von Rudolf Sponsel, Erlangen,
Querverweise
Der Krankheitsbegriff
1)
ist ein sehr wichtiger Begriff in unserer Gesellschaft und daher rechtlich
und sozialrechtlich normiert. Wir zitieren nach Faber, F. R. & Haarstrick,
R. (1991) "Kommentar Psychotherapie-Richtlinien", S. 21):
"Nach den Psychotherapie-Richtlinien kann seelische Krankheit Das Symptom ist nicht schon die Krankheit
|
Die dogmatische Festlegung, immer und grundsätzlich
zwischen Krankheit und Symptom zu trennen, ist wissenschaftlich unhaltbar
(siehe unten Symptom) und ist z. B. von der Verhaltenstherapie auch nie
akzeptiert worden. Insofern ist der Kommentar zu den Richtlinien in sich
widersprüchlich. Es folgen nun wichtige Ausführungen zur Krankheitslehre
der Psychotherapie-Richtlinien (S. 21 - 22).
|
Im weiteren wird ausgeführt, daß
nach den Psychotherapie-Richtlinien Berufs-, Erziehungs-, Sexual-
3)
und Beziehungsprobleme für sich gesehen keine Krankheiten sind,
und "nur dann als seelische Krankheit gelten können, wenn ihre ursächliche
Verknüpfung mit einer krankhaften Veränderung eines Menschen
nachgewiesen wurde." (a. a. O., S. 22). Die Autoren führen weiter
aus:
"Die Notwendigkeit einer Krankheitslehre Schließlich wird gefordert, daß seelische Krankheit im Rahmen eines umfassenden Theoriesystems der Krankheitsentstehung diagnostiziert wird. Der Begriff der seelischen Krankheit erfordert einen wissenschaftlich definierten Ort in einer Krankheitslehre, der die psychotherapeutische Behandlung, methodisch begründet, zugeordnet werden kann." 4) |
Zur Krankheitslehre werden in den Psychotherapie-Richtlinien
weitere Vorgaben und Erläuterungen gemacht (a. a. O.,
S. 23):
"Formulierungen zur Ätiologie in den Richtlinien Die Behandlung seelischer Krankheiten im Sinne der Psychotherapie-Richtlinien setzt voraus, »daß das Krankheitsgeschehen als ein ursächlich bestimmter Prozeß verstanden wird« (R: A 3). Das Krankheitsgeschehen wird durch gegenwärtig wirksame Faktoren und durch lebensgeschichtliche Prägungen determiniert. An der individuellen Genese der seelischen Erkrankung haben Einwirkungen gesellschaftlicher Faktoren teil. Die »ätiologisch orientierte Diagnostik« muß die jeweiligen Krankheitserscheinungen erklären und zuordnen (R: A 6). Es ist also die Aufgabe des Therapeuten, das Krankheitsgeschehen ätiologisch zu erfassen. Die Forderung gilt für die psychoanalytisch begründeten Verfahren ebenso wie für die Verhaltenstherapie. ... Mit diesen Formulierungen wurde klargestellt, daß kausale Zusammenhänge in der Genese von seelischen Störungen erkannt werden müssen und daß der Hinweis auf belastende biographische Gegebenheiten in der Anamnese eines Patienten oder auf seine Symptomatik nicht genügt." 5) |
Definition des allgemeinen und abstrakten Krankheitsbegriffs in der GIPT (Sponsel 1995, Kap. 2 und 3) Die möglicherweise umgebungsbedingte An- oder Abwesenheit einer spezifischen Qualität oder Quantität, auch einer Regel, in einem Ökosozialsystem oder Individuum bewirkt eine Störung einer oder mehrerer Funktionen bzw. Funktionseinheiten eines Systems, der ab einer bestimmten Ausprägung oder Dauer, wenn es sich um biologische Systeme handelt, Krankheitswert zugesprochen werden kann. Sachlich grundlegend für den Krankheitsbegriff ist der Störungsbegriff. Bestimmte Störungen erhalten den Wert Krankheit oder einen Krankheitswert zugesprochen. Krankheit ist ein sozialrechtlicher Wertbegriff mit dem sich bestimmte Ansprüche und Rechte verknüpfen, so hat der Kranke Anspruch auf Heilung, Besserung, Linderung oder Bewältigung. Eine Störung kann man nach Gustav von Bergmann ([1878-1955], 1932) zweckmäßigerweisse dann eine Krankheit nennen, also ihr Krankheitswert zuerkennen, wenn wenigstens eine - wichtige - Funktions-Störung gegeben ist. Damit hat ein man vernünftiges inhaltliches Kriterium und vermeidet die Tücken, Fallen und Paradoxien eines statistischen Abweichungskriteriums. Siehe auch Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell. |
Der Begriff
des Symptoms und seine Normierung (Definition)
Siehe auch: Das
Diagnostikproblem und Krankheitsmodell
in der GIPT
In der Diskussion um den Krankheitsbegriff (Keupp 1972, Hg.; Schulte 1990) und die den verschiedenen Therapieschulen zugrundeliegende Krankheitslehre (Pritz & Petzold1992, Hg.) hat es viel Verwirrung gegeben, kein Wunder bei dem allgemeinen "autistisch-undisziplinierten Denken in der Heilkunde" (Bleuler 1919). Symptom bedeutet in der Heilkunde Zeichen von ... oder Zeichen für ... . In der klassischen und veralteten Heilkunde ist eine sprachdogmatische Entscheidung getroffen worden, daß Krankheit und Symptom immer verschiedene Erscheinungen sind. Ein solches Dogma hat natürlich in der Wissenschaft nichts suchen und wird daher von der GIPT abgelehnt. In der Psychopathologie ist es völlig falsch, da hier oft Symptom und Krankheit oder Störung zusammenfallen und identisch sind, etwa bei der Angstneurose. Die Angst ist die Krankheit und zugleich ihr Ausdruck: das Symptom. Daß die Angst natürlich Ursachen, Bedingungen und Hintergründe hat, ist klar und wird von niemandem bestritten.
Exkurs: Sprachliche Kausalitätswirren
Beispiel: Jemand mache vor einer Prüfung aus Angst in die Hose. Dann wäre der (vorübergehende) Verlust der Harnentleerungslenkung ein Symptom. Ist auch die Angst "nur" ein Symptom einer tiefer sitzenden Störung, z. B. der Verkennung der Schwierigkeit oder der Verkennung des ausreichend Gewappnetseins oder der Verkennung, daß man solche Situationen im Leben aushalten und bewältigen muß? Je genauer wir analysieren, desto mehr Rückwärtslinien in der Rekonstruktion (Ätiologie) der Störung werden wir vermutlich finden. Es stellt sich dann überhaupt die Frage, wie die einzelnen Elemente, die zu dem Gesamtkomplex dieser Störung gehören, terminologisch differenziert werden sollen. Hierzu wählen wir zunächst eine Reihe von Hilfsbegriffen, quasi als "Geistwerkzeug":
Anmerkung: Die Hilfsbegriffe in der Checkliste Kausalitaet sind im übrigen sehr nützlich zur Therapie der Schuldgefühle, weil kognitive Schemata zur Differentialdiagnose moralischer und nicht-moralischer, d. h. rein sachlicher Ursachen- und Bedingungsbegriffe zur Verfügung gestellt werden. |
Unter einem Syndrom wird eine bestimmte Konfiguration von Symptomen verstanden. Sinn macht der Syndrombegriff nur, wenn die Konfiguration bestimmter Symptome zu einem Syndrom eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit hat. Beim Syndrom sollten wir daher unterschiedliche Symptombedeutungen unterscheiden: Kernsymptome, Begleitsymptome, Randsymptome. Kernsymptome müssen vorhanden sein, bei Begleitsymptomen ist die bedingte Wahrscheinlichkeit höher als die unbedingte, Randsymptome sind syndrombezogen eher unbedeutend oder zufällig und individuell, situativ bedingt. Die Differentialdiagnose zum Symptomtyp kann im Einzelfall sehr schwierig sein, weil es hier oft an Vergleichsmöglichkeiten fehlt. Treten verschiedene Syndrome derselben Grunderkrankung (Störung) auf, müssen sie natürlich mit unterschiedlichen Namen bezeichnet werden. Sei z. B. Manie die Grundstörung, so kann diese sich in mindestens zwei Syndromen äußern: Euphorisches oder Dysphorisches Manisches Syndrom.
Der Begriff der Gesundheit und seine Normierung (Definition)
Während der Krankheitsbegriff über
das Leiden oder drohendes Leiden relativ leicht vernünftig definiert
werden kann, ist das mit dem Gesundheitsbegriff nicht so leicht. Die WHO-Definition
ist sicher völlig unrealistisch und daher praktisch nicht zu gebrauchen
7).
Von psychologischer Seite ist in den letzten 10 - 15 Jahren zu dem Thema
einiges geleistet und erarbeitet worden (Becker, P., Minsel, B. 1982, 1986).
Wir können hier keine Normierung leisten,
das ist auch nicht unser Hauptanliegen. Gesundheits-, Wohlbefindens-
und Glücksforschung finden wir in der GIPT sehr wichtig. Es ist nicht
gut für die Entwicklung der Psychotherapie, wenn sie nur einseitig,
quasi "einäugig" ihre Erkenntnisse aus dem Pathologischen, Gestörten,
Kranken, Nichtfunktionierenden bezieht. Vielleicht gibt es ja gar nicht
solche großen Unterschiede zwischen "Gestörten" und "Unauffälligen".
Und nicht minder wichtig für ein vollständiges Bild der ätiologischen,
diagnostischen und prognostischen Beurteilung von Störungen wäre
die Kenntnis, wie es denn diejenigen anstellen, die nicht erkranken, keine
Störungen entwickeln, obwohl sie vielleicht dieselben Schwiergkeiten
erleben wie andere, die erkranken. Hierzu gehört auch die Frage, wie
es verstanden werden kann, daß Menschen, die schlimmen und mißlichen
Bedingungen ausgesetzt waren, z. B. in ihrer Kindheit (Hemminger 1982)
sich gesund fortentwickeln und psychopathologisch weitgehend unauffällig
bleiben. Systematisch ergibt sich daher folgende Forschungsmatrix:
Die Psychopathologie und Psychotherapieforschung
befaßt sich hauptsächlich mit der Teilmatrix 22. Ein richtiges
Bild ergibt sich unseres Erachtens erst, wenn wir diese eingeengte Perspektive
aufgeben und die ganze Wirklichkeit betrachten und erforschen. Die
Hauptdiagonalen stimmen mit unserer naiven Erwartung überein. Und
das eben sollte kritisch hinterfragt und untersucht werden. Möglicherweise
ergäben sich dadurch auch völlig neue Therapiemethoden.
Mit Gesundheit verknüpfen wir das
Analog-Bild einer großen Firma mit vielen Werktätigen. Obwohl
dort im einzelnen, "mikroskopisch" betrachtet, das eine oder andere schief
läuft, Fehler gemacht oder Aufgaben nicht so gut erledigt werden,
MitarbeiterInnen ausfallen und fehlen, KundInnen und Zulieferer Probleme
bereiten, im Großen und Ganzen funktioniert der Betrieb, im Großen
und Ganzen ist er gesund, wenn die Bilanz stimmt. Dieses Bild scheint uns
trefflich für unsere noch wenig präzise Vorstellung von Gesundheit.
Und doch: obwohl die eine andere Region von Körper oder Seele nicht
so gut funktioniert, das eine oder andere schief läuft und leichten
Störungen unterliegt: im Großen und Ganzen ist alles in Ordnung.
Und gibt es einmal eine stärkere Krise, Störung oder Erkrankung,
dann greifen die Selbstheilungsmechanismen und der Genesungsprozeß
nimmt zügig seinen Lauf. So etwa stellen wir uns Gesundheit vor. Präziser
läßt sich das nur sagen, wenn die einzelnen Krankheitsfaktormodelle
genauer ausgeführt werden.
Der Prozeß
der Heilung oder Genesung im engeren Sinne ist selten Gegenstand heilkundlicher
Literatur (Weil, A. dt. 1988, orig. 1983, S. 101 - 123) und ist im wesentlichen
eine "black box", obwohl die Heilwirkfaktorenforschung in den letzten 30
Jahren ziemlich angewachsen ist (> 6.4.3.5), wie auch die Mikro-Prozeßforschung
sich allmählich entwickelt (> 4.4). Wie geschieht Heilung genau? Wir
wissen viel zu wenig darüber. In der GIPT erhoffen wir uns aber einen
Erkenntnisschub in den nächsten 10 Jahren, weil die Schöpfung
und Normierung der grundlegenden Heilmittel und Methoden die instrumentellen
Voraussetzungen für genaue Detailanalysen liefert. Auch von der Computersimulation
und neuronalen Netzmodellen psychischer Störungen dürfte einiges
zu erwarten sein.
Kenntnis des Heil- oder Genesungsvorganges
zu haben, bedeutet die Transformationsschritte vom Zustand der Störung
zum Zustand des Wieder-Funktionierens beschreiben zu können.
Aus dem psychoanalytischen
Modell kann folgender Heilungsprozeß abgeleitet werden: Unbewußtes
wird zunehmend bewußt, Widerstandsschicht um Widerstandsschicht wird
abgetragen, um der Übertragungsneurose den Weg frei zu machen. Entlädt
sie sich endlich und ist sie durchgearbeitet, ist der psychoanalytische
Heilungsprozeß zu Ende.
Bei Rogers verhält es
sich auf einer formal-abstrakten Stufe ähnlich: Zug um Zug versteht
und akzeptiert KlientIn immer mehr von sich. Damit wird der Abstand, die
Inkongruenz, zwischen Selbstwunschbild und dem lebensgeprägten Selbstbild
immer kleiner. Und damit wird die Spannung oder negative Energie immer
geringer, die den Boden für Symptomproduktionen bildet.
Das allgemeine abstrakte Modell
für beide Heilungstheorien ist ein einfaches Ist-Sollwert-Modell:
die Abstände zwischen Ist- und Sollwerten werden kleiner.
Prophylaxe und Prävention
zielen indirekt auf Gesundheit. Die Einführung eines Schulfaches "Praktische
Lebenskunst" wäre z. B. ein solcher vernünftiger Prophylaxe-
und Präventionsschritt. Wie geht man mit sich selbst und anderen um,
worauf kommt es an im Leben, was muß man beachten, um seine Chancen
auf ein zufriedenstellendes Leben zu erhöhen? Teilweise wird psychotherapeutische
Prophylaxe und Prävention von der psychotherapeutischen Volkshochschulbewegung
ausgefüllt. Animation zur gesunden Ernährung und Bewegung sind
allgemeine gesundheitsprophylaktische Programme. Die humanistische Philosophie
von Entwickeln, Wachsen und Selbstverwirklichung, die Encounter- und Selbsterfahrungsbewegung
kann auch unter dem Gesichtspunkt der Prophylaxe und Prävention gesehen
werden. Aber auch gegenteilige, negative Effekte sind in der "Szene" zu
beklagen, wenn z. B. labilen, latent psychisch Gefährdeten oder gar
manifest psychisch Gestörten in Veranstaltungen, die eine relative
Ichstärke voraussetzen, zu viel zugemutet, also nicht richtig gefiltert
wird. Eine andere Gefahr ist, daß künstliche Begegnungsstätten
als Ersatz für mangelnde Beziehungen und Zufriedenheitsquellen herhalten
müssen und damit am Leben erhalten, möglicherweise sogar veranstaltermotiviert,
was konstruktiv beseitigt werden sollte.
Behinderung
und irreversible Folgen &
Schäden aus Unfällen
& Krankheiten
Sind mehr oder minder irreversible Schäden
- durch angeborene oder erworbene Behinderung - schon eingetreten, kann
es natürlich nicht mehr um eine heilende Psychotherapie gehen, sondern
um stützende Psychotherapie, Hilfe zu Bewältigung, ein nicht
minder wichtiges heilkundliches Tun als das der heilenden Psychotherapie
oder der Prävention.
Psychotherapeutische
Hilfe bei der Bewältigung bevorstehender
Eingriffe oder chronischer Krankheiten
Auch hier geht es nicht primär um
psychotherapeutische Heilung, sondern um Bewältigungshilfe und Unterstützung
bei bevorstehenden (z. B. Operationen, Chemotherapie) oder schon eingetretenen
schwierigen Situationen (z. B. Brustamputation, künstlicher Ausgang,
chronisches Leiden).
Die Aufgabe der Heilkunde besteht im Vorbeugen, Heilen, Bessern, Lindern und Bewältigen von Krankheiten oder Beeinträchtigungen von Krankheitswert, z. B. Behinderungen oder Verletzungen. |
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