"Integrative Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen"
Fiedler, Peter (2000). Integrative
Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen. Göttingen:
Hogrefe.
373
Seiten. ISBN 3-8017-1355-5 DM 69.00 Eingang des Rezensionsexemplars
am 3.3.2000.
Engagierte Rezension in 10 Teilen von Rudolf Sponsel, Erlangen (09.00-11/01)
Hier Fiedler_2: Teil
4 (Querverweise
Sonderservice Kapitel 4) Teil
5 Teil
6
Fiedler_1: Teil
0 Teil
1 Teil
2 Teil
3 Anhang:
Materialien,
Belege, Querverweise
_Fiedler_3Teil
7 _ Teil
8 _ Teil
9
Hier wird die LeserIn erwarten, daß der Autor darlegt, was "Integrative Psychotherapie" nach seinem Verständnis ist und nicht ist, sein und nicht sein soll und weshalb sie auf einmal jetzt möglich sein soll, wo dies doch von den deutschen VerhaltenstherapeutInnen - bis auf Grawe et al. (1994 ff) - immer als verfrüht oder zu schwierig problematisierend abgewiegelt wurde. Dies leistet das Kapitel auch, wenn auch teilweise recht unterschiedlich. Nun, Peter Fiedler beginnt nach unserem Geschmack, doch unser aber folgt:
"4.1 Therapieschule
Nachsitzen ohne Ende, und immer die gleichen Lehrer
In den Psychotherapieschulen herrscht mit Blick auf die Persönlichkeitsstörungen
(wie auch darüber hinaus) nach wie vor ein eigenwilliger "Omnipotenzanspruch"
vor. Dieser polarisierende Anspruch hat sich insbesondere im deutschsprachigen
Raum seit der Publikation von "Psychotherapie im Wandel" durch Grawe und
Mitarbeiterinnen (Grawe, Donati & Bernauer, 1994) zeitweilig eher noch
verschärft. Das ist eine ausgesprochen ungute Situation. Denn das
Problem der schulübergreifenden Integration unterschiedlicher Psychotherapiestrategien
sowie Fragen zur selektiven oder differenziellen Indikation ...
... diese Probleme der in -> Kapitel 1 aufgeworfenen Indikationsfragen
können überhaupt nicht gegeneinander entschieden werden. Sie
lassen sich schulübergreifend sinnvoll nur miteinander diskutieren.
Eine solche Diskussion erfordert zugleich eine hohe
Bereitschaft zur Selbstkritik. Denn die Zuständigkeitsdiskussion rückt
endlich und zwangsläufig die bisher sträflich von den Therapieschulen
vernachlässigte Frage des Geltungsanspruchs und der Realgeltung
der jeweiligen Konzeption in den Mittelpunkt (Bastine, 1986; Fiedler, 1994)."
(S. 56)
Der
traditionelle Forschungsdesign-Empirismus ist ein Irrweg:
Nehmen wir den Autor erst nur mal milde beim Wort, so gibt es vier Hauptklassen
zu berücksichtigender Dimensionen für die Therapieplanung und
Durchführung, nämlich [In
Wirklichkeit sind es längst nicht alle]:
Gehen wir nur von einem Dutzend therapeutischer Strategien
aus, also TS=12, von SP=12 spezifischen psychischen Problemen, von nur
PS1=12 Persönlichkeitsstörungs-Klassen, von nur weiteren PS2=12
relevanten komorbiden anderen Störungsmöglichkeiten und auch
nur von einem Dutzend, RB=12, unterschiedlicher Rahmenbedingungen, so ergeben
sich nach diesen reduzierten Klassifizierungen bereits folgende Möglichkeiten:
(1) Nehmen wir der Einfachheit halber an, die sich die therapeutischen Strategien nicht wiederholen, jede Teilmenge von 1 bis 12 möglich sein soll und nur ihre Anordnung wichtig ist, dann ergeben sich bei 12 Strategien folgende Möglichkeiten:
F1:Anzahl Strategien = 2N - 1 = 212 - 1 = 4096 - 1 = 4095 [F17]
Braucht man zur empirischen Untersuchung einer Strategie eine Mindeststichprobengröße von T=30 (Therapiegruppe) und K=30 (Kontrollgruppe), dann brauchen wir:
F2: 60 * 4095 = 245 700 Versuchspersonen
nur für die Kombinatorik der Reihenfolge und die Möglichkeiten der therapeutischen Strategien.
(2) Kombinieren wir 12 psychische Probleme, 12 Persönlichkeitsklassen und 12 komorbide andere Störungsmöglichkeiten und lassen wir höchstens je bis zu drei Komorbiditäten zu, so ergibt sich die Rechnung nach der Frage, wie viele Auswahlen von 1...3 aus 12 gibt es? Dies folgt der Formel für Kombinationen ohne Wiederholung:
F3.1: für i=1: n! / [(n-i)!*i!] = 12! /[(12-1)!*1!]
= (12*11*...)/(11*...) = 12
F3.2: für i=2: n! / [(n-i)!*i!] = 12! /[(12-2)!*2!]
= (12*11*10!)/(10!*2*1) = 66
F3.3: für i=3: n! / [(n-i)!*i!] = 12!
/[(12-3)!*3!] = (12*11*10*9!)/(9!*3*2*1) = 220
Insgesamt ergeben sich also 12 + 66 + 220 = 298 komorbide Möglichkeiten in einer Gruppe von 12 Persönlichkeitsmerkmalen.
Da wir drei Problemklassen mit drei Persönlichkeitsklassen und drei komorbiden anderen Störungen kombinieren können, ergeben sich
F4: 298 * 298 * 298 = 26 463 592
- also 26 Millionen 463 Tausend und 592 - unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmalskombinationen.
Jetzt fehlen uns noch die Kombinationen der unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Wir gingen von 12 aus. Lassen wir jede Kombination zu, ergeben sich 4095 unterschiedliche Rahmenbedingungen. Kombinieren wir die 4095 unterschiedlichen Rahmenbedingungen mit den Persönlichkeitsmerkmalskombinationen, erhalten wir
F5: 1,08368 * 1011 = rund 108 Milliarden Kombinationen
Kombinieren wir diese rund 108 Milliarden Persönlichkeitsmerkmalskombinationen mit den 4095 unterschiedlichen therapeutischen Strategien, so sind wir bei rund 444 Billionen Varianten. Setzen wir für jede dieser Varianten 30 Treatmentpersonen und 30 Kontrollgruppenpersonen ein, so brauchen wir für das Untersuchungsdesign nach diesem Ansatz 26,6 Billiarden Erwachsene (da Persönlichkeitsstörungen erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden können).
Das zumindest ist die Art der Wissenschaft, die der integrative Psychotherapeut Peter Fiedler - wie seine empiro-szientistisch orientierten KollegInnen - uns theoretisch nahelegen, wenn man seinen Ansatz konsequent ausformuliert, was er, betrachten wir uns diese Zahlen - verständlicherweise - nicht tut.
Betrachten wir nun, wie viele echte Untersuchungen tatsächlich vorliegen, so können wir uns fragen, wie viele es sein müßten, damit man sie repräsentativ nennen kann? Nun, wir haben rund 444 Billionen Varianten. Nehmen wir an und seien wir großzügig, es lägen 4440 differenzierte Therapiestudien zu unseren Persönlichkeitsstörungsvarianten in einem Kulturraum vor, dann wäre dies eine Rate von
F6: 4440 / 444 000 000 000 000 = 0,000 000 000 01 %.
Das wäre dann praktisch 0 (manche Programme könnten diese 0 gar nicht mehr darstellen). Da man nach Grawe et al. (1994, S. 50) für Meta-Analysen alle Studien braucht, könnte man sagen, selbst mit 4440 Spezialstudien hätten wir eine Repräsentation, die praktisch 0 ist. Zu den 150 Billionen Dyadenmöglichkeiten einer Einzelpsychotherapie siehe hier.
Was sagt ein solches wissenschaftliches Ergebnis für einen konkreten Einzelfall aus, der sich fast immer durch eine individuelle Einzigartigkeit von den Treatmentbedingungsmerkmalen unterscheidet?Was unterscheidet nun eine solche Wissenschaftskonzeption von Zufall, Willkür, Astrologie, Kaffeesatzlesen oder esoterischen Eingebungen? Nun, es ist "nur" die Macht dieser Lehrstühle.
Sieht man sich die Zahlen und ihre Bedeutung an, muß man wohl feststellen: dieser Ansatz kann es nicht sein. Welcher ist es aber dann?
Der
idiographische Heilmittelansatz
Nun, es liegt auf der Hand, daß wir für
die Praxis ein idiographisches Einzelfallparadigma
brauchen, eine Wissenschaft, die vom individuellen Einzelmenschen und wie
man genau ihn in seinem Lebenskontext bei den vorhandenen Rahmenbedingungen,
Mitteln und Ressourcen behandelt. Machen wir es kurz: die Wissenschaft
hat hier auf der ganzen Linie versagt: sie können es - bislang - einfach
nicht. Was also ist zu tun? Wie geht es? Die Sache ist im Grunde einfach,
wenn man sich die psychotherapeutische Situation vergegenwärtigt:
Wir finden bei genauer Betrachtung immer den gleichen Problemsachverhalt
vor: (a) ein Sachverhalt fehlt, er ist (b) zu sehr oder (c) zu wenig oder
(d) auf die falsche Weise ausgeprägt:
Jemand hat zu viel oder zu wenig oder die falsche Risikobereitschaft.
Jemand hat zu viel oder zu wenig Angst oder Angst in unangemessenen Situationen.
Jemand hat zu viel oder zu wenig Antrieb, zu viel oder zu wenig Neugier
oder Ungeduld, Selbstbehauptung, Gestaltungswillen oder Anpassungsstreben.
Jemand lenkt zu viel oder wenig oder an der falschen Stelle auf falsche
Weise. Völlig verallgemeinert kann man sagen: Es liegt eine Störung
vor, die verschwinden soll.
Strengt sich jemand zu wenig an, muß er sich anstrengen
lernen; vertraut jemand zu naiv und zu leicht, muß er kritischer
prüfen lernen. Die therapeutische Inverse zu einer Störung
nennen wir Heilmittel. Die Anwendung der Inverse auf eine Störung
hebt diese auf, gleicht sie aus oder kontrolliert sie.
Also brauchen wir Störungs- und Heilmittelwissen unter Berücksichtigung des individuellen Einzelfalles und sonst nichts. Das ist im Grunde die Idee der integrativen Therapie.
Auf einer relativ einfachen allgemeinen Ebene lassen sich die Heilmittel in einfache Klassen [Zur Terminologie] zusammenfassen, z. B. können alle Störungen, in denen ein Tun fehlt, zur Heilmittelklasse J Tun zusammengefaßt werden. Alle Störungen, die mit einem fehlenden Fühlen einhergehen, können zur Heilmittelklasse J Fühlen zusammengefaßt werden. Wir werden im folgenden sehen, daß die moderne Entwicklung zu störungsspezifischen Manualen, nichts anderes als eine Variante der oben ausgeführten Kernideen ist. Diese Ideen sind jetzt lediglich vom individuellen Einzelfall ausgehend Zug um Zug auf immer mehr Einzelfälle zu verallgemeinern. Je mehr individuelle Einzelfälle es gibt, bei denen mit einem bestimmten Vorgehen eine Störung beseitigt werden konnte, desto allgemeinere Gültigkeit gewinnt dieses Vorgehen. Die allgemeine Psychotherapie und allgemeine Psychotherapieforschung sollte nun solche ganz allgemeinen Heilmittel-Module zur Verfügung stellen. Wer in Passivität verharrt, muß ganz allgemein gesehen, J anfangen, J dabei_bleiben und J prüfen lernen. Wer zu viel Angst in einer bestimmten Situation hat, will diese Angst los werden. Was für eine Therapie er immer auch durchführt, am Ende jeder Therapie, wird zu prüfen sein: ist diese Angst verschwunden, normalisiert oder nicht. Dies kann man nur durch einen Realtest folgender Art feststellen: kann der Betreffende sich überwinden, in die ängstigende Situation hineinzugehen, sich also zu stellen und darin angstfrei oder angstnormalisiert auszuhalten und zu verharren? Falls man das bejaht, sind die allgemeinen Heilmittel J überwinden, J stellen und J aushalten gefunden.
Dieser Ansatz ist im Grunde uralt, so alt wie die Heilkunde selbst, eine Hoch-Zeit dieser Tradition hat die explizite psychologisch- psychopathologische Heilmittelforschung aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehabt (Reil 1803, Heinroth 1818, P. J. Schneider 1824, Friedreich 1830, F. G. Bräunlich 1839) und selbst noch zu Freuds Zeiten als die Psychoanalyse im Entstehen war (Löwenfeld 1897; Münsterberg 1909ff; Dornblüth 1911, Erfinder des "Pschyrembel"; Rosenzweig 1936; ja Peter Fiedler erwähnt noch nicht einmal die sensationelle integrative Konferenz von 1940). In Deutschland wurde diese Idee sehr deutlich von Bastine 1975 ("Auf dem Weg zu einer integrierten Psychotherapie") formuliert und es ist ausgesprochen verwunderlich, weshalb diese Arbeit Bastines von Peter Fiedler, beide Heidelberg, nicht zitiert wird, selbst wenn man berücksichtigt, daß Bastine seine frühen integrativen Ansichten aufgegeben oder entscheidend revidiert hat. Wissenschaftlich korrekte Darstellung?
"4.1.2
Integration heute: zaghafte Versuche
Schaut man sich die aktuelle Literatur zur integrativen Behandlung
von Persönlichkeitsstörungen im engeren Sinne an, kann man auch
in diesem Bereich erste kritische Reaktionen auf den beschriebenen Zustand
erkennen (Becker, 1999 a). Andererseits fallen einige dieser Versuche ausgesprochen
zaghaft aus. So werden zahlreiche Arbeiten in den ausdrücklich "schulübergreifend"
konzipierten Herausgeberwerken zum Beispiel von Senf und Broda (1999) sowie
von Saß und Herpertz (1999) immer noch nach Therapieschulen geordnet
- von Ausnahmen abgesehen.
Man mag mir diese Kritik bitte nachsehen, denn ich
finde den Anspruch der Herausgeber hochgradig begrüßenswert.
Hoffnung auf eine wirklich integrative Perspektive, wie dies die Titel
der Bücher suggerieren, sind - was die Persönlichkeitsstörungen
angeht - nur in sehr bescheidenen Ansätzen findbar. Andererseits deuten
zumindest die Buchtitel selbst an, dass offensichtlich Handlungsbedarf
besteht.
Das lässt sich zur Zeit gut auch jenseits der
Persönlichkeitsstörungen beobachten. Es mehren sich die Publikationen,
in denen störungsübergreifend neue Wege ausgelotet werden (vgl.
Grawe, 1996; Wagner & Becker, 1999). Diese Integrationsbemühungen
entwickelten sich bisher leider eher am Rande und zumeist jenseits der
Therapieschulen. Werden Integrationsforderungen von ihren Protagonisten
nämlich lauter vorgetragen, finden sie innerhalb der Schulen kein
nachhaltiges Interesse." (S. 57)
Ist
Peter Fiedler ein integrativer Wissenschafts-Politiker? Wenn man natürlich
von ca.1000 integrativen Arbeiten von Johann
Christian Reil (1803) bis Rudolf Sponsel (1995) nur zwei verhaltenstherapeutisch-orientierte
Werke zitiert, dann darf man sich nicht wundern, daß der "kleine
Rest" der Psychotherapiewelt nicht sehr begeistert auf diese Art "Integration"
- die man besser als feindlichen Übernahmeversuch oder Okkupationsanmaßung
bezeichnen sollte - reagiert. Das ist nicht nur ein unwissenschaftliches
und unfaires Verhalten, es ist auch keineswegs geeignet, das Gros der PsychotherapeutInnen
zu gewinnen. Körpertherapie und Bioenergetik, Gestalt-Therapie,
Hypnotherapie (Milton H. Erickson),
Transaktionsanalyse
und Psychodrama werden von dem integrativen Psychotherapeuten Peter
Fiedler in seinem integrativen Werk noch nicht einmal erwähnt
und damit ihre historische Leistung für die ganze Psychotherapie
implizit und faktisch für Null und Nichtig erklärt. Ja, noch
nicht einmal Hilarion Petzolds großes Lebenswerk für die
Integrative Therapie vor allem in Deutschland und Europa wird auch
nur mit einem einzigen Wort gewürdigt. Der große und wichtigste
Mann der deutschen Psychologischen Integrativen Psychotherapie,
Reynaud
van Quekelberghe, mit seinem bahnbrechenden Buch (1979) "Systematik
der Psychotherapie. Vergleich und kognitiv-psychologische Grundlegung psychologischer
Therapien" wird weder erwähnt noch in der Literaturliste aufgeführt.
Zwar werden zwei internationale um Integration bemühte wichtige Organisationen
genannt, hierbei die Society for Psychotherapy Integration = SEPI (gegründet
1983), deren Ziele falsch vorgestellt werden (ich war selbst jahrelang
Mitglied), aber die vom Ansatz her eigentlich wichtigste dritte, die International
Academy of Eclectic Psychotherapists (1982 gegründet) wird gar
nicht erwähnt, obwohl sich darunter weltberühmte PsychotherapeutInnen
finden wie
Albert Ellis, Soul
L.Garfield (Amerikas erster klinischer Psychologe und
Psychotherapieforscher) oder Arnold
A. Lazarus. Garfields bedeutendes integratives Werk "Psychotherapie:
Ein eklektischer Ansatz" (dt. 1982, orig. 1980) wird ebenfalls nicht erwähnt,
obwohl Fiedler über das von Garfield und Bergin herausgegebene "Handbook
of Psychotherapy and Behavior Change" meint: "Insbesondere das Handbuch
gilt weltweit als unverzichtbare Pflichtlektüre der Psychotherapieforscher"
(S. 59). Und Garfields integratives Hauptwerk kann wohl hier einfach so
unerwähnt bleiben? Es fehlen Goldstein & Stein (Maßschneiderung
mit Standardverfahren, dt. 1980), es fehlen sämtliche Arbeiten und
insbesondere die multi-modale Therapie von Arnold A. Lazarus, der
große technische Eklektiker der multimodalen Therapie. Und
es fehlt die gesamte klassische deutsche Psychiatrie der letzten 200
Jahre (am ärgerlichsten vielleicht, daß Janet
fehlt). Die Psychiatrie war eigentlich
immer integrativ bis sich die Psychoanalyse mit verheerenden Folgen
in den Vordergrund schob. Es fehlt der neuere integrative medizinische
Ansatz von Müller-Hegemann ("Medizinische Psychotherapie",
1976) [FN20].
Leider fehlen auch Kleinsorge & Klumbies mit ihrer bedeutenden
Arbeit zu Medizin, Psychosomatik und Hypnose in "Psychotherapie in Klinik
und Praxis"- schon 1959 erschienen - womit bedauerlicherweise die Möglichkeit
verpaßt wird, ein Stück Psychotherapie aus der ehemaligen DDR
einzubeziehen. Es fehlt die Arbeit zur integrativen Kurztherapie der Berner
Gruppe Blaser et al. (1992). Es fehlt der Eklektiker Plaum (1992),
es fehlt Reisman (1971), es fehlen die Gebrüder Hart
(1983), es fehlen Stricker (Ed.,
1993) und Gold (1988, 1990, 1993),
es fehlt Thorne (1950ff), es fehlt Mahrer
(1989), es fehlt Mahoney (1977), es fehlen sämtliche Werke
von Norcross (1984, 1985, 1986, 1987, 1988, 1989, 1990, 1991, 1992
zusammen mit Newman: "Obstacles against Integration").
Es fehlt, es fehlt, es fehlt, .......
Wir wollen uns mit dieser Stichprobe, was alles fehlt, begnügen: sie
ist erschütternd genug, fehlen doch nahezu alle, die in der Integrativen
Weltbewegung seit Johann Christian Reil
(1803) etwas geleistet haben. Bei Peter Fiedler gibt es nur Grawe et al.
(1994) und Wagner & Becker (1999). Was also ist los mit dem integrativen
Psychotherapeuten Peter Fiedler? Ist er in erster Linie ein VT-integrativer
Wissenschafts-Politiker, ein wissenschaftspolitischer Agent auf einem deutschen
Lehrstuhl? Ist das etwa gar bezeichnend für die "integrative" Art
und Weise der deutschsprachigen Verhaltenstherapie? Nun, hierfür sprechen
einige Indizien: wurden bei Grawe et al. (1994) die neueren Integrativen
Butollo, Petzold und van Quekelberghe im - integrativ äußerst
bescheidenen - Literaturverzeichnis noch spärlich, aber immerhin erwähnt,
sind sie in Grawes ("Psychologische Psychotherapie", 1998) der völligen
Ignoration zum Opfer gefallen. Wissenschaft, Fairneß oder Politik?
"... Diese Integrationsbemühungen entwickelten
sich bisher leider eher am Rande und zumeist jenseits der Therapieschulen.
Werden Integrationsforderungen von ihren Protagonisten nämlich lauter
vorgetragen, finden sie innerhalb der Schulen kein nachhaltiges Interesse.
Nur manchmal lösen sie Reaktionen aus, die
zumeist als heftige Gegenwehr erfolgt. Ablesbar ist diese heftige Gegenwehr
besonders eindrücklich an den Reaktionen, die die oben erwähnten
Bemühungen von Klaus Grawe um die vergleichende Bewertung der Therapieschulen
ausgelöst haben (Grawe, Donati & Bernauer, 1994). Dabei hatten
selbst die hermeneutisch und phänomenologisch orientierten Psychotherapieforscher
über die ersten Ergebnisse der vergleichenden Therapieforschung aus
den siebziger Jahren einhellig begrüßt. Die frühen Meta-Analysen
von Smith und [58] Glass (1977) führten nämlich noch zu dem offensichtlich
beruhigenden Ergebnis, dass die Wirksamkeit therapeutischer Behandlung
relativ unabhängig davon ist, mit welchem Verfahren der jeweilige
Patient behandelt würde.
Das war natürlich keine Bedrohung. Diese frühen
Ergebnisse wurden seinerzeit .auch von jenen Therapiegruppierungen, leichtfertig
bis kühn als Beleg für die Wirksamkeit ihres eigenen Vorgehens
genommen, deren Therapiekonzepte von Smith und Glass überhaupt nicht
mitbewertet worden waren. Erst als Grawe, Donati und Bernauer (1994) die
Unzulänglichkeit dieser frühen Vergleichsstudien differenziert
in Frage stellten, rührte sich hektisch vorgetragener Unmut." S 57f
Wieso behauptet Peter Fiedler, daß
die erste große Meta-Analyse von Smith und Glass (1977) kaum ernstzunehmende
Unterschiede der bewerteten Verfahren aufzeigte, obschon dies eindeutig
falsch ist, die Effektstärken unterscheiden sich um bis fast den Multiplikationsfaktor
vier (Sponsel 1995, S. 360). Und warum unterschlägt Peter Fiedler
die viel wichtigere Meta-Analyse von Smith, Glass & Miller von 1980,
in die 475 Studien einflossen und wo exorbitante Unterschiede zwischen
den verschiedenen Therapieschulen zutage traten? Weil die kognitive
Therapie - die in den USA eine eigene Richtung war - mehr als doppelt
so gut wie die VT abschnitt und auch die genuin integrative Hypnotherapie
sich allen VT-Methoden als haushoch überlegen erwies?
Peter Fiedler wird wohl kaum sagen
können, daß er diese Studie nicht kennt, denn jeder, der sich
verantwortlich mit Psychotherapieforschung beschäftigt, kennt sie
(und da sie nicht jedem zugänglich ist, haben wir die Ergebnisse
hier plaziert, siehe auch Grawe et al. 1994, S. 48 oder Sponsel 1995,
S. 361). Nun, wie es scheint, möchte Peter Fiedler den Pappkameraden
"keine Unterschiede" aufbauen, um ihn anschließend mit Grawe et al.
1994 niederzuschlagen. Dabei sind Grawe et al. noch nicht einmal in der
Lage oder auch nicht willens (siehe bitte oben) - wir
wissen es nicht genau - , für alle Schulen Effektstärken zu berechnen.
Somit ist das Argument Peter Fiedlers, Grawe et al. kämen zu ganz
anderen Ergebnissen, weil sie angeblich alle (was nicht stimmt, es sind
897 von ziemlich sicher rund 4000 oder mehr) Studien herangezogen hätten,
nur eine kühne Vermutung, die gar nicht überprüfbar ist,
weil keine vergleichbaren Größen (Effektstärken) über
alle
Schulen, nur für GT, PA und VT, vorliegen. Außerdem wird Fiedlers
Argumentation zu Gunsten von Grawe et al. gegen Smith und Glass ja von
der Grawe et. al. (1994) Argumentation (S. 661) selbst ad absurdum geführt:
"Es ergibt sich damit ein 'reiner', spezifischer Behandlungseffekt in der Grössenordnung von ES = .85. Dieser Wert stimmt bemerkenswert gut überein mit der Effektstärke von .85, die Smith et al. (1980) als Durchschnitt von 1761 Einzeleffektstärken aus 475 Studien gefunden hatten."
Fassen wir zusammen: es wird die weniger relevante Arbeit von Glass & Miller 1977 zitiert, diese wird falsch dargestellt und die viel wichtigere Meta-Analyse von 1980, mit exorbitanten Unterschieden wird (folgerichtig?) "unterschlagen". Und um dem Faß die Krone aufzusetzen, wird dann noch behauptet, Grawe et al. käme zu anderen und natürlich besseren Ergebnissen als Smith, Glass & Miller 1980, obwohl ein direkter Vergleich der Effektstärken gar nicht möglich ist, weil Grawe et al. sie in ihrer Hauptstudie nicht für alle Schulen, sondern nur für GT, PA und VT berechnen. Dort aber sind die Ergebnisse zwischen der Forschungsgruppe Grawe und Smith, Glass & Miller fast identisch! (Grawe et al. 1994, S. 661 kommt mit der Methode von Smith, Glass & Miller 1980 auf eine durchschnittliche Effektstärke von .86, Smith, Glass & Miller kamen auf .85. Ja, was ist denn das nur für eine Desinformation, die Peter Fiedler da betreibt? Ja, sind wir hier - was die Psychotherapie betrifft - in einer wissenschaftlichen Bananenrepublik, gibt es hier denn keine Deutsche Gesellschaft für Psychologie, die den hier längst überfälligen energischen Ordnungsruf auf den Weg bringt?
Wenden wir uns nun dem Thema Wirkvariablen, Wirkfaktoren, Heilwirkfaktoren, den Heilmitteln zu:
"Wirkvariablen
Die wichtigsten der bereits früh diskutierten und beforschten
schulübergreifend relevanten Wirkfaktoren sind (vgl. Garfield, 1994;
Beutler, Machado & Neufeldt, 1994; Orlinsky, Grawe & Parks, 1994):
Da es schon mehrfach gesagt wurde, soll an dieser Stelle nur noch summarisch darauf hingewiesen werden, daß es bereits zwischen 1803 und 1839 (siehe oben) eine intensive psychologische Heilmittel = Wirkfaktoren = Heilwirkfaktoren-Forschung gab. Und die Alten waren teilweise viel differenzierter, kundiger und fortschrittlicher als alle modernen zusammen genommen. Frank, der ebenfalls von Fiedler verkürzt und unzulänglich dargestellt wird, hat im übrigen eine ziemlich detaillierte Analyse der Wirkfaktoren vorgelegt (Zusammenfassung im Reader von Sponsel 1995). Leider ist sein sehr interessanter Ansatz bislang nicht dezidiert weiter entwickelt worden. So ist auch Grawes Modell pragmatisch zwar nützlich (Problemaktualisierung, Ressourcenaktivierung, Problembewältigung und Klärung), aber weit davon entfernt, die heilkundliche Wirklichkeit auch nur annähernd differenziert und angemessen wiederzugeben. Die Forschungsgruppe Grawe - obwohl sie sich auf Piaget beruft - ist wie Peter Fiedler bislang auch nicht in der Lage elementare Erlebenstermini (z. B. denken, vorstellen, phantasieren, fühlen, empfinden, lenken, erinnern, einstellen, wollen, wünschen, wahrnehmen, bewußt-sein, ...) und damit eine Evaluation der Bewußtseinsvorgänge und Introspektion wissenschaftlich differenziert und evaluierbar vorzulegen.
Peter Fiedler kommt abschließend zu einem sehr wichtigen Befund der Common- Factor- Forschung:
"... Eines jedoch hat die Common-Factor-Forschung
bis heute zweifelsfrei und schulübergreifend belegen können:
Immer hängt der Erfolg einer Psychotherapie davon ab, ob
es Therapeuten und Patienten gelingt, von Beginn der Behandlung an eine
gute
Arbeitsbeziehung herzustellen. Wie diese Arbeitsbeziehung konkret ausgestalten
sollte und wie sich diese im Therapieverlauf entwickelt, das wiederum sieht
von Verfahren zu Verfahren recht unterschiedlich aus." (S. 62)
Anschließend entwickelt Peter Fiedler zentrale Thesen seines Integrationsverständnisses:
"Phänomenorientierte
und störungsspezifische Therapie in der Praxis
Konkret in die Praxis übersetzt bedeutet und beinhaltet phänomenorientierte
und störungsspezifische Psychotherapie das Folgende: Selbst innerhalb
der Globalkonzepte (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie)
sieht heute z.B. eine Psychotherapie bei Ängsten und Phobien gänzlich
anders aus als eine Psychotherapie bei Depression. Und die Therapieziele
und konkreten Vorgehensweisen in der Behandlung einer Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit
sind völlig andere als die Ziele und Therapiestrategien in der Behandlung
einer Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Am weitesten ausgearbeitet sind die störungsspezifischen
Konzepte aller drei Therapieschulen im Bereich schwerer psychiatrischer
Störungen wie z.B. der Schizophrenie und der endogenen Depression.
An diesen schweren Störungen lässt sich übrigens besonders
gut verdeutlichen, dass enges Schuldenken bei der Entwicklung hilfreicher
therapeutischer Strategien aufgegeben wird und dass sich, wenn man genau
hinschaut, die konkreten Vorschläge für therapiepraktisches Handeln
der unterschiedlichen Schulen zunehmend ähnlicher werden, obwohl
sie jeweils mit völlig anderen Theorieüberlegungen begründet
wurden (vgl. die Konzeptvergleiche in der psychoanalytischen und verhaltenstherapeutischen
Behandlung schwerer Depressionen bei Fiedler, 1994 b)." (S. 63)
Das sind Behauptungen, die in dieser Allgemeinheit so sicher nicht stimmen. Z. B. haben PhobikerInnen und Depressive ganz sicher eine Gemeinsamkeit: sie tErkl)vermeiden. Also ist schon klar, daß beide Störungsgruppen die Heilmitteltrias JErkl)Überwinden, J Stellen und JAushalten als Heilmittel-Inverse für ihr tvermeiden brauchen.
"Gemeint ist hier also nicht einfache Integration im Sinne eines Eklektizismus oder einer schlichten Methodendurchmischung! Bei den heute hauptsächlich praktizierten und wissenschaftlich legitimierten psychotherapeutischen Verfahren (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie und Interpersoneller Psychotherapie) handelt es sich um genuin unterschiedliche Therapiestrategien, die sich nicht einfach integrieren lassen! Aus diesem Grund sind einige Gegenreaktionen auf die bisherigen Integrationsversuche der Comon-Factor-Forscher durchaus verständlich." (S. 64, Fettung von Sponsel)
Hm, was ist eine "einfache Integration",
was ist demgegenüber nur eine einfache "Methodendurchmischung",
"Eklektizismus" oder Ausdruck (Seite 58) "einer wissenschaftlich
legitimierten, sog. Eklektischen Psychotherapie (vgl. Prochaska
& DiClimente 1984)"? Wäre es nicht Peter Fiedlers Aufgabe gewesen,
hier sowohl terminologisch als auch fundamental und theoretisch etwas tiefer
zu schürfen? Aber da finde ich bislang nichts in diesem Buch: weder
ein terminologisches, noch ein methodologisches oder ein theoretisches
Problembewußtsein und es wird auch keine kompetente Bearbeitung dieser
Probleme geboten. Setzt sich hier die traditionelle Oberflächlichkeit
der verhaltenstherapeutischen Herkunft durch? Fundamentaleres hätte
er bei Jaspers lernen können, den zitiert er aber aus zweiter Hand
und vermutlich auch nicht korrekt. Wissenschaft, Kompetenz, Fairneß?
Ich glaube nicht, daß die Ziele
in den Therapieschulen so verschieden sind, das dürfen sie ja auch
gar nicht nach dem Sozialgesetzbuch und den Psychotherapierichtlinien (heilen,
bessern, lindern). Verschieden sind die Störungsmodelle und auch die
Heilmittel,
Methoden, Verfahren und Techniken, also die Theorien der Inversen.
Das reicht aber auch schon vollauf: zwischen VT, PA, GT, SystemikerInnen
und anderen liegen tatsächlich Welten. Und diese Welten sind mit ihren
Grundwidersprüchen auch nicht integrierbar. Eine integrative Therapie
wird einige dieser Grundannahmen über Bord werfen müssen, die
künftige integrative Psychotherapie kann daher auch kein Durchschnitt
aller relevanten Psychotherapieschulen sein, sie muß in der Tat etwas
qualitativ
Neues sein und damit wird sie rein formal auch den Charakter
einer Therapieschule haben. Psychotherapieintegration ist tatsächlich
eine schöpferische wissenschaftliche Leistung und etwas qualitativ
Neues.
Sehen wir nun, wie Peter Fiedler seine zentralen Thesen spezifiziert (S. 66f):
"4.3.1
Störungsspezifität und Phänomenorientierung
Die beiden Begriffe Störung und Phänomen kennzeichnen
eine wichtige Balance, die in jeder Therapie, insbesondere der von Persönlichkeitsstörungen
gesucht und hergestellt werden muss, will man die Einzigartigkeit, mit
der uns Patienten begegnen, nicht vorschnell aus den Augen verlieren.
Psychiatrische Diagnostik
Einerseits geht es um eine genaue Differenzial-Diagnose (Persönlichkeitsstörung,
psychische Störungen, eventuelle Komorbiditäten). Dies gilt nicht
nur für die Forschung, deren Ergebnisse in einschlägigen Zeitschriften
nur noch publiziert werden können, wenn sie genaue Diagnosen enthalten.
Diese definierbaren psychischen Leidenszustände müssen dem Therapeuten
wie dem Therapieforscher auch deshalb als Leitorientierung dienen, weil
sie als solche zumeist dem Dienstauftrag der Patienten als behandelnswerten
Ausgangspunkt einer Therapie ausdrücklich zu Grunde liegen.
Dabei ist völlig unbestritten: Psychiatrische
Diagnosen sind zunächst nichts mehr und nichts weiter als mehr oder
weniger treffende klinische Zustandsbeschreibungen oder allenfalls Zustands-Verlaufs-Erfassungen
mit allen dadurch gegebenen Nachteilen, wie z.B. einer teilweisen noch
bestehenden unbefriedigenden prognostischen oder therapieprädiktiven
Validität.
Das kann jedoch nicht heißen, auf Diagnosen
zu verzichten. Psychiatrische Diagnosen dienen nämlich in der gegenwärtigen
Psychotherapieforschung - und zwar unabhängig von den Therapieschulen
- als grundlegende Orientierung für die Entwicklung, Untersuchung
und Nutzung ätiologischer Verstehensperspektiven und, aus den
Ätiologiemodellen abgeleitet, der Entwicklung therapeutischer Strategien.
Phänomenorientierung
Zur Einzigartigkeit und Komplexität jedes einzelnen Falles gehören
immer folgende Phänomenbereiche dazu:
Ich kommentiere nur kurz: die unkritische Einstellung zur ICD und DSM-Diagnostik muß hier nicht erneut weiter vertieft werden. Die Phänomenorientierung ist wohl richtig und nützlich, man vergegenwärtige sich aber bitte das Problem der kombinatorischen Explosion, wie eingangs entwickelt.
Zusammenfassung
zum Kern der Integrationsidee Peter Fiedlers:
Integrative Psychotherapie ist nun nichts anderes
als ein Störungsspezifisches Therapieprogramm unter Berücksichtigung
der sog. Phänomenorientierung. Dieser Bestimmung kann ich weitgehend
zustimmen. Nun muß es aber auch gemacht werden. Wozu wir hier nach
Peter Fiedler überhaupt noch PsychologInnen brauchen, ist unklar.
Denn die Diagnostik ist, wie die Erstellung störungsspezifischer Therapieprogramme,
bereits von der American Psychiatric Association
geleistet
worden. Man muß also für die Diagnostik nur noch DSM ff. und
für die Therapieprogramme Gabbard (1995, Ed.) abschreiben.
Dazu
bräuchten wir aber keine klinisch-psychologischen Lehrstühle
mehr, dafür würde es genügen, gute ÜbersetzerInnen
zu beschäftigen, das würde den SteuerzahlerInnen viel Geld
sparen, denn (S. 70):
"Beispielhaft nachzulesen ist dies in dem zweieinhalbtausend Seiten
(!) umfassenden Werk Treatments of Psychiatric Disorders der American
Psychiatric Association (Gabbard, 1995), dass bereits in der zweiten Auflage
erschien (die erste gab es zum DSM-III-R; APA, 1989). An diesem Herausgeberwerk
beteiligten sich Autoren der unterschiedlichsten Therapierichtungen,
sämtlich gründlich bemüht, das Wissen unterschiedlicher
Therapieschulen auch jenseits des von ihnen selbst bevorzugten Therapieansatzes
zu integrieren. Für Leser, denen zweieinhalbtausend Seiten zu viel
sind, gibt es eine preiswertere Kurzausgabe (Gabbard & Atkinson, 1996),
die m.E. jedoch nicht so empfehlenswert ist, weil die Ätiologiebegründungen
fehlen.
Denn jedes der in dem Werk von Gabbard (1995) beschriebenen
störungsspezifschen
Psychotherapiekonzepte beginnt zunächst mit einer ätiologietheoretischen
Begründung, macht Vorschläge für eine phänomen-
und störungsspezifische Therapieplanung, und es enthält über
die Behandlungsvorschläge hinaus jeweils Hinweise zum störungsdifferenziellen
Einsatz, also zu Fragen der differenziellen Indikation.
Angesichts der inzwischen erreichten Vielfalt dürften
Psychotherapeuten, die sich bei Gabbard (1995) kundig machen, übrigens
zunehmend Schwierigkeiten bekommen, auf die Frage zu antworten, was Psychotherapie
allgemein sei oder was etwa Psychoanalyse bzw. Verhaltenstherapie im Besonderen
seien und wie diese Verfahren prototypisch funktionierten.
Die Antwort auf diese Frage lautet nämlich:
je
nachdem - und zwar unabhängig von der Therapieschule. Je
nachdem! Es hängt vielmehr davon ab, mit welchen Schwierigkeiten und
Problemen die Patienten in die Praxis kommen (Phänomene bzw. Störungen!)."
(S. 70)
Positiv entnehmen wir, daß die
Psychiater - sie, besonders die Deutschen, waren meistens integrativ orientiert
- in den USA, obwohl in der Erlebens- und Introspektionspsychologie eher
unterentwickelt, die Integrationsidee störungsspezifisch umsetzen.
Auf diesen Zug springt Peter Fiedler nun auf. Nun, das ist in der Tat,
wie er an anderer Stelle trefflich sagte, nur die eine Seite der integrativen
"Medaille". Abgesehen von den bislang sehr undifferenzierten Lösungen
- es gibt bislang keinerlei integrierte analytische [FN19]
Heilmittellehre - ist auch die zweite Seite dieser "Medaille", die von
Peter Fiedler sog. Phänomenorientierung, also kurz und traditionell:
die idiographische Vielfalt, in keiner Weise auch nur annähernd methodologisch
gelöst, so daß man sich fragen muß, was tun unsere LehrstuhlinhaberInnen
eigentlich, wenn sie nicht Arbeiten der American Psychiatric
Association rezipieren? Machen sie zu viel Berufs- und Fachpolitik
und haben daher nicht mehr genügend Zeit für eigene Forschung?
Es folgt ein klares Plädoyer
für schulenübergreifendes Denken:
"Schulübergreifendes
Denken:
Zukünftig Pflichtfach in jeder Therapieschule!
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und doch kann es hier
nicht ausdrücklich genug betont werden: Es könnte heute bereits
als unverantwortlich bezeichnet werden, würden nicht auch die
Praktiker in ihrer alltäglichen Arbeit auf die vorhandenen störungsspezifischen
und sich z.T. beträchtlich voneinander unterscheidenden Psychotherapie-Konzepte
zurückgreifen. Phänomenorientierte und störungsspezifische
Therapie scheint nicht nur sinnvoll, sondern auch ausgesprochen erfolgreich
zu sein. Genau aus diesem Grund werden zunehmend störungsspezifischeBücher
oder Psychotherapie-Manuale veröffentlicht, die schulübergreifend
konzipiert sind und die den Praktikern den Umgang mit den verschiedenen
Störungen erheblich erleichtern helfen. Im Bereich der Persönlichkeitsstörungen
ist dieser Trend am weitesten in der Entwicklung von Behandlungskonzepten
bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen vorangekommen (vgl. z.B.
die Arbeiten in Dammann & Janssen, 1999).
Entsprechend wäre es auch unverantwortlich,
würden Psychotherapeuten ihre Behandlungsmethoden selbst immer
wieder neu in ihrer psychotherapeutischen Praxis erfinden (müssen).
Und es wäre schließlich nicht nur als unökonomisch, sondern
inzwischen ebenfalls als unverantwortlich zu bezeichnen, würden
sie - angesichts des inzwischen vorhandenen enormen Störungs- und
Behandlungswissens - alle unterschiedlichen psychischen Störungen
mit nur einer, irgendwann einmal zu Beginn ihrer Karriere gelernten
Standardmethode (z.B. mittels einsichtsorientierter Therapiegespräche)
behandeln wollen." (S. 71)
Im folgenden werden sodann Vorschläge für die praktische Arbeit sowie eine kurze und bündige Definition von praktischer integrativer Psychotherapie entwickelt, die sicher für viele PraktikerInnen sehr interessant sind und in der alten Heinroth'schen Tradition stehen (Therapie als ein heuristisches Geschäft).
"4.4 Therapieplanung
Selektive und differenzielle Indikation
Schulenspezifische Behandlung als genereller Therapieansatz bei unterschiedlichen
psychischen Störungen ist nicht mehr zeitgemäß. Die Zuweisung
von Patienten zu für sie geeignete Behandlungsmaßnahmen sollte
zukünftig auf der Grundlage gut durchdachter Indikationsentscheidungen
und differenzieller Therapiepläne erfolgen." (S. 72)
Auf Seite72
definiert Peter Fiedler ganz in unserem Sinne:
Integrative Psychotherapie wird nachfolgend als Prozess eines kontinuierlich notwendigen Problemlösens verstanden. |
"4.4.1 Exploration und Problemanamnese
Jede Psychotherapie beginnt üblicherweise mit einer
zieloffenen Exploration, in welcher der Patient ausreichend Gelegenheit
erhält, frei und uneingeschränkt über seine psychischen
Probleme und über die von ihm vermuteten Störungsursachen zu
berichten. Immer geht es dabei auch um die Genese der Probleme und Schwierigkeiten,
die ohne Rückschau auf die Biographie kaum hinreichend klar werden
dürften.
Es war und ist schulübergreifend
immer schon unbestritten, dass jede Anfangsexploration neben dieser anamnestischen
unmittelbar einige weitere Funktionen erfüllt bzw. zu erfüllen
hat. Als die wichtigsten gelten motivierende sowie therapeutische
Funktionen (Schulte, 1996).
Therapieerwartungen und Therapiemotivation
Therapieerwartungen und Therapiemotivation sind immer
als Teil der Biographie zu betrachten, dies umso mehr, je länger der
Leidensweg der Patienten andauert und falls die Betroffenen (was häufig
der Fall ist) bereits über unterschiedliche Therapievorerfahrungen
verfügen, sowohl organmedizinischer Art wie mit Psychotherapeuten
unterschiedlicher Therapieschulen.
Der Erhöhung der Motivation und der Strukturierung konstruktiver Patienten- erwar tungen dient weiter die gezielte Ausweitung der Explorationsthemen auf die Bereiche "vorhandene Kompetenzen" und "nutzbare Ressourcen", die in vielen unterschiedlichen Erklärungs- und Behandlungsansätzen von Bedeutung sind. Auch dieses vorhandene individuelle "Expertentum des Patienten" wird nur unter einer biographischen Perspektive hinreichend deutlich." (S. 72)
"Therapeutische Funktionen
Therapeutische Funktionen liegen nicht nur in der Art begründet,
wie es Therapeuten gelingt, die Sicherheit und das Vertrauen von Patienten
in die therapeutische Arbeit zu erhöhen. Therapeutisch wirkt jede
(Biographie-)Exploration bereits durch sich selbst. So beinhaltet die kooperative
Rekonstruktion einer persönlichen Leidensgeschichte (subjektive
Störungstheorie) zumeist, dass auch "neuartige" Erkenntnisse generiert
werden können, weil viele bisher dem Patienten wenig einsichtige psychische
Störungen im diagnostischen Gespräch in einem klärenden
oder sinnstiftenden Licht erscheinen.
Exploration und subjektive Theorie
Die analysierende Exploration der Probleme und subjektiven Vorstellungen
des Patienten wird als eine von Patienten und Therapeuten gemeinsam
zu erbringende Leistung betrachtet - und zwar vor jeder weiteren
Therapieplanung. Problemexploration und Phänomenordnung zielen auf
die Entwicklung und Rekonstruktion einer subjektiven Störungstheorie,
klären bestehende Therapieerwartungen der Patienten, ernieren vorhandene
Kompetenzen und Ressourcen. Alle diese Aspekte können nur hinreichend
verständlich werden, wenn sie aus der Biographie heraus, und zwar
durch die Patienten selbst und zunächst möglichst wenig beeinflusst
als seine subjektive Theorie behandelnswerter Probleme, entfaltet und begründet
werden." (S. 74).
Ich überspringe einige Punkte und komme nun zum Abschnitt:
"4.5 Integrative Psychotherapie in der Praxis Basismodule und Therapieschwerpunkte
Mit der Phänomen- und Störungsorientierung scheint sich möglicherweise ein entscheidender Paradigmenwechsel in der Psychotherapie insgesamt anzudeuten. Trotz der zunehmenden Diversifizierung der Wissensbestände gewinnt Psychotherapie jenseits der Psychotherapieschulen allmählich eine einheitliche Kontur. Diese Konturierung führt zu zentralen Schwerpunktsetzungen, die innerhalb jeder guten Psychotherapieplanung zukünftig möglichst umfassend Beachtung finden sollten. Diese Schwerpunktsetzungen sollen hier als Basismodule einer integrativen Psychotherapie bezeichnet werden ( - Abbildung 4.3). (S. 80) ......
"Das
Bedürfnis der Patienten nach Information
Bei den Betroffenen selbst ist nämlich fast immer
ein Bedürfnis nach Information über psychische Störungen
und Krankheit sowie über Gesundung vorhanden. Und dieses Informationsbedürfnis
wächst - angesichts der kaum mehr überschaubaren Situation im
psychosozialen Versorgungsbereich - ständig (Reschke, 1990). Verständlicherweise
ist dieses Interesse zu Beginn einer psychotherapeutischen Behandlung am
größten.
Bereits längere Zeit ist empirisch gesichert, dass eine Frustration des Informationsbedürfnisses von Patienten ungünstige Wirkungen auf den Behandlungsverlauf zeitigen kann. Sie kann nicht nur den Verlauf thera- peutischer Maßnahmen contraproduktiv beeinflussen, sondern auch die Kontinuität psychotherapeutischer Maßnahmen erheblich gefährden (Roter, 1977; Raspe, 1983). Informationsmangel auf Seiten der Patienten kann als Stressor besonderer Art angesehen werden, der in seiner Wirkung häufig den Belastungen aus der Unbestimmbarkeit psychischer Störungen nahe kommt (Huppmann & Wilker, 1988).
Fasst man die vorliegenden Forschungsergebnisse über
die Folgen angemessener oder fehlender Information von Patienten positiv
zusammen, dann lassen sich folgende Schlussfolgerungen daraus für
die praktische Therapiearbeit ableiten (vgl. Schmidt & Dlugosch, 1992;
Reschke, 1990):"
Die folgenden Ausführungen zur Problemaktualiserung sind sehr interessant und scheinen eine tendenzielle Konvergenz zwischen Verhaltenstherapie und psychoanalytisch orientierter Therapie anzuzeigen:
"4.5.2 Problemaktualisierung:
Klärung und Bewältigung
In diesem Behandlungsschwerpunkt dürften heute noch die größten
Unterschiede im konkreten Vorgehen innerhalb der Therapierichtungen zu
erwarten sein. Nur zum Beispiel:
Problemaktualisierung:
übergreifendes Merkmal therapeutischer Klärung und
Bewältigung
Gerade wegen der verrneintlichen Unterschiedlichkeit im konkreten therapeutischen
Vorgehen der Therapiekonzepte haben wir hier den von Grawe (1995) eingesetzten
Begriff "Problemaktualisierung" zur übergreifenden Kennzeichnung
der möglichen Gemeinsamkeit von Problemklärung bzw. Problembewältigung
gewählt. In der Therapieforschung mehren sich nämlich die Hinweise
darauf, dass Probleme am erfolg- [S. 85] reichsten behandelt werden können,
wenn diese in der Therapie zunächst real erfahren und dann geklärt
und bewältigt werden können.
Dies gilt - trotz aller Unterschiedlichkeit - gleichermaßen
für die zunehmende Zahl von verhaltenstherapeutischen Expositionstherapien
(z.B. bei der Behandlung von Ängsten, Phobien, posttraumatischen Belastungsstörungen
oder Zwangsstörungen) wie für die Behandlung von Beziehungsproblemen
im psychoanalytischen Behandlungssetting. Auch die psychoanalytische Übertragungserfahrung
verdeutlicht, dass problematische Bedeutungen, die das Leiden der Patienten
ausmachen, wirksam dadurch verändert werden können, wenn diese
Erfahrungen in der Therapie real zum Erleben gebracht und dann geklärt
werden." (S. 84f)
Die Konvergenzhoffnungen werden aber nur einen Abschnitt später so extrem zurückgenommen, daß man nicht mehr so recht versteht, weshalb eine integrative Psychotherapie möglich und notwendig sein soll:
"Verhaltenstherapie und Psychoanalyse haben jeweils für sich betrachtet zahlreiche verfahrensspezifische Vorteile, die schon gar nicht um den Zwang vorschneller und unbedachter Integration "wechselseitig integriert" werden sollten. Vielleicht gibt es Patientengruppen, für die eine einsichts- und beziehungsorientierte Klärungsperspektive der bessere Weg ist, während andere Patientengruppen bedeutend mehr von einer ziel- bzw. handlungsorientierten Problembewältigung profitieren ( -> Kapitel 6)." ( S. 85)
Das ist insofern überhaupt nicht
nachvollziehbar, weil einsichts- und beziehungsorientierte Klärungsperspektiven
ja kein Vorrecht oder Privileg psychoanalytisch-orientierter Therapien
sind, wenn es auch oft so dargestellt wird. Zumal die Lehre von der Übertragung
und ihrer Handhabung außerordentlich überholt erscheint. So
gesehen ist es höchste Zeit, einigen konservativen PsychoanalytikerInnen
klar zu machen, daß Tiefenpsychologie und unbewußte Prozesse
kein Privileg und Reservat psychoanalytisch orientierter Psychotherapien
sind.
Es folgen wichtige Hinweise auf die
so notwendige Ressourcenorientierung einschließlich der Einbeziehung
sozialer Netzwerke und Stützsysteme:
"Es ist letztlich der Patient selbst, der sich ändert, und nicht der Therapeut, der ihn ändert. Es gilt also in einer Psychotherapie, beim Patienten bereits vorhandene persönliche Ressourcen zu aktivieren. Ohne diese Ressourcen als Motor und Vehikel des Veränderungsprozesses können alle störungsspezifischen Vorgehensweisen ihre Wirkung nicht hinreichend entfalten. Die Ressourcenperspektive und die damit verbundene therapeutische Aufgabenstellung sind bisher vor allem in der Verhaltenstherapie ausgearbeitet und finden in den anderen Verfahren nur sehr begrenzt Beachtung. Dies dürfte sich zukünftig grundlegend ändern. Gleiches gilt auch für die nächsten beiden Aspekte, die ebenfalls wichtige Rahmenbedingungen einer Integrativen Psychotherapie darstellen." (S. 88).
Diese Behauptung ist sicher falsch und auch unfair. Gesprächspsychotherapie, ja alle humanistischen Therapien, insbesondere auch die Gestalt-Therapie, Transaktionsanalyse und vor allem auch die moderne Hypnotherapie und Kommunikationstherapie sind außerordentlich positiv ressourcenorientiert. Am wenigsten positiv-ressourcenorientiert sind sicher die psychoanalytisch orientierten Therapien.
Peter Fiedler geht noch kurz auf die außerordentlich wichtige Transfersicherung ein und schließt das integrative Kernkapitel mit wichtigen Statements und kritischen Fragen zur Umsetzung einer Integration in dieser, unserer Realität (S. 89/90):
"4.6
Therapie-Schule bereitet auf das Leben vor
Was
kommt danach?
Vielleicht wurde dieses Plädoyer für die Entwicklung einer
Integrative Psychotherapie immer noch zu früh geschrieben. Hauptwiderstände
gegen ein solches Unterfangen kamen (und kommen wohl auch weiterhin) vor
allem aus den Vereinigungen der Therapieschulen, denen heute noch jeder
junge Therapeut beitreten muss, um so etwas wie eine professionelle Ausbildung
zu bekommen. Und leider ist gesundheitspolitisch und abrechnungstechnisch
alles auch noch so organisiert, dass Psychotherapeuten ihrer Therapieschule
verfahrenstechnisch ein Leben lang treu bleiben müssen. Warum eigentlich?
[S.90]
Die inzwischen erreichten Erfolge therapeutischen
Handelns sind in keiner Therapierichtung so gut, dass man sich zufrieden
zurück lehnen könnte. Und es scheint gelegentlich so, dass
sie sich mit den herkömmlichen Therapieansätzen nur begrenzt
steigern lassen. Liegt diese Stagnation nur an möglichen Grenzen der
Beeinflussbarkeit von Patientenproblemen? Oder liegt es an der geringen
Bereitschaft in den Therapieschulen, sich mit Vertretern der konkurrierenden
Therapieverfahren zusammen zu setzen, um die Gemeinsamkeiten und
Unterschiede im therapeutischen Handeln ernsthaft zu diskutieren, um deren
jeweilige
Geltungsbereiche eindeutiger zu bestimmen. Da eine gewisse
Stagnation unverkennbar ist, wird es dringend Zeit, dem gemeinsamen Anliegen
"Psychotherapie" insgesamt neuen Schwung zu geben. Integration bedeutet
nicht, dass brauchbare und wirksame Konzepte aufgegeben werden. |
Warum tut man sich in den Therapieschulen so schwer
mit Innovationen, die auf eine Überwindung des Denkens in Therapierichtungen
abzielen? Natürlich bedeutet jede wirkliche Innovation zwangsläufig,
dass auch die bereits lange Zeit praktizie- renden Kollegen neu und umlernen
müssten. Aber sollte etwa Besitzstandwahrung der wesentliche
Hinderungsgrund sein, Behandlungsmöglichkeiten endlich zu optimieren?
Psychotherapie-Innovation dient dem Wohl der Patienten. Dass letztendlich
auch die Therapeuten davon profitieren, geht nur um den Preis neuer Investitionen
in deren eigene Zukunft.
Glücklicherweise mehren sich gegenwärtig
dennoch die Anzeichen, dass eine wirklich ernsthaft gemeinte integrative
Psychotherapieforschung zunehmend Einfluss auf die bestehenden psychotherapeutischen
Theorien und Praktiken haben könnte. Psychotherapeutische Techniken
und Möglichkeiten müssen den wechselnden Bedürfnissen der
Patienten entsprechen und den Forderungen unserer vielschichtigen
Gesellschaft. Erste Rahmenbedingungen für einen solchen schulübergreifenden
Integrationsversuch wurden in diesem Kapitel vorgestellt, und sie sollen
in den Folgekapiteln am Beispiel der Persönlichkeitsstörungen
weiter ausgearbeitet und konkretisiert werden.
Wenn man die später gegebenen Vorschläge
ernsthaft durchsieht, ist unverkennbar, dass Psychotherapie jenseits des
Therapieschulendenkens keine Glaubenssache mehr ist. Psychotherapie,
wie sie hier vertreten wird, ist eine sachbezogene, pragmatische, theoretisch
wie empirisch gut begründbare professionelle Tätigkeit. Und auch
für die Patienten könnte Psychotherapie zu einer besser durchschaubaren
und zunehmend erfolgreicheren Angelegenheit werden.
Auch wenn es noch längere Zeit dauern dürfte,
gibt es langsam berechtigten Grund zu der Hoffnung, dass die Zeit
der Engstirnigkeit in den Psychotherapieschulen zu Ende geht. Über
kurz oder lang dürfte eine moderne, störungs- und phänomenorientierte
Psychotherapie, mit der man den spezifischen Belangen von Patienten sehr
gut gerecht werden kann, zunehmend ihre Anhänger finden." (S. 89f)
Querverweise: Sonder-Service
zum 4. Kapitel
Ein Dokument zur sensationellen Integrativen
Psychotherapiekonferenz von 1940
Meta-Analyse: Was sind und was sagen
Meta-Analysen aus?
Aus der Meta-Analyse von Smith,
Glass & Miller 1980.
Die Meta-Analyse von GRAWE et al.
1994 (Erfassung bis Ende 1983).
Idiographische Wissenschaftstheorie:
Die grundlgenden Probleme und Aporie jeglicher Einzelfall- und damit Therapieforschung.
Vorbemerkung Sponsel: Für mich ist dieses Kapitel an dieser Stelle überhaupt nicht verständlich, da es, wenn das vorhergehende Kapitel - Integrative Psychotherapie - angemessen entwickelt und ausgereift wäre, überflüssig ist. Anders gesagt: wenn Peter Fiedler schon auf die Therapieschulen eingeht, dann hätte dieses Kapitel vorher plaziert werden sollen, weil sich ja gerade aus den Unzulänglichkeiten der Therapieschulen, die Konzeption einer integrativen Psychotherapie ergeben sollte. Weiter wird die Rezeption dieses Kapitels sehr erschwert, weil zwei Kriterienformen (Tabelle, Essentials) angewendet werden und die jeweiligen - meiner Ansicht nach aussagekräftigeren - essentials zu den ausgewählten Therapiesystemen ("Schulen") unterschiedlich und daher nicht vergleichbar sind. Im Grunde gibt Peter Fiedler mit dem 5. und 6. Kapitel seinen Anspruch und sein Plädoyer für eine integrative Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen auf. Das ganze Buch und Konzept erscheint hier - 5. und vorwegnehmend 6. Kapitel - unlogisch, brüchig und systematisch inkonsistent.
"In den Psychotherapieschulen finden bei Persönlichkeitsstörungen
vor allem die sozial unflexiblen, wenig angepassten und im Extrem normabweichende
Verhaltensauffälligkeiten der Patienten vorrangige Beachtung. Die
meisten Autoren und Therapeuten betonen den Aspekt der Interaktionsstörungen
als behandlungsrelevant, betrachten Persönlichkeitsstörungen
also vorrangig als komplexe Störungen des zwischenmenschlichen
Beziehungsverhaltens.
In der psychotherapeutischen Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
geht es entsprechend und primär um die Beeinflussung der dysfunktionalen
zwischenmenschlichen Beziehungsstörungen. Thema dieses Kapitels sind
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, mit der die Therapeuten unterschiedlicher
Therapierichtungen dieses übergreifende Ziel zu erreichen versuchen.
Dabei werden im Folgenden vier Ansätze miteinander verglichen, in
denen inzwischen eine gewisse Tradition in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
vorliegt. Es sind dies
"...der Psychotherapie..."? Es fragt sich, wie es
zu dieser - unbegründeten - Auswahl kommt: Wieso z. B. die Interpersonelle
Psychotherapie, die in Deutschland so gut wie fast keine Rolle spielt (Ausnahme:
Schramm [Freiburg] als Kurzzeittherapie der Depression), während Gestalt-
[F23], Hypno- [F21, F22],
Integrative - (Petzold, Gestalt, andere [F23]), Körper
-, Psychodrama [F23], Systemische Therapie [F21],
Transaktionsanalyse [F24] oder neuere Intensiv-KZT
(wie z. B. Davanloo, [F22]) nicht einmal erwähnt
werden, obwohl doch erst jüngst sogar eine Veröffentlichung der
Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie die Vielfalt und Bedeutung
der anderen Therapieschulen unterstreicht [F21].
"Der globale Vergleich dieser vier Grundkonzepte soll unter folgenden
sieben differenziellen Perspektiven erfolgen:
Nachfolgend sollen die Grundkonzepte der vier Therapierichtungen
anhand dieser Kriterien bewertet werden, bevor wir sie abschließend
einem Vergleich unterziehen. Schon bei der richtungsspezifischen Darstellung
fällt auf, dass die hier gewählten Beurteilungsaspekte in den
Grundkonzepten in ihrer Wertigkeit offensichtlich recht unterschiedlich
gewichtet werden. Spätestens im abschließenden Vergleich dürfte
deutlich werden, dass es jeweils Desiderate in den einzelnen Therapierichtungen
gibt, die zukünftig in Richtung integrativer Überlegungen ausgeglichen
werden könnten. Vielleicht ließe sich bereits dadurch die Wirksamkeit
der jeweiligen Ansätze deutlich zu verbessern."
Kritik am Auswahlgebaren: So sinnvoll diese sechs Perspektiven - die siebte betrifft ja ein Beispiel - sein mögen, so mutet es doch sehr seltsam an, daß diese Auswahl der "differenziellen Perspektiven" nicht begründet wird - so wenig, wie die Auswahl der Psychotherapiesysteme (gewöhnlich Schulen genannt). Die Begründungslosigkeit scheint eine Spezialität der verhaltenstherapeutischen Avantgarde, die sich die allgemeine und integrative Psychotherapie aneignen möchte, zu sein und fällt schon bei Grawe et al. (1994) als äußerst unwissenschaftliches Gebaren auf.
Im folgenden lege ich die wesentlichen Aussagen, die Peter Fiedler den vier Psychotherapiesystemen zuordnet, dar:
"5.1
Psychoanalytische und tiefenpsychologische Therapie
...
Die auf Sullivan (1953) zurückgehende Interpersonelle Psychotherapie
steht konzeptuell zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie und ist
durch ein sehr strukturiertes, teils psychoedukatives Therapeutenhandeln
gekennzeichnet. ...
Therapeutische Beziehung
Ganz ähnlich wie in den zuvor genannten Therapieansätzen
werden in der Verhaltenstherapie der Aufbau und Behalt einer funktionierenden
Therapeut-Patient-Beziehung für den Erfolg der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
als wesentliche Voraussetzung betrachtet. So wird beispielsweise im Behandlungskonzept
von Beck, Freeman und Mitarbeitern (1990) zur prophylaktischen Vermeidung
therapeutischer Krisen eine sensible Beachtung der ich-syntonen Vulnerabilitäts-
und Selbstschutzeigenarten von Patienten vorgeschlagen. Ein weiterer Grund
für eine sorgsame Analyse der therapeutischen Beziehung in der Anfangsphase
der Verhaltenstherapie wird in ihrer Bedeutsamkeit für die kognitiv-behaviorale
Analyse gesehen: Offene oder verdeckte Widerstände der Patienten gegenüber
Veränderung, fehlende oder unzureichende Compliance und ungünstige
Übertragungsmuster gelten als prototypische Merkmale der Persönlichkeitsstörungen
wie gleichermaßen als Ressourcen, von denen die Behandlung
ihren Ausgang nehmen sollte.
Verhaltenstherapeuten haben deshalb jeweils genau
zu untersuchen, ob beobachtbare Erschwernisse im Aufbau einer tragfähigen
Arbeitsbeziehung mit dem Patienten wirklich vorrangig in dessen persönlichkeitsbedingten
Kooperationsstörungen zu suchen sind, oder ob therapeutische Krisen
nicht auch gänzlich anders erklärt werden können, wie beispielsweise
durch ein ungünstiges oder wenig passendes Setting oder auch durch
die Schwierigkeiten der Therapeuten im interaktionellen Umgang mit den
jeweiligen Beziehungsstörungen ihrer Patienten. ...
Setting und therapeutische Beziehung
> stützend-psychoedukativ
> ziel- und ressourcenorientiert
> Aufbau und Behalt einer kooperativen Arbeitsbeziehung
Methodik und Technik
> handlungsorientiert: z.B. Training sozialer Kompetenzen
> kognitionsorientiert: z.B. Aufbau einer realitätsorientierten
Werte- und Sinnstruktur
> affektorientiert:
z.B. Emotionsregulierung, Habituationstrainings
> ressourcenorientiert: z.B. Differenzienung von Persönlichkeits-Stil
vs. -Störung
Umgang mit Krisen
> Krisenintervention: Therapeut zeitweilig als Anwalt des Patienten
> Krisenmanagement: systematische Einübung und Stärkung der
Impulskontrolle
Beachtung kontextueller Bedingungen
> Übungs- und Hausaufgaben zwischen Therapiesitzungen; Hausbesuche
> Einbeziehung von Angehörige, Bewährungshelfer; Angebote
für Angehörige
Supervision
> Video-Analysen und Micro-Teaching der Therapeuten; Ko-Therapie falls
erforderlich
Transfer - Sicherung
> Rückfallprophylaxe explizites Behandlungsziel; kontinuierliche
Evaluation
> therapeutische Katamnese-Sitzungen bis 2 Jahre nach Behandlungsende."
Als Beispiel wird die Dialektische Behavior Therapie für Borderlinestörungen
nach Linehan gebracht.
Schließlich sollen einige besondere Aspekte zur Gesprächspsychotherapie
dargestellt werden, in der bisher nur sehr wenige Ausarbeitungen zu den
Persönlichkeitsstörungen vorliegen. Dies liegt daran, dass die
Gesprächspsychotherapeuten innerhalb der Psychotherapieschulen die
größten Vorbehalte gegenüber der psychiatrischen Klassifikation
psychischer Störungen fomuliert haben. Für viele Gesprächstherapeuten
ist die Vorabdiagnostik eine mögliche, Störvariable" der Therapie,
in der es darum gehe dem Patienten möglichst unvoreingenommen zu begegnen.
Diese prinzipiell ablehnende Haltung gegenüber
der Klassifikation wird nun in den letzten Jahren zunehmend aufgegeben,
weil auch die Gesprächstherapeuten erkannt haben, dass eine gute Diagnostik
vorab den Therapeuten Möglichkeiten bereitstellt, sich in besonderer
Weise auf die spezifischen, besser: störungsspezifischen Interaktionseigenarten
von Patienten einzustellen (vgl. Lietaer, Rombauts & Balen, 1990).
Ein Beispiel für den Bereich der Persönlichkeitsstörungen
sind die Ausarbeitungen von Swildens (1991) zu einer prozessorientierten
Gesprächspsychotherapie bei Borderline-, narzisstischen und dissozialen
Persönlichkeitsstörungen. ...
Positivierung
Gesprächspsychotherapeuten wie Swildens (1991; ähnlich Sachse,
1997) verweisen also noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Behandlung
von Persönlichkeitsstörungen, der in den anderen Therapierichtungen
nicht in dieser Weise ausdrücklich betont wird. Die Behandlung sollte
entsprechend und allgemein darauf abzielen, mit den Betroffenen unter
Behalt und Nutzung ihrer Personeigenarten nach Handlungsalternativen
für die Auflösung zwischenmenschlicher Konflikte und Krisen zu
suchen - unter Behalt und Akzeptanz der Verhaltensgewohnheiten deshalb,
weil es für die konfliktträchtigen Interaktionsmuster möglicherweise
akzeptierbare
Motive (nämlich: Selbstschutz und Kontrollbehalt)
gibt. Die gesprächspsychotherapeutische Behandlung von Persönlichkeitsstörungen
geht somit davon aus, dass die Begründung und ein Verständnis
der störenden Interaktionsmuster von den Betroffenen einerseits und
von den Interaktionsteilnehmern andererseits unterschiedlich dekodiert
und verstanden werden.
Die Motive, die dem Störverhalten zu
Grunde liegen, sind bei den Betroffenen andere als wie diese von
den Bezugspersonen wahrgenommen und unterstellt werden. Für die Behandlung
ergibt sich aus einer solchen Perspektive möglicherweise ein (zusammen
mit dem Patienten) gangbarer Weg, aus der unglückseligen Verfangenheit
der Negativ-Konnotation von Persönlichkeitsstörungen auszubrechen
(vgl. Stigmatisierungsproblem in -> Kapitel 2).
Ressourcenorientierung
Viele Besonderheiten der Interaktion persönlichkeitsgestörter
Menschen lassen sich nämlich zumeist sinnvoller als Überlebensstrategien
verstehen, die - obgleich sie durchaus als defizitär, dysfunktional
und insuffizient betrachtet werden können - den Betroffenen zugleich
erhebliche Anstrengungen um den Behalt einer Selbstsicherheit abverlangen.
Diese Perspektivenänderung ermöglicht es weiter, den Interaktionsstörungen
einen Sinn (zurück) zu geben (sog. Zielorientierung
bei Sachse, 1992; 1997). Nur wenn dies (die Sinnsetzung und Perspektivierung
interpersoneller Konflikte) zusammen mit dem Patienten gelingt, scheint
eine wichtige Voraussetzung für eine Durchführung der Therapie
mit
dem Patienten gegeben."
"5.5
Therapieschulen im Vergleich
Mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten
...
5.5.1 Gemeinsamkeiten
Gemeinsam ist den unterschiedlichen Therapieverfahren vor allem ein
Ziel: Nicht die Persönlichkeitsstörungen selbst sollten
behandelt werden, sondern die sich daraus ergebenden komplexen Störungen
des Beziehungsverhaltens. Dies gilt vermutlich mit der einzigen Ausnahme
einer psychoanalytischen Langzeittherapie, in der durchaus eine Änderung
der Gesamtpersönlichkeit selbst angestrebt wird.
Weiter ist gemeinsam: Die Psychotherapie sollte
möglichst realitätsorientiert und gegenwartsbezogen sein, und
Therapeuten sollten den häufig gegebenen Störungen der Impulskontrolle
besondere Beachtung schenken (möglichst: Unterbindung; Förderung
der Selbstkontrolle, Hinweise auf ethisch nicht verantwortbare Konsequenzen).
Schließlich wird bei schweren Persönlichkeitsstörungen
in allen Therapierichtungen eine enge Supervision der Therapeuten für
sinnvoll und notwendig erachtet."
Kritik: Das allgemeine Ziel, nicht die Persönlichkeitsstörung zu behandeln, ist insofern richtig als ja per definitionem eine Persönlichkeitsstörung direkt gar nicht behandelbar ist. Allerdings ist die Konzentration und Beschränkung auf das sich durch die Persönlichkeitsstörung ergebende Beziehungsverhalten sowohl einerseits viel zu allgemein und unspezifisch und andererseits zu sehr eingeengt auf den zwischenmenschlichen Beziehungsaspekt. Die praktische Realität ist gewöhnlich, daß für einen sehr konkreten Einzelfall sehr konkrete individuelle Therapieziele und auch sehr konkrete individuelle Therapiepläne entwickelt werden müssen. Hinzu kommt, daß die meisten der hier vorgestellten Psychotherapiesysteme gar nicht mit realen Beziehungen in realen Situationen arbeiten, sondern in einer therapeutischen Zweierbeziehung. Warum auch sollte man sich vorrangig um das Beziehungsverhalten kümmern? In aller Regel werden zu Beginn einer Therapie Ziele umschrieben, z. B. bessere Lenkung der Impulsivität oder Aggressivität, Erzeugen von mehr Zufriedenheit, Ausgleich von Stimmungslabilität, ein besseres Selbstbild und Selbstwertgefühl, mehr Selbstkritik oder mehr Frustrationstoleranz, alles verständliche und im entsprechenden individuellen Fall wohl vernünftige Therapieziele, die zunächst einmal mit Beziehungsverhalten nicht unbedingt was zu tun haben müssen. Eine richtige integrative Therapie entwirft genau für diese PatientIn und ihre Lebenssituation ein individuelles, realistisches und für den gegebenen Behandlungs-Realitätsrahmen ein erfolgversprechendes Therapiekonzept.
"Therapieschulenvergleich: einige Unterschiede
PA = Psychoanalyse
VT = Verhaltenstherapie
IP = Interpersonelle Psychotherapie
GT = Gesprächspsychotherapie"
Der Autor geht sodann auf den wichtigen Dreh-und Angelpunkt jeder Psychotherapie ein:
"Transfer
Besonders bedenkenswert für die drei einsichtsorientierten Therapieverfahren
erscheint beim Vergleich die Notwendigkeit einer intensiven Nachbetreuung
zur Transfersicherung und Erfolgsevaluation (z.B. im Rahmen therapeutisch
begründeter und durchgeführter Katamnese-Sitzungen). Eine solche
gezielte therapeutische Weiterbetreuung und Nachuntersuchung durch Psychotherapeuten
und andere professionelle Helfer gilt in empirischen Forschungsarbeiten
inzwischen als einer der tragfähigsten Erfolgsprädiktoren in
der Behandlung jener Patienten, die wegen ihrer persönlichkeitsbedingten
Eigenarten bereits wiederholt mit Gesetz und Recht in Konflikt geraten
sind. Und dies - das bleibt zu bedenken - betrifft nicht nur Menschen mit
dissozialen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen, sondern
auch viele andere zur Dissozialität und zu Impulskontrollverlusten
neigenden Menschen mit anderen Persönlichkeitsstörungen."
Schließlich geht Peter Fiedler auch noch auf einen weiteren sehr wichtigen und therapierelevanten Punkt ein:
"Beachtung existentieller Probleme
Insbesondere an der Ausarbeitung von Swildens (1991) zur Gesprächspsychotheraie
wird schließlich noch etwas deutlich, ... . Es ist dies die Notwendigkeit
der Beachtung der existentiellen Lebenssituation und Lebenskontexte persönlichkeitsgestörter
Menschen. Auf diesen Aspekt soll in der vergleichenden Bewertung etwas
ausführlicher eingegangen werden, da sich auch dieser inzwischen als
ein wichtiger Schlüssel zum Therapieerfolg erwiesen hat.
Es ist nämlich zunächst überhaupt
nicht sicher, ob die persönlichkeitsbedingten Interaktionsprobleme
von den Betroffenen nicht lediglich als Mittel mit dem Ziel eingesetzt
werden, anderen gegenüber ein psychisches Unbehagen auszudrücken,
das sie nicht anders auszudrücken vermögen. Die mit den Persönlichkeitsstörungen
verbundenen Erlebens- und Verhaltensprobleme könnten ein persönliches
Unvermögen oder Gelähmtsein angesichts schier unlösbarer
existentieller Probleme signalisieren, einen grundlegenden Bruch in der
Möglichkeit zu handeln oder zu kommunizieren.
Das Ergebnis solcher Konfliktsituationen ist, dass
eigene Bedürfnisse zunehmend entstellt oder maskiert werden müssen,
so dass sich die im Verlauf dieser Mitteilungs-Vermeidung einstellenden
Interaktionseigenarten zunehmend selbst als Interaktionsstörung darstellen.
So kann z.B. aus dem gewohnheitsmäßigen Bemühen, andere
nicht zu verletzen oder zu enttäuschen, über kurz oder lang eine
Dependenz, Selbstunsicherheit oder Zwanghaftigkeit erwachsen, der sich
die Betroffenen selbst nicht mehr entziehen können, weil sie Alternativen
nicht erprobt und gelernt haben oder sogar, weil sie selbst auf die mit
den Persönlichkeitseigenarten verbundenen Kompetenzen stolz sind.
Scheinbare Kompetenz
Der Betroffene könnte also Opfer einer Situation
sein, die für ihn selbst eine Falle bedeutet, weshalb er als Ausweg
eine zu seiner Person passende Grundhaltung einnimmt, die bei genauer Betrachtung
lediglich das Resultat einer kontinuierlichen und mühevollen Kompromisssuche
darstellt. Als Ausweg haben persönlichkeitsgestörte Menschen
die
Präsentation einer Rolle und damit eine höchst persönliche
Art von Lebensgewohnheiten gewählt. Die Rollenträger verbergen
damit ein unvollständiges oder nicht in jeder Situation nutzbringendes
Bild über sich selbst und über ihre Wirklichkeitssicht. Oder
sie maskieren damit das unterschwellige Vorhandensein sozial integrierter
Grundleitlinien und Handlungsmaximen. Verblieben ist ihnen nur mehr eine
Fassade, hinter der sie krampfhaft bemüht sind, Autonomie und Unabhängigkeit
zu wahren. Vielen kann die lebenslange Einübung in scheinbar Selbstsicherheit
und Kompetenz ausstrahlende Interaktionsmuster schließlich so sehr
"in Fleisch umd Blut" übergehen, dass sie keinerlei Kritik mehr zugänglich
sind."
Diese Aussagen des Autors sind für die Praxis und ganz besonders für eine sorgfältige und gründliche Exploration, Anamnese und Psychodiagnostik sehr wichtig, um die archimedischen Hebel im Therapieplan richtig zu setzen. Der Autor schließt sein Kapitel mit den nachdenklich stimmenden Feststellungen und Empfehlungen:
"In ihren Arbeiten über Persönlichkeitsstörungen sprechen einige Autoren angesichts der Rollenverfangenheit der Betroffenen auch vom ‘Lost Self', vom ‘verlorenen Selbst’ dieser Menschen, das keinen Halt bietet, wenn etwa einsame Entscheidungen getroffen werden müssen oder wenn diese Personen für sich selbst einzustehen haben. Wenn das zutrifft - und vieles spricht dafür - dann ist in der Therapie persönlichkeitsgestörter Menschen durchgängig Vorsicht und Behutsamkeit angezeigt: Es wird klar, dass es Bereiche gibt, die Patienten durch ihre Rollenpräsentation oder Rollenunsicherheit aus gutem Grund zu verbergen trachten. Denn sich mit sich selbst, seinen eigenen Bedürfnissen und Interessen auseinander zu setzen, wird zwangsläufig Angst, Unsicherheit und Abwehr auslösen, weil die Betreffenden ohne sichere Selbststruktur zunächst wie vor einem Nichts stehen. Abwehr, Widerstand oder Nichtcompliance in der Therapie mögen notwendige Überlebensstrategien darstellen und damit eine gewisse Zeit noch Schutz und Sicherheit bieten. Der Schutz des "verlorenen Selbst" gibt Sinn, und zwar zwingend auch therapeutisch akzeptierbaren Sinn, so lange jedenfalls noch, wie anderer Sinn nicht vorhanden ist."
Teil 6 Selektive Indikation: Welches Grundkonzept passt zu welcher Persönlichkeit?
Die Frage - "Welches Grundkonzept paßt zu welcher Persönlichkeit? - ist verwegen, denn sie ist überhaupt erst nach mehreren Dutzend Abstraktionen stell- und beantwortbar. Es bleibt dann allerdings die Frage: ob nach mehreren Dutzend Abstraktionen noch ein aussagerelevanter Vergleich möglich ist oder ob Peter Fiedler hier nicht in hypothetischen Welten herumgeistert, die mit dem, was wir hier und jetzt, realiter im Einzelfall vorfinden so gut wie nichts mehr gemein haben? Diese psychologische Wissenschaft wäre dann sozusagen abgehoben von der wirklichen - idiographischen - Welt und bewegt sich wie die Faktorenanalyse in rein virtuellen Räumen, was allerdings gut zum Computer- und Internetzeitalter paßt. Na ja, mag ein Repräsentant des üblichen Wissenschaftsbetriebes entgegnen: so ist die Wissenschaft und anders geht es eben nicht. Nun denn, anworten wir konstruktiven Idiographiker: dann ist diese Wissenschaft überflüssig, laßt uns also Steuern sparen und etwas Vernünftiges tun ;-)
"Keines der gegenwärtig vertretenen Psychotherapieverfahren könnte heute bereits geltend machen, für jede persönlichkeitsbedingte Problematik ein zwingend vorzuziehendes therapeutisches Konzept zu besitzen."
Einspruch. Eine richtige idiographisch konzipierte integrative
Psychotherapie hat eben genau dieses Konzept. Ich bin mit meinem Ansatz
z. B. jederzeit in der Lage für jeden beliebigen Fall ein individuelles,
maßgeschneidertes Psychotherapiekonzept zu erstellen. Tatsächlich
sollte dies Peter Fiedler auch können, denn definiert er doch noch
auf S. 72:
"Integrative Psychotherapie wird nachfolgend als Prozess eines kontinuierlich notwendigen Problemlösens verstanden" (Seite 72) |
Oder gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, weshalb es plötzlich zwischen zwei Kapiteln nicht mehr möglich sein soll, integrative Psychotherapie als Prozess eines kontinuierlich notwendigen Problemlösens zu verstehen und betreiben zu können? Offensichtlich ist hier ein negatives Wunder geschehen:
"Dieser Anspruch wird auch mit der in diesem Buch entwickelten Integrationsperspektive nicht vertreten. Im Gegenteil. Mit Bescheidenheit gegenüber der Vielgestaltigkeit persönlicher Probleme soll ein erster Versuch unternommen werden, Ordnungsmuster und Indikationshilfen zu entwickeln, die es Wert zu sein scheinen, bei einer größeren Zahl konkreter Problemstellung Orientierungshilfen für die Auswahl therapeutischer Maßnahmen zu bieten."
Wir brauchen in der konkreten Einzelfallarbeit
keine bescheidenen Versuchs-Ordnungsmuster, erstens gab es davon bereits
1974
schon 1174, und zweitens haben wir PraktikerInnen von solchen Klassifikations-
Zuordnungs- Spielen nichts, weil wir nämlich ein praktisch sinnvolles
ideographisches Arbeitskonzept brauchen für wirkliche Menschen aus
der wirklichen Welt hier und jetzt, heute und morgen und nicht aus virtuellen
diagnostischen Schubfächern nach zig-Abstraktionen. Und weil Peter
Fiedler dieses Konzept nicht hat, wie er selbst - widersprüchlich
zu S. 72 - ausführt, ist seine "Integrative Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen"
im Grunde nur ein Wort ohne Inhalt. Peter Fiedler zeigt sich mit seiner
Kehrtwendung in Kapitel 5 und 6 außerstande, eine integrative Therapie
zu fundieren, so daß man sich an dieser Stelle fragen muß,
was der Titel des Buches überhaupt soll? Wäre es nicht
besser gewesen, es "Bescheidener Versuch, Ordnungsmuster zur Orientierungshilfe
in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen zu entwickeln"
zu nennen?
Fiedlers Ansatz einer "Selektiven"
und "differenziellen" Indikation ist insofern völlig un-integrativ,
weil er nicht auf den Einzelfall aus ist, sondern Therapierichtungen Persönlichkeitsstörungen
zuordnen möchte.
An dieser Stelle könnte die Buchbesprechung eigentlich enden, da wir nun wissen: ein integratives Konzept ist kaum noch zu erwarten. Ich bespreche es aber weiter, weil ich mich darauf eingelassen habe, allerdings nunmehr nur noch unter der Perspektive eines Buches, das Vorschläge zur Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen macht. Wir werden ab hier nicht mehr verlangen, integrative Arbeitsprinzipien und wirkliche integrative Orientierungen vorzufinden. Wir behandeln dieses Buch ab nun wie eines aus einer beliebigen Therapieschule, was seinen Nutzen oder Wert keineswegs zu schmälern braucht, aber mit integrativer Psychotherapie nicht das Geringste zu tun hat. Und ich bestreite nunmehr auch, daß es sich um einen integrativen Ansatz handelt. |
"6.1.1 Bedürfnistheoretische Grundlegung
Bei der nachfolgenden integrativen Perspektive zur ätiologietheoretischen
Begründung therapeutischer Strategien handelt es sich um den Ansatz
einer bedürinistheoretischen Grundlequng der Persönlichkeitsstörungen.
Diese wurde der Übersicht halber in der Form eines Circumplexmodells
zur Persönlichkeitsbeurteilung verdichtet. Diese bedürfnistheoretische
Sicht wurde zum Teil durch eine Ausarbeitung von Gasiet (1981) inspiriert,
andererseits durch viele Überlegungen und Gedanken, wie sie [115]
bereits in Sullivans "Interpersoneller Theorie der Psychiatrie" (1953)
niedergelegt wurden.
"Natürlich sind es nicht nur die gerade genannten Autoren, die bei der Ausarbeitung des dazustellenden Circumplexmodells Pate gestanden haben ( - Abbildung 6.1). Das Persönlichkeitsmodell soll - jedenfalls vom Anspruch her - in den unterschiedlichen Therapieschulen zumindest eine gewisse Akzeptanz finden. Dieser Anspruch wurde durch die Begriffswahl teilweise zu erfüllen versucht, und deshalb dürfte dem Leser vieles vertraut vorkommen. Wie sich zeigen wird, findet dieses Rahmenkonzept in den bereits vorhandenen empirischen Kenntnissen über Salutogenese und Pathogenese in der Persönlichkeitsentwicklung eine hochgradig plausible Bestätigung."
"6.1.2 Menschliche Bedürfnisse: Circumplexmodell der Persönlichkeit
Die meisten Grundannahmen des Modells sind inzwischen nicht nur von
Millon, sondern auch in der übrigen Persönlichkeitsforschung
gründlich voruntersucht. Weiter gelten sie als wichtige Bestandteile
der metatheoretischen Persönlichkeitstheorien unterschiedlicher Therapierichtungen
( -> Abbildung 6.1). Circumplex- oder Polaritätenmodelle finden
in unterschiedlichsten Varianten zudem in der differenziellen Persönlichkeitspsychologie
Verwendung, weil sie sich empirisch mittels Faktorenanalysen {FN25}
und multidimensionaler Skalierung überprüfen lassen (Becker,
1995; Plutchik & Conte, 1997; in der Übersicht: Fiedler, 1998
a).
Nachfolgend sollen in einem ersten Schritt die bedürfnistheoretisch
bedeutsamen Hauptachsen des Circumplexmodells kurz vorgestellt werden.
In einem zweiten Schritt werden sie jeweils um entwicklungspsychologische
Grundlagen der biosozialen Persönlichkeitstheorie von Millon (1996)
angereichert. Schließlich soll gezeigt werden, wie sich mit Hilfe
des Circumplexansatzes (a) nicht pathologische, gesunde Persönlichkeitseigenarten,
damit (b) erste therapeutisch bedeutsame Ziele sowie (c) einseitige Persönlichkeitsstile
bis hin zu den Persönlichkeitsstörungen darstellen lassen."
Es folgt eine therapieschulkritische Erläuterung am Beispiel VT und GT:
"6.2.2 Einseitigkeiten in den Therapieschulen
Mit Blick auf die interessante Frage, inwieweit in den Therapieschulen
die beiden menschlichen Grundbedürfnisse Selbstkontrolle versus Selbstaktualisierung
als solche Akzeptanz und Berücksichtigung finden, lassen sich übrigens
einige beachtenswerte Einseitigkeiten ausmachen:
Im folgenden erörtert Peter Fiedler die Graphik. Im weiteren Verlauf wird deutlich, daß der Autor die vier Dimensionen offenbar für ausreichend hält, um sowohl eine gesunde als auch eine gestörte Persönlichkeit hinreichend zu beschreiben und durch ein entsprechendes Mehr oder Weniger in diesen Dimensionen zu charakterisieren. Im Falle einer gesunden Persönlichkeit stellt sich das wie folgt dar:
"6.6.5 Therapieziele
Für eine psychisch gesunde Person ist also eine gewisse Flexibilität
im Umgang mit den angedeuteten Bedürfnisaspekten kennzeichnend. Typisch
ist, dass sie fähig ist, sich persönliche Urteile über die
Realität erfahrungsoffen zu erschließen [Selbstaktualisierung]
und diese klar und unabhängig auszudrücken [Autonomie],
dass sie weiter weiß, woran sie glauben soll, und dass sie klar mitteilen
kann, welche Grundüberzeugungen ihrem Handeln zu Grunde liegen [Selbstkontrolle],
und die entscheiden kann, welche Grundüberzeugungen zugunsten sozialer
Geborgenheit und
damit zugunsten anderer Grundüberzeugungen (z.B. solidarisch)
zurückgestellt werden sollten [Bindung].
Die interpersonell bedeutsamen Bedürffiisaspekte
stellen nicht nur für die gesunde Persönlichkeit grundlegende
Orientierungsmöglichkeiten dar. Alle acht Polaritäten (Bindung,
Autonomie, Selbstsicherheit, Selbstaktualisierung, Aktivität, Passivität,
bewusste Beachtung von Schmerz und Wohlbefinden) bieten mit Blick auf die
seelische Gesun&eit in der Persönlichkeitsentfaltung und für
die Behandlung persönlichkeitsgestörter Menschen interessante
und bedenkenswerte therapeutische Ziele und Perspektiven." {S. 133}
"6.7 Markante Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen
Für eine weiterreichende Entwicklung integrativer Therapieziele
wird jetzt ein wichtiger Zwischenschritt erfolgen. Es wird versucht, für
jede Persönlichkeitsstörung (bzw. für jeden markanten Persönlichkeitsstil)
einen Raum innerhalb des Bedürfniscircumplexes anzugeben. Der Übersicht
halber werden wir uns - wie angedeutet auf die zwei Hauptachsen Struktur
und Beziehung beschränken.
Im Folgenden werden einige Hypothesen maßgeblich
werden, mit der zahlreiche Bedürfnistheoretiker die Entstehung und
Aufrechterhaltung psychischer Störungen wie Persönlichkeitsstörungen
zu erklären versucht haben (z.B. Sullivan, 1953; Jervis, 1976; Becker,
1995; Fiedler, 1999 f). Folgende Hypothesen werden jetzt begründet
und untersucht:
Die folgenden Ausführungen führen zu interessanten und prüfbaren Forschungshypothesen, die im Nachhinein die traditionellen diagnostischen Klassifikationssysteme rechtfertigen könnten.
"6.7.1 Komorbiditätsanalyse: Validierung der Ordnungsmuster
Diese Einordnung wurde zwar zunächst anhand von Plausibilitätserwägungen auf der Grundlage der Konzepte und der vorliegenden Beschreibung einzelner Störungsbilder vorgenommen. Es scheint wohl mehr als ein Zufallsergebnis, sondern eher für die hochgradige Stimmigkeit der Persönlichkeitsdimensionierung zu sprechen, dass diese {<135}
Abbildung 6.2:
Einordnung der Persönlichkeitsstörungen inzwischen in der
Komorbiditätsforschung eine eindrückliche Bestätigung findet
(und damit eine erste Face-Validierung).
Legt man nämlich die Daten der in Tabelle 3.3
(in -> Kapitel 3.3) tabellierten Odds Ratios zu den Gleichzeitigkeitsdiagnosen
der Persönlichkeitsstörungen untereinander zu Grunde, kann man
- bis auf wenige Ausnahmen - zu folgender Aussage gelangen:
Die weiteren Ausführungen sind diagnostisch und therapiekonzeptionell (Therapieplan) sehr interessant, wobei das Thema Psychotherapie, was machen wir denn nun, wann und wie machen wir es?, nicht zur Sprache kommt und das, was nun die eigentliche (integrative) Psychotherapie sein soll, offen und bislang leider im Dunkeln bleibt. |
"6.8 Selektive Indikation Welche Therapieziele und Grundkonzepte
für welche Persönlichkeitsstörung?
Persönlichkeitsgestörte Patienten könnten und sollten
deshalb in einer Psychotherapie lernen, wie sie die ihnen ureigenen Persönlichkeitsstile
erneut und zusammen mit jenen Faktoren, die ihre Lebenswelt und nicht nur
ihre Privatheit ausmachen, sozial bezogen und erfahrungsoffen wie zugleich
selbstsicher und autonom handhaben können.
Viele Betroffene befinden sich zu Beginn der Therapie
üblicherweise in einer Situation, in der sie sich selbst neu bestimmen
müssen - und in der sie lernen könnten, zwischen verschiedenen
Alternativen zu entscheiden, die von widersprfichlichen äußeren
wie inneren Ansprtichen und Bedürfnissen ausgehen. Bevor sich jedoch
jemand frei zwischen inneren und äußeren Anforderungen entscheiden
kann, muss er sich zuerst einmal wieder selbst als mitverantwortlicher
Teil jener Situation empfinden, aus der er zunehmend ausgegrenzt und isoliert
wurde oder aus der er sich selbst zunehmend ausgegrenzt hat.
Die Falle, in der viele Betroffene stecken, ist,
dass sie zur Änderung von Personeigenarten aufgefordert sind, aus
denen sie bisher ihre persönliche Sicherheit und interaktionelle Beständigkeit
beziehen."
Obwohl die letzte Bemerkung Peter Fiedlers ausgesprochen differenziert und sehr empathisch für die Situation PS-gestörter Menschen ist, kommt mir der Gesichtspunkt der Relativität der Therapieziele zu kurz. "...sollten..."? Ich denke, wir können den PatientInnen nur Zusammenhänge mit dem Heilmittel JInformation anbieten und Ihnen dieses oder jenes Therapieziel vorschlagen, wobei auch die Risiken und der Aufwand angesprochen werden müssen, was auch sehr vom systemisch zu verstehenden Realitätsrahmen abhängt. Aus dem folgenden Abschnitten greife ich wegen der großen Bedeutung, denen Borderline- und traumatische Störungen in der letzten Zeit beigemessen wird, folgende Passage heraus:
"Auf Grund langjähriger
Erfahrungen mit einer psychoanalytischen bzw. psychodynamischen Psychotherapie
bei Borderline-Störungen kann bei dieser Störungsgruppe zwar
auch an ein strukturiertes, psychodynamisch orientiertes Therapievorgehen
gedacht werden, wie dies in den Arbeiten von Kernberg und Kollegen ausgearbeitet
wurde (Kernberg, 1989; Rohde-Dachser, 1989). Es bleibt jedoch zu bedenken,
dass ein psychodynamisches Vorgehen bei schwerer gestörten Borderline-Patienten
(in empirischen Studien mit Psychiatrie-Patienten) bisher nur bei etwa
der Hälfte der Betroffenen zu bedeutsamen Fortschritten führt;
die andere Hälfte der Patienten {<144} zeigte bereits während
der Behandlung eine teils deutliche Verschlechterung der Symptomatik (Hull,
Clarkin & Kakuma, 1993; Fiedler, 1999 a).
In letzter Zeit wird zunehmend deutlicher, dass
diese Verschlechterungen im Rahmen psychodynamischer Therapien vor allem
Borderline-Patienten mit kumulierten Traumaerfahrungen in der Genese betreffen
(emotionaler, physischer und sexueller Mißbrauch in Kindheit und
Jugend). Einige psychoanalytisch orientierte Autoren gehen auf Grund dieser
Beobachtungen deshalb inzwischen so weit, die psychodynamische, vorrangig
einsichtsorientierte Therapie immer dann als contraindiziert zu betrachten,
wenn Traumakumulation als ursächlich für die Entwicklung der
Borderline-Störungen in Betracht gezogen werden muss (Reddemann &
Sachsse, 1999; Fiedler, 1999 a; -> Kapitel 7.1). Reddemann und Sachsse
fassen das Problem folgendermaßen zusammen:
Schon um im Sinne der Patienten die Misserfolgsraten
einzuschränken, sollte von Therapeuten genau erwogen werden, ob nicht
doch und bei welchen Patienten (insbesondere jenen mit Traumagenese, und
letzteres gilt möglicherweise auch für die übrigen Persönlichkeitsstörungen)
eine Verhaltenstherapie die bessere Alternative darstellt. In Forschungsarbeiten
zur kognitiv- behavioralen Therapie bei Borderlinestörungen zeigte
sich dieser (zur Zeit wohl nicht ganz vermeidbare) Verschlechterungseffekt
nur bei etwa 20 Prozent (!) der Psychiatriepatienten (z.B. Linehan, Heard
& Armstrong, 1993). Wir werden in -> Kapitel 7.1 bei der Beschreibung
konkreter the{<145}rapeutischer Ansätze bei Borderline- Persönlichkeitsstörungen
auf die Besonderheiten in der Behandlung chronifizierter Traumastörungen
ausführlicher eingehen."
Im nächsten Abschnitt 6.8.2 wird sichtbar, daß Peter Fiedler tatsächlich glaubt, daß persönlichkeitsbedingte Merkmale direkt veränderbar sind, womit im Grunde widerspruchsvoll unterstellt wird, daß das Persönlichkeitsmerkmal gar kein Persönlichkeits- sondern ein wandlungsfähiges neurotisches Merkmal und damit direkt veränderbar ist:
"Ziele der Therapie lägen in der behutsamen Reflexion bisheriger Lebensleitorientierungen, der Ermöglichung einer erneuten Selbstaktualisierung und in der Verbesserung persönlicher Möglichkeiten, sich offen auf neue Erfahrungen einzulassen. Für zahlreiche dieser Anlässe benötigen Behandlungsangebote entsprechend hinreichende Zeitperspektiven ( -> Abbildung 6. 6)." {S. 145}
Damit ist das grundlegende Therapiekonzept in sich widersprüchlich und geht an der Definition und Wesensbestimmung der Persönlichkeitsstörung vorbei. Gegen dieses Grundwiderspruch hat Hans Lieb vehement mit seinem Buch "Persönlichkeitsstörung. Zur Kritik eines widersinnigen Konzeptes" angeschrieben [FN26]. Wir dürfen also gespannt sein, wie es im nächsten Kapitel weiter geht.