher versuchen, seine Therapie der Motivationslage des Klienten anzupassen. Motivationsförderung geht von einem dynamischen Motivationskonstrukt aus. Motivation kann gefördert werden und wird so nicht als Vorbedingung, sondern als Ziel therapeutischer Interventionen gesehen. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Menschen bei wichtigen Änderungen in ihrem Leben immer einen Prozess durchmachen: Vorstadium, Überlegung, Entscheidung, Durchführung, Durchhalten, Rückfälle, Vorstadium usw. ... Motivationsförderung sucht diesen Prozess gezielt voranzutreiben. Dafür ist es dann wichtig, eine genaue Analyse der Motivationslage des Klienten vornehmen zu können. Komponenten eines dynamischen Motivationskonstruktes sind u.a. Problemeinsicht, Problembelastung, Änderbarkeitsvorstellung, Anstrengungsbereitschaft, Straferleichterung, Therapiekenntnisse, Therapieeinstellung, Copingressourcen."
    __
    Zwillingsstudie als Methode Erblichkeit zu begründen
      Die Idee aus Erbähnlichkeiten z.B. über Zwillingsstudien Aufschlüsse über die Bedeutung der Erbfaktoren z.B. für Charakter- oder Persönlichkeitsmerkmale zu gewinnen, ist auf den ersten Blick überzeugend, nach dem zweiten Blick aber nicht ganz so einfach, wie es vielleicht zunächst scheint.
          Hinsichtlich des Erbgutes kann die Rangreihe Eineiiger Zwilling, Zweieiiger Zwilling, Geschwister aufgestellt werden. Hinsichtlich der Aufwuchs- und Erziehungsumgebungen bieten sich gleiche, ungleiche oder mehr oder minder ungleiche an, etwa wenn eineiige Zwillinge nach der Geburt getrennt und in verschiedenen Umgebungen (Familien) aufwuchsen, was aber noch nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass eine formal ungleiche Umgebung auch inhaltlich ungleich zu bewerten ist. M.W. ist das Problem der Gleichheit bzw. Ungleichheit von Umgebungen bislang noch nicht richtig angegangen worden.
          Merz & Stelzl (1977), S. 68, sind nach Auswertung der eineiigen Zwillingsstudien zu dem Ergebnis gekommen, dass 80% der Intelligenzleistung vererbt wird.

      Allgemeiner Versuchsplan Erblichkeitsforschung mit Verwandtschaftsgraden

        Deutet man eineiig als erbgleich, so müsste im Idealfall ein rein erbbedingtes Merkmal i in gleichen wie in ungleichen Umgebungen maximal, also in allen Fällen, also zu 100% auftreten. In dem Maße, wie sich die 100% verringern, spielen auch noch andere Faktoren eine Rolle, z.B. der Geburtsvorgang und die Reihenfolge der Geburt und danach dann die Unterschiede in den Umgebungen. Hier muss auch kritisch beachtet werden, dass anscheinend gleiche Umgebungen wie Vater und Mutter im Fürsorge-, Zuwendungs- und Erziehungsverhalten keinesweg zwingend als gleich gegenüber den Kindern anzusehen sind.
        Mit Hilfe der Tabelle lassen sich nun typische Konfigurationen und Hypothesen deuten:
     
    Merkmal
    gU
    uU
    gU
    uU
    gU
    uU
    Häufigkeit M1
    70
    70
    40
    40
    20
    20
    Häufigkeit M2
    70
    50
    30
    20
    10
    5
    Häufigkeit M3
    100
    100
    100
    100
    100
    100

    Beispiel-Deutungen für Konfigurationen und Hypothesen:

    • M1 zeigt einen hohen Erbfaktor, der unabhängig von Umgebungen abnehmend mit dem Verwandtschaftsgrad auftritt.
    • M2 zeigt einen hohen Erbfaktor, der mit ungleichen Umgebungen und  geringerem Verwandtschaftsgrad abnimmt.
    • M3 zeigt einen generellen Erbfaktor ("Grundbedürfnis"), der unabhängig vom Verwandtschaftsgrad und von Umgebungen auftritt, z.B. atmen, schlafen, trinken, essen, ausscheiden.


    Hoche zur Bedeutung der Erblichkeit in Erblichkeit und Entartung (1901) S. 411 (gesperrt = kursiv; fett-kursiv RS)
    "Die Frage hat vom gerichtlichen Standpunkte aus zu lauten: was bedeutet im vorliegenden Falle zur Beurteilung des Geisteszustandes grade dieses Menschen der Nachweis, dass bei seiner Ascendenz Erkrankungen des Centralnervensystems vorgekommen sind? Die unbefangene Prüfung lässt antworten: Diese Feststellung als solche bedeutet gar nichts, so lange nicht gezeigt wird, dass der erbliche Einfluss sich in bestimmten noch zu nennenden Erscheinungen in dem gegenwärtigen Individuum äussert."
        Diese Aussage zeigt eine bemerkenswert kritische Haltung, die wahrscheinlich von bleibender Gültigkeit ist. Gleichzeitig wird mit dieser Äußerung die Frage aufgeworfen, wie man im Einzelfall eine Vererbung nachweisen kann. Hierzu werden wahrscheinlich folgende Nachweise zu führen sein:

    1. Ein Genmuster muss für die Erkrankung des Individuums identifiziert sein.
    2. Das Genmuster für diese Erkrankung muss sich bei Vorfahren des Individuums aufzeigen lassen.
        Anmerkung1: Ausführungen zur Kausalität, also zum Zusammenhang einer Störung und einer Tat oder (unterlassenen) Handlung, finden sich leider nicht. Dieser auch heute extreme Mangel in der forenischen Psychiatrie scheint also eine lange Tradition zu haben.
        Anmerkung2: Hoche & Bindung haben 1920 die berüchtigte Schrift Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens veröffentlicht [W].
    __


    Querverweise
    Standort: Kriminalitätstheorien.
    *
    Überblick Forensische Psychologie.
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    z.B. Forensische Psychologie site: www.sgipt.org. 
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Kriminalitätstheorien. Integrative Theorie kriminellen Verhaltens. Erlangen IP-GIPT: https://www.sgipt.org/forpsy/KrimTheo.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten oder Rahmen ist nicht gestattet, Links und Zitate sind natürlich willkommen. Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden. Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus  ...  geht, sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.


     Ende_ Kriminalitätstheorien_ Überblick_Rel. Aktuelles_ Rel. Beständiges _ Titelblatt_ Konzeption_ Archiv_ Region_ Service_iec-verlag_ Mail: sekretariat@sgipt.org_ __Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen


    korrigiert: irs 01.03.2014



    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    11.03.14    Hoche zur Bedeutung der Erblichkeit in Erblichkeit und Entartung (1901).
    10.03.14    Allgemeiner Versuchsplan Erblichkeitsforschung mit Verwandtschaftsgraden.
    09.03.14    Birnbaum: Die psychopathischen Verbrecher.
    07.03.14    Ergänzender Vergleich Birnbaum 1. (1921) und 2. Auflage (1931).
    04.03.14    Rassenhygiene * Sprache der Rassenhygieniker, Psycho- und Kriminalbiologen und Psychiater. * Gene des Bösen * Zwillingsstudien *
    03.03.14    Beispiel Homosexualität als soziolultirelles Produkt für Kriminalität.
    02.03.14    Korrigiert.