Zur Skalierung des Grades der Behinderung (GdB) psychischer Störungen aus forensisch-psychologischer Sicht
Originalarbeit von Rudolf
Sponsel[0], Erlangen
Auch ZVR-Online
Dok Nr. 13/2017 online seit 26.09.2017.
Inhaltsübersicht
1 Einführung.
3
1.1 Was ist der GdB begrifflich
in aktueller Betrachtung? 3
1.2 Was ist der GdB methodologisch?
3
2 Entwurf einer Axiomatik des
GdB 4
2.1 B-Axiome für das System der Behinderungen
B. 4
2.2 FB-Axiome für das System von Funktionsbeeinträchtigungen
FB durch Behinderungen B. 5
2.3 AFB-Axiome für das System der Auswirkungen
AFB von Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen B auf Lebensqualität
und Teilhabe. 5
2.4 A-Axiome des Ausgleichs und der Kompensation
(Inversen). 6
2.5 T-Axiome für das System der Lebensbereiche
und Teilhabe. 6
3 Skalierungen
8
3.1 Methodische Vorüberlegungen.
8
3.1.1 Subjektwissenschaftlicher Ansatz. 9
3.1.2 Interessen der ProbandIn. 9
3.1.3 Handhabung primärer Erlebensstörungen.
9
3.1.4 Unterschied objektive und subjektive
Beeinträchtigungsbewertung. 9
4 Kausalität der Teilhabe-Beeinträchtigungen 13
5 Beispiele 14
5.1 Depression 14
5.1.1 Diagnostische Kriterien bei Depressionen
14
5.1.1.1 Allgemeine Diagnostische Kriterien
Depressive Episode F32 14
5.1.1.2 Somatisches Syndrom 14
5.1.1.3 Leichte depressive Episode Diagnostische
Kriterien 15
5.1.2 Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB bei Depressionen 15
5.2 Posttraumatische Belastungsstörung
16
5.2.1 Diagnostische Kriterien Posttraumatische Belastungsstörung
S. 174f 16
5.2.2 Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB bei PTBS 17
5.3 Borderline-Persönlichkeitsstörung
F60.31 17
5.3.1 „Diagnostische Kriterien“ 17
5.3.2 Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB bei Borderline 18
Keywords 19
1.1 Was ist der GdB
begrifflich in aktueller Betrachtung?
Die Begrifflichkeit des GdB hat es in sich. Wir unterscheiden auf der
ersten Ebene die verschiedenen Qualitäten und Ausprägungen von
potentiellen Behinderungen B. Das sind Behinderungen im traditionellen
Sinne (z.B. bewegen, sehen, hören, sprechen, lernen), Krankheiten,
Störungen von Krankheitswert, Syndrome, Symptome, Probleme und Beeinträchtigungen
mannigfaltiger Art. Die meisten davon findet man in den internationalen
Klassifikationssystemen, z.B. im ICD (derzeit ICD-10). Doch nicht jede
Störung von Krankheitswert ist eine Behinderung§ im
Sinne des Gesetzes. Denn: SGB IX § 2 (1) Menschen sind behindert,
wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische
Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von
dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre
Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind
von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist."
Auf der zweiten Ebene geht es um die Funktionsbeeinträchtigungen
FB durch die Behinderungen B. Hier hilft seit 2005 die ICF -
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung
und Gesundheit, wobei da noch viel zu tun ist. Aber auch die Kriterienlisten
der Störungen von Krankheitswert im ICD-10 oder auch anderen Klassifikationssystemen
(z.B. AMDP, DSM-5) können hier sehr hilfreich sein, wenn sie denn
von den Heilfachkundigen bearbeitet worden wären. Leider wird das
bisher vom Gesundheitssystem weder durch Vorschrift noch durch Vergütung
unterstützt, was die Feststellung der Funktionsbeeinträchtigungen
deutlich erschwert[3].
Auf der dritten und entscheidenden Ebene geht es
um die Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB durch die Behinderungen B auf die Lebensqualität und Teilhabe.
Das ist die eigentliche Grundidee des GdB, den man vielleicht besser AGdBT
(Auswirkungen des Grades der Behinderung auf die Teilhabe) nennen sollte,
um die wenig hilfreiche und verwirrende Fixierung auf die bloße Maßzahl
zu überwinden. Hier kommt komplizierend, aber durchaus im Einklang
mit dem gesunden Menschenverstand, Erfahrung und der Wissenschaft, hinzu,
dass mehrere Auswirkungen AFB nicht einfach - formal, mechanisch - addiert
werden dürfen. Wenn " o " das Zeichen für die Verknüpfung
von Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen
B sei, und das Akronym "AFB " für die Maßeinheit steht, so gilt
nicht einfach 10 AFB o 10 AFB = 20 AFB, es könnte auch bei 10 blei-ben,
30 oder 50 werden, also 10 AFB o 10 AFB = 10 AFB, 10 AFB o 10 AFB = 20
AFB oder 10 AFB o 10 AFB = 30 AFB gelten. Das ist jeweils im Einzelfall
zu erforschen und zu begründen.
1.2 Was ist der
GdB methodologisch ?
Der Grad der Behinderung ist das Ergebnis einer "Messung"[4]
- besser und bescheidener sollten wir nur von einer Schätzung sprechen,
mehr haben wir nämlich in der Sozialwissenschaft, Psychologie und
Sozialmedizin in aller Regel nicht zu bieten. Leider. Aber wir müssen
damit leben und das Beste daraus zu machen versuchen. Das können wir
tun, indem wir nach dem allgemeinen Beweisprinzip[5]
Schritt für Schritt, lückenlos, unsere fachlichen Argumente kontrollier-
und nachprüfbar aneinanderreihen, so dass die Gerichte eine sachverständige
Grundlage für ihre Beurteilung, Bewertung und Anwendung der Rechtsbegriffe[6]
erhalten.
Der GdB wird meist als bloße Maßzahl in Zehnerschritten
von 10 bis 100 kommuniziert. In der Regel fehlt die für jede "Messung"
oder Schätzung notwendige Angabe der Maßeinheit (hier als AFB
eingeführt). Darüber hinaus schweigen sich die veröffentlichten
Arbeiten über die angewandten Skalierungsverfahren, Normierung, Evaluation,
Objektivität, Reliabilität und Validität aus[7].
Bei JuristInnen ist dies verständlich, sie müssen das nicht wissen,
aber ihre Sachverständigen schon, und sie müssten das auch kommunizieren.
Der methodisch unzulängliche Zustand der GdB-Schätzung ist eigentlich
kaum zu verstehen, weil die sozialrechtlichen Grundideen vollkommen verständlich
und nachvollziehbar sind: es gibt Behinderungen B, diese haben Funktionsbeeinträchtigungen
FB zur Folge und die Funktionsbeeinträchtigungen FB haben Auswirkungen
AFB auf Lebensqualität und Teilhabe.
Ich führe den methodisch völlig unbefriedigenden
Zustand darauf zurück, dass einerseits die vor allem mit dem GdB befassten
MedizinerInnen testtheoretisch und in Skalierungsverfahren nicht ausgebildet
werden[8], und andererseits die PsychologInnen, die
mit Testtheorie, Methodik und Statistik in ihrem Studium mehr gequält
werden als den meisten lieb war oder ist, im Sozialrecht wenig gefragt
sind. Eine Kooperation[9] wäre mehr als nötig.
Hinzu kommt, dass die Skalierungsverfahren bei gegebener Axiomatik, der
potentiell unendlichen Vielfalt der Einzelfälle und der Teilhabe als
nichtlineares, dynamisches Wechselwirkungs-System praktisch sehr viele
Probleme und Aufgaben mit sich bringen, die erst nach und nach deutlicher
werden und einen gigantischen Berg von Arbeit ankündigen. Andererseits
muss man auch an Praktikabilität und den Aufwand denken. Fundierte
wissenschaftliche Gutachten sind sehr aufwändig und teuer. Und möglicherweise
bringen sie im Ergebnis auch nichts anderes als das bislang für bewährt
Erachtete. Der richtige Weg muss einstweilen offen bleiben. Aber eine breite,
fortlaufende Diskussion und Auseinandersetzung, besonders auch um die methodischen
Grundlagen, wird beim Herausfinden des richtigen Weges sicher hilfreich
sein.
2.1 B-Axiome für das System der
Behinderungen B
B1 Die Störungen, die als Behinderungen geltend gemacht werden,
müssen so detailliert und operational[10] (z.B.
nach den Kriterienlisten[11] im ICD) wie möglich
und nötig nach Qualität, Ausprägung (z.B. schwer,
erheblich, stark) und Verlauf (z.B. Anfangsphase, Zwischenphase, Endphase,
Nachphase; akut, chronisch, Residuum=Restsymptomatik) zeitlich eingegrenzt
beschrieben werden. Hierzu gehört auch die Sicherheit der Diagnose
(G=Gesichert, V=Verdacht, Z=Zustand nach, A=Ausschluss von). Begründung:
Nur dann können im nächsten Schritt die Funktionsbeeinträchtigungen
FB angemessen beurteilt und skaliert werden.
2.2 FB-Axiome für das System von
Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen B
FB1 Hier sind alle Funktionsbereiche mit operationalen Kriterien anzugeben,
die mehr als nur eben merklich (kleinste quantitative Einheit nach
0), also mindestens deutlich beeinträchtigt sind. Begründung:
Nur wenn die Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen B
operational (> 3.1.6) klar bestimmt
sind, können die Auswirkungen der FB auf Lebensqualität und Teilhabe
angemessen beurteilt und im Prinzip auch skaliert werden. Hier kann z.B.
der ICF, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit, hilfreich unterstützen.
FB2 Wechselwirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen
FB
Das Problem ist grundsätzlich zwar gut gelöst worden von
der VersMedV[12], aber technisch nicht sauber und differenziert
ausgeführt, weil die Funktionsbeeinträchtigungen FB - in bb -
und Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigung AFB - in aa), cc),
dd) und unklar in ee) - vermischt werden. Ich übernehme die Formulierungen
aus 3d, hier aber beschränkt und spezifiziert für die Funktionsbeeinträchtigungen
FB. [ich füge jeweils ein FB2 davor]:
FB2 "aa) Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen
können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene
Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen."[13].
FB2 "bb) Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere
besonders nachteilig auswirken[14]. Dies ist vor allem
der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen an paarigen Gliedmaßen
oder Organen - also z. B. an beiden Armen oder beiden Beinen oder beiden
Nieren oder beiden Augen - vorliegen."
FB2 "cc) Die Funktionsbeeinträchtigungen FB können sich überschneiden."
FB2 "dd) Die Funktionsbeeinträchtigungen FB werden durch eine
hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt."
FB2 "ee) Von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit
eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit)
abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen,
die nur einen GdS von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes
der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte
Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen
mit einem GdS von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche
Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen."
FB2-RSff) Der seltene, aber grundsätzlich mögliche Fall wechselseitiger Kompensation oder Neutralisierung von Funktionsbeeinträchtigung soll hier der Vollständigkeit halber mit der Kennung FB2-RSff erwähnt werden. Beispiele: Trägheit und Impulsivität, Leichtsinn und zwanghafte Kontrolle. Wechselseitige Kompensation oder Neutralisierung spielt eine ganz zentrale und wichtige Rolle bei der Betrachtung der Axiome des Ausgleichs.
2.3 AFB-Axiome für das System der
Auswirkungen AFB von Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen
B auf Lebensqualität und Teilhabe
AFB1 Wechselwirkungen. Zwischen den AFB kann es Wechselwirkungen geben.
Die Wechselwirkungsaxiome regeln die grundsätzlich axiomatisch zugelassenen
Möglichkeiten, was im konkreten Einzelfall natürlich zu zeigen
oder zu begründen ist. Sie wurden in der Vers-MedV[15]
beschrieben und können als spezifische Axiome hier übernommen
werden [ich füge jeweils ein AFB1 davor]:
"Um die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer
Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
zueinander beurteilen zu können, muss aus der ärztlichen Gesamtschau
heraus beachtet werden, dass die Beziehungen der Funk-tionsbeeinträchtigungen
zueinander unterschiedlich sein können:
AFB1-aa) Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen
können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene
Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen.
AFB1-bb) Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere
besonders nachteilig auswirken. Dies ist vor allem der Fall, wenn Funktionsbeeinträchtigungen
an paarigen Gliedmaßen oder Organen - also z. B. an beiden Armen
oder beiden Beinen oder beiden Nieren oder beiden Augen - vorliegen.
AFB1-cc) Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können
sich überschneiden.
AFB1-dd) Die Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung werden
durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt.
AFB1-ee) Von Ausnahmefällen (z. B. hochgradige Schwerhörigkeit
eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit)
abgesehen, führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen,
die nur einen GdS von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes
der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte
Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen
mit einem GdS von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche
Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen."
Insgesamt sind also vier unterschiedliche Wechselwirkungsmöglichkeiten
zu berücksichtigen: aa) unabhängig, bb) verstärken, cc)
überlappen, dd) neutral.
2.4 A-Axiome des Ausgleichs und der Kompensation
(Inversen[16])
Ausgleichs- und Kompensationsmittel (Inversen) sind Gegenmittel - wie
Gift und Gegengift, Schuld und Tilgung, Krankheit und Behandlung - die
einen ursprünglichen Sachverhalt oder Zustand wieder herstellen. Sie
spielen eine ganz bedeutende Rolle im Gesundheitssystem und bei der Behinderung.
Denn die Aufgabe der Heilkunde besteht im Vorbeugen, Heilen, Bessern, Lindern
und Bewältigen von Krankheiten oder Beeinträchtigungen von Krankheitswert,
z. B. Behinderungen oder Verletzungen[17]. Transformiert
eine Operation A einen Sachverhalt S2 wieder in den ursprünglichen
Zustand S1, so funktioniert A als Inverse (Umkehrer, Rückverwandler,
Transformator). Formal kann man das so schreiben A(S2)=S1. Wendet man die
Behandlung A auf die Krankheit S2 an, so resultiert wieder Gesundheit S1.
Eine Brille (A) ist die Inverse zu schlecht sehen (S2) und erzeugt S1 (gut
sehen). Ein wirksames Medikament ist die Inverse zu einer Erkrankung: A(Kopfschmerzmittel)
= Frei von Kopfschmerz, Stent(Herzgefäß) (A) = Blutfluss wieder
intakt.
A1 Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen B können
durch Maßnahmen, Hilfen vollständig oder teilweise ausgeglichen
oder kompensiert werden. Hier kann man sich auch an den groben Behandlungszielen
bei Therapien orientieren: Heilung, Besserung, Linderung, Bewältigung.
2.5 T-Axiome für das System der Lebensbereiche[18] und Teilhabe
2.5.1 T1 Aufteilung der Lebensbereiche
Die Lebenswelt eines Menschen kann in verschiedene Teilhabe- oder Lebensbereiche
aufgeteilt werden: T1, T2, ..., Tj, ... Tn. Eine differenzierte und
praktikable Erfassung des Teilhabesystems ist schwierig. Für die Praxis
ist es aber sinnvoll, sich an den etablierten Systemen zu orientieren.
Da der Begriff der Teilhabe im ICF und im Bericht der Bundesregierung voneinander
abweicht, stelle ich beide Versionen zunächst einander gegenüber:
Teilhabe im ICF, S. 20, Tab. 2 | Teilhabe Bericht Bundesregierung 2016, S. 7 |
d1: Lernen und Wissensanwendung | K1 Familie und Soziales Netz |
d2: Allgemeine Aufgaben und Anforderungen | K2 Bildung und Ausbildung |
d3: Kommunikation | K3 Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation |
d4: Mobilität | K4 Alltägliche Lebensführung |
d5: Selbstversorgung | K5 Gesundheit |
d6: Häusliches Leben | K6 Freizeit, Kultur und Sport |
d7: Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen | K7 Sicherheit und Schutz der Person |
d8: Bedeutende Lebensbereiche | K8 Politische und gesellschaftliche Partizipation |
d9: Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben | - |
Man sieht, dass der ICF - formal konsequent und grundsätzlich nicht
zu beanstanden - einen weitgehend externalistischen Begriff der Teilhabe
unter Verdeckung des Lebensgefühls, Befindlichkeit und Verfassung,
Erlebensqualität und Wohlbefinden des betroffenen Individuums konzipiert
hat. Ich denke, dass "Gesundheit" wie im Bericht der Bundesregierung als
individuenbezogene ("reflexive"[19]) Teilhabe als Hauptdomäne
unter Einschluss des Lebensgefühls, Befindlichkeit und Verfassung,
Erlebensqualität und Wohlbefinden des Betroffenen praktisch besser
verständlich und handhabbar ist und eine eigene "Domänenüberschrift"
und Hervorhebung verdient hat. Tatsächlich kennt auch der ICF diesen
reflexiven Sachverhalt. Man findet ihn verdeckt unter der Kategorie d5
Selbstversorgung in d570, S. 191:
2.5.2 T2 Axiome der Teilhabebereiche
Die folgenden Axiome der Teilhabebereiche sind natürlich lediglich
Vorschläge und können nicht von einem einzelnen bestimmt werden.
Hier muss man abwarten, was Politik, Beirat der VersMedV, Betroffene und
ihre Verbände sowie die Sozialgerichtsbarkeit dazu sagen. Ich versuche
aber, mit der Formulierung der Axiome die Probleme differenziert darzustellen,
so dass der Diskussionsprozess hierdurch gefördert wird.
T2.1 Bereich: 0 NSF <= T1,NSF
o T2,.NSF o ... Ti,NSF ... Tn,NSF <= 100 NSF. Interpretation:
Der Teilhabebereich ist minimal 0 (Koma) und maximal 100 bezogen auf einen
sog. normalen Standardfall mit der Einheit NSF (siehe bitte N-Axiome).
T2.2 Gewichtung der Teilhabebereiche: Die Teilhabereiche
Ti können im Einzelfall unterschiedlich gewichtet sein, was
im Einklang mit den grundlegenden sozialrechtlichen Leitgedanken steht.
Wenn etwa Lebensbereiche mangels natürlicher Entwicklung kein besonderes
Interesse hervorrufen oder keine Bedürftigkeit vorliegt, sollte dieser
Bereich aus der Bezugsbasis herausgenommen oder geringer gewichtet werden.
Man kann eigentlich nicht gut auf etwas verzichten, was man gar nicht möchte[20].
2.6 Z-Axiome der Maßzahlen Z der
Einheiten AFB
Wir müssen beachten, dass die übliche Arithmetik, die uns
von der Schule so vertraut ist, nicht für die Größen -
die aus Maßzahl und Maßeinheit
bestehen, wie es uns die Physik lehrt - B, FB und AFB zu gelten braucht,
auch wenn es im Einzelfall durchaus einmal möglich sein kann.
Z1 Der Maßzahlraum ZAFB = {0, 10, 20, 30, 40, 50, 60, 70, 80,
90, 100}. Interpretation: Es gibt 11 Maßzahlen zwischen 0 und 100
in Zehnerschritten.
Z2 Die Rechenregeln der üblichen Arithmetik, Addition und Multiplikation,
gelten nicht allgemein, obwohl sie gelegentlich zutreffen können oder
erfüllt werden. Es sei " o " das Zeichen für eine Verknüpfung
von Auswirkungen AFB von Funktionsbeeinträchtigungen FB durch Behinderungen
B.
Z3: 0 <= Z1 o Z2 o Z3 o Z4 o Z5 o
Z6 o Z7 o Z8 o Z9 o Z10 <= 100 . Interpretation: Weniger
als 0 und mehr als 100 geht nicht. Das Minimum ist immer 0, das Maximum
ist immer 100[21]. Daraus ergeben sich dann für
jede beliebige Teilmenge aus ZAFB das Minimum 0 und das Maximum 100.
Z4: Arithmetrisierungsregel: Sei in einem Einzelfall ohne Beschränkung
der Allgemeinheit:
70 AFB1 o 50 AFB2 o 80 AFB3 o 40
AFB4 = 80 AFB1234.
In diesem Fall kann man wie folgt normieren und damit "arithmetrisieren"
im üblichen schulmathematischen Sinne. 80 : (70 + 50 + 80 +
40) = 1/3. Mit diesem Faktor 1/3 können wir nun die AFB multiplizieren
und erhalten:
23,3 AFB1 + 16,7 AFB2 + 26,7 + AFB3 + 13,3 AFB4 = 80 AFB1234
Diese Zahlenschreibweise ist uns vertrauter und sie lässt sich
auch leichter interpretieren, vor allem das " + " Zeichen, wenn man sie
zu einander in Beziehung setzt. Viel gewonnen ist damit nicht, aber es
sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden und es macht
vielleicht die grundlegende sozialrechtliche Idee der Verknüpfung
" o " im Gegensatz zu " + " noch einmal klarer.
Anmerkung: Formal ergibt sich zwingend, wenn Zi o Zj = 0 möglich
ist, dass dann auch Zi = - Zj = oder - Zi = Zj
gelten muss. Das ist gut im Einklang mit der Idee der Inversen.
2.7 N-Axiome der Normierung von Standardverfahren
N1 Für die Skalierung müssen praxistaugliche Normierungsstandards
- einstweilen wenigstens orientierungsweise - angegeben werden.
N2 Es gilt die sozialrechtliche Konvention, AFB=GdB unter 20, d.h.
also, solche mit dem Zahlenwert 10, die kleinste ebenmerkliche Behinderung,
nicht zu berücksichtigen[22].
3.1 Methodische Vorüberlegungen
Die Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen sollten
sich im Regelfall im Erleben niederschlagen[24], also
im Erleben bemerkt, gespürt, empfunden oder gefühlt werden. Es
geht daher letztlich um Skalierung von Erleben der Beeinträchtigungen
bei Lebensqualität und Teilhabe. Hier können sich nun einige
besondere Probleme ergeben:
3.1.1 Subjektwissenschaftlicher[25]
Ansatz
Im Regelfall ist die wichtigste und Haupt-Quelle zur Erkundung der
Beeinträchtigungen bei Lebensqualität und Teilhabe die ProbandIn.
Daher sollte man auf die persönliche Untersuchung und Exploration,
wenn es nur irgendwie geht, nicht verzichten. Andererseits darf man auch
die Angaben der ProbandInnen nicht einfach unkritisch und ungeprüft
so übernehmen. Dabei gibt es mehrere Fehler-Quellen, die man beachten
sollte, und die im folgenden (3.1.2 -3.1.6) kurz beschrieben werden. Die
subjektiven Angaben können das Erleben im Großen und Ganzen
richtig, falsch (zu stark oder zu schwach) oder unklar und unsicher wiedergeben.
Hierbei stellt sich die Frage, wie wir das feststellen können? Zu
den Hauptfehlerquellen gehört die nicht fachgerechte Exploration.
Denn die hohe Kunst besteht darin, der ProbandIn einerseits zu helfen,
die wichtigen Sachverhalte zu verstehen und zu beantworten, andererseits
muss man aufpassen, suggestive Vorgaben und andere unangemessene Einflüsse
bei der Befragung[26] zu minimieren.
3.1.2 Interessen der ProbandIn
Explorationsangaben hängen auch ab von den - bewussten und nicht
so bewussten - Interessen und Motiven der ProbandIn. Das trifft für
Begutachtungssituationen oft in besonderem Maße zu. Die Angaben Betroffener
in Gutachten- oder ganz allgemein in sehr interessegeleiteten Situationen
können daher auch tendenziös, einseitig, unkritisch verzerrt
sein[27]. Daher erhebt sich die Frage: was ist nun
die Wahrheit, was kann als gesicherte Datenbasis für weitergehende
Schlussfolgerungen dienen (> 3.1.5 Validität)?
3.1.3 Handhabung primärer Erlebensstörungen
Der subjektive Erlebensraum - auch subjektiver Bewusstseinsstrom[28]
- kann als das bezeichnet werden, was wir bewusst erleben, also in unserem
Bewusstsein vorfinden[29]. Beeinträchtigungen
können natürlich nur dann berichtet werden, wenn sie auch erlebt,
also gefühlt, empfunden, gespürt oder mindestens kognitiv bemerkt
werden. Doch auch wenn die affektiven Erlebensfunktionen nicht gestört
sind, also funktionieren, können Beeinträchtigungen nicht bemerkt
oder genannt werden, weil die entsprechenden Wünsche und Bedürfnisse
nicht oder nur sehr gering ausgebildet sind (> 3.1.4).
3.1.4 Unterschied objektive und subjektive
Beeinträchtigungsbewertung
Hier sind zwei Hauptquellen zu berücksichtigen: Einmal, dass es
zu keinem besonderen Beeinträchtigungserleben kommt, weil die entsprechenden
Interessen, Wünsche und Bedürfnisse nicht vorliegen (> 3.1.4.1).
Im zweiten Falle bestehen Zweifel, ob die Beeinträchtigung subjektiv
tatsächlich so erlebt wird, wie sie berichtet wird (> 3.1.4.2).
3.1.4.1 Kein Beeinträchtigungserleben aufgrund
fehlender Bedürfnisse
Menschen, z.B. aus prekären Verhältnissen können manche
Teilhaben nicht vermissen, weil die entsprechenden Bedürfnisse in
der Sozialisation nicht entsprechend gefördert und ausgebildet wurden.
Sie werden dann wenig subjektive Beeinträchtigung erleben und berichten,
obwohl objektiv betrachtet eine deutliche Beeinträchtigung vorliegt.
3.1.4.2 Beeinträchtigungserleben unsicher
oder zweifelhaft
Störungen und ihre Ausprägungen können vorgegeben (simuliert)
oder verleugnet (dissimuliert) werden. Es stellt sich daher nicht selten
die (Einzel-) Frage, wie Zweifel geklärt und ausgeräumt werden
können, was im Gutachten ausgewiesen und erörtert werden sollte.
3.1.5 Objektivität, Reliabilität
und Validität der Beeinträchtigungsangaben
Die drei wichtigsten testtheoretischen Kriterien, die man aber ganz
allgemein auf Informationen und Datenerhebungsmethoden anwenden kann sind:
Objektivität, Reliabilität (Stabilität auf längere
Sicht) und Validität.
Objektivität heißt, dass ein Ergebnis (Befund,
Diagnose) unabhängig von der UntersucherIn sein sollte. So hing früher
die psychiatrische Diagnose oft davon ab, an welche PsychiaterIn oder an
welche Einrichtung man geriet, d.h. die Feststellungen waren sehr von der
UntersucherIn oder der Einrichtung abhängig.
Reliabilität meint die Genauigkeit der Erfassung
eines Sachverhalts (10% +-, 20%+-, ...). Auf längere Sicht kann man
dann auch von Stabilität sprechen - was dann angegeben
werden sollte. Denn für jeden Befund gilt die Frage: für welchen
Zeitraum wird Gültigkeit beansprucht? Das ist dann wichtig, wie meist
bei GdB-Gutachten, wenn es darum geht, in welchem Ausmaß Beeinträchtigungen
über längere Zeiträume vorgelegen haben sollen.
Validität schließlich bedeutet hier, ob und
wie sehr die Beeinträchtigungsangaben der ProbandIn tatsächlich
erlebte oder bemerkte Beeinträchtigungen (im Wesentlichen) richtig
wiedergeben. Ein Validitätsproblem liegt vor, wenn ein Verfahren nicht
das feststellt, was es feststellen soll.
3.1.6 Testgütekriterien
und Operationalisierung
Die test- oder informationstheoretischen Gütekriterien hängen
eng mit dem Operationalisierungskonzept zusammen. Vieles, was wir Seele
und Geist[30] zurechnen, ist nicht direkt beobachtbar.
Die Merkmale von Seele und Geist sind Konstruktionen. Daher sind Aussagen
über Seele und Geist (befinden, fühlen, denken, wünschen,
wollen, eingestellt sein, ...) besonders anfällig für Fehler.
Damit man sich nicht nur in rein geistigen Sphären bewegt, ist es
daher in vielen Fällen sinnvoll, ja notwendig, unsere Konstruktionen
seelischer Merkmale und Funktionsbereiche an Konkretes, Sinnlich-Wahrnehmbares,
Zählbares zu knüpfen. Damit haben wir die wichtigsten praktischen
Kriterien für Operationalisiertes benannt (in Anlehnung an das testtheoretische
Paradigma[31]). Ein Begriff kann demnach als operationalisiert
gelten, wenn sein Inhalt durch wahrnehm- oder zählbare Merkmale bestimmt
werden kann.
Viele Begriffe in der Psychologie, Psychopathologie, in Gesetzen und
in der Rechtswissenschaft sind nicht direkt beobachtbare Konstruktionen
des menschlichen Geistes und bedürften daher der Operationalisierung.
Welcher ontologische[32] Status oder welche Form der
Existenz ihnen zukommt, ist meist unklar. Je konkreter, genauer und zutreffender
(valide) die Operationalisierungen der Beeinträchtigungen sind, desto
besser können sie die Beeinträchtigungen repräsentieren.
3.2 Skalierung des Erlebens
Hier sind folgende Aufgaben zu bewältigen: Skalierung des Elementarerlebens,
Skalierung komplexer (zusammengesetzter) Erlebenseinheiten und die Skalierung
über die Zeit.
3.2.1 Skalierung
des Elementar-Erlebens (kleinste Erlebenseinheiten)
Das Erleben eines anderen Menschen zu erkunden, kann sehr einfach aber
auch sehr schwierig sein. Daher ist es sinnvoll, das wechselseitige Verstehen[33]
nicht einfach naiv anzunehmen, sondern - bei kritischen Sachverhalten -
zu prüfen. Die zahlreichen Voraussetzungen, die in den Kommunikationsprozess
eingehen, lassen sich gut nachvollziehen am Beispiel der Frage "Wie geht
es Ihnen?"[34]. Hier geht es speziell um das Erleben
von Teilhabe, ein Wort mit dem viele Menschen nichts Genaues
anfangen können. Die Kernfrage ist immer, welche Beeinträchtigungen
an Teilhabe vorliegen und wie ausgeprägt sie erlebt wurden. Für
die Skalierung im engeren Sinne helfen die eigentlichen Quantifizierungsfragen:
wie sehr (Stärke, Intensität), wie oft (Häufigkeit), wie
lange (Dauer)?
3.2.2 Skalierung komplexen
(zusammengesetzten) Erlebens
Beeinträchtigungserleben kann verschiedene Quellen haben: körperliche,
affektive, kognitive und exekutive. Das Gemeinsame an verschiedenen Quellen
ist das Beeinträchtigungsgefühl oder, allgemeiner, die Beeinträchtigungsbewertung,
so dass eine Verknüpfung auch unterschiedlicher Quellen kein grundsätzliches
Problem darstellen sollte.
3.2.3 Skalierung des Erlebens über längere
Zeitabschnitte
Das Prinzip - nicht unbedingt die empirische Praxis - ist einfach:
man bewertet einzelne Teile und das Gesamt und untersucht sodann, ob sich
eine Funktion finden lässt, wie man aus den Teilen den Gesamtwert
bestimmen kann. Eine einfache Funktion wäre z.B. der arithmetische
Mittelwert aus den Teilen verglichen mit dem Gesamtwert. Ob und wie genau
das geht, das lässt sich also grundsätzlich untersuchen[35].
3.3 Skalierung der
Behinderungen B, der Funktionsbeeinträchtigungen FB und der Auswirkungen
AFB
Hier müssen die Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB von Behinderungen B auf Lebensbereiche T bezogen sein (> 2.5).
Dadurch können auch komplizierte und schwierige Fragen der Kausalität
aufgeworfen werden.
3.3.1 Die
Skalierung der Behinderungen B nach Axiom A1
Die Kernfrage lautet hier: welche Störung von Krankheitswert liegt
vor? Zudem ist natürlich der Schweregrad von besonderem Interesse.
Weiterhin gehören der Verlauf, Anfang und Ende, sowie die Periodizität
dazu - falls es eine gibt. Bei den meisten (psychischen) Störungen
liegen hierzu Kriterien im ICD oder DSM vor, wenn auch das Gesundheitssystem
bislang leider darauf verzichtet hat, durch Vorschrift und Vergütung
die Heilfachkundigen dazu zu verpflichten und zu motivieren, nicht nur
die Codierungen für die Diagnosen mitzuteilen, sondern auch die spezifischen
Kriterien zu erfassen auf denen sie beruhen. Das erschwert es beachtlich,
die Funktionsbeeinträchtigungen FB und die Auswirkungen auf Lebensqualität
und Teilhabe zu schätzen, die dann aus Attesten, Berichten oder Explorationsbefunden
mühsam rekonstruiert werden müssen, sofern die notwendigen Informationen
hierzu überhaupt vorliegen. Für die Stellung einer Diagnose gilt:
Es gibt eine Anzahl n von Kriterien K = K1, K2, ... Ki, ... Kn, von denen
mindestens k - auch als cut off bezeichnet - gegeben oder
erfüllt sein müssen, damit die Diagnose vergeben werden darf.
Bezeichnen wir mit AF die Auswahlfunktion, so muss AF(K) >= k sein, um
die Diagnose stellen zu können. Man setzt hierbei "nur" noch die Gültigkeit
der Summenscorefunktion[36] voraus, d.h. dass ein Mehr
an Kriterien auch ein Mehr an Realisation einer Störung von Krankheitswert
bedeutet, was in den internationalen Klassifikationssystemen weitgehend
erfüllt sein dürfte. Durch die Auswahlfunktion, die praktisch
bei allen Diagnosen in den internationalen Klassifikationssystemen Anwendung
findet, kommt es zu vielen Untertypen: Depression ist nicht gleich Depression,
Borderline ist nicht gleich Borderline usw. obwohl sie per definitionem
als gleichwertig behandelt werden. Müssen z.B. aus 8 Kriterien mindestens
5 erfüllt sein, so gibt es rein elementar-kombinatorisch 56 unterschiedliche
Diagnosetypen[37], die allesamt als äquivalent
angesehen werden[38].
Nachdem von den Diagnosesystemen keine Standardisierungen zur Skalierung
ausgearbeitet wurden, kann der Sachverständige im Einzelfall nur angeben,
auf welche Kriterien und Befunde mit welcher Begründung er seine Skalierung
stützt.
3.3.2 Die Skalierung der Funktionsbeeinträchtigungen
FB nach Axiom A2
Die Skalierung der Funktionsbeeinträchtigungen ist weit schwieriger,
weil die den Diagnosecodes zugrundeliegenden Kriterien oft unbekannt sind.
Hinzu kommt, dass der ICF keine Schnittstelle zu den ICD-Diagnosen anbietet.
Doch damit nicht genug, es fehlen auch noch Skalierungsregelungen, Normierungen
und Standardbeispiele für die Funktionsbeeinträchtigungen FB.
Und schließlich bringen die zahlreichen Überlagerungen und Wechselwirkungen
zusätzliche Probleme mit sich. Da vier Wechselwirkungsmöglichkeiten
zu berücksichtigen sind, gibt es bei 10 Funktionsbereichen bereits
4^10 = 10.485.576 Möglichkeiten. Solche kombinatorischen Explosionen
sind nicht annähernd praktisch vernünftig zu bewältigen.
Die bisherige "Methode" meinen nach pi mal Daumen liefert zwar Ergebnisse,
aber mit guter wissenschaftlicher Praxis hat das oft wenig zu tun. Gesucht
ist also ein praktikabler Weg dazwischen. Bei systematischer Prüfung
kann man der kombinatorischen Explosion nur entgehen, wenn man die Funktionsbeeinträchtigungsbereiche
begrenzt, auf das Wesentliche beschränkt und zusammenfasst, z.B. in
folgende Hauptbereiche: FB Körperliches System, FB Affektives System,
FB Kognitives System, FB Handlungssystem (Motorik, Lenkung, Steuerung).
Ein immer gangbarer, vernünftiger und relativ einfacher Weg wäre
z.B., die Kriterien und Datenbasis für den zu beurteilenden Einzelfall
offen zu legen, aufgrund derer die Schätzungen abgegeben werden, was
in der Praxis auch meist so gehandhabt werden dürfte, wenn auch nicht
immer mit der nötigen Transparenz und Klarheit.
Die Funktionsbeeinträchtigungen hängen von der aktuellen
Manifestation der Behinderung (Störung, Erkrankung) ab. Aus der Diagnose
allein lässt sich nichts Sicheres schließen. Nicht aktuell und
schon gar nicht über die Zeit. Im Allgemeinen liegen keine genauen
Befunde zu den Funktionsbeeinträchtigungen vor, so dass diese geschätzt
werden müssen. Dafür eignet sich folgendes dreidimensionale Schema:
1. X als Achse für die Zeiteinheiten ZE1, ZE2, ... ZEi.... ZEn
2. Y als Achse für die Funktionsbeeinträchtigungen FB1, FB2,
...FBj... FBm
3. Z als Achse für die Ausprägungen der Funktionsbeeinträchtigungen
min, leicht, mittel, starke, max.
3.3.2.1 Skalierung körperliche
Funktionsbeeinträchtigungen psychischer Störungen
Hier geht es um sog. psychosomatische Störungen zweierlei Typs.
Einmal die begleitenden körperlichen Funktionsbeeinträchtigungen
z.B. bei Angst und Panikattacken in den Organsystemen, z.B. Atmung, Herz,
Kreislauf, Haut, Skelett, Bewegung, Muskel, Hormone, Nerven, ... . Und
zum anderen durch psychische Störungen hervorgerufene psychosomatische
Störungen im engeren Sinne nach einem psychosomatischen Störungsmodell.
X: Beginn, Verlauf, aktueller Stand, Prognose
Y: Körperliche Funktionsbeeinträchtigungen FB1, FB2,
...FBj... FBm
Z: Ausprägungen der Funktionsbeeinträchtigungen min,
leicht, mittel, starke, max.
3.3.2.2 Skalierung Funktionsbeeinträchtigungen
im affektiven Bereich
Zum affektiven Bereich gehören Antrieb, Energie, Wille,
Ausdauer, Befinden, Gefühle, Stimmung, Bedürfnisse, Wünsche,
Interessen. Ziele[39].
X: Beginn, Verlauf, aktueller Stand, Prognose
Y: Körperliche Funktionsbeeinträchtigungen FB1, FB2, ...FBj...
FBm
Z: Ausprägungen der Funktionsbeeinträchtigungen min, leicht,
mittel, starke, max.
3.3.2.3 Skalierung Funktionsbeeinträchtigungen
im kognitiven Bereich
Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Lernen[40]
(Wissenserwerb, Fertigkeiten, Kompetenzen), Beurteilen und Bewerten[41],
Planen.
X: Beginn, Verlauf, aktueller Stand, Prognose
Y: Körperliche Funktionsbeeinträchtigungen FB1, FB2, ...FBj...
FBm
Z: Ausprägungen der Funktionsbeeinträchtigungen min, leicht,
mittel, starke, max.
3.3.2.4 Skalierung Funktionsbeeinträchtigungen
im Handlungs-Bereich[42]
Entscheiden, Entschliessen[43], Ausführen
(Exekutivfunktionen), Handeln und Verhalten, Lenken und Steuern. Gestaltung
einzelner Bereiche, z.B.: Ausbildung, Arbeit und Beruf; Beziehungen (Familie,
Freunde); Freizeit, Spiel, Sport.
X: Beginn, Verlauf, aktueller Stand, Prognose
Y: Körperliche Funktionsbeeinträchtigungen FB1, FB2, ...FBj...
FBm
Z: Ausprägungen der Funktionsbeeinträchtigungen min, leicht,
mittel, starke, max.
Rein kombinatorisch führt dies zu 26 = 64 Möglichkeiten.
Die müssen und können in der Regel nicht alle der Reihe nach
systematisch kombinatorisch überprüft werden. Es genügt,
die einzelnen Faktoren zu benennen, zu beschreiben und zu erörtern.
Vereinfacht ergibt sich ein Zweischrittverfahren:
Informativ die Orientierungsempfehlungen
aus VersMedV (2015) GdB/GdS
5.1 Depression
Im ICD-10 finden sich 28 Störungen[44] mit
Depressionen. Die häufigsten Kategorien sind monopolar (ausschließlich
depressiv), bipolar (sowohl depressiv als auch maniform), mit und ohne
Psychosomatik, rezidivierend (wiederkehrend; periodisch, zyklisch) oder
nicht. Die betroffenen Hauptbereiche sind der affektive Bereich mit Antrieb
und Stimmung. Man unterscheidet praktisch drei Schweregrade (leicht, mittel
schwer) und es gibt unterschiedliche Dauern und Verläufe (Phasen,
Zyklen, Periodika).
5.1.1 Diagnostische Kriterien bei Depressionen
5.1.1.1 Allgemeine Diagnostische Kriterien
Depressive Episode F32 (S. 133)
5.1.1.2 Somatisches Syndrom[45]
(S. 134)
wenn mindestens 4 der 8 Symptome[46] erfüllt
sind:
5.1.1.3 Leichte depressive Episode Diagnostische
Kriterien (S. 135f)
Beeinträchtigungserleben nach dem Teilhabesystem Bundesregierung
(> 2.5)
K1 Familie und Soziales Netz: Qualität und Häufigkeit der
Kontakte und Bindungsbeziehungen eingeschränkt.
K2 Bildung und Ausbildung bzw. Fort- und Weiterbildung: eingeschränkt.
K3 Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation: eingeschränkt.
K4 Alltägliche Lebensführung: eingeschränkt.
K5 Gesundheit (Erleben, Lebensqualität, Wohlergehen): erheblich
eingeschränkt.
K6 Freizeit, Kultur und Sport: eingeschränkt.
K7 Sicherheit und Schutz der Person: eingeschränkt.
K8 Politische und gesellschaftliche Partizipation: eingeschränkt.
Ergebnis: Depressionen können alle Teilhabebereiche mehr oder minder beeinträchtigen, je schwerer (stärker, öfter, länger) desto mehr. Der GdB kann von 10 bis 80 oder - in Extremfällen - sogar noch höher ausfallen. Schätzwerte: Leicht 10-30, mittelgradig, 30-50, schwer > 50.
Kausalitätsbetrachtungen (nach Abschnitt 4)
5.2 Posttraumatische Belastungsstörung
Der ICD unterscheidet zwischen den zwei unterschiedlichen Traumatatypen[50]
nach ihrer Entstehung nicht ausdrücklich und klar. Im ICD-10 wird
unter F43.1 ausgeführt[51]: "Diese entsteht als
eine verzögerte oder protrahierte[52] Reaktion
auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer
Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem
Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.
Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische
Persönlichkeitszüge oder neurotische Erkrankungen in der Vorgeschichte
können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken
und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder
notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären.
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich
aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen
oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls
von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden
sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit
der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten
und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten.
Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung,
einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung
auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen
und Merkmalen verbunden, und Suizidgedanken sind nicht selten.
Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis
Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle
kann jedoch eine Heilung erwartet werden. Bei wenigen Betroffenen nimmt
die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht
dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über."
5.2.1 Diagnostische Kriterien Posttraumatische Belastungsstörung (S. 174f)
B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen, lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.
D. Entweder 1. oder 2.
1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige
Aspekte der Belastung zu erinnern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität
und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei oder mehr der
folgenden Merkmale:
a. Ein- und Durchschlafstörungen,
b. Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
c. Konzentrationsschwierigkeiten,
d. Hypervigilanz,
e. erhöhte Schreckhaftigkeit.
Die Kriterien B., C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach
dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (Aus
bestimmten Gründen, z. B. wissenschaftliche Untersuchungen, kann ein
späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert
angegeben werden.)"
Beeinträchtigungserleben nach dem Teilhabesystem Bundesregierung
(> 2.5)
K1 Familie und Soziales Netz: Qualität und Häufigkeit
der Kontakte und Bindungsbeziehungen eingeschränkt.
K2 Bildung und Ausbildung bzw. Fort- und Weiterbildung: eingeschränkt.
K3 Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation: eingeschränkt.
K4 Alltägliche Lebensführung: eingeschränkt.
K5 Gesundheit (Erleben, Lebensqualität, Wohlergehen): erheblich
eingeschränkt.
K6 Freizeit, Kultur und Sport: eingeschränkt.
K7 Sicherheit und Schutz der Person: besonders beeinträchtigt.
K8 Politische und gesellschaftliche Partizipation: eingeschränkt.
Ergebnis: Posttraumatische Belastungsreaktionen können alle Teilhabebereiche mehr oder minder beeinträchtigen, je schwerer (stärker, öfter, länger) desto mehr. Der GdB kann von 10 bis 60 oder - in Extremfällen, etwa bei häufigen schweren Stuporzuständen - sogar noch höher ausfallen. Schätzwerte: Leicht 10-30, mittelgradig, 30-40, schwer > 40.
Kausalitätsbetrachtungen (nach Abschnitt 4.)
5.3 Borderline-Persönlichkeitsstörung
F60.31
Der ICD-10, S. 241f, führt zur Borderline-Störung Typ F60.31
aus:
5.3.1 „Diagnostische Kriterien
5.3.2 Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen
FB bei Borderline
Die Auswirkungen AFB der Funktionsbeeinträchtigungen FB ergeben
sich, wie vorher ausgeführt, aus den diagnostischen Kriterien
für Borderline Persönlichkeitsstörungen, hier F60.31, in
Bezug auf die Teilhabekriterien (> 2.5) unter
besonderer Berücksichtung von Schwere und Verlauf und können
ganz unterschiedlich sein.
Beeinträchtigungserleben nach dem Teilhabesystem Bundesregierung
(> 2.5)
K1 Familie und Soziales Netz: Nicht selten massive Beeinträchtigungen
und Probleme mit - insbesondere nahen - Bindungsbeziehungen.
K2 Bildung und Ausbildung bzw. Fort- und Weiterbildung:
kann eingeschränkt sein.
K3 Erwerbstätigkeit und materielle Lebenssituation:
kann eingeschränkt sein.
K4 Alltägliche Lebensführung: kann eingeschränkt
sein, muss aber nicht.
K5 Gesundheit (Erleben, Lebensqualität, Wohlergehen):
die Lebensqualität kann als erheblich eingeschränkt empfunden
werden.
K6 Freizeit, Kultur und Sport: kann eingeschränkt
sein, muss aber nicht.
K7 Sicherheit und Schutz der Person: kann eingeschränkt
sein (selbstverletzendes, impulsives Verhalten).
K8 Politische und gesellschaftliche Partizipation: kann
eingeschränkt sein, muss aber nicht.
Ergebnis: Borderline-Persönlichkeitsstörungen können alle Teilhabebereiche mehr oder minder beeinträchtigen, je schwerer (stärker, öfter, länger) desto mehr. Der GdB kann von 20 bis 60 oder - in Extremfällen mit vielen Impulsdurchbrüchen - sogar noch höher ausfallen. Schätzwerte: Leicht 10-30, mittelgradig, 30-50, schwer > 50.
Kausalitätsbetrachtungen (nach Abschnitt 4.)
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