Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=04.08.2018 Internet Erstausgabe, letzte Änderung: 15.09.18
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel   Stubenlohstr. 20   D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT, Abteilung Wissenschaft, Bereich Sprache und Begriffsanalysen und hier speziell zum Thema:

    Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand bei Bertrand Russell (1872-1970)


    Porträt von Rudol Sponsel 1975

    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand.
        Die Hauptbedeutungen.

    Originalarbeit von  Rudolf Sponsel, Erlangen

    Zusammenfassung - Abstract - Summary GMV bei Bertrand Russell (1970)
    Der enzyklopädisch gebildete und scharfsinnige Denker Bertrand Russell zitiert den gesunden Menschenverstand in seinen Werken öfter, am meisten jedoch in seinem Buch  Das menschliche Wissen (dt. 1950, engl. 1948) in 45 Textstellen von insgesamt 69 Textstellen.
        Ich fand bei ihm bislang folgende Unterscheidungen: gewöhnlicher MV, gemeiner MV, nüchterner MV, vorwissenschaftlicher  GMV, wissenschaftlicher  GMV, intuitiver GMV,  und, allgemein, nicht näher spezifiziert, den gesunden Menschenverstand. Russell anerkennt den Wert des GMVes und sieht ihn aber auch kritisch und benennt seine Irrtümer. Die wichtigste systematische Textstelle findet sich in Das menschliche Wissen, S. 224-228. Genaue Klärungen dieser Begriffe gibt Russell nicht, so dass wir auf Interpretationen angewiesen sind, was er jeweils meint.
        Mit den Neu-Schöpfungen vorwissenschaftlicher (GMVvorwis), wissenschaftlich gesunder Menschenverstand (GMVwissens) und intuitiver gesunder Menschenverstand (GMVintuitiv) erweitert er die außerhalb seiner Schriften gefundenen Bedeutungen.
    Inhaltlich kann der GMV nach Russell wie folgt interpretiert werden: Im  GMV sind die Sachurteile (nicht Werturteile) des Welt-, Menschen- und Selbstbildes des  Durchschnittsmenschen  repräsentiert. Darunter kann die große Mehrheit der Nichtwissenschaftler oder Nichtfachleute verstanden werden, was bei einer Erhebung im Einzelfall zu prüfen wäre. So ist ein studierter Germanist oder Psychologe kein Fachmann für Fragen des Raumes und der Zeit oder der Naturwissenschaftler kein Fachmann für Fragen des allgemeinen Denkens oder die Wünsche der Menschen. Wer also gerade als Fach- oder Nichtfachmann anzusehen ist, hängt vom Sachverhalt oder Thema ab.
        Alles  Erleben, wie es sich vor allem im  Alltag  zeigt, gehört zum GMV. Den Sinneserlebnissen, äußeren Wahrnehmungen und Empfindungen ordnet der GMV eine reale Außenwelt zu. Was er z.B. sieht, riecht, hört, tastet gehört zur Außenwelt, die sich außerhalb seiner selbst befindet. Auch seine psychischen Erlebnisse und ihre Selbstbeobachtung - im Sinne  innererer Wahrnehmung -  sind real und er meint, dass andere Menschen ähnlich funktionieren, wie er selbst, so dass Schlüsse vom eigenen Erleben und eigener Erfahrung grundsätzlich zulässig sind. Der GMV ist die erste Basis der Erkenntnis. Es folgen wissenschaftliche und und wissenschaftlich hochentwickelte Erkennnisse. In vielem stimmt der GMV mit der Wissenschaft überein, am wenigstens mit der Physik des Makkro- und Mikoskopischen (Astrophysik, Relatitivitäts- und Quantentheorie), wenn der GMV auch manchen Täuschungen und Irrtümern unterliegt, vor allem wenn es um genaue Betrachtungen geht. Daher muss man nach Russell den GMV differenziert und kritisch sehen und dort, wo etwas genauer gewusst werden soll, auch kritisch hinterfragen. Die Domäne und das Reich des GMV sind der Alltag. Auch die einfache klassische Physik (Newton) gehört zum GMV.

    Auswertung der Stichprobe (> Zur Methodik der Auswertung)
    Der enzyklopädisch gebildete und scharfsinnige Denker Bertrand Russell hat sehr viele Bücher geschrieben, eine fast vollständige Bibliographie seiner Werke findet man in der Rowohlt-Monographie [The impact of science on society 1952, dt. 1953 fehlt]. Ein Teil wurde auch ins Deutsche übersetzt, wovon wiederum ein Teil, 14 Bücher, hier ausgewertet wurde. Man muss mit einer Ausnahme in Das menschliche Wissen (SR "Menschenverstand, gesunder 224", aber insgesamt 45 Textstellen) die Stellen suchen, weil meist keine entsprechenden Sachregistereinträge vorliegen. Das ist hier geschehen, wobei ich nicht ausschließen möchte und kann, die eine oder andere Stelle bei der Sichtung meiner Stichprobe aus Russells Werken übersehen zu haben (für Hinweise bin ich dankbar). In einer Textstelle können mehrere Nennungen vorkommen.

    Alle Hervorhebungen des  Suchbegriffe in 14erSchriftgröße und fett sind von Rudolf Sponsel.
     

      2 Textstellen Gebrauchsbeispiele wissenschaftlich gesunder Menschenverstand.
      1 Textstelle Gebrauchsbeispiele vorwissenschaftlich gesunder Menschenverstand.
      76 Textstellen Gebrauchsbeispiele Gesunder Menschenverstand.
      • 45 Textstellen in  Das menschliche Wissen  (1948, dt. 1950)
      • 3  Textstellen in  Die Analyse des Geistes  (dt. 1927, engl. 1921)
      • 4  Textstellen in  Probleme der Philosophie. (1912, dt. 1967)
      • 4  Textstellen in  Unser Wissen von der Außenwelt. (2.A. 1926, dt. 2004)
      • 4  Textstellen in  Das ABC der Relativitätstheorie  (letzte Bearbeitung 1969, dt. 1974)
      • 1  Textstelle in  Macht (dt. 1947, engl. 1938)
      • 1  Textstelle in  Einführung in die mathematische Philosophie (dt. 1923, engl. 1919)
      • 3  Textstellen in Wissenschaft wandelt das Leben.(dt. 1953, engl. 1952)
      • 1  Textstelle in  Warum ich kein Christ bin  (dt. 1974, engl. )
      • 1  Textstelle in  Hat der Mensch noch eine Zukunft (dt. 1963, engl. 1961 )
      • 1  Textstelle in  Moral und Politik (dt. 1988, engl. 1954)
      • 1  Textstelle  in  Eroberung des Glücks (dt. 1980, engl. 1930 )
      • 0  Textstellen in Wege zur Freiheit, Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus (dt.1971 ,engl. 1918)
      • 7 Textstellen Common sense in An Inquiry into Meaning and Truth (1940; Pelican Book1962 ff)
      1 Textstelle  Gebrauchsbeispiele gewöhnlicher Menschenverstand.
      5 Textstellen  Gebrauchsbeispiele gemeiner Menschenverstand.
      3 Textstellen  Gebrauchsbeispiele nüchterner Menschenverstand.
      1 Textstelle  Gebrauchsbeispiel menschlicher Verstand (ohne nähere Bezeichnung)
      13 Textstellen  Exkurs: Gebrauchsbeispiele Typus Mensch:
      • 1 Textstelle  Gebrauchsbeispiele wissenschaftlicher Mensch.
      • 1 Textstelle  Gebrauchsbeispiel denkender Mensch.
      • 1 Textstelle  Gebrauchsbeispiel vernünftiger Mensch.
      • 2 Textstellen  Gebrauchsbeispiele naiver Mensch.
      • 8 Textstellen  Gebrauchsbeispiele Durchschnittsbuerger und Durchschnittsmensch.
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    Anmerkung zum common sense im angloamerikanischen Raum
    Der gesunde Menschenverstand hat im angloamerikanische Raum (Schottland, England, USA) unter dem Namen common sense eine lange und wertschätzende Tradition, die auch durch den sog. Pragmatismus (philosphische Ströumung in den USA) Unterstützung findet, wenngleich ihre Philosophie letztendlich an denselben Grundkrankheiten (keine Versuche, Experimente, dokumentierte Beobachtungen, operationale Definitionen und Normierungen, dafür umso mehr Phantasieren) wie weltweit allgemein und der deutsche Tiefenunsinn im besonderen.


    Gebrauchsbeispiele für Redewendung "Wissenschaftlich Gesunder Menschenverstand"

    Aus Russell, Bertrand (1950) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle. Das Buch ist sehr interessant, weil es um Wissen geht. Der gesunde Menschenverstand hat keinen Sachregistereintrag. Man muss die Stellen suchen. Anmerkung: Wissen selbst hat keinen Sachregistereintrag und wird auch nicht näher erläutert oder definiert (> Begriffanalyse Wissen; in Arbeit)
     

  • S. 9 Wissenschaftlicher GMV : "Seit den Tagen von Kant, oder besser sollte man vielleicht sagen, schon seit Berkeley bestand unter den Philosophen eine meiner Meinung nach irrtümliche Neigung zuzulassen, daß die Beschreibung der Welt in ungehöriger Weise durch Überlegungen beeinflußt wurde, die sich auf das Wesen der menschlichen Erkenntnis bezogen. Für den wissenschaftlich  gesunden Menschenverstand (den ich zugrunde lege) ist es selbstverständlich, daß nur ein sehr geringer Teil des Universums bekannt ist, daß es lange Zeiträume gegeben hat, während deren es keine Erkenntnis gegeben hat, und daß es wahrscheinlich auch in Zukunft lange Zeiträume ohne Erkenntnis geben wird. Unter kosmischen und kausalen Gesichtspunkten ist Erkenntnis ein unwesentlicher Zug des Universums. Eine wissenschaftliche Darstellung, welche es ganz unterließe, ihr Vorkommen zu erwähnen, würde von einem unpersönlichen Gesichtspunkt aus nur an einer sehr geringen Unvollkommenheit leiden. Will man die Welt beschreiben, so ist Subjektivität ein Laster. Kant sagte von sich selbst, daß er eine »kopernikanische Drehung« vollbracht habe. Er hätte sich richtiger ausgedrückt, wenn er von einer Ptolemäischen Gegenrevolution gesprochen hätte, denn er hat den Menschen wiederum in den Mittelpunkt gestellt, von dessen Thron Kopernikus ihn gestoßen hatte."
    1. Kommentar: Gleich zu Beginn des Buches wird ausdrücklich vom wissenschaftlichen gesunden Menschenverstand (GMVwissens) gesprochen. Allerdings erklärt Russell weder, was er unter gesundem Menschenverstand, noch was er unter wissenschaftlichem gesunden Menschenverstand versteht.
  • S. 164 Abgestufte Wahrscheinlichkeit mit dem wissenschaftlichen GMV: "Die Schlüsse, auf die wir uns bei dieser Untersuchung stützen und deren Logik in Teil VI eingehend betrachtet werden soll, unterscheiden sich von denen der deduktiven Logik und der Mathematik dadurch, daß sie nicht beweisbar sind, d. h. es sind Schlüsse, welche, auch wenn die Prämisse wahr und die Schlußweise in Ordnung ist, die Wahrheit der Schlußfolgerung nicht verbürgen, wohl aber die Schlußfolgerung in einem, gewissen Sinn und bis zu einem gewissen Grade »wahrscheinlich« machen sollen. Außer in der Mathematik sind fast alle Schlüsse, auf die wir uns wirklich stützen, von dieser Art. In manchen Fällen ist der Schluß so zwingend, daß er fast praktische Gewißheit erreicht. Von einer Schreibmaschinenseite mit sinnvollem Inhalt nimmt man an, daß sie jemand geschrieben hat, obwohl sie, wie Eddington gesagt hat, zufällig dadurch zustande gekommen sein kann, daß ein Affe auf einer Schreibmaschine herumgehüpft ist, und diese bloße Möglichkeit verhindert, daß der Schluß auf einen absichtsvollen Schreiber volle Beweiskraft erlangt. Viele Schlüsse, die von allen Gelehrten anerkannt werden, sind viel weniger sicher, z. B. die Theorie, daß der Schall durch Wellen fortgeleitet wird. Den verschiedenen Schlüssen wird durch den wissenschaftlichen gesunden Menschenverstand eine Abstufung an Wahrscheinlichkeit beigelegt, aber es gibt keine anerkannte Gesamtheit von Grundsätzen, mit deren Hilfe’solche Wahrscheinlichkeiten abgeschätzt werden können. Ich möchte durch die Analyse des wissenschaftlichen Verfahrens die Regeln solchen Schließens systematisieren. ... "
    1. Kommentar: hier wird ausdrücklich vom wissenschaftlichen gesunden Menschenverstand (GMVwissens) gesprochen.




    Gebrauchsbeispiele für Redewendung "vorwissenschaftlich gesunder Menschenverstand"
    Aus Russell, Bertrand (1950) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle. Das Buch ist sehr interessant, weil es um Wissen geht. Der gesunde Menschenverstand hat keinen Sachregistereintrag. Man muss die Stellen suchen.
     
  • S. 220 Vorwissenschaftlicher GMV einheitlicher Raum : "Die Konstruktion eines einheitlichen Raumes, in dem unsere  gesamten Wahrnehmungserfahrungen untergebracht werden, ist ein Triumph des vorwissenschaftlichen gesunden Menschenverstandes. Das Verdienst dieser Konstruktion liegt in ihrer Bequemlichkeit, nicht in irgendeiner letzten Wahrheit, die, man ihr zuschreiben könnte. ... "
    1. Kommentar: Hier kreiert Russel einen vorwissenschaftlichen GMV, woraus sich zwingend ergibt, dass Russell wernigstens drei Arten des GMV kennt: gewöhnlicher GMV, vorwissenschaftlicher GMV und wissenschaftlicher GMV.




    Gebrauchsbeispiele für Redewendung "Gesunder Menschenverstand" in ...
    Aus Russell, Bertrand (1950) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle. Das Buch ist sehr interessant, weil es um Wissen geht. Der gesunde Menschenverstand hat keinen Sachregistereintrag. Man muss die Stellen suchen. Aber nirgendwo macht sich Russell die Mühe, auch nur ansatzweise zu erklären, was nun der gesunde Menschenverstand sein soll.
       
  • S. 10  GMV als Erkenntnisverfahren: "Ich bin meinerseits durchaus bereit an die Wissenschaft im Ganzen, von Irrtümern im Einzelnen abgesehen, zu glauben. Wenn ich aber an jene Dinge glaube, so bekenne ich mich damit gleichzeitig zu der Ansicht, daß es gültige Verfahren des Schließens von Ereignissen auf andere Ereignisse gibt - oder genauer gesagt, von Ereignissen, die mir ohne Schluß gegenwärtig sind, auf solche Ereignisse, die mir in dieserWeise nicht gegenwärtig sind. Zu entdecken, worin diese Vorgänge bestehen, ist ein Gegenstand der Analyse der wissenschaftlichen Verfahren und derjenigen des gesunden Menschenverstandes, insoweit als solche Verfahren allgemein als wissenschaftlich gültig angenommen werden."
    1. Kommentar: Die Verfahren des gesunden Menschenverstandes (GMVonS), die gleichwertig (GMVwert) neben die wissenschaftlichen Verfahren gestellt werden, erläutert Russell nicht.
  • S. 48 Erstbetrachtung mit dem GMV: "Vom Standpunkt der orthodoxen. Psychologie aus gibt es zwei Verbindungen zwischen dem Seelischen und Physischen, nämlich die Empfindungen und die Wollungen. Eine »Empfindung« kann als die erste seelische Wirkung einer physikalischen Ursache definiert werden, eineWollung als die letzte seelische Ursache einer physikalischen Wirkung. Ich will nicht behaupten, daß sich diese Definitionen als letztlich befriedigend erweisen werden, sondern zunächst nur, daß sie als Leitfaden bei unserem vorläufigen Überblick benutzt werden können. Im vorliegenden Kapitel werde ich mich weder mit Empfindungen, noch mit Wollungen selbst befassen, da diese zur Psychologie gehören; ich werde mich nur mit den physiologischen Vorläufern und Begleiterscheinungen der Empfindungen und mit den physiologischen Begleiterscheinungen und Folgen der Wollungen beschäftigen. Ehe wir aber betrachten, was die Wissenschaft dazu zu sagen hat, wird es sich lohnen, die ganze Angelegenheit zunächst einmal vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus zu betrachten."
    1. Kommentar: Vor der wissenschaftlichen Betrachtung setzt Russell die des GMV (GMVonS), wobei offen bleibt, was unter dem Standpunkt GMV zu verstehen ist, wobei aber eine gewisse Wertschätzung des GMV (GMVwert) offensichtlich ist..
  • S. 56 Private Gegebenheiten und der GMV: "... Es gibt afferente Nerven von den Muskeln her, die Empfindungen hervorrufen, wenn die Muskeln gebraucht werden. Natürlich werden diese Empfindungen nur von den betreffenden Personen selbst wahrgenommen. Nur wenn der Reiz außerhalb des Körpers des Beobachters liegt, und dann nicht einmal immer, gehört die Empfindung zu einem System, das im ganzen eine physikalische Gegebenheit darstellt. Wenn eine Fliege auf Ihrer Hand kriecht, so ist die Gesichtswahrnehmung, welche sie hervorruft, öffentlich, das Kitzelgefiihl dagegen ist privat. Die Psychologie ist die Wissenschaft, die es mit den privaten Gegebenheiten zu tun hat und mit den privaten Ansichten von Gegebenheiten, die der gesunde Menschenverstand als öffentlich ansieht."
    1. Kommentar: Das allgemein Wahrnehmbare (GMVaugsch), (GMVErfahr) wird von Russell hier zum Gebiet des GMV (allgemein Wahrnehmbares: GMVKriterium) erklärt.
  • S. 58 Auf Niveau des GMV: "Ich habe die Betrachtung an dieser Stelle auf dem Niveau des gesunden Menschenverstandes gehalten, aber an einer späteren Stelle werde ich sie wieder aufhehmen und versuchen, etwas tiefer in die ganze Frage nach privaten Gegebenheiten als Grundlage der Wissenschaft einzudringen. ..."

  •     Um herauszufinden, wass Russell nun genau für ein Verständnis vom GMV hat, muss die Betrachtung näher untersucht werden. Nachdem nicht ganz klar ist, wo genau diese Betrachtung an dieser Stelle beginnt, gebe ich den ganzen Abschnitt wieder (links Originatext Russell, rechts Einzel-Kommenare (hellblau unterlegt.
            Kommentar: Hier stellt Russell eine Betrachtung zum GMV (GMVKriterium) an, wie er ihn versteht. Als wesentliche Aussagen erscheinen mir: GMV1:  Der GMV hält Selbstbeobachtung (GMVKriterium) für selbstverständlich möglich. GMV2: Der GMV kennt den Unterschied (GMVKriterium) zwischen privaten (z.B. denken, träumen) und öffentlichen (z.B. sagen) Gegebenheiten. GMV3: Öffentliche Gegebenheiten können von vielen beobachtet (GMVKriterium) werden, sofern sie sich an geeigneten Stellen befinden. GMV4: Öffentliche Ereignisse rufen bei allen [RS: das ist eine sehr gewagte Aussage, die in dieser Verallgemeinerung so sicher falsch ist] Beobachtern ähnliche Empfindungen (GMVKriterium) hervor. Man könnte das Kriterium aber umkehren: zum GMV gehören ähnliche Empfindungen auf bestimmte Ereignnisse hin.
     
    S. 56 - S. 58: Beispiel Betrachtung des GMV : "Gegen diese Definition erhebt eine bestimmte Psychologenschule einen grundlegenden Einwand. Sie meint nämlich, daß Selbstbeobachtung kein gültiges wissenschaftliches Verfahren sei, und daß nichts als wissenschaftlich erkannt gelten kann, außer was aus öffentlichen Gegebenheiten abgeleitet ist. Diese Ansicht erscheint mir so abwegig, daß ich sie überginge, wenn sie nicht so weit verbreitet wäre; da sie aber einmal in vielen Kreisen modern geworden ist, werde ich meine Gründe gegen sie anführen.
        Zunächst einmal bedürfen wir einer genaueren Definition dessen, was wir »öffentliche« und »private« Gegebenheiten nennen. »Öffentliche« Gegebenheiten sind für jene, welche die Selbstbeobachtung verwerfen, nicht nur solche Gegebenheiten, an denen in der Tat mehrere Beobachter teilhaben, sondern auch jene, an denen mehrere Beobachter teilhaben könnten, wenn die Umstände dafür günstig wären. Nach dieser Ansicht beschäftigt sich also Robinson Crusoe nicht mit unwissenschaftlicher Selbstbeobachtung, wenn er die Getreide beschreibt, die er gezogen hat, obwohl es hier keinen anderen Beobachter gibt, der seine Erzählung bestätigen könnte, denn seine späteren Mitteilungen werden von dem Menschen Freitag bestätigt und die früheren hätten grundsätzlich auch so bestätigt werden können. Wenn er aber erzählt, wie er zu der Überzeugung gelangte, daß sein Mißgeschick die Strafe für sein früheres sündhaftes Leben sei, sagt er entweder etwas Sinnloses oder er spricht solche Worte aus, wie er sie gebraucht haben würde, wenn er irgendjemand da gehabt hätte, an den er sich hätte wenden können - denn was ein Mensch sagt, ist öffentlich, aber was er denkt, ist privat. Zu behaupten, daß dasjenige, was er sagt, das ausdrückt, was er denkt, ist nach der Meinung dieser Schule eine wissenschaftlich nicht verifizierbare Aussage, welche die Wissenschaft daher überhaupt nicht machen sollte. Der Versuch Freuds, eine Wissenschaft von den Träumen zu schaffen, ist ein Grundirrtum. Wir können nicht wissen, was ein Mann träumt, sondern immer nur, was er angibt, geträumt zu haben. Das, was er über seine Träume aussagt, ist ein Teil der Physik, da das Sprechen aus Bewegungen der Lippen, der Zunge und der Kehle besteht. Aber es ist eine willkürliche Annahme, daß die Worte, deren er sich bedient, um seine Träume zu erzählen, eine wirkliche Erfahrung darstellen. [>57] Wir werden ein »öffentliches« Ereignis als ein solches definieren müssen, das von vielen Menschen beobachtet werden kann, vorausgesetzt, daß sie sich an geeigneten Stellen befinden. Sie müssen es nicht alle gleichzeitig beobachten, falls man Grund zu der Annahme hat, daß sich inzwischen keine Änderung vollzogen hat: Zwei Menschen können nicht gleichzeitig in ein Mikroskop hineinsehen, aber die Feinde der Selbstbeobachtung wollen Gegebenheiten, die mit Hilfe des Mikroskops gewonnen werden, nicht ausschließen. Oder man betrachte die Tatsache, daß jedes Ding doppelt erscheint, wenn man einen Augapfel aufwärts drückt. Was soll das heißen, wenn man sagt, daß Dinge »doppelt« erscheinen? Das kann man nur deuten, indem man zwischen der Gesichtswahmehmung und der physikalischen Tatsache unterscheidet oder durch eine Ausrede. Man kann sagen: »Wenn ich behaupte, daß Herr A doppelt sieht, so sage ich nichts über seine Wahrnehmungen aus. Was ich sage, bedeutet vielmehr: ,Wenn man Herrn A danach fragt, so wird er sagen, daß er doppelt sieht4.« Bei einer solchen Deutung ist es sinnlos zu fragen, ob Herr A die Wahrheit sagt, und es ist unmöglich herauszufinden, was er eigentlich zu behaupten glaubt.
        Träume sind vielleicht das unbezweifelbarste Beispiel von Tatsachen, von denen man nur durch private Gegebenheiten etwas wissen kann. Wenn ich mich eines Traumes erinnere, so kann ich ihn entweder getreulich wiedergeben oder mit Ausschmückungen. Ich kann wissen, welches von beiden ich tue, aber andere können das selten. Ich kannte eine chinesische Dame, die nach einigen wenigen Stunden psychoanalytischer Behandlung anfing, ganze Lehrbuchträume zu haben. Der Analytiker war entzückt, aber ihre Freunde waren skeptisch. Obwohl nun außer der Dame niemand die Wahrheit sicher wissen konnte, so bin ich doch der Meinung, daß die Tatsachen hinsichtlich dessen, was sie geträumt hatte, genau so bestimmt entweder diese oder jene gewesen sind, wie im Falle einer physikalischen Erscheinung.
        Wir werden also sagen müssen: Ein »öffentliches«Ereignis ist ein solches, das ähnliche Empfindungen bei allen Beobachtern innerhalb eines gewissen raumzeitlichen Gebietes auslöst. Dieses Gebiet muß beträchtlich größer sein als das Gebiet, das ein menschlicher Körper während (sagen wir) einer halben Sekunde einnimmt. Genauer gesagt ist ein öffentliches Ereignis ein solches, das derartige Empfindungen auslösen würde, wenn Beobachter an passenden Stellen vorhanden wären. (Dies, damit Robinson Crusoes Getreide zulässig ist.)
        Es ist schwer, diesen Unterschied zwischen öffentlicher und privater Gegebenheit genau zu bestimmen. Grob gesprochen, liefern Gesicht und Gehör öffentliche Gegebenheiten, aber nicht immer. Es gibt eine Form der Gelbsucht, bei der dem Patienten alles gelb erscheint. Dieses Gelb ist privater Natur. Viele Menschen werden von einem Ohrensummen heimgesucht, das sich subjektiv vom Summen der Telegraphendrähte im Winde nicht unterscheidet. Daß solche Empfindungen privater Natur sind, kann der Beobachter nur durch das negative Zeugnis anderer Personen feststellen. Berührungsempfindungen sind in [>58] einem Sinn öffentlich, weil verschiedene Personen nacheinander den gleichen Gegenstand berühren können. Gerüche können so öffentlich werden, daß sie Anlaß zu Beschwerden bei den Gesundheitsbehörden geben. Geschmacksempfindungen sind in geringerem Grade öffentlich, denn zwei Menschen können nicht den gleichen Bissen essen, wohl aber können sie benachbarte Teile desselben Gerichtes essen. Das Ei des Kuraten*) zeigt aber, daß dieses Verfahren nicht ganz zuverlässig ist. Immerhin ist es zuverlässig genug, um einen öffentlichen Unterschied zwischen guten und schlechten Küchen machen zu können, obwohl hier Selbstbeobachtung schon eine große Rolle spielt, denn ein guter Koch ist einer, welcher den meisten Kunden Vergnügen bereitet, und das Vergnügen jedes einzelnen ist rein privat.
        Fußnote S. 58: Ei des Kuraten : Hierbei handelt es sich um einen in England allgemein bekannten Witz. Ein schüchterner Kurat frühstückt mit seinem Bischof, der ihm ein gekochtes Ei anbietet. Der Bischof riecht, daß das Ei faul ist, und entschuldigt sich bei seinem Gast. Der aber antwortet höf lichst: »Eminenz, teilweise ist es ausgezeichnet!« Daher ist das Ei des Kuraten eine Bezeichnung für ein Ding, das teils gut und teils schlecht ist."
    Einzel-Kommentare:
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    Hier sind Behavio- risten gemeint. 
    Russell glaubt, wie er auch dem GMV positiv unterstellt, dass Selbstbeob- achtung möglich ist.
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    Der GMV kennt "private" und "öffentliche" Gegebenheiten.
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    etwas sagen ist öffentlich, etwas denken ist privat.
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    Träume sind private Gegebenheiten.
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    "Wir werden ein »öffentliches« Ereignis als ein solches definieren müssen, das von vielen Menschen beobachtet werden kann, vorausge- setzt, daß sie sich an geeigneten Stellen befinden."
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    "Wir werden also sagen müssen: Ein »öffentliches« Ereignis ist ein solches, das ähnliche Empfin- dungen bei allen Beobachtern innerhalb eines gewissen raum- zeitlichen Gebietes auslöst." 
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  • S. 167-1 Wissensherkunft und GMV: "... Es ist überhaupt schwer, nicht zu glauben, was einem mit Nachdruck und Autorität gesagt wird, wie jeder an sich selbst am 1. April ausprobieren kann, wenn er in den April geschickt wird. Dennoch gibt es einen Unterschied für den gesunden Menschenverstand zwischen dem, was uns gesagt wird, und dem, was wir aus Eigenem wissen. Wenn Sie das Kind fragen: »Woher weißt du etwas von Napoleon?« So kann das Kind antworten: »Weil mein Lehrer es mir gesagt hat.« Wenn Sie fragen: »Woher weißt du, daß dein Lehrer es dir gesagt hat?« So kann es sagen: »Na einfach, weil ich es gehört habe.« Wenn Sie weiter fragen: »Woher weißt du, daß du es gehört haste« So kann es vielleicht sagen: »Weil ich mich genau besinne.« Wenn Sie dann sagen: »Woher weißt du, daß du dich darauf besinnst?«, wird es entweder die Geduld verlieren oder sagen: »Ich besinne mich eben darauf.« Bis Sie an diesen Punkt gelangen, wird das Kind seinen Glauben an eine Tatsächlichkeit mit Hilfe des Glaubens an eine andere Tatsächlichkeit verteidigen, schließlich aber stößt es auf einen Glauben, für den es keinen weiteren Grund angeben kann."
    1. Kommentar: Unspezifische Verwendung (GMVonS) mit Nennung eines Kriteriums (GMVKriterium), nämlich die Unterscheidung ob ein eigenes (GMVErfahr) oder gesagtes Wissen vorliegt. Damit wird ihm auch ein Wert (GMVwert) zuerkannt.
  • S. 167-2 Unmittelbare Gegebenheiten und GMV: "Es gibt also einen Unterschied zwischen Überzeugungen, die sich spontan ergeben, und Überzeugungen, für die kein weiterer Grund angegeben werden kann. Gerade diese letzten Überzeugungen sind von äußerster Wichtigkeit für die Erkenntnistheorie, weil sie das unentbehrliche Mindestmaß von Prämissen für unsere Erkenntnis der Tatsächlichkeiten darstellen. Solche Überzeugungen werden auch als »Gegebenheiten« bezeichnet. Im gewöhnlichen Denken sind sie eher Ursachen anderer Überzeugungen als Prämissen, aus denen andere Überzeugungen abgeleitet werden. Aber bei einer kritischen Durchmusterung unserer Überzeugungen hinsichtlich der Tatsächlichkeiten müssen wir, wo immer möglich, die ursächlichen Übergänge des primitiven Denkens in logische Übergänge verwandeln und die abgeleiteten Überzeugungen nur in dem Maße gelten lassen, als die Art der Übergänge gerechtfertigt erscheint. Hierfür gibt uns der gesunde Menschenverstand einen Grund, nämlich, daß jeder solche Übergang die Möglichkeit eines Irrtums bietet, und daß daher Gegebenheiten doch eher gewiß sind als Überzeugungen, die aus ihnen abgeleitet sind. Ich behaupte nicht, daß Gegebenheiten jemals völlig sicher sind, aber diese Behauptung ist auch nicht nötig, um die Wichtigkeit dieser Frage für die Erkenntnistheorie einzusehen."
    1. Kommentar: Dem GMV wird hier attestiert (GMVKriterium), dass er die Möglichkeit des Irrtums beim Übergang von (direkt erlebten) Gegebenheiten und (abgeleiteten) Überzeugungen kennt. Damit wird ihm auch ein Wert (GMVwert) zuerkannt.
  • S. 171 Kritikloser GMV : "Aus diesen Überlegungen folgt, daß wir nicht alles das als Gegebenheit ansehen dürfen, was eine kritiklose Hinnahme des gesunden Menschenverstandes als durch Wahrnehmung gegeben ansehen würde. Nur Empfindungen und Erinnerungen sind zuverlässige Gegebenheiten für unsere Erkenntnis der äußeren Welt. ..."
    1. Kommentar: Russell kritisiert hier ausdrücklich eine kritiklose Anwendung (GMVkritisch) des GMV bei der Hinnahme des Gegebenen (GMVaugsch).
  • S. 173-1 Wahrnehmung enthaelt mehr Deutung als der GMV vermutet : "... Es gibt nicht den mindesten Grund für die Annahme, daß die physikalischen Licht- und Schallquellen unserer Erfahrung irgendwie ähnlicher sind als die Wellen. Werden die Wellen auf irgendeine ungewöhnliche Weise erzeugt, so kann uns unsere Erfahrung dazu führen, auf spätere Erfahrungen zu schließen, von denen sich dann ergibt, daß wir sie gar nicht haben. Dies zeigt, daß sogar in der normalen Wahrnehmung die Ausdeutung eine größere Rolle spielt, als der gesunde Menschenverstand vermutet, und daß solche Ausdeutung uns zuweilen dazu verleitet, falsche Erwartungen zu hegen. ..."
    1. Kommentar: Hier wird der GMV kritisch (GMVkritisch) gesehen als Russell ihm vorhält, nicht zu sehen, wie Ausdeutung bereits in die Wahrnehmung (GMVaugsch) eingeht.
  • S. 173-2 Zeit und GMV : "Eine andere Schwierigkeit hängt mit der Zeit zusammen. Wir sehen und hören jetzt, aber das, was wir (dem gesunden Menschenverstand zufolge) sehen und hören, ist schon vor einiger Zeit geschehen. Wenn wir eine Explosion sowohl sehen als hören, so sehen wir sie zuerst und hören sie später. Selbst wenn wir annehmen könnten, daß die Möbelstücke unseres Zimmers genau so beschaffen sind, wie sie aussehen, so können wir das nicht von einem Nebel annehmen, der Millionen von Lichtjahren entfernt ist, der wie ein Fleck aussieht, aber nicht kleiner ist als die Milchstraße, und von dem das Licht, das uns jetzt erreicht, lange vor der Zeit ausgesandt worden ist, ehe es menschliche Wesen auf Erden gab. Und doch ist der Unterschied zwischen den Möbeln und dem Nebelfleck nur einer des Grades."
    1. Kommentar: Die übliche Wahrnehmung (GMVaugsch) wird hier dem GMV zugeordnet und die Probleme der Erkennung (GMVkritisch) des zeitlichen Ursprungs bemerkt.
  • S. 175 Schluesse des GMV : "Wollen wir aus den beiden obengenannten Prämissen nicht Humes Skeptizismus schlußfolgern, so scheint nur ein Ausweg übrig, und der besteht in der Behauptung, daß unter den Prämissen unseres Wissens einige allgemeine Sätze enthalten sind oder mindestens ein allgemeiner Satz, der nicht analytisch notwendig ist, d. h. daß die Hypothese seiner Falschheit keinen Selbstwiderspruch darstellt. Ein Grundsatz, der den wissenschaftlichen Gebrauch der Induktion rechtfertigte, hätte diesen Charakter. Was erfordert wird, ist ein Weg, um den Schlüssen von bekannten Tatsachen auf  Vorkommnisse, die noch nicht einen Teil der Erfahrung der schließenden Person bilden und vielleicht niemals bilden werden, Wahrscheinlichkeit (nicht Gewißheit) zu verleihen. Wenn ein Individuum irgend etwas jenseits seiner eigenen bisherigen Erfahrung wissen soll, so darf der Bestand seiner nicht erschlossenen Kenntnisse nicht nur aus Tatsachen bestehen, sondern muß auch allgemeine Gesetze umfassen oder mindestens ein Gesetz, das es ihm gestattet, Schlüsse aus Tatsachen zu ziehen. Und ein solches Gesetz oder solche Gesetze müssen im Gegensatz zu den Grundsätzen der deduktiven Logik synthetisch sein, d. h. ihre Wahrheit darf sich nicht daraus ergeben, daß ihre Falschheit einen Selbstwiderspruch bedeutet. Die einzige Alternative zu dieser Hypothese besteht in völligem Skeptizismus gegenüber allen Schlüssen der Wissenschaft und des gesunden Menschenverstandes einschließlich derjenigen, die ich als  tierische Schlüsse  bezeichnet habe."
    1. Kommentar: Der GMV (GMVonS) wird hier der Wissenschaft gleich gestellt und in seinem Wert (GMVwert) daher betont , was zu anderen, kritischen Ausführungen im Widerspruch steht.
  • S. 176 Welt des GMV : "Wir müssen damit anfangen, dieser Lehre [RS: des Solipsismus] eine größere Bestimmtheit zu geben und verschiedene Formen zu unterscheiden, die sie annehmen kann. Wir dürfen sie nicht durch die Worte »ich allein existiere« ausdrücken; denn diese Worte haben keine klare Bedeutung, außer wenn die Lehre falsch ist. Wenn die Welt wirklich die Menschen und Dinge umfassende Welt des gesunden Menschenverstandes ist, so können wir einen einzelnen Menschen herausgreifen und von ihm dann annehmen, daß er glaube, er sei die ganze Welt. Das stünde in Analogie zu den Menschen vor Kolumbus, die glaubten, daß die alte Welt das einzige Landgebiet dieses Planeten sei. Wenn aber andere Menschen und Dinge nicht existieren, so verliert das Wort »ich« seine Bedeutung; denn dies ist ein ausschließendes und begrenzendes Wort. Statt zu sagen »ich bin die ganze Welt«, müßten wir sagen »Gegebenheiten sind die ganze Welt«. Hierbei könnten Gegebenheiten durch Aufzählung definiert werden. Wir können dann sagen: »Diese Liste ist vollständig; weiter gibt es nichts mehr.« Oder wir können sagen: »Es ist nicht bekannt, daß sonst noch etwas da ist.« In dieser Form bedarf die Lehre nicht einer vorgängigen Definition des Ichs, und was sie behauptet, ist bestimmt genug, um untersucht zu werden."
    1. Kommentar: Es bleibt unklar, was nun genau die "Welt des gesunden Menschenverstandes" (GMVonS) sein soll, wie man zu ihr gelangt und wie man sie überprüfen kann.
  • S. 177: GMV anerkennt seelische Zustaende :"Der  Solipsismus  kann mehr oder weniger drastisch sein. Wenn er drastischer wird, so wird er zwar logischer, aber zugleich auch unglaubwürdiger. In seiner am wenigsten drastischen Form erkennt er alle meine seelischen Zustände an, die vom gesunden Menschenverstand oder der orthodoxen Psychologie anerkannt werden, d. h. nicht nur jene, deren ich mir unmittelbar bewußt bin, sondern auch jene, die aus rein psychologischen Gründen erschlössen werden. Man nimmt allgemein an, daß ich jederzeit viele schwache Empfindungen habe, deren ich nicht gewahr werde. Wenn eine tickende Uhr im Raum ist, so kann ich sie bemerken und sie kann mich stören, aber in der Regel bemerke ich sie durchaus nicht, selbst dann, wenn sie deutlich hörbar ist, sobald ich nur absichtlich hinhöre. In einem solchen Fall würde man natürlich sagen, daß ich Hörempfindungen habe, deren ich mir nicht bewußt [>178] bin. ..."
    1. Kommentar: Der GMV anerkennt die seelischen und die von der "orthodoxen (?) Psychologie anerkannten Zustände. Das ist eine klare inhaltliche Bestimmung und Kriterium (GMVKriterium).
  • S. 178 Anwendung Gedaechtnisluecke :  "Die gleiche Art von Überlegungen gilt für Gedächtnislücken. Wenn ich ein altes Tagebuch durchblättere, so finde ich Einladungen zum Mittagessen vermerkt, die ich völlig vergessen habe, aber ich finde es schwer zu bezweifeln, daß ich damals die Erfahrung gemacht habe, die der gesunde Menschenverstand so beschreiben würde, daß ich einer Einladung zum Mittagessen gefolgt bin. Ich glaube, daß ich einstmals ein einjähriges Kind gewesen bin, obwohl keine Spur dieser Zeit in meinem mir zugänglichen Gedächtnis zurückgeblieben ist."
    1. Kommentar: Hier wird in einem Beispiel (Gedächtniskonflikt) eine Deutungsregel des GMV genannt, was als Kriterium (GMVKriterium) angesehen werden kann.
  • S. 183 Wissenschaftliche Erkenntnis im GMV : "WAHRSCHEINLICHKEITSSCHLÜSSE DES GESUNDEN MENSCHENVERSTANDES

  • In diesem Kapitel werde ich mich, hauptsächlich mit der vorwissenschaftlichen Erkenntnis beschäftigen, wie sie in den Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes enthalten ist.
         S. 183: "Wir müssen uns dabei den Unterschied zwischen dem Schließen, das in der Logik betrachtet wird, und dem, was wir als tierisches Schließen [ausführlich] bezeichnen können, vor Augen halten. Unter »tierischem Schließen« verstehe ich das, was geschieht, wenn ein Ereignis A einen Glauben B ohne bewußte Zwischenglieder hervorruft. Wenn ein Hund einen Fuchs riecht, so wird er erregt, aber wir glauben nicht, daß er zu sich selbst sagt: »Dieser Geruch ist in der Vergangenheit oft in der Nähe eines Fuchses aufgetreten; daher wird wahrscheinlich auch jetzt ein Fuchs in der Nähe sein.« Es ist wahr, daß er so handelt, als wenn er diese Überlegung angestellt hätte, aber die Überlegung stellt sein Körper auf Grund von Gewohnheit oder, wie man auch sagt, eines »bedingten Reflexes« an. Immer, wenn ein Ereignis A in der früheren Erfahrung des Tieres häufig mit einem Ereignis B verbunden gewesen ist, wobei B ein gefühlsmäßiges Interesse haben muß, hat das Ereignis A die Neigung, ein Verhalten hervorzurufen, das dem B angepaßt ist. Hier gibt es keinen bewußten Zusammenhang zwischen A und B. Es ist nichts anderes da, so können wir wohl sagen, als eine A-Wahmehmung und ein B-Verhalten. In veralteter Sprechweise Würde man sagen, daß der »Eindruck« von A die »Vorstellung« von B verursacht. Aber die neuere Ausdrucksweise, die auf körperliches Verhalten und beobachtbare Gewohnheiten Bezug nimmt, ist bestimmter und umgreift ein weiteres Feld."
      Kommentar: Hier werden Erfahrungsregeln (GMVErfahr) ähnlich bedingten Reflexen dem GMV zugeordnet und damit auch ein Kriterium formuliert (GMVKriterium).
  • S. 190-1 Beweisgruende GMV : "Betrachten wir zunächst einmal die Beweisgründe des gesunden Menschenverstandes, die etwa auch in einer Gerichtsverhandlung Anerkennung fänden. Wenn zwölf Leute, von denen jeder ebensooft lügt, als er die Wahrheit spricht, unabhängig voneinander ein bestimmtes Ereignis bezeugen, so stehen die Aussichten wie 4095 zu 1 dafür, daß sie die Wahrheit bezeugen. Das kann man praktisch als gewiß ansehen, falls nicht die zwölf Leute alle einen besonderen Grund haben zu lügen. Das kann natürlich Vorkommen. Stoßen zwei Schiffe auf hoher See zusammen, so beschwören alle Mann der einen Schiffsbesatzung eine Behauptung und alle Mann der anderen Besatzung das Gegenteil. Ist eins der beiden Schiffe mit der gesamten Besatzung untergegangen, so wird es nur eine einheitliche Aussage geben, der gegenüber dennoch erfahrene Juristen in solchen Fällen skeptisch sein werden. Aber wir brauchen uns auf solche Überlegungen nicht weiter einzulassen, die mehr eine Angelegenheit für Juristen als für Philosophen sind."
    1. Kommentar: Hier formuliert Russell eine Beweisgrund-Regel des gesunden Menschenverstandes.
  • S. 190-2 GMV-Regel: Fehlender Grund fuer Zweifel :  "Das Verfahren des gesunden Menschenverstandes besteht darin, Mitteilungen als wahr zu unterstellen, wenn kein bestimmter Grund vorliegt, es im Einzelfall nicht zu tun. Der Grund, wenn auch nicht die Rechtfertigung, für dieses Verfahren ist der  tierische Schluß  von einem Wort oder Satz auf das, was sie bedeuten. Wenn jemand auf einer Tigerjagd ist und der Ruf »Tiger« ertönt, so wird sein Körper, wenn er seine Reaktionen nicht unterdrückt, in einen Zustand geraten, der dem sehr ähnlich ist, in dem er sich befände, wenn er den Tiger sähe. Solch ein Zustand ist der Glaube, daß ein Tiger in der Nähe ist. ..."
    1. Kommentar: Hier formuliert Russell eine Schluss-Regel (GMVKriterium) des gesunden Menschenverstandes: eine Mitteilung kann als wahr angenommen werden, wenn keine Gründe dagegen sprechen.
  • S. 197 Reale Aussenwelt und GMV : "Die Argumente des gesunden Menschenverstandes zugunsten der physikalischen Verursachung der Wahrnehmungen sind so stark, daß nur mächtige Vorurteile imstande gewesen sein können, sie in Frage zu stellen. Schließen wir unsere Augen, so sehen wir nicht mehr, halten wir uns die Ohren zu, so hören wir nicht, und wenn wir betäubt sind, so nehmen wir überhaupt nichts wahr. Das Aussehen eines Dinges kann durch Gelbsucht, Kurzsichtigkeit, Mikroskop, Nebel usw. verändert werden. Die Zeit, zu der wir einen Schall hören, hängt von der Entfernung ab, in der wir uns von seinem physikalischen Ausgangspunkt befinden. Das gleiche gilt fiir das, was wir sehen, obgleich die Lichtgeschwindigkeit so groß ist, daß die Zeit zwischen dem Vorgang und unserer Beobachtung unmerklich klein ist, wenn es sich um irdische Gegenstände handelt. Wenn wir die Gegenstände infolge einer göttlichen Erleuchtung wahrnehmen, so muß man doch zugeben, daß die Erleuchtung sich physikalischen Bedingungen anpaßt."
    1. Kommentar: Zum GMV gehört (GMVKriterium) , dass (äußere) Wahrnehmung als physikalisch verursacht angesehen werden (Position des philosophischen Realismus)
  • S. 197 / 198 GMV Gebildeter : "Versuchen wir zunächst einmal zu erklären, was wir mit der Hypothese meinen, daß die Physik wahr ist. Ich will diese Hypothese nur in dem Maße [>198] annehmen, in dem sie einem gebildeten Menschen von gesundem Menschenverstand einleuchtet. Wir sehen ja, daß die Theorien der Physik dauernd geändert werden, so daß kein vorsichtiger Mann der Wissenschaft von irgendeiner physikalischen Theorie erwarten wird, daß sie in hundert Jahren noch völlig unverändert bestehen wird. Aber wenn auch Theorien sich ändern, so hat die Änderung doch für gewöhnlich nur geringfügige Folgen für die beobachtbaren Erscheinungen. ..."
    1. Kommentar: Die beobachtbaren Erscheinungen (GMVKriterium) der Physik gehören zum GMV.
  • S. 203 Wahrnehmung im Sinne de GMV : "Was ist eine »Wahrnehmung«? Wenn ich das Wort benutze, meine ich das, was geschieht, wenn ich nach der Ausdrucksweise des gesunden Menschenverstandes etwas sehe oder höre oder sonstwie durch meine Sinne wahrzunehmen glaube. Wir glauben, daß die Sonne immer da ist, aber ich sehe sie nur zuweilen: Ich sehe sie nicht bei Nacht oder bei bewölktem Himmel oder, wenn ich anderweitig beschäftigt bin. Zuweilen aber sehe ich sie. Alle die Gelegenheiten, bei denen ich die Sonne sehe, haben eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, die es mir in meiner Kindheit ermöglicht hat, das Wort »Sonne« bei den richtigen Gelegenheiten zu gebrauchen. Einige der Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gelegenheiten, wenn ich die Sonne sehe, haben offenbar ihre Quelle in mir selbst. Zum Beispiel muß ich meine Augen offen halten und mich in die richtige Richtung drehen. Diese Bedingungen betrachten wir daher nicht als Eigenschaften der Sonne. Aber es gibt andere Ähnlichkeiten, die, soweit es der gesunde Menschenverstand übersehen kann, nicht von uns abhängen. Wenn wir die Sonne sehen, so ist sie fast immer rund und hell und heiß. Die wenigen Gelegenheiten, bei denen das nicht der Fall ist, erklären sich leicht als Folgen von Nebel oder einer Sonnenfinsternis. Daher sagt der gesunde Menschenverstand: Es existiert da ein Gegenstand, der rund und hell und heiß ist. Die Art von Ereignis, die als »Beobachtung der Sonne« bezeichnet wird, besteht in einer Beziehung zwischen mir und der Sonne, und wenn diese Beziehung vorliegt, so habe ich eine »Wahrnehmung« des Gegenstandes."
    1. Kommentar: Die Wahrnehmung und Zuordnung einer realen Außenwelt (GMVKriterium) gehört zum GMV. Anmerkung: "heiß" kann man nicht sehen, hier ist Wissen hineinprojiziert.
  • S. 218: Raumkonstruktion des GMV : "Daraus folgt, daß der einheitliche Raum des gesunden Menschenverstandes eine Konstruktion ist, wenn auch nicht eine vorsätzliche. Es ist ein Teil der Aufgabe der Psychologie, uns die Schritte dieser Konstruktion zu vergegenwärtigen. ...   Andere Sinne als das Gesicht ergeben andere Elemente, die zur Raumkonstruktion des gesunden Menschenverstandes beitragen. Wird ein Teil unseres Körpers berührt, so können wir innerhalb gewisser Grenzen angeben, welcher Teil es ist, ohne daß wir hinzusehen brauchen. (Auf der Zunge und auf den Fingerspitzen können wir ziemlich genaue Angaben machen, auf dem Rücken nur recht unbestimmte.) Das erfordert, daß Berührungen an einer Stelle eine Eigenschaft haben, die Berührungen an einer anderen Stelle nicht zukommen, und daß die Eigenschaften, welche hierbei verschiedenen Teilen entsprechen, Beziehungen zueinander haben, die es uns ermöglichen, sie in eine zweidimensionale Ordnung zu bringen. ..."
    1. Kommentar: Der GMV anerkennt den Raum (GMVKriterium).
  • S. 219 Bewegungsempfindungen und Raumkonstruktion des GMV :  "Bei der Raumkonstruktion des gesunden Menschenverstandes sind aber nicht nur statische Empfindungen beteiligt, wie wir sie bisher erwähnt haben, sondern es spielen auch Bewegungsempfindungen eine Rolle. ..."
    1. Kommentar: Kriterien (GMVKriterium: statistische und Bewegungsempfindungen) der Raumkonstruktion des GMV.
  • S. 220 Vorwissenschaftlicher GMV und einheitlicher Raum : "Die Konstruktion eines einheitlichen Raumes, in dem unsere gesamten Wahrnehmungserfahrungen untergebracht werden, ist ein Triumph des vorwissenschaftlichen gesunden Menschenverstandes. Das Verdienst dieser Konstruktion liegt in ihrer Bequemlichkeit, nicht in irgendeiner letzten Wahrheit, die, man ihr zuschreiben könnte. Der gesunde Menschenverstand irrt, wenn er ihr einen voraussetzungslosen Wahrheitsgehalt zuweist, jenseits dessen, was sie wirklich beanspruchen kann, und dieser Irrtum trägt, wenn er unbeachtet bleibt, viel zu den Schwierigkeiten bei, denen eine vernünftige Philosophie des Raumes begegnet.

  •     Ein noch ernsterer Irrtum, den nicht nur der gesunde Menschenverstand begeht, sondern der sich auch bei vielen Philosophen findet, besteht in der Annahme, daß der Raum, in dem die Wahmehmungserfahrungen untergebracht werden, mit dem erschlossenen Raum der Physik identifiziert werden könne, in dem doch hauptsächlich Dinge enthalten sind, die nicht wahrgenommen werden können. Die farbige Oberfläche, die ich sehe, wenn ich einen Tisch ansehe, hat eine räumliche Lage im Raum meines Gesichtsfeldes. Es gibt sie nur, wo es Augen, Nerven und ein Gehirn gibt, die dafür sorgen, daß die Energie von Photonen gewisse Verwandlungen durchmacht. (Das »wo« in diesem Satz ist ein »wo« im physikalischen Raum.) Als physikalischer Gegenstand, der aus Elektronen, Photonen und Neutronen besteht, liegt der Tisch außerhalb meiner Erfahrung, und wenn es einen Raum gibt, der beides enthält, den Tisch sowohl als meinen Wahmehmungsraum, dann muß in diesem Raum der physikalische Tisch völlig jenseits meines Wahrnehmungsraumes sein. Diese Schlußfolgerung ist unvermeidlich, wenn wir die physikalische Verursachung von Empfindungen annehmen, die uns durch die Psychologie aufgezwungen wird, und die wir in einem früheren Kapitel betrachtet haben."
      Kommentar: Hier wird der Begriff "vorwissenschaftlicher GMV" (GMVvorwis) eingebracht. Es wird der ernste Irrtum (GMVkritisch) kritisiert, den Wahrnehmungsraum (GMVaugsch) mit dem Raum der Physik zu identifizieren.
  • S. 221 Unzulaessige Identifizierung Wahrgenommenes und Gewusstes : "Die Welt des gesunden Menschenverstandes ergibt sich noch aus einer weiteren Zuordnung in Verbindung mit einer unzulässigen Identifizierung. Es gibt eine Zuordnung zwischen den räumlichen Beziehungen nicht wahrgenommener physikalischer Gegenstände und den räumlichen Beziehungen visueller oder anderer Sinnesgegebenheiten, und ferner werden solche Gegebenheiten mit gewissen physikalischen Gegenständen identifiziert. Z. B.: Ich sitze in einem Zimmer und ich sehe - oder wenigstens meint der gesunde Menschenverstand, ich sehe - räumliche Beziehungen zwischen den Einrichtungsgegenständen, die sich in ihm befinden. Ich weiß, daß auf der anderen Seite der Tür sich ein Vorraum und eine Treppe befinden. Ich glaube, daß die räumlichen Beziehungen der Dinge jenseits der Tür - z. B. die Beziehung »links von« - dieselben sind wie zwischen den paar Möbelstücken, die ich sehe, und ferner identifiziere ich noch das, was ich sehe, mit physikalischen Gegenständen, die auch ungesehen existieren können, so daß also, wenn ich mich mit dem gesunden Menschenverstand begnüge, keine Kluft zwischen den gesehenen Möbelstücken und dem ungesehenen Vorraum jenseits der Tür besteht. Man stellt sich daher vor, daß sich beide in einen Raum einfugen, von dem ein Teil wahrgenommen wird, während das übrige erschlossen wird."
    1. Kommentar: Kritisch wird vermerkt, dass der GMV nicht immer differenziert, was Wahrgenommen und was gewusst oder erschlossen ist (GMVkritisch).
  • S. 224-1 Seelisches und Koerperliches : "Der gesunde Menschenverstand glaubt, daß wir sowohl über das Seelische als über das Körperliche etwas wissen; er ist ferner der Meinung, daß wir von beiden genug wissen, um zeigen zu können, daß sie von ganz verschiedener Natur sind. Ich dagegen bin der Meinung, daß das Seelische alles das ist, was wir ohne zu schließen wissen, und daß die physikalische Welt uns nur hinsichtlich gewisser abstrakter Züge ihrer zeit-räumlichen Struktur bekannt ist - Züge, die wegen ihrer Abstraktheit nicht ausreichen, um zu zeigen, ob die physikalische Welt in ihrem innersten Wesen von der seelischen Welt verschieden ist oder nicht."
    1. Kommentar: Dem GMV wird die Unterscheidung zwischen Seelischem und Körperlichen (GMVKriterium) zugeordnet, wobei nicht ganz klar ist, welches Körperliche gemeint ist: das eigene oder das außerhalb von uns befindliche Körperliche. Aber "der" GMV meint, er könne das mit seinen Mitteln sicher entscheiden, wass Russell differenziert (GMVdiffer) und kritisch (GMVkritisch) sieht.
  • S. 224-2 Erleben und GMV : "Ich will damit anfangen, den Standpunkt des gesunden Menschenverstandes so klar auseinanderzusetzen, wie es mit Rücksicht auf die Verwirrungen, die ihm wesentlich anhaften, möglich ist.

  •     Seelische Vorgänge - so könnte der gesunde Verstand sagen - zeigen sich bei Personen, die mancherlei Dinge tun und leiden. Erkennend nehmen sie wahr, erinnern sich, stellen sich etwas vor, abstrahieren und schließen; in emotionaler Hinsicht haben sie erfreuliche Gefühle und schmerzliche Gefiihle und sie haben Stimmungen, Leidenschaften und Wünsche; auf dem Willensgebiet können sie etwas tun wollen oder etwas unterlassen wollen. Alle diese Vorkommnisse können von der Person beobachtet werden, der sie widerfahren, und sie sind allesamt als seelische Ereignisse einzureihen. Jedes seelische Ereignis vollzieht sich »in« irgendeiner Person und ist ein Ereignis in ihrem Leben."
      Kommentar: Russell bemerkt kritisch (GMVkritisch), dass dem GMV  wesentliche Verrwirrungen anhaften (hier mit Unklarheiten signiert: GMV?). Er beschreibt dann differenziert das Erleben (GMVKriterium), das "der" GMV beobachten (besser: innerlich wahrnehmen) kann. Zum GMV gehört also die Realität des Erlebens.
  • S. 224-3 Inneres und Aeusseres : "Aber wir nehmen nicht nur »Gedanken« wahr - so glaubt der gesunde Menschenverstand - sondern auch »Dinge« und Gegenstände, wir hören Klänge, die auch von anderen Menschen gehört werden und daher nicht in uns sind. Fällt uns ein schlechter Geruch auf, so nehmen auch andere Menschen ihn wahr, wenn es nicht gerade Installateure für Gas- und Wasseranlagen sind. Was wir wahmehmen, wenn es sich außerhalb unser selbst befindet, heißt »physikalisch«; dieser Ausdruck umschließt beides, »Dinge«, die stofflicher Art sind, und Ereignisse, wie Geräusche oder Blitze."
    1. Kommentar: Russell ordnet dem GMV den Realismus zu ((GMVKriterium)). Es gibt für den GMV nicht nur innere Wahrnehmung (GMVKriterium), sondern auch eine Außenwelt (GMVKriterium : Dinge, Ereignisse) - für ihn selbst und andere (GMVKriterium).
  • S. 224-4 Auch Schliesen gehoert zum GMV : "Der gesunde Menschenverstand erlaubt auch Schlüsse auf mancherlei, was nicht wahrgenommen wird, jedenfalls nicht von uns, z. B. den Mittelpunkt der Erde, die Rückseite des Mondes, die Gedanken unserer Freunde und die seelischen Vorgänge, die zu den Aufzeichnungen der Geschichte geführt haben. ..."
    1. Kommentar: Es werden mehrere Beispiele (GMVKriterium) für Schlüsse des GMV gebracht.
  • S. 225 Unterscheidung privates und oeffentliches Geschehen : "Dieser Standpunkt des gesunden Menschenverstandes ist zwar im ganzen annehmbar, soweit es sich um seelische Vorgänge handelt, er bedarf aber einer grundsätzlichen Änderung, wo es sich um physikalische Ereignisse handelt. Was ich ohne zu schließen erfasse, wenn ich die Erfahrung mache, die als das »Sehen der Sonne« bezeichnet wird, ist nicht die Sonne, sondern ein seelischer Vorgang in mir. Ich nehme Dinge und Stoffe nicht unmittelbar wahr, sondern nur gewisse Wirkungen, die sie auf mich haben. Die Wahrnehmungsgegenstände, die ich als »außerhalb« meiner ansehe, wie etwa farbige Flächen, die ich sehe, sind nur in meinem privaten Raum »äußere«. Aber dieser Raum hört auf zu bestehen, wenn ich sterbe - ja, mein privater Gesichtsraum hört auf zu bestehen, so oft ich im Dunklen bin oder meine Augen schließe. Und die Dinge sind nicht »außerhalb« meines »Ichs«, wenn »Ich« die Gesamtheit meiner seelischen Erlebnisse bedeutet. Im Gegenteil, sie sind unter den seelischen Erlebnissen enthalten, die mein Ich bilden. Sie sind nur »außerhalb« gewisser anderer meiner Wahrnehmungen, nämlich jener, welche der gesunde Menschenverstand als die Wahrnehmungen meines Körpers betrachtet, und selbst denen gegenüber sind sie nur für die Psychologie, nicht für die Physik »außerhalb«, da der Raum, in dem sie lokalisiert sind, der private Raum der Psychologie ist.

  •     Bei der Betrachtung dessen, was der gesunde Menschenverstand als äußere Gegenstände ansieht, müssen zwei entgegengesetzte Fragen beantwortet werden: Erstens, warum muß die Gegebenheit als privat angesehen werden; zweitens, was ist der Grund dafür, daß wir die Gegebenheit als ein Zeichen für etwas nehmen, das eine von mir und meinem Wahmehmungsapparat unabhängige Existenz hat?
        Es gibt zwei Gründe dafür, die Gegebenheit - sei sie eine des Gesichts- oder des Tastsinnes - als privat anzusehen. Da ist einerseits die Physik, die zwar mit der Absicht ihre Arbeit anfängt, den naiven Realismus so gut wie möglich zu bestätigen, aber dabei zu einer Theorie der Vorgänge in der physikalischen Welt gelangt, die zeigt, daß es keinen Grund für die Annahme gibt, daß der physikalische Tisch oder Stuhl der Wahrnehmung ähnelt, außer in gewissen abstrakten strukturellen Merkmalen. Andererseits gibt es den Vergleich dessen, was verschiedene Personen für Erfahrungen machen, wenn sie, nach der Ausdrucksweise des gesunden Menschenverstandes, dasselbe Ding wahrnehmen. Wenn wir uns einmal auf den Gesichtssinn beschränken, so bestehen Unterschiede der Perspektive, Unterschiede der scheinbaren Größe, Unterschiede in der Art, wie das Licht reflektiert wird usw., wenn von zwei Personen gesagt wird, daß sie denselben Tisch sehen. So sind also höchstens die projektiven Eigenschaften des Tisches für eine Anzahl von Beobachtern dieselben, [>226]"
      Kommentar: Für seelische Vorgänge im Ganzen annehmbar (GMVwert), nicht so im Physikalischen, wo Russell eine differenziert-kritische Beurteilung vornimmt  (GMVdiffer), (GMVkritisch).
  • S. 226 Erscheinung und Tatsache : "und selbst sie sind nicht ganz dieselben, wenn ein brechendes Mittel im Spiel ist, wie etwa ein dampfender Kessel oder unser alter Freund, das Wasser, das einen Stock gebrochen erscheinen läßt. Nehmen wir an, wie es der gesunde Menschenverstand tut, daß derselbe Gegenstand sowohl durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn wahrgenommen werden kann, so muß der Gegenstand, wenn er wirklich derselbe sein soll, der Gegebenheit noch ferner stehen; denn eine komplexe Gegebenheit des Gesichts- und eine solche des Tastsinnes unterscheiden sich in ihrem Wesen und können einander nicht ähnlich sein, außer in der Struktur.

  •     Unsere zweite Frage ist schwieriger. Wenn die Gegebenheit in meinen Wahrnehmungen stets für mich privat ist, warum sehe ich sie dennoch als ein Zeichen an, auf Grund dessen ich auf ein physikalisches »Ding« schließen kann oder auf ein physikalisches Ereignis, das eine Ursache meiner Wahrnehmung ist, wenn mein Körper die geeignete Stellung einnimmt, aber doch, von Ausnahmefällen abgesehen, keinen Teil meiner unmittelbaren Erfahrung bildet?
        Wenn wir anfangen nachzudenken, so finden wir in uns bereits die unerschütterliche Überzeugung vor, daß einige unserer Wahrnehmungen Ursachen außerhalb unseres eigenen Körpers haben. Wir sind bereit zuzugeben, daß Kopfschmerzen und Zahnschmerzen innere Ursachen haben, aber wenn wir unseren Zeh verstauchen oder nachts gegen einen Pfosten laufen oder einen Blitz sehen, so können wir uns kaum dazu bringen, daran zu zweifeln, daß unsere Erfahrung eine äußere Ursache hat. Zuweilen freilich kommen wir zu der Überzeugung, daß dieser Glaube ein Irrtum war, z. B. wenn das Ereignis in einem Traum stattfand oder wenn wir ein Summen im Ohr haben, das so ähnlich klingt wie das Summen von Telegraphendrähten. Aber solche Fälle sind Ausnahmen, und der gesunde Menschenverstand hat Wege ausfindig gemacht, um sich mit diesen Fällen auseinanderzusetzen."
      Kommentar: Russell bescheinigt dem GMV, dass er in seinem Realitätsurteil  differenzierungsfähig (GMVKriterium) und kritisch (GMVKriterium) sein kann, was seinen Wert erhöht (GMVwert).
  • S. 226f Beispiele fuer Aussenwelt-Realismus : "Was die Quasi-Öffentlichkeit betrifft, so ist dieses Argument dem gerade entgegengesetzt, das dafür spricht, daß Gegebenheiten privat sind: obwohl nämlich zwei nahe beieinander stehende Menschen nicht genau dieselben Gesichtseindrücke haben, so haben sie doch Eindrücke, die einander sehr ähnlich sind. Und obwohl die Gesichts- und Tast-Qualitäten verschieden sind, so sind doch die strukturellen Eigenschaften eines gesehenen Gegenstandes nahezu identisch mit denen des gleichen Gegenstandes, wenn er berührt wird. Wenn man etwa Modelle der regulären Körper hat, so wird eines, das man beim Sehen als Dodekaeder wahmimmt, von einem gebildeten Blinden richtig bezeichnet werden, wenn er es abgetastet hat. Abgesehen von der Öffentlich-[>227]keit, die sich auf verschiedene Beobachter bezieht, gibt es auch so etwas wie eine zeitliche Öffentlichkeit in der Erfahrung ein und derselben Person. Ich weiß, daß ich die St.-Pauls-Kathedrale jederzeit sehen kann, wenn ich die geeigneten Maßnahmen treffe. Ich weiß, daß die Sonne, der Mond und die Sterne in meiner Gesichtswelt immer wiederkehren und auch meine Freunde, mein Haus und meine Möbel. Ich weiß, daß die Unterschiede zwischen den Zeiten, zu denen ich diese Dinge sehe, und den Zeiten, zu denen ich sie nicht sehe, leicht erklärbar sind auf Grund der Verschiedenheiten in mir oder meiner Umgebung, die keine Veränderung in den Gegenständen einschließt. Solche Betrachtungen bestätigen den Glauben des gesunden Menschenverstandes, daß es außer den seelischen Vorgängen Dinge gibt, welche die Quelle ähnlicher Wahrnehmungen bei verschiedenen Beobachtern zu einer Zeit und oft auch bei demselben Beobachter zu verschiedenen Zeiten sind."
    1. Kommentar: Russell führ den Ausdruck "Quasi-Öffentlichkeit" ein und nennt  einige Kriterien (GMVKriterium), die den GMV in seinem Außenwelt-Realismus für sich und andere bestärken.
  • S. 228 Kluft Koerper und Geist : "Wenn die Menschen auf Grund des gesunden Menschenverstandes von der Kluft zwischen Körper und Geist sprechen, denken sie in Wirklichkeit an die Kluft zwischen einer Gesichts- oder Tastwahrnehmung einerseits und einem »Gedanken«, worunter auch eine Erinnerung, ein Vergnügen oder eineWollung verstanden werden soll. Dies aber ist, wie wir gesehen haben, eine Einteilung innerhalb der seelischen Welt; die Wahrnehmung ist genau so seelisch wie der »Gedanke«. Menschen von etwas höherer Bildung stellen sich die Körperwelt vielleicht als die unbekannte Ursache der Empfindung vor, als das »Ding an sich«, dem zweifellos die sekundären Eigenschaften nicht zukommen, und das vielleicht auch nicht einmal die primären Qualitäten besitzt. So sehr nun diese Menschen auch betonen mögen, daß das Wesen des Dinges an sich unbekannt sei, so glauben sie doch immerhin genug davon zu wissen, um sicher zu sein, daß dieses Ding an sich von der Natur des Seelischen sehr verschieden ist. Aber das kommt meiner Ansicht nach daher, daß sie ihre Vorstellungswelt davon nicht haben befreien können, daß die materiellen Dinge etwas Hartes sind, wogegen man stoßen kann. Sie können gegen den Körper Ihres Freundes stoßen, aber nicht gegen seine Seele, deswegen muß sich sein Körper von seiner Seele unterscheiden. Diese Gedankenzusammenhänge bleiben in der Vorstellungswelt vieler Menschen bestehen, auch wenn sie sich rein intellektuell davon befreit haben."
    1. Kommentar: Die Trennung zwischen Körper und Geist (GMVKriterium) wird dem GMV zugeordnet, wobei kritisch anklingt, dass hier Vorurteilsvorstellungen wirken (GMVkritisch).
  • S. 279 GMV und Newton - Warum ist der GMV so erfolgreich mit seinen Annahmen?  : "Nimmt man aber diesen Prozeß unter die Lupe, so zeigt sich, daß er voller Schwierigkeiten steckt. Die Annahme, daß ein Körper »starr« sei, hat so lange keinen klaren Sinn, bis wir eine Metrik geschaffen haben, die es uns ermöglicht, Längen und Winkel zu einer Zeit mit Längen und Winkeln zu einer anderen zu vergleichen; denn ein »starrer« Körper ist ein solcher, der weder seine Form noch seine Größe ändert. Dann brauchen wir ferner eine Definition einer »geraden Linie«, denn alle unsere Ergebnisse werden sich als falsch erweisen, wenn die Basislinie in der Ebene von Salisbury und die bei der Triangulation benutzten Linien nicht gerade sind. Es scheint daher, daß jede Messung die Geometrie voraussetzt (damit wir gerade Linien definieren können) und außerdem so viel Physik, daß wir Grund zu der Annahme finden, gewisse Körper seien näherungsweise starr, und als nötig ist, um Entfernungen zu einer Zeit mit Entfernungen zu einer anderen Zeit vergleichen zu können. Die hierbei auftretenden Schwierigkeiten sind sehr groß, aber verdeckt durch Annahmen, die vom gesunden Menschenverstand her in die Wissenschaft übernommen worden sind.

  • Der gesunde Menschenverstand nimmt, grob gesprochen, an, daß ein Körpert starr ist, wenn er starr aussieht. Alle sehen nicht starr aus, aber Stahlstangen machen diesen Eindruck. Andererseits kann ein Kiesel auf dem Grunde eines leicht gewellten Baches ebenso gekrümmt aussehen wie ein Aal, dennoch hält ihn der gesunde Menschenverstand für starr, weil der gesunde Menschenverstand den Tastsinn für zuverlässiger hält als den Gesichtssinn, und wenn man barfuß durch den Bach watet, so fühlt der Kieselstein sich starr an. Wenn der gesunde Menschenverstand so denkt, so teilt er die Anschauungen Newtons: Er ist überzeugt, daß jeder Körper von Natur aus in jedem Augenblick eine bestimmte Form und Größe hat, die entweder dieselben sind, wie seine Form und Größe zu einem anderen Zeitpunkt oder es nicht sind. Setzen wir den absoluten Raum voraus, so hat diese Überzeugung einen Sinn, aber ohne den absoluten Raum ist sie zunächst sinnlos. Es muß aber eine Deutung der Physik geben, die erklärt, warum die Annahmen des gesunden Menschenverstandes so viel Erfolg haben."
      Kommentar: Russell wundert sich, weshalb der GMV so erfolgreich ist (GMVwert). Dies ist einfach zu erklären, weil die Physik Newtons im Größenbereich der Erde gilt und die Erfahrungen des GMV (GMVErfahr) in  die gleiche Richtung weisen. Auch wenn die Relativitätstheorie exakt betrachtet auch auf der Erde gilt, so sind die Messunterschiede auf der Erde mit unseren Messmethoden oft gar nicht erfassbar - und auch nicht nötig.
  • S. 282 Entfernungen, messen und GMV : "Obwohl dieser Glaube an eine Größe als eine Eigenschaft, die verschiedene meßbare Dinge gemeinsam haben können, den gesunden Menschenverstand unmerklich in seinen Vorstellungen von dem, was selbstverständlich ist, beeinflußt, sollten wir diesen Glauben nicht annehmen, ohne uns von seiner Richtigkeit auf dem besonderen Gegenstandsgebiet überzeugt zu haben. Der Glaube, daß eine solche Eigenschaft hinsichtlich jedes Elementes eines Systems besteht, ist logisch dem Glauben gleichwertig, daß es eine transitive symmetrische Beziehung gibt, die zwischen irgend zwei Elementen des Systems gilt. (Diese Gleichwertigkeit ist das, was ich früher den »Grundsatz der Abstraktion« genannt habe.) Indem wir also behaupten, daß es ein System von Größen gibt, die wir »Entfernungen« nennen, behaupten wir im Grund dieses: Zwischen irgendeinem Punktpaar und irgendeinem anderen besteht entweder eine symmetrische, transitive Beziehung oder eine asymmetrische, transitive Beziehung. Im ersten Falle sagen wir, daß die Entfernung zwischen dem einen Punktpaar der Entfernung zwischen dem anderen Punktpaar gleich ist; im letzten Falle sagen wir, daß die erste Entfernung kleiner oder größer ist als die zweite, je nach der Art dieser Beziehung. Die Entfernung zwischen zwei Punkten kann als die Klasse von Punktpaaren definiert werden, welche zu diesem Paar die Beziehung gleicher Punktentfemung haben."
    1. Kommentar: Dem GMV wird der Glaube an die allgemeine Messbarkeit (GMVKriterium) der Erscheinungen zugeordnet, wobei Russell kritisch (GMVkritisch) rät, dies nicht einfach zu glauben, sondern zu prüfen.
  • S. 283 Erfahrung Geradheit : "Die gerade Linie hat für den gesunden Menschenverstand ihren Ursprung in einer optischen Vorstellung. Einige Linien sehen gerade aus. Hält man einen geraden Stab mit dem Ende vor das Auge, so verdecken die dem Auge nächsten Teile den ganzen Rest, während man einiges von dem Stab um die Ecke sehen wird, wenn der Stab krumm ist. Es gibt allerdings noch andere Gründe des gesunden Menschenverstandes für die Vorstellung von geraden Linien. Wenn ein Körper sich dreht, so gibt es eine gerade Linie, die Umdrehungsachse, die unbewegt bleibt. Steht man in der Untergrundbahn, so kann man sagen, wenn sie um die Ecke fährt, weil man hierbei eine Neigung verspürt, sich nach der einen oder anderen Seite überzulegen. Es ist bis zu einem gewissen Grade auch möglich, die Geradheit mit Hilfe des Tastsinnes zu beurteilen. Blinde lernen es fast ebenso gut, Formen zu beurteilen, wie Menschen, die sehen können."
    1. Kommentar: Zum GMV gehört die Vorstellung der Existenz gerader Linien (GMVKriterium).
  • S. 315 / S. 316 GMV Konstruktion Wahrnehmungsraum : "Der Wahmehmungsraum ist eine Konstruktion des gesunden Menschenverstandes und besteht aus mancherlei Rohmaterialien. Da gibt es etwa räum[>316]liche Beziehungen des Gesichtssinnes: oben und unten, rechts und links, Tiefenwahrnehmung bis zu einer gewissen Entfernung (jenseits deren Tiefenunterschiede unwahrnehmbar werden), dann gibt es die Unterschiede der Druckwahmehmung, die es uns ermöglichen, die Berührung an einer Stelle des Körpers von der Berührung an einer anderen zu unterscheiden. Es gibt ferner die etwas unbestimmte Fähigkeit, die Richtung eines Schalles abzuschätzen. Dann gibt es erlebte Zusammenhänge, unter denen der wichtigste der Zusammenhang zwischen Gesichtssinn und Tastsinn ist. Ferner gibt es Beobachtungen von Bewegungen und die Erfahrung, daß sich Teile unseres eigenen Körpers bewegen. Aus solchen Rohmaterialien (die obige Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) formt sich der gesunde Menschenverstand einen Einzelraum, in dem wahrgenommene und nicht wahrgenommene Gegenstände enthalten sind, wobei die wahrgenommenen Objekte der Anschauungsweise des naiven Realismus entsprechend mit den Wahrnehmungen identifiziert werden. Die nicht wahrgenommenen Gegenstände sind für den gesunden Menschenverstand jene, die wir wahmehmen würden, wenn wir uns in der richtigen Stellung befänden und unsere Sinnesorgane darauf eingestellt wären, dann aber auch Gegenstände, die nur andere wahmehmen und schließlich noch Gegenstände wie das Erdinnere, die überhaupt niemand wahrnehmen kann, die aber auf Grund einer Schlußfolgerung des gesunden Menschenverstandes angenommen werden müssen."
    1. Kommentar: Russell beschreibt den Wahrnehmungsraum des GMV (GMVKriterium).
  • S. 316 Uebergang Welt des GMV zur Physik : "Beim Übergang von der Welt des gesunden Menschenverstandes zu der Physik, bleiben gewisse Annahmen des gesunden Menschenverstandes erhalten, wenn auch in abgewandelter Form. Wir nehmen z. B. an. daß die Einrichtung unseres Zimmers auch dann weiter existiert, wenn wir sie nicht sehen. Der gesunde Menschenverstand meint, daß dieses ständig Weiterbestehende genau das ist, was wir sehen, wenn wir hinsehen, aber die Physik sagt, daß das ständig Weiterbestehende die äußere Ursache dessen ist, was wir sehen, d. h. eine riesige Anhäufung von Atomen, die häufigen Quantensprüngen unterliegen. Bei diesen Sprüngen strahlen sie Energie aus, die mancherlei Wirkungen auf den menschlichen Körper ausübt, wenn sie auf ihn trifft, und einige dieser Wirkungen heißen Wahrnehmungen. Zwei gleichzeitige Teile einer Gesichtswahmehmung haben eine bestimmte gesichtsräumliche Beziehung zueinander, die eine Komponente der gesamten Wahrnehmung ist. Die physischen Gegenstände, die diesen Teilen meiner Gesamtwahmehmung entsprechen, haben eine Beziehung zueinander, die im Groben dieser gesichtsräumlichen Beziehung entspricht. Wenn ich sage, daß die eine Beziehung der anderen »entspricht«, so meine ich, daß sie ein Teil einer Relationsgesamtheit ist, die bis zu einem gewissen Grade die gleiche Geometrie hat wie die Beziehungsgesamtheit der Gesichtswahmehmungen, und daß die Lokalisierung der physischen Gegenstände im physikalischen Raum auffindbare Beziehungen zur Lokalisierung von Wahrnehmungsgegenständen im Wahmehmungsraum hat."
    1. Kommentar: Zum GMV gehört nach Russell der Aussenwelt-Realismus (GMVKriterium) wobei Entsprechungen (GMVwert) zwischen der Welt des GMV und der (Mikro-) Physik zugestanden werden (GMVdiffer).
  • S. 317 Entfernungschaetzungen des GMV - Beobachtung und Theorie : "Geringe Entfernungen von uns werden nicht mit Hilfe der verfeinerten Methoden bestimmt, welche die Astronomie entwickelt hat. Geringe Entfernungen können wir ungefähr »sehen«; so dürfen wir wohl sagen, obwohl das Stereoskop diese Erscheinung vortäuschen kann. Dinge, die unsere Körper berühren, vermuten wir in der Nähe der Stelle, die sie berühren. Berühren uns Dinge nicht, so können wir uns manchmal so bewegen, daß wir mit ihnen inBerührung kommen. Die erforderliche Bewegung gibt ein ungefähres Maß fiir die Anfangsentfernung der Dinge von uns. Wir haben also drei  Arten, wie der gesunde Menschenverstand Entfernungen auf der Erdoberfläche abschätzt. Die wissenschaftlichen Verfahren zur Entfernungsbestimmung benutzen diese Verfahren als ihre Grundlage, aber sie verbessern sie mit Hilfe physikalischer Gesetze, die auf Grund der einfachen Entfemungsschätzungen aufgestellt werden. Der ganze Vorgang ist ein seltsames Flickwerk. Wenn die Entfernungs- und Größenschätzungen des gesunden Menschenverstandes ungefähr zutreffen,  [>318] dann stimmen auch gewisse physikalische Gesetze ungefähr. Sind aber diese Gesetze genau richtig, so müssen die Schätzungen des gesunden Menschenverstandes ein wenig verbessert werden. Sind die verschiedenen Gesetze untereinander nicht verträglich, so müssen sie einander angepaßt werden, bis die Unverträglichkeit verschwindet. So also greifen Beobachtung und Theorie ineinander; was in der wissenschaftlichen Physik als Beobachtung bezeichnet wird, enthält für gewöhnlich eine beträchtliche Beimischung von Theorie."
    1. Kommentar: Die Entfernungsschätzungen des GMV werden differenziert (GMVdiffer)-kritisch (GMVkritisch) mit drei Fallunterscheidungen erörtert.
  • S. 318 Vergleich Wahrnehmung GMV und Physik : "Verlassen wir nun die Betrachtung der einzelnen Stufen, die zur theoretischen Physik führen, und vergleichen wir die vollendete physikalische Welt mit der Welt des gesunden Menschenverstandes. Nehmen wir an, ich sehe eine Butterblume und eine Glockenblume. Der gesunde Menschenverstand sagt, die Butterblume ist gelb, und die Glockenblume ist blau. Die Physik sagt, daß elektromagnetische Wellen vieler verschiedener Frequenzen von der Sonne ausgehen und zu den beiden Blumen gelangen. Wenn sie dorthin gelangt sind, so wirft die Butterblume jene Wellen zurück, deren Frequenzen eine gelbe Empfindung hervorrufen, und die Glockenblume jene, die eine blaue Empfindung erzeugen. Von diesem Unterscliied der beiden Blumen wird angenommen, daß er eine Folge irgendeines Strukturunterschiedes ist. Wenn es also auch gelb und blau nur dort gibt, wo es ein Auge gibt, so gestattet uns doch der Unterscliied zwischen beiden auf Unterschiede zwischen den physikalischen Gegenständen zu schließen, die sich in der Richtung befinden, in der wir gelb und blau sehen.

  •     Der gesunde Menschenverstand konstruiert sich einen Einzelraum, in dem »Dinge« enthalten sind, welche mehrere Eigenschaften miteinander vereinigen, die uns durch unsere verschiedenen Sinne offenbart werden, Eigenschaften, wie heiß und hart und hell. Diese Dinge werden durch den gesunden Menschenverstand in einen dreidimensionalen Raum versetzt, in dem freilich die Entfernung mit Hilfe der Verfahren des gesunden Menschenverstandes nur abgeschätzt werden kann, wenn sie klein ist. Bis vor kurzem behielt auch die Physik so etwas Ähnliches wie die »Dinge« bei, nannte es aber »Materie«, und nahm dieser Materie alle Eigenschaften, außer der Lage im Raum. Die Lage eines Stückes Materie im Raum blieb ziemlich identisch mit derjenigen des entsprechenden »Dinges«, außer wenn die Entfernung groß war. In diesem Falle mußte sie nunmehr durch sehr verfeinerte wissenschaftliche Verfahren bestimmt werden.
        Bei diesem Herumsuchen und Auswählen unter den Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes hat sich die Physik zwar keiner ausgesprochenen Grundsätze bedient, aber dennoch hat dabei ein unbewußter Plan zugrunde gelegen, den wir nun aufzuzeigen versuchen müssen. Es ist ein Teil dieses Planes, stets so viel von der Welt des gesunden Menschenverstandes beizubehalten, als ohne unerträgliche Schwierigkeit möglich ist; ein anderer Teil besteht darin, solche unwiderleglichen Annahmen zu machen, die zu einfachen [>319] Kausalgesetzen führen. Dies letzte Verfahren steckt bereits in dem Glauben des gesunden Menschenverstandes an »Dinge«, denn wir glauben eben nicht, daß die sichtbare Welt aufhört zu existieren, wenn wir unsere Augen schließen, und wir glauben, daß die Katze in dem Augenblick, in dem sie heimlich die Sahne stiehlt, ebenso wohl existiert, wie dann, wenn wir sie dafür bestrafen. Alles dies sind »Wahrscheinlichkeitsschlüsse«: Es ist logisch möglich, anzunehmen, daß die Welt nur aus meinen Wahrnehmungen besteht, und der Schluß auf die Welt des gesunden Menschenverstandes ist ebensowenig zwingend, wie der auf die physikalische Welt. Aber augenblicklich will ich nicht hinter den gesunden Menschenverstand zurückgehen. Ich will vielmehr nur den Übergang vom gesunden Menschenverstand zur Physik betrachten."
      Kommentar:  Russell interpretiert, dass die Wissenschaft so nahe wie möglich versucht am GMV zu bleiben, was diesem natürlich einen besondern Wert (GMVwert) verleiht. Aber er macht differenziert (GMVdiffer) -kritisch (GMVkritisch) deutlich, dass auch andere Interepretationen in Bezug auf den Außenweltrealismus möglich sind.
  • S. 319 Moderne Physik und GMV : "Die moderne Physik steht dem gesunden Menschenverstand ferner als die Physik des 19. Jahrhunderts. Sie hat mit der Materie aufgeräumt und an ihre Stelle Ereignisfolgen gesetzt. Sie hat für die mikroskopischen Erscheinungen sogar die Stetigkeit aufgegeben, und sie hat statistische Mittelwerte an Stelle einer streng deterministischen Kausalität eingeführt, die jeden einzelnen Vorgang betrifft. Dennoch hat auch die moderne Physik noch vieles von dem beibehalten, dessen Quelle der gesunde Menschenverstand ist. Soweit es die makroskopischen Erscheinungen betrifft, hält sie an der Stetigkeit und dem Determinismus fest, und für die meisten Aufgaben setzt sie auch die Existenz der Materie voraus.

  •     Die physikalische Welt enthält mehr als die Welt der Wahrnehmungen und in gewisser Hinsicht auch mehr als die Welt des gesunden Menschenverstandes. Wenn sie aber auch quantitativ beide andere Welten übertrifft, so steht sie doch beiden nach an bekannten Qualitäten. Der gesunde Menschenverstand sowohl als die Physik ergänzen die Wahrnehmungen durch die Annahme, daß die Dinge nicht auf hören zu existieren, wenn sie nicht wahrgenommen werden, und durch die weitere Annahme, daß man auch niemals wahrgenommene Dinge erschließen kann. Die Physik ergänzt die Welt des gesunden Menschenverstandes durch die gesamte Theorie der mikroskopischen Erscheinungen. Was die Physik über die Atome und ihre Geschichte aussagt, das übertrifft alles, was der gesunde Menschenverstand zu erschließen sich erlaubt."
      Kommentar: Hier wird der GMV als eigenständige, universal-abstrakte Entität (Identität) zitiert. Der GMV ist natürlich eine Konstruktion des menschlichen Geistes, der keine Entsprechung  (Referenz)  in der Realität hat, er existiert nur im Denken der Menschen und Russells. Moderne Physik und der GMV stimmen in ihrem Außenwelt-Realismus überein (GMVwert), wenn auch die Physik insbesondere durch die mikroskopischen Erscheinungen den GMV ergänzt (GMVdiffer), (GMVkritisch).
  • S. 320 Wahrnehmungen, Innenschau und Physik : "Das Wahmehmen, wie wir es durch Innenschau kennen, scheint etwas von den Ereignissen, die die Physik betrachtet, völlig Verschiedenes zu sein. Soll daher von Wahrnehmungen auf physikalische Vorkommnisse geschlossen werden oder von physikalischen Vorkommnissen auf Wahrnehmungen, so brauchen wir Gesetze, die prima facie nicht physikalisch sind. Ich neige zu dem Glauben, daß es möglich ist, die Physik so zu deuten, daß sie auch diese Gesetze umfaßt, aber zunächst will ich diese Möglichkeit außer Betracht lassen. Unsere Aufgabe ist daher die folgende: Nehmen wir Wahrnehmungen, wie wir sie aus der Erfahrung kennen und physikalische Vorkommnisse, wie sie von der Physik behauptet werden, als gegeben an, welche Gesetze kennen wir dann, welche die beiden mit einander verknüpfen und daher Schlüsse von den einen auf die anderen zulassen?

  •     Teilweise ist die Antwort schon für den gesunden Menschenverstand klar. Wir sehen, wenn Licht auf unser Auge trifft; wir hören, wenn Schall auf unser Ohr trifft; wir haben Berührungsempfindungen, wenn unser Körper an irgendeinen anderen Gegenstand stößt usw.; diese Gesetze sind keine Gesetze der Physik oder der Physiologie, wenn man die Physik nicht einer grundlegenden Umdeutung unterzieht. Diese Gesetze geben vielmehr die physikalischen Vorderglieder der Kette an, die zu den Wahrnehmungen führt. Diese Vorderglieder liegen teilweise außerhalb des Körpers des Wahmehmenden (wenn er nicht gerade irgend etwas an seinem eigenen Körper wahmimmt), teilweise in seinen Sinnesorganen und Nerven und teilweise in seinem Gehirn. Ein Versagen irgendeines dieser Vorderglieder verhindert die Wahrnehmung. Umgekehrt aber kann eines der späteren Vorderglieder auf eine ungewöhnliche Art erzeugt worden sein, und dann wird die Wahrnehmung genau so ausfallen, ah ob die Ursachkette die übliche gewesen wäre, und der Wahrnehmende kann daher getäuscht werden - so kann es ihm z. B. gehen, wenn er etwas in einem Spiegel sieht oder vom Lautsprecher hört, wenn er an Spiegel und Lautsprecher nicht gewöhnt ist. Jeder einzelne Schluß von einer Wahrnehmung auf einen physikalischen Gegenstand unterliegt daher der Irrtumsmöglichkeit in dem Sinn, daß er Erwartungen hervorruft, die sich nicht erfüllen. Der Schluß wird aber nicht gewöhnlich irrtümlich in diesem Sinn sein, denn die Gewohnheit, in dieser Weise zu schließen, muß auf Grund einer Anzahl von Fällen gebildet worden sein, in denen sich der Schluß als gerechtfertigt erwiesen hat. Hier aber müssen wir uns etwas genauer ausdrücken. Von einem praktischen Gesichtspunkt aus wird ein Schluß gerechtfertigt, wenn er Erwartungen erzeugt, die erfüllt werden. Das aber liegt alles innerhalb des Gebietes derWahmehmungen. Daraus folgt aber genaugenommen nur, daß unsere Schlüsse auf physikalische Gegenstände mit der Erfahrung [>121] verträglich sind, aber es kann auch andere Hypothesen geben, die ebensogut damit verträglich sind."
      Kommentar: Es wird das Problem der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungen und ihrer Physik erörtert (GMVdiffer) und eine Schlussregel (GMVKriterium) des GMV formuliert, wonach ein Schluss gerechtfertigt ist, wenn die Erwartungen erfüllt werden, was andere Möglichkeiten aber nicht ausschließt (GMVkritisch).
  • S. 321 Luftspiegelung Fehlschluss GMV : "Aber, wenn ich sage, daß wir unsern Wahrnehmungen gegenüber kritisch sind, so möchte ich doch ein Mißverständnis vermeiden. Zweifellos treten Wahrnehmungen auf, und eine Theorie, die irgendwelche Wahrnehmungen ableugnete, wäre sicher verkehrt, aber einige, die auf eine ungewöhnliche Weise verursacht werden, verleiten den gesunden Menschenverstand zu Fehlschlüssen. Hierfür ist die Luftspiegelung ein gutes Beispiel. Wenn ich einen See sehe, der nur eine Luftspiegelung ist, so sehe ich das, was ich sehe, genau so zuverlässig, als wenn ein wirklicher See dort vorhanden wäre. Nicht meine Wahrnehmung ist ein Irrtum, sondern das, was in sie einbezogen wird. Die Wahrnehmung macht mich glauben, daß ich trinkbares Wasser finden werde, wenn ich in einer bestimmten Richtung gehe, und hierin täusche ich mich. Meine Gesichtswahmehmung kann aber genau die gleiche sein, wie wenn dort wirklich Wasser wäre. Meine Physik muß, um zulänglich zu sein, nicht nur erklären, daß dort kein Wasser ist, sondern auch, warum dort Wasser zu sein scheint. Eine irrtümliche Wahrnehmung ist nicht als Wahrnehmung selbst irrtümlich, sondern hinsichtlich ihrer kausalen Verknüpfungen, ihrer Vorderglieder und Folgeglieder. Häufig besteht der Irrtum in einem  tierischen Schluß. Der Umstand, daß tierische Schlüsse irrtümlich sein können, ist ein Grund dafür, daß sie als Schlüsse bezeichnet werden können."
    1. Kommentar: Der GMV gelangt manchmal zu Fehlschlüssen (GMVkritisch), Beispiel Luftspiegelung (GMVKriterium).
  • S. 331 Nur wahrscheinliche Folgerungen beim GMV : "Es wird allgemein zugestanden, daß die Schlußweisen der Wissenschaft und des gesunden Menschenverstandes sich von denen der deduktiven Logik und der Mathematik in einem sehr wichtigen Punkte unterscheiden, nämlich darin, daß, wenn die Voraussetzungen wahr sind und die Schlußweise einwandfrei ist, die Folgerung nur wahrscheinlich ist. Wir haben Gründe zu glauben, daß die Sonne morgen wieder aufgehen wird, und jederman gibt zu, daß wir uns im praktischen Leben so verhalten können, als ob diese Gründe Sicherheit verbürgten. Wenn wir sie aber genau nachprüfen, so finden wir, daß sie einen gewissen, wenn auch noch so kleinen Spielraum für den Zweifel übrig lassen, und zwar ist dreierlei Zweifel gerechtfertigt. Sprechen wir zunächst von den beiden ersten Arten des Zweifels: einerseits kann es wichtige Tatsachen geben, die uns unbekannt sind; andererseits können die Gesetze falsch sein, die wir annehmen müssen, um die Zukunft vorauszusagen. Der erste Zweifelsgrund hat mit unserer gegenwärtigen Untersuchung nicht viel zu tun, aber der zweite erfordert eine genaue Untersuchung. Es gibt aber noch eine dritte Art von Zweifel, der entsteht, wenn wir wissen, daß auf Grund eines Gesetzes etwas für gewöhnlich geschieht oder in einer überwältigenden Mehrheit der Fälle,  aber nicht immer. In diesem Fall haben wir das Recht, das Gewöhnliche zu erwarten, aber nicht mit völligem Vertrauen. Wenn z. B. ein Mann würfelt, so geschieht es sehr selten, daß er einen Sechserpasch zehnmal hintereinander wirft, obwohl es nicht unmöglich ist; wir haben daher ein Recht, zu erwarten, daß er es nicht tun wird, aber unsere Erwartung muß durch einen leichten Zweifel gefärbt sein. Alle diese Arten von Zweifel enthalten etwas in sich, was als »Wahrscheinlichkeit« zu bezeichnen ist, aber dieses Wort kann verschiedene Bedeutungen haben, und diese auseinanderzulegen und -zuhalten, ist wichtig."
    1. Kommentar:  Russell formuliert hier eine für den GMV kritische (GMVkritisch) Schlussregel (GMVKriterium), alle Schlüsse gelten genau betrachtet nur mit Wahrscheinlichkeit.
  • S. 429 : "Kapitel III DAS POSTULAT DER NATÜRLICHEN ARTEN ODER DER BEGRENZTEN MANNIGFALTIGKEIT Wenn man nach dem Postulat oder den Postulaten sucht, die erforderlich sind, um induktive Wahrscheinlichkeiten sich der Gewißheit als Grenze nähern zu lassen, so gibt es zwei Forderungen. Einerseits muß das Postulat oder müssen die Postulate von einem rein logischen Gesichtspunkt aus ausreichen, um die Aufgabe zu erfüllen, die von ihnen verlangt wird. Andererseits - und das ist die schwierigere Anforderung - müssen sie derart sein, daß einige Schlüsse, deren Gültigkeit von ihnen abhängt, für den gesunden Menschenverstand  mehr oder weniger fraglos sind. Findet z. B. jemand zwei wörtlich übereinstimmende Exemplare desselben Buches, dann nimmt er ohne zu zögern an, [>430] daß beide einen gemeinsamen Kausalvorgänger haben. Obwohl in einem derartigen Fall jedermann dem Schluß zustimmen wird, ist doch der Grundsatz dunkel, der den Schluß rechtfertigt, und läßt sich nur durch sorgfältige Analyse entdecken. Ich verlange nicht, daß ein allgemeiner Grundsatz, der nach diesem Verfahren gewonnen wird, selbst irgendein Maß von Selbstgewißheit besitzen muß, aber ich verlange, daß einige Schlüsse, die logisch von ihm abhängen, von der Art sind, daß jeder Mensch, der sie versteht, außer wenn er ein skeptischer Philosoph ist, sie für so selbstverständlich halten wird, daß es ihm kaum lohnend erscheinen wird, sie überhaupt aufzustellen. Es dürfen natürlich keine deutlichen Gründe dafür vorliegcn, daß ein vermuteter Grundsatz als falsch anzusehen ist. Insbesondere müßte er sich selbst bestätigen und nicht sich selbst widerlegen, d. h. Induktionen, die sich auf ein solches Postulat stützen, müssen Folgerungen haben, die mit ihm verträglich sind"
    1. Kommentar: Eine schwierige Textpassage. Russell bringt das Kriterium "für selbstverständlich halten" (GMVKriterium), (GMVselbstv) ein - sofern nichts dagegen spricht und logische Verträglichkeit vorliegt (GMVKriterium).
  • S. 436 Bewahrheitung und GMV : "Ehe wir diese beiden Probleme abstrakt logisch betrachten, wollen wir sie für den Augenblick unter dem Gesichtspunkt des gesunden Menschenverstandes ansehen.

  •     Fangen wir mit der Möglichkeit der Bewahrheitung an: Es gibt Menschen, die behaupten, daß, wenn der Atomkrieg nicht vermieden werden kann, alles Leben auf diesem Planeten ausgelöscht werden wird. Hier geht uns nicht die Frage an, ob diese Ansicht richtig ist, sondern nur, daß sie eine verständliche Bedeutung hat. Dennoch ist sie eine Behauptung, hinsichtlich deren die Frage nach der Wahrheit nicht entschieden werden kann, kurz gesagt, die nicht bewahrheitet werden kann; denn wer bliebe übrig, um ihre Wahrheit festzustellen, wenn alles Leben ausgelöscht werden würde? Höchstens Berkeleys Gott, den aber sicherlich die logischen Positivisten dafür nicht in Anspruch nehmen wollen. Oder gehen wir rückwärts statt vorwärts. Wir alle glauben, daß es eine Zeit gegeben hat, ehe es Leben auf der Erde gegeben hat. Auch diejenigen, welche Verifizierbarkeit als notwendige Voraussetzung der Bedeutung ansehen, beabsichtigen nicht, solche Möglichkeiten abzuleugnen, aber um sie zugeben zu können, müssen sie die »Verifizierbarkeit« ziemlich weitherzig definieren. Zuweilen wird ein Satz als »bewahrheitbar« angesehen, wenn ein empirisches Zeugnis für ihn spricht. Das heißt also »alle A sind B« gilt als »bewahrheitbar«, wenn wir von einem A wissen, daß es ein B ist und kein A kennen, das nicht ein B ist. Diese Auffassung führt aber zu logischem Unsinn. Nehmen wir an, es gibt kein einziges Mitglied von A hinsichtlich dessen wir wissen, ob es ein B ist, aber es gibt einen Gegenstand x, der kein Mitglied von A ist, von dem wir aber wissen, daß er ein B ist. Nun sei A' die Klasse, die aus der Klasse A zusammen mit dem Gegenstand x besteht. Dann ist der Satz »alle A’ sind B« auf Grund der Definition bewahrheitbar. Da dies aber den Satz »alle A sind B« impliziert, so folgt, daß der Satz »alle A sind B« bewahrheitbar ist. Folglich läßt sich jede Verallgemeinerung der Form »alle A sind B« bewahrheiten, wenn es irgendwo ein einziges Objekt gibt, von dem man weiß, daß es ein B ist."
      Kommentar: Ich kann in dem schwer verständlichen Text keinen GMV erkennen - außer für eine Bewahrheitung muss es ein empirisches Zeugnis (GMVKriterium) geben. Oder: damit etwas als wahr angesehen wird, muss man nachprüfbare Gründe angeben.
  • S. 482  : "Es gibt freilich gewisse erkenntnistheoretische Probleme, die mit ihnen zusammenhängen, die ich im nächsten Kapitel betrachten werde. Diese Probleme hängen nicht von der genauen Form der Postulate ab und blieben dieselben, auch wenn die Postulate sehr stark abgeändert würden.

  •     In der Form, in der ich die Postulate aufgestellt habe, sollen sie die ersten Schritte auf dem Wege zur Wissenschaft rechtfertigen und so viel von den Leistungen des gesunden Verstandes als möglich. Mein Hauptproblem in diesem Kapitel war ein erkenntnistheoretisches: Was müssen wir außer beobachteten Einzeltatsachen noch wissen, wenn wissenschaftliche Schlüsse gelten sollen? Bei der Behandlung dieses Problems kommt es nicht darauf an, die Wissenschaft in ihrer bereits sehr hoch entwickelten und technischen Form zu untersuchen, denn die hochentwickelte Wissenschaft baut sich auf der elementaren Wissenschaft auf, und diese wiederum beruht auf dem gesunden Menschenverstand. Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich von Verallgemeinerungen aus, die ungefähr und nicht ohne Ausnahmen sind, hin zu anderen, die schon fast genau sind und weniger Ausnahmen haben. »Ungestützte Körper in freier Luft fallen«, ist eine primitive Verallgemeinerung. Der Psalmist schon hat bemerkt, daß Funken eine Ausnahme bilden, und heutzutage könnte er auch noch auf Ballons und Flugzeuge hinweisen. Aber ohne dieses rohe und teilweise falsche Gesetz wären wir niemals zum Gravitationsgesetz gelangt. Die Prämissen sind unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie andere als vom Standpunkt der Logik, und hier habe ich versucht, erkenntnistheoretische Prämissen aufzufinden."
      Kommentar: Russell fordert für die Wissenschaft, dass sie so viel wie möglich vom GMV aufnimmt, der als Basis für die elementare Wissenschaft (GMVwert), aus der die hochentwickelte Wissenschaft (GMVwissens) hervorgeht, angesehen wird. Es hat an dieser Stelle den Anschein als sei der GMV in den Augen Russells die Basis der Erkenntnistheorie.




    Gebrauchsbeispiele GMV aus: Russell, Bertrand (1974) Das ABC der Relativitaetstheorie. Reinbek: Rowohlt.
     
  • S. 11 ff Relativitaetstheorie und GMV :  "Die Relativitätstheorie hängt weitgehend davon ab, daß man Vorstellungen los wird, die im normalen Leben, aber nicht für unseren aus seiner Betäubung erwachenden Ballonfahrer nützlich sind. Aus verschiedenen, mehr oder weniger zufälligen Gründen legen die Verhältnisse auf der Erdoberfläche Vorstellungen nahe, die sich als ungenau heraussteilen, obwohl sie uns nun schon als Denknotwendigkeiten erscheinen. Der wichtigste dieser Umstände besteht darin, daß die meisten Gegenstände [>12] auf der Erdoberfläche, von einem irdischen Standpunkt aus betrachtet, ziemlich dauerhaft und fast ortsfest sind. Wenn das nicht so wäre, erschiene uns der Begriff der Bewegung nicht so eindeutig. Wenn jemand von King’s Cross Station nach Edinburgh fahren will, weiß er, daß er King’s Cross dort finden wird, wo es immer war, daß die Schienen in dieselbe Richtung führen werden wie beim letzten Mal, als er diese Reise machte, und daß Waverley Station in Edinburgh nicht zum Schloß hinaufgewandert sein wird. Er sagt und denkt deshalb, daß er nach Edinburgh gefahren ist, nicht, daß Edinburgh zu ihm gefahren ist, obwohl diese Behauptung genauso richtig wäre. Daß dieser dem gesunden Menschenverstand entsprechende Standpunkt mit soviel Erfolg anwendbar ist, liegt an einer Reihe von Gegebenheiten, die in Wirklichkeit bloßer Zufall sind. Stellen wir uns vor, alle Häuser in London wären ständig in Bewegung wie ein Bienenschwarm; stellen wir uns weiter vor, Eisenbahnschienen bewegten sich und änderten ihre Form wie Lawinen; und stellen wir uns schließlich vor, materielle Gegenstände bildeten sich ständig neu und lösten sich wieder auf wie Wolken. Diese Annahmen enthalten nichts Unmögliches. Aber offensichtlich hätte in einer solchen Welt ein Begriff wie 'Reise nach Edinburgh' keinen Sinn. Der Reisende würde ohne Zweifel zunächst den Taxifahrer fragen: »Wo ist Kings Cross heute morgen?« Ebenso müßte er auf dem Bahnhof nach Edinburgh fragen, aber der Schalterbeamte würde antworten: »Welchen Teil von Edinburgh meinen Sie, Sir? Prince’s Street ist nach Glasgow gewandert, das Schloß ist ins Hochland hinaufgerückt und Waverley Station liegt unter Wasser, mitten im Firth of Forth.« Und unterwegs würden sich die Stationen nicht ruhig verhalten, sondern es würden sich einige nach Norden bewegen, andere nach Süden, wieder andere nach Osten oder Westen, vielleicht viel schneller als der Zug. Unter diesen Umständen könnte niemand sagen, wo er sich in einem bestimmten Augenblick befindet. Tatsächlich beruht die ganze Vorstellung, daß man sich immer an einem bestimmten >Ort< befindet, auf der Bewegungslosigkeit, [>13] die glücklicherweise den meisten großen Gegenständen auf der Erdoberfläche eigen ist. Die Vorstellung >Ort< ist nur eine grobe praktische Approximation: an ihr ist nichts logisch Zwingendes, und man kann sie nicht präzisieren,

  •    Wenn wir nicht um vieles größer als ein Elektron wären, hätten wir nicht diesen Eindruck der Stabilität, der nur auf der Grobheit unserer Sinne beruht. ..."
      Kommentar: Die Stabilitätswahrnehmung und -erfahrung der Orte (GMVKriterium) gehört zum gesunden Menschenverstand nach Russell und beruht physikalisch auf der Bewegungslosigkeit vieler Orte, was wie seine fantastischen Beispiele zeigen theoretisch auch anders sein könnte.
  • S. 16 Bei genauer Betrachtung ist alles ganz anders ... : "Mit dem Fortschreiten der Physik wurde immer deutlicher, daß das Sehen als Quelle grundlegender Vorstellungen von der Materie weniger irreführend als der Tastsinn ist. Es ist eine Täuschung, zu meinen, daß der Vorgang beim Zusammenstoß von Billardkugeln so einfach ist, wie er aussieht. In Wirklichkeit berühren sich die beiden Billardkugeln überhaupt nicht; das tatsächliche Geschehen ist unvorstellbar kompliziert, aber jedenfalls gleicht es mehr dem, was geschieht, wenn ein Komet in unser Sonnensystem eintritt und es wieder verläßt, als der Vorstellung, die sich der gesunde Menschenverstand vom Zusammenstoß zweier Billardkugeln macht.

  •     Das meiste von dem, was bisher gesagt wurde, war den Physikern schon bekannt, bevor Einstein die Relativitätstheorie erfand. Man wußte, daß >Kraft< nur eine mathematische Fiktion , war, und man war allgemein der Auffassung, daß Bewegung nur ein relatives Phänomen sei — das heißt, daß wir, wenn zwei Körper ihre relative Position ändern, nicht sagen können, der eine sei in Bewegung und der andere in Ruhe, weil der Vorgang eine bloße Veränderung in ihrer Beziehung zueinander ist. Eine große Anstrengung war jedoch nötig, um die tatsächliche Arbeitsweise der Physik mit diesen neuen Überzeugungen in Einklang zu bringen. Newton glaubte an Kraft, einen absoluten Raum und eine absolute Zeit. Diese Überzeugungen schlugen sich in seinen Arbeitsmethoden nieder, und seine Methoden [>17] wurden von den Physikern, die nach ihm kamen, übernommen. Einstein erfand eine neue Betrachtungsweise, die frei von Newtons Annahmen war. Um das zu erreichen, mußte er die alten Begriffe von Raum und Zeit, die seit undenklichen Zeiten unangefochten geherrscht hatten, grundlegend ändern. Gerade dadurch ist seine Theorie schwierig und interessant zugleich. Bevor das näher ausgeführt werden kann, müssen einige vorbereitende Überlegungen angestellt werden. Damit werden sich die nächsten beiden Kapitel beschäftigen. "
      Kommentar: Der GMV erfasst das wirkliche Geschehen nicht so wie (theoretische, relativistische) Physiker. Dass zwei Billardkugeln zusammenstoßen können ist dem GMV sonnenklar, doch Russell hält kritisch (GMVkritisch) dagegen, was mich nicht überzeugt. Dass Dinge zusammenstossen können ist m.E. nicht in Frage zu stellen. An dieser Stelle ist vielleicht eine Erinnerung zu einer Deutungsregel (GMVKriterium)  angebracht. Russell schreibt S. 335: "Die Ausdeutung, die gewählt wird, hängt vom Zweck (GMVzweckm) ab, der dabei verfolgt wird."
  • S. 20 Dasselbe und die Perspektiven : "Wenn aber der Physiker recht hat mit der Meinung, daß eine Anzahl von Menschen >denselben< physikalischen Vorgang beobachten können, dann muß er sich also für diejenigen Merkmale des Vorgangs interessieren, die in allen Wahrnehmungen wiederkehren, denn die anderen können nicht als zum Vorgang selbst gehörig betrachtet werden. Wenigstens muß sich der Physiker auf die Merkmale beschränken, die von allen >gleich guten< Beobachtern wahrgenommen werden. Ein Beobachter, der ein Mikroskop oder Teleskop benutzt, ist einem anderen, der diese Instrumente nicht hat, vorzuziehen, weil er alles sieht, was auch der andere sieht, und noch mehr. Eine empfindliche photographische Platte kann wiederum mehr >sehen< und ist in diesem Fall dem Auge vorzuziehen. Aber Unterschiede wie zum Beispiel in der Perspektive oder Unterschiede in der Größe, die auf verschiedener Entfernung beruhen, können selbstverständlich nicht dem Gegenstand zugeschrieben werden, sie sind einzig und allein Unterschiede im Standpunkt des Betrachters. Der gesunde Menschenverstand eliminiert sie, wenn er ein Urteil über einen Gegenstand abgibt. Die Physik muß auf demselben Weg viel weiter gehen, aber das Prinzip ist dasselbe. [>21] Ich möchte klarstellen, daß es mir nicht um eine Ungenauigkeit irgendwelcher Art geht. Es geht mir vielmehr um echte physikalische Unterschiede zwischen Erscheinungen, von denen alle von ihrem jeweiligen Standpunkt aus eine richtige Wiedergabe eines bestimmten Ereignisses sind. Wenn jemand ein Gewehr abfeuert, so sehen Leute, die sich in einiger Entfernung von ihm befinden, das Mündungsfeuer, bevor sie den Schuß hören. Das liegt nicht an einem Defekt ihrer Sinnesorgane, sondern an der Tatsache, daß Schall sich langsamer als Licht ausbreitet. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts ist so groß, daß man sie für die Phänomene auf der Erdoberfläche als unendlich betrachten kann. Alles was wir auf der Erdoberfläche sehen können, geschieht praktisch in dem Augenblick, in dem wir es sehen. In einer Sekunde legt das Licht 300 000 km zurück. Von der Sonne zur Erde braucht es ungefähr acht Minuten und von den Sternen bis zu uns zwischen vier Millionen und einer .Milliarde Jahren. Aber wir können natürlich nicht eine Uhr auf der Sonne aufstellen und von dort einen Lichtblitz um 12 Uhr mittags Greenwich-Zeit aussenden und ihn um 12.08 Uhr in Greenwich empfangen lassen. Unsere Methoden, die Lichtgeschwindigkeit zu messen, müssen mehr oder weniger indirekt sein. Am direktesten ist die Methode, die wir beim Schall anwenden, wenn wir uns eines Echos bedienen. Wir könnten einen Lichtblitz zu einem Spiegel schicken und beobachten, wie lang es dauert, bis der Reflex bei uns ankommt. Damit erhielten wir die Zeit, die das Licht für den Weg zum Spiegel und zurück braucht. Auf der Erde wäre diese Zeit jedoch zu kurz, als daß man sie messen könnte, so daß die Physiker gezwungen sind, in der Praxis kompliziertere Methoden anzuwenden; das grundlegende Prinzip aber ist doch das des Echos."
    1. Kommentar: Der GMV sieht von gewissen Unterschieden bei unterschiedlichen Perspektiven der Betrachtung ab, was die Aussage oder Konstruktion desselben Gegenstandes ermöglicht (GMVKriterium).
  • S. 161 Ein Tisch ist kein Tisch : "Der gesunde Menschenverstand stellt sich vor, wenn er einen Tisch sieht, so sehe er einen Tisch. Das ist eine grobe Täuschung. Wenn der Vertreter des gesunden Menschenverstands einen Tisch sieht, so treffen gewisse Lichtstrahlen sein Auge, und diese sind von einer Art, die nach seiner früheren Erfahrung mit bestimmten Tastempfindungen in Beziehung steht wie auch mit dem Zeugnis anderer Leute, sie sähen ebenfalls einen Tisch. Aber nichts von alledem hat uns je zu dem Tisch selbst gebracht. Die Lichtwellen erzeugten Vorgänge in unserem Auge, und diese verursachten Vorgänge im Sehnerv, und diese wiederum verursachten Vorgänge im Gehirn. Jeder dieser Prozesse, wäre er ohne seine üblichen Vorgänger abgelaufen, [>162] hätte in uns die Empfindungen hervorgerufen, die wir »einen Tisch sehen« nennen, auch wenn es keinen Tisch gegeben hätte. (Natürlich muß, wenn Materie allgemein als eine Gruppe von Ereignissen interpretiert wird, dies auch für das Auge, den Sehnerv und das Gehirn gelten,) Was die Tastempfindung betrifft, die wir haben, wenn wir unsere Finger auf den Tisch drücken, so ist sie eine elektrische Störung der Anordnung von Elektronen und Protonen in unseren Fingerspitzen, die nach der modernen Physik hervorgerufen wird durch die Nähe der Elektronen und Protonen im Tisch. Wenn dieselben Störungen in unseren Fingerspitzen auf andere Art entstanden wären, so hätten wir die gleichen Empfindungen, obwohl kein Tisch da wäre. Das Zeugnis der anderen Leute ist offensichtlich eine Sache aus zweiter Hand. Einem Zeugen vor Gericht wäre es nicht erlaubt, auf die Frage, ob er irgendeinen Vorgang gesehen habe, zu antworten, er glaube es, weil andere ihn bezeugten. In jedem Fall besteht eine Zeugenaussage aus Schallwellen und verlangt ebenso physikalische Interpretation; ihr Zusammenhang mit dem Gegenstand ist deshalb sehr indirekt. Aus all diesen Gründen benutzen wir eine höchst abgekürzte Ausdrucksweise, wenn wir sagen, daß ein Mann >einen Tisch sieht<; darin sind höchst komplizierte und schwierige Schlüsse verborgen, deren Gültigkeit man sehr wohl in Frage stellen kann.

  •     Aber wir sind in Gefahr, uns in psychologische Fragen zu verwickeln, was wir möglichst vermeiden müssen. Wir wollen daher zum rein physikalischen Standpunkt zurückkehren."
      Kommentar: "Der gesunde Menschenverstand stellt sich vor, wenn er einen Tisch sieht, so sehe er einen Tisch. Das ist eine grobe Täuschung." (GMVkritisch). Einspruch, das ist wortklauberische Haarspalterei. Ein Tisch ist ein Tisch und das ist auch eine sinnvolle Prädikation im Alltag für den der GMV zuständig ist.




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1927, engl. 1921) Die Analyse des Geistes. Hamburg; Meiner.
    In dieser vor allem psychologisch sehr interessanten Arbeit von Russell wird neben dem gesunden Menschenverstand auch noch der gemeine Menschenverstand gebraucht.
     
  • S. 66-1 Der GMV liegt beim Begehren falsch :  "...  Das Unlustgefühl, das mit der unbefriedigten Begierde verbunden ist, sowie die Handlungen, welche auf die Befriedigung der Begierde abzielen, sind danach beide Folgen der Begierde. Man wird ehrlicherweise zugeben müssen, daß sich der gesunde Menschenverstand gegen diese Ansicht nicht auflehnt. Nichtsdestoweniger halte ich sie für durchaus falsch. Zwar kann man sie rein logisch nicht widerlegen, aber man kann verschiedene Tatsachen anführen, die sie immer weniger einfach und plausibel erscheinen lassen, bis schließlich ein Stadium erreicht wird, wo es leichter erscheint, sie ganz aufzugeben und die Sache von einer ganz anderen Seite anzupacken."
    1. Kommentar: Das ist eine klare Kritik (GMVkritisch) am GMV wie er das Begehren (GMVKriterium) interpretiert.
  • S. 66-2 Unbewusste Begierden : "Die erste Gruppe von Tatsachen, welche gegen die Meinung des gesunden Menschenverstandes über das Begehren angeführt werden kann, ist diejenige, welche von der Psychoanalyse erforscht wird. Bei allen Menschen, aber besonders ausgesprochen bei solchen, die an Hysterie oder gewissen Arten von Geisteskrankheit leiden, finden wir das, was wir „unbewußte“ Begierden nannten, und was gewöhnlich als ein Beweis von Selbsttäuschung angesehen wird. ... "
    1. Kommentar: Unbewusste Begierden ((GMVKriterium)) als Argument gegen die Interpretationen des GMV ((GMVkritisch).
  • S. 102 Uniformitaet der Abfolgen von Erscheinungen : "... Bei der gewöhnlichen physikalischen Verursachung, wie sie dem gesunden Menschenverstande erscheint, haben wir annähernde Uniformität in der Abfolge der Erscheinungen, wie z. B. „auf den Blitz folgt der Donner“ oder „auf den Rausch folgt das Kopfweh“ usw. Keine dieser Abfolgen ist theoretisch unveränderlich, denn es kann immer irgendein störender Umstand dazwischen kommen. Um unveränderliche physikalische Gesetze zu erhalten, müssen wir zu Differentialgleichungen übergehen, die die Richtung der Veränderung in jedem Augenblick anzeigen, nicht die Gesamtänderung in einem endlichen, wenn auch noch so kurzen, Zeitintervall. Aber für die Zwecke des täglichen Lebens können viele Abfolgen als völlig unveränderlich angesehen werden. Für das Verhalten der Menschen jedoch gilt dies durchaus nicht. Wenn man zu einem Deutschen sagt: „Sie haben Schmutz an Ihrer Nase“, so wird er ihn beseitigen, aber dieselbe Wirkung wird nicht eintreten, wenn man dasselbe zu einem Franzosen sagt, der kein Deutsch versteht. Die Wirkung der Worte auf den Hörer ist eine mnemische Erscheinung, denn sie hängt von seiner früheren Erfahrung ab, die ihm das Verständnis der Worte vermittelte. Wenn es rein psychologische Gesetze geben soll, in denen das Gehirn und der übrige Körper nicht Vorkommen, so werden sie nicht von der Form sein können: „X jetzt bewirkt Y jetzt“ sondern — [>103] „A, B, C . . . in der Vergangenheit zusammen mit X jetzt bewirken Y jetzt,“ Denn man kann nicht mit Erfolg die Behauptung verteidigen, daß z. B. unser Verstehen eines Wortes in unserem Geiste zu einer Zeit aktual existiert, wo wir nicht an das Wort denken. Es besteht nur in der Form, die man als „Disposition“ bezeichnen kann, d. h. es kann jedesmal hervorgerufen werden, wenn wir das Wort hören oder zufällig daran denken. Eine „Disposition“ ist aber nichts Aktuales, sondern nur der mnemische Teil eines mnemisch-kausalen Gesetzes.

  •     In einem solchen Gesetz wie „A, B, C . . . in der Vergangenheit zusammen mit X jetzt bewirken Y jetzt“, werden wir A, B, C . . . die mnemische Ursache, X die Gelegenheit oder den Reiz und Y die Reaktion nennen. Alle Fälle, in denen die Erfahrung das Verhalten beeinflußt, sind Beispiele von mnemischer Verursachung."
      Kommentar: Schwierige Textpassage. Dass Handlungsfolgen Erfahrung, Gedächtnis und Verständnis erfordern - und damit komplex sind - , dürfte Bestandteil des GMV sein. Mir wird nicht ganz klar, worauf Russell hier hinsichtlich des GMV hinaus will (GMV?). Ich glaube auch nicht, dass "mnemische Verursachung" ein stimmiges psychologisches Konzept für Handlungsabläufe ist. Im Beispiel Schmutz in Ihrer Nase ist das Gedächtnis als Ort des Verstehens eine notwendige Bedingung, aber nicht die Ursache.




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1967, engl. 1912) Probleme der Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp.
     
  • S. 14 Leugnung der Materie : "Der Philosoph, der zuerst mit allem Nachdruck die Gründe dafür vorgebracht hat, daß man unseren unmittelbaren Sinnesgegebenheiten keine von uns unabhängige Existenz zuschreiben dürfe, war Bischof Berkeley (1685-1753). In seinen Drei Dialogen zwischen Hylas und Philonous, gegen Skeptiker und Atheisten versucht er zu beweisen, daß es überhaupt keine Materie gibt und daß die Welt nur aus Wesen mit Bewußtsein bzw. »Geistern« (minds) und ihren Vorstellungen (ideas) besteht. Hylas (der Name leitet sich vom griechischen »Hyle«, Stoff, Materie, her) hat bisher an die Materie geglaubt, aber er ist Philonous (dem »Freund des Geistes«) nicht gewachsen, der ihn in der Debatte erbarmungslos in Widersprüche und Ungereimtheiten verwickelt, und der zu guter Letzt seine eigene Leugnung der Materie beinahe als eine normale Einsicht des gesunden Menschenverstandes erscheinen läßt. Berkeleys Argumente sind von unterschiedlicher Qualität: einige sind wichtig und zutreffend, andere verworren oder spitzfindig. Ihm bleibt jedoch das Verdienst, gezeigt zu haben, daß man die Existenz der Materie ohne Widerspruch leugnen kann und daß - wenn es Dinge gibt, die unabhängig von uns existieren - dies nicht die Dinge sein können, die uns in unseren Empfindungen unmittelbar gegeben sind."
    1. Kommentar: Eine Argumentation wird so überzeugend und schlüssig von Philonous (Berkeley) vorgetragen, dass sie als Ausdruck des GMV erscheint. Schlüssigkeit und Überzeugungskraft (GMVKriterium) können demnach als Kriterien für den GMV angesehen werden.
  • S. 29 Allgemeiner Raum - Entsprechung Wissenschaft und GMV : "Nun befinden sich aber unsere Sinnesdaten in unseren »Privaträumen«, entweder im Sehraum oder im Tastraum, oder in jenen verschwommeneren Raumgebilden, die es für die übrigen Sinne geben mag. Wenn es -  wie die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand annehmen - einen allgemein zugänglichen und allesumfassenden physikalischen Raum gibt, in dem sich die materiellen oder physikalischen Gegenstände befinden, dann müssen die räumlichen Beziehungen der physikalischen Gegenstände im physikalischen Raum den räumlichen Beziehungen der Sinnesdaten in unseren Privaträumen mehr oder weniger entsprechen. Diese Annahme kann man ohne Schwierigkeit machen. Wenn wir eine Straße entlangsehen und uns ein Haus näher erscheint als ein anderes, werden uns auch unsere anderen Sinne, diesen Umstand bestätigen. ..."
    1. Kommentar:  Dem GMV wird hier bei der Rauminterpretation (GMVKriterium) ein Wert zuerkannt (GMVwert).
  • S. 138 Vorurteile des GMV : "Der Wert der Philosophie besteht im Gegenteil gerade wesentlich in der Ungewißheit, die sie mit sich bringt. Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands, von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der überlegenden Vernunft in ihm gewachsen sind. So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich, selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber anfangen zu philosophieren - das haben wir ja in den ersten Kapiteln dieses Buches gesehen - führen selbst die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur sehr unvollständig beantworten kann. ..."
    1. Kommentar: Der GMV wird wegen seiner Vorurteile kritisiert (GMVkritisch), denen die Kontrolle durch die philosophische Vernunft fehlt.
  • S. 148 GMV grundlegende Orientierung : "... Bradley behauptete, daß alles, was der gesunde Menschenverstand glaubt, bloße Erscheinung sei. Wir fielen ins andere Extrem und glaubten, daß alles wirklich sei, was der von Philosophie und Theologie unbeeinflußte gesunde Menschenverstand für wirklich hält. Mit dem Gefühl, aus einem Gefängnis ausgebrochen zu sein, gestatteten wir uns zu denken, daß Gras grün ist, daß die Sonne und die Sterne auch existieren würden, wenn niemand sie sähe, und daß es außerdem auch eine pluralistische, zeitlose Welt der Ideen gäbe. Die Welt, die dünn und logisch gewesen war, wurde auf einmal reich, vielfältig und körperhaft«."
    1. Kommentar: Beispiele für den gesunden Menschenverstand (GMVKriterium). Russells Platonismus der Universalien und Abstrakta ("zeitlose Welt der Ideen") gehört ganz sicher nicht zum GMV. Die Welt wurde durch den GMV "reich, vielfältig und körperhaft" (GMVwert).


    Aus: Russell, Bertrand (dt. 2004, engl. 1926; 1.A. 1914 ) Unser Wissen von der Aussenwelt. Hamburg; Meiner.
     
  • S. 15f GMV verneint jeder Teil des Weltalls sei ein Mikrokosmos des Ganzen : "... Das Universum, so wird uns gesagt, ist ein „organisches Ganzes“, ähnlich einem Tier oder einem vollendeten Kunstwerk. Damit soll ungefähr gesagt werden, daß die verschiedenen Teile genau zueinander passen und zusammenwirken und daß erst ihre Stellung im Ganzen sie zu dem macht, was sie sind. Diese Ansicht finden wir manchmal in dogmatischer Weise ausgesprochen; während sie zu anderen Zeiten durch bestimmte logische Argumente gestützt erscheint. Wenn sie richtig ist, so ist [>16] jeder Teil des Weltalls ein Mikrokosmos, ein winziges Spiegelbild des Ganzen Nach dieser Lehre wüßten wir über alles Bescheid, wenn wir nur uns selbst genau genug kennen würden. Der gesunde Menschenverstand würde dem allerdings entgegenhalten, daß es Menschen gibt -  sagen wir in China -, mit denen uns nur so mittelbare und nichtssagende Beziehungen verknüpfen, daß wir über sie aus keiner uns betreffenden Tatsache irgend etwas von Wert oder Wichtigkeit ableiten können. ..."
    1. Kommentar: Die Verneinung des GMV, dass  jeder Teil des Weltalls ein Mikrokosmos des Ganzen ist, liefert ein inhaltliches Kriterium (GMVKriterium).
  • S. 31 Bergsons Ablehnung des GMV : "... Die Intuition - denn sie ist es, die den zweiten Weg beschreitet - ist nach Bergson jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft deren man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt.“2  Zur Erläuterung zieht er die Selbstkenntnis heran: „Es gibt eine Realität zum wenigsten, die wir alle von innen, durch Intuition und nicht durch bloße Analyse ergreifen. Es ist unsere eigene Person in ihrem Verlauf durch die Zeit. Es ist unser Ich, das dauert.“3  Der Rest von Bergsons Philosophie besteht darin, daß er - durch das unvollkommene Hilfsmittel der Sprache - von seinem durch Intuition erlangten Wissen Mitteilung macht und im Anschluß daran alles „vorgebliche Wissen“, das Wissenschaft und gesunder Menschenverstand liefern, in Grund und Boden verdammt."
    1. Kommentar: Ob die Unterstellung Bergsons, der GMV sei gegen Intuition und Einfühlung, mag bezweifelt werden. Aber man kann sagen, das Bergson seine Philsophie im Widerspruch zum GMV sieht (GMVKriterium).
  • S. 55f GMV Wissenschaft gleichgestellt : "Für den tiefer Blickenden aber haften dieser Art von Logik die Spuren ihres Ursprungs deutlich an, sie bleibt, um ein treffendes Wort von Santayana zu gebrauchen, „maliziös“ gegenüber der Welt der Wissenschaft und des gesunden Menschenver[>56]standes. Nur so können wir uns den Gleichmut erklären, mit dem viele Philosophen die Unvereinbarkeit ihrer Lehren mit wissenschaftlich begründeten Tatsachen hingenommen haben."
    1. Kommentar: Hier wird der GMV der Wissenschaft gleichgestellt (GMVvergl) und damit eine besondere Wertschätzung (GMVwert) ausgedrückt mit einer deutlichen Kritik an den Philosophen.
  • S. 75 GMV wendet Pruefregeln an, die die Philosophen vertiefen sollten : "... Der Philosoph ist leider nicht im Besitz einer besonders feinen, nur ihm zu Gebote stehenden Erkenntnismethode, die ihn in die Lage versetzen könnte, unser gesamtes Alltagswissen von höherer Warte aus zu beurteilen. Alles, was von ihm erwartet werden kann, ist eine kritische Prüfung und Säuberung dieses Wissens aufgrund der diesem Wissen selbst innewohnenden Kriterien - eine Untersuchung also, welche nach denselben Regeln verfährt, wie der gesunde Menschenverstand sie unbewußt auch anwendet, nur mit dem Unterschied, daß der Philosoph bei der bewußten Nachprüfung der Ergebnisse mit mehr Sorgfalt und Genauigkeit zu Werke geht. ..."
    1. Kommentar: Die Regeln des GMV werden zwar grundsätzlich anerkannt, aber sie sollten nach Russell sorgfältig und genauer untersucht werden. Das drückt einerseits eine differenzierte (GMVdiffer) und auch kritische (GMVkritisch) Haltung gegenüber dem GMV aus, wobei aber der grundsätzliche Wert (GMVwert) anerkannt ist.
       




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1923, engl. 1919) Einführung in die mathematische Philosophie.
    GMV in der Mathematik kein Beweismittel
  • S. 160f: "Die Grammatik ist eine deduktive Wissenschaft: sie geht von gewissen Prämissen aus und gelangt vermöge eines strengen, deduktiven Verfahrens zu den verschiedenen Sätzen, aus denen sie besteht. Früher waren freilich die mathematischen Deduktionen oft keineswegs streng; aber vollkommene Strenge ist auch ein kaum erreichbares Ideal. Trotzdem ist ein unstrenger mathematischer Beweis mangelhaft; man darf nicht mit der Ausrede kommen, daß dem gesunden Menschenverstand das Ergebnis richtig erscheint, denn wollten wir uns damit zufrieden geben, so wäre es besser, auf jede Beweisführung zu [>161] verzichten, als den gesunden Menschenverstand durch Schwindelmanöver zu retten. Kein Appell an den gesunden Menschenverstand oder an die „Anschauung“, sondern nur strenge deduktive Logik soll in der Mathematik vorkommen, nachdem einmal die Prämissen aufgestellt worden sind."
    1. Kommentar: Russelll unterstellt dem GMV (GMVkritisch) und kritisiert an ihm, dass er keine strenge Beweise analog der Mathematik kennt und anwendet. Strenge mathematische Beweise gehören aber ja gar nicht zum GMV, daher sollte man ihn deshalb auch nicht kritisieren. Ob die Mathematik, insbesondere die Geometrie, ohne Anschauung (GMVaugsch)  auskommen kann, bezweifle ich.




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1947, engl. 1938) Macht. Lizenzausgabe 1974 Wien: Europa-Verlag.
  • S. 213 Wirklichkeit und Wahrheit unabhaengig vom Willen : "Die Wirklichkeit dessen, was von meinem Willen unabhängig ist, ist für die Philosophie in der Konzeption der «Wahrheit» verankert. Die Wahrheit meines Glaubens ist nach der Ansicht des gesunden Menschenverstands in den meisten Fällen unabhängig von dem, was ich tun kann. Es ist wahr, daß, wenn ich glaube, daß ich morgen frühstücken werde, mein Glaube, wenn überhaupt, so wahr ist durch meine eigene zukünftige Entscheidung; wenn ich dagegen glaube, daß Cäsar an den Iden des März ermordet wurde, so liegt das, was meinen Glauben wahr macht, völlig außerhalb der Macht meines Willens. Die von Machtliebe angeregte Philosophie findet diese Situation unerfreulich und versucht daher auf verschiedenen Wegen, die übliche Konzeption der Tatsachen als Quellen von Wahrheit oder Unwahrheit in Ansichten zu unterminieren. Die Hegelianer behaupten, daß Wahrheit nicht auf der Übereinstimmung mit der Tatsache beruht, sondern auf der gegenseitigen Beständigkeit des ganzen Systems unserer Anschauungen. ..."
    1. Kommentar: Hier bestätigt Russell die Ansicht des GMV (GMVwert), dass Wirklichkeit und Wahrheit in den meisten Fällen unabhängig vom Willen sind (GMVKriterium).




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1953, engl. 1952) Wissenschaft wandelt das Leben. München: List.
     
  • S. 13f : Sieg über den Hexenglauben "Dieser Sieg der Menschlichkeit und des gesunden Menschenverstandes war voll und ganz der Verbreitung wissenschaftlicher Einsicht zuzuschreiben. Der Sieg ist nicht einem vereinzelten Argument zu verdanken, sondern es war eben eine ganze Denkweise, die vor dem Zeitalter des Rationalismus noch eine Selbstverständlichkeit gewesen war, zur Unmöglichkeit geworden. Allerdings war die Ausbreitung des Rationalismus zur Zeit Karls II. auch eine Art Reaktion gegen einen zu strengen Moralkodex der Vergangenheit."
    1. Kommentar: Nicht an teuflische Hexen glauben (GMVKriterium), die zu töten sind, wird der Menschlichkeit, dem GMV (GMVwert) und der Verbreitung wissenschaftlicher Einsichten zugeschrieben.
  • S. 41 Massenpsychologie und GMV : "Politisch wird wahrscheinlich die Massenpsychologie zur wichtigsten Disziplin werden. Wissenschaftlich gesehen ist die Massenpsychologie noch kein vollentwickeltes Fach, und soweit ihre Lehrkräfte nicht von den Universitäten stammten, waren sie Werbefachleute, Politiker und vor allem Diktatoren. Es handelt sich um ein Studium, das von erheblicher Bedeutung für den Praktiker, also für solche Leute ist, die entweder reich werden oder an die Regierung kommen wollen. Als Wissenschaft baut es natürlich auf der Individualpsychologie auf, aber bisher waren die über den Daumen gepeilten Methoden der Massenpsychologie in einer Art intuitivem gesundem Menschenverstand zu Hause. Das Aufkommen der modernen Propagandamethoden hat ihre Bedeutung wesentlich gesteigert. Die wichtigste dieser Methoden heißt angeblich „Erziehung“. Auch die Religion spielt eine, wenn auch verschwindende, Presse und Rundfunk eine an Bedeutung zunehmende Rolle."
    1. Kommentar: Die Bedeutung (GMVwert) der Massenpsychologie für die Propaganda wird dem intuiven gesunden Menschenverstand (GMVintuitiv) zugeschrieben.
  • S. 99f Tatsachen und GMV : "Die dritte Anziehungskraft des Pragmatismus, - die sich nicht ganz von der zweiten trennen läßt - ist der Wille zur Macht. Vielfältige Wünsche haben die Mensehen: Sinnesfreuden, ästhetische Freuden, Freuden der Betrachtung, persönliche Neigungen - und Macht. Im Einzelwesen kann jeder dieser Wünsche über die anderen triumphieren. Ist die Machtliebe obenan, dann steht man mit Marx auf dem Standpunkt, es sei nicht wichtig, die Welt zu verstehen, wenn man sie nur verändert. Die traditionellen Wissenstheorien wurden von Menschen entwickelt, die das Kontemplative liebten — Mönchsgeschmack, sagen die Anhänger des modernen Mechanis-[>100]mus. Der.Mechanismus vermehrt die Macht des Menschen ins Ungeheure. Deshalb fühlt sich die Machtliebe von diesem Aspekt der Wissenschaft angezogen. Und wenn Macht alles sein soll, was man von der Wissenschaft verlangt; dann verleiht uns die Theorie der Pragmatiker auch alles Erforderliche und verzichtet auf belanglose Zutaten. Sie gibt sogar mehr, als man erwarten durfte, denn wenn man die Polizei beherrscht, verleiht sie die gottgleiche Macht, Wahrheit zu setzen. Zwar kann man die Sonne nicht zu Eis machen, aber man kann dem Satz „die Sonne ist kalt“ eine pragmatische „Wahrheit“ verleihen, indem man jeden liquidiert, der ihn bestreitet. Auch ein Zeus hat kaum mehr vermocht.

  •     Diese Techniker-Philosophie, wie man sie nennen könnte, unterscheidet sich vom gesunden Menschenverstand und von den meisten anderen Philosophien durch ihre Ablehnung der „Tatsache“ als eines grundlegenden Begriffes zur Bestimmung, der „Wahrheit“. Wenn man z. B. sagt: „Der Südpol ist kalt“, dann behauptet man etwas, das nach der traditionellen Anschauung kraft einer Tatsache, nämlich des kalten Südpols, „wahr“ ist. Und dies ist eine Tatsache, nicht, weil die Leute daran glauben, und nicht, weil es vorteilhaft wäre, daran zu glauben, sondern weil es eben: eine Tatsache ist*. In den Tatsachen, die nichts über menschliche Wesen und ihr Tun aussagen, verkörpert sich die Begrenztheit der menschlichen Macht. ..."
    * bei Russell gesperrt geschrieben
      Kommentar: Pragmatisch-technokratisch-dikatorische Setzungen von "Wahrheit" sind nicht im GMV verankert und kommen nicht aus diesem. Damit ist ein klares Abgrenzungskriterium (GMVKriterium) formuliert.




    Russell, Bertrand (dt. 1963, engl. 1961) Hat der Mensch noch eine Zukunft. München: Kindler.
  • S. 125f Gesunder Verstand : "Und wozu das alles? Wir müssen damit rechnen, daß rivalisierende Gruppen russischer Kommissare und amerikanischer Seesoldaten unter gewaltigem Kostenaufwand zum Mond fliegen und sich dort ein paar Tage am Leben erhalten, während sie aufeinander Jagd machen. Haben sie einander gefunden, werden sie einander ausrotten. Jedes Lager wird von der Ausrottung des Gegners hören und große Festlichkeiten anordnen, um den ruhmreichen Sieg zu feiern. Solchen kosmisch absurden Tragödien führen uns die Staatsmänner der Welt entgegen. Vielleicht — nur vielleicht — dürfen wir uns vorstellen, daß ihnen, wenn ihre Phantasie dem Flug durch die himmlischen Weiten folgt, ein Fünkchen gesunder Verstand oder einfacher Menschlichkeit durch den Kopf zuckt und sie sich darüber einigen, es sei besser, unsere irdischen Zwistigkeiten nicht auch noch durchs Weltall zu tragen und glücklicheren Wesen, die auf anderen Planeten hausen mögen, unsere Dummheit und Verkommenheit vorzuführen."
    1. Kommentar: "Gesunder Verstand" werte ich hier als gleichwertig zu "gesundem Menschenverstand". Der Ausdruck wird hier wertschätzend (GMVwert) im Sinne humanitärer Vernunft (GMVvernunft) gebraucht.




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1974, engl. 1957) Warum ich kein Christ bin. München: Czczesny.
  • S. 106 Ende gut, alles gut Regel GMV : "Aber im Ernst. Der Gefühlswert einer Lehre als Trost im Unglück scheint von ihrer Voraussage der Zukunft abzuhängen. Rein gefühlsmäßig ist die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit oder selbst die Gegenwart, »Ende gut, alles gut« ist die übereinstimmende Erklärung des gesunden Menschenverstandes. ..."
    1. Kommentar: Kriterium (GMVKriterium) für eine Bewertungsregel des GMV (GMVons): Ende gut, alles gut, die Russell dem GMV zuordnet.




    Russell, Bertrand (dt. 1988, engl. 1954) Moral und Politik. Frankfurt: Fischer (Philosophie).
     
  • S. 183 GMV Menschengeschlecht zur Abwendung der Katastrophe : "... Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs werden so schnell wie möglich Wasserstoffbomben hergestellt, und beiderseits hofft man, daß sie die Entscheidung herbeiführen werden. Bis jetzt sehen die Machthaber, die die Politik der Völker bestimmen, keine andere Möglichkeit als dieses Wettrennen auf den gemeinsamen Selbstmord zu. Besitzt denn das Menschengeschlecht nicht soviel gesunden Menschenverstand, um diese Katastrophe, die von niemand gewollt wird, abzuwenden? Die Schwierigkeit ist die, daß trotz aller Unerwünschtheit dieses Ergebnisses die Maßnahmen zu seiner Verhütung den eingefleischten Denkgewohnheiten so zuwiderlaufen, daß es sehr schwer ist, die Menschen von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. So schwer, daß wohl noch eine Reihe von Jahren vergehen wird, bis die notwendige geistige Wandlung eingetreten ist; bis dahin können wir nur hoffen, daß sich der Ausbruch eines dritten Weltkriegs durch solche Notbehelfe und Auswege verhüten läßt, wie sie sich ab und an als zweckmäßig zu erweisen scheinen. ..."
    1. Kommentar: Diese Formulierung ist insofern besonderes interessant, weil einem abstrakten Konstrukt, dem ganzen Menschengeschlecht, ein GMV (GMVons) unterstellt wird.




    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1980, engl. 1930 ) Eroberung des Glücks. Neue Wege zu einer besseren Lebensgestaltung. Frankfurt: Suhrkamp.
     
  • S. 112f GMV fuer das Interesse zustaendig : "In all diesen Fällen ist der lebensbejahende Mensch dem andern gegenüber im Vorteil. Selbst unliebsame Ereignisse macht er sich nutzbar. So ist es mir lieb, den Geruch einer chinesischen Menschenmenge und den eines sizilianischen Dorfes kennengelernt zu haben, obwohl ich nicht behaupten möchte, daß beides seinerzeit besonders genußreich für mich war. Leute mit Abenteuersinn finden vielleicht Vergnügen an Schiffbrüchen, Meutereien, Erdbeben und Bränden, vorausgesetzt, daß ihre Gesundheit dabei verschont bleibt. »Also das ist ein Erdbeben!« sagen sie sich wohl bei solch einer Gelegenheit und freuen sich, ihre Weltkenntnis [>113] wieder um ein Stück bereichert zu haben. Es wäre aber falsch, anzunehmen  daß solche Menschen unabhängig vom Schicksal seien; würden sie ihre Gesundheit einbüßen, so verlören sie höchstwahrscheinlich zugleich auch ihre Lebensfreudigkeit, wenn es auch keineswegs so sein muß. Ich habe es erlebt, wie Menschen in langen Jahren qualvoll dahinstarben und dennoch ihre Lebensfreudigkeit fast bis zum letzten Augenblick behielten. Gewisse Formen zerrütteter Gesundheit nehmen dem Menschen die Lebensfreudigkeit, andere nicht. Ich weiß nicht, ob die Biochemiker bereits imstande sind, diese Arten zu unterscheiden. Vielleicht kommen wir mit den Fortschritten der Biochemie einmal so weit, Tabletten einzunehmen, die uns das Interesse an der Welt sichern; bis jener Tag aber anbricht, muß sich unsere Beobachtung auf das verlassen, was dem gesunden Menschenverstand nach dafür verantwortlich ist, daß manche Menschen sich für alles, andere für gar nichts interessieren."
    1. Kommentar: Um das herauszufinden, sollte man eigentlich die Psychologie befragen können. Aber das "Interesse" spielt dort bislang leider eine ziemlich untergeordnete Rolle. Die Zuweisung des Interesses an den GMV bedeutet natürlich eine besondere Wertschätzung (GMVwert).


    Common Sense
    Aus: Russell, Bertrand (1940) An Inquiry into Meaning and Truth. Harmondsworth: Pelican 1962 ff.
    Unsere Übersetzungen sind mit Vorsicht zu genießen, wir haben daher den Originaltext beigegeben. In diesem Werk wird der GMV durchweg kritisch gesehen.

    p. 110a Wahrnehmungen durch die Sinne für GMV offensichtlich
     
    THE word 'perception’ is one which philosophers, at an early stage, took over, somewhat uncritically, from common sense. Theaetetus, when Socrates asks him for a definition of ‘knowledge’, suggests that knowledge is perception. Socrates persuades him to abandon this definition, mainly on the ground that percepts are transient, whereas true knowledge must be of something eternal; but he does not question the occurrence of perception conceived as a relation between subject and object. To common sense it seems obvious that we perceive ‘things’, at any rate with the senses of sight and touch. Sight may, on occasion, be misleading, as in the case of Macbeth’s dagger, but touch never. An ‘object’ is etymologically something thrown up in my way: if I run into a post in the dark, I am persuaded that I perceive an ‘object’, and do not merely have a self-centred experience. This is the view implied in Dr Johnson’s refutation of Berkeley.
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    Das Wort "Wahrnehmung" ist eines, das Philosophen, in einer früheren Entwicklungsphase etwas unkritisch vom gesunden Menschenverstand übernahmen.  Theaetetus, wenn Sokrates ihn nach einer Definition von "Wissen" fragt, schlug vor, Wissen sei Wahrnehmung. Sokrates überredet ihn, diese Definition aufzugeben.  hauptsächlich aus dem Grund, weil Wahrnehmungen vorübergehend sind, wohingegen wahres Wissen etwas Beständiges sein muss; aber er stellt das Vorkommen der Wahrnehmung, die als Beziehung zwischen Subjekt und Objekt konzipiert ist, nicht in Frage. Für den gesunden Menschenverstand ist es offensichtlich, dass wir jedenfalls mit unseren Sinnen, durch Sehen und Berühren, Dinge wahrnehmen. Manchmal kann die Sichtweise irreführend sein, wie im Fall von Macbeths Dolch, aber bei Berührung nie. Ein "Objekt" ist etymologisch etwas, das sich mir in den Weg stellt: Wenn ich in den Dunkelheit in einem Park gegen einen Pfosten renne, bin ich davon überzeugt, dass ich ein "Objekt" wahrgenommen und nicht nur eine egozentrisches Erfahrung gemacht habe. Diese Ansicht, impliziert Dr. Johnsons Widerlegung von Berkeley.
     

      Kommentar: Hier wird der GMV kritisch gesehen (GMVkritisch), insbesondere die naive Gleichsetzung (GMVKriterium) von Wahrnehmung und Realität.
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    p. 110b Weitere Problematisierung des GMV bei der Wahrnehmung
     
    From various points of view, this common sense theory of perception has been called in question. The Cartesians denied interaction between mind and matter, and could not therefore admit that, when my body runs into a post, this event is the cause of the mental occurrence which we call ‘perceiving the post’. From such a theory it was natural to pass either to psychophysical parallelism, or to Malebranche’s doctrine that we see all things in God, or to Leibniz’s monads which all suffer simultaneous similar but systematically differing illusions called ‘mirroring the universe’. In all these systems, however, there was felt to be something fantastic, and only philosophers with a long training in absurdity could succeed in believing them.
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    Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wurde die Theorie der Wahrnehmung des gesunden Menschenstandes in Frage gestellt. Kartesianer haben eine Wechselwirkung zwischen Geist und Materie verneint und konnten nicht zugeben, wenn mein Körper gegen einen Pfosten rennt, dass dieses Ereignis der Grund für die mentale Erscheinung 'den Pfosten wahrnehmen' ist. Für eine solche Theorie war es natürlich, entweder einen psychophysischen Parallelismus oder entsprechend Malebranches Lehre - alle Dinge in Gott - oder Leibnizens Monaden, die alle gleichzeitig Ähnliches erlitten, aber mit systematisch sich unterscheidenden Trugbildern, Spiegelung des Universums, einhergingen. In all diesen Systemen, jedoch war manches phantastisch und nur Philosophen mit einem langen Training in Absurditäten und mit einer langen Ausbildung konnten erfolgreich an sie glauben. 
      Kommentar: Hier wird zitiert, dass die Theorie der Wahrnehmung (GMVKriterium) des GMV aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch gesehen (GMVkritisch) wird.
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    p. 110c,f  Der Angriff der Wissenschaft auf die Wahrnehmungslehre des GMV
     
    A much more serious attack on the common sense theory of perception has come from science, through study of the causes of sensations. The first impact of this attack upon the opinions [> 111] of philosophers led to Locke’s doctrine that the secondary qualities are subjective. Berkeley’s denial of matter is derived in part, though not mainly, from the scientific theories of light and sound. In the later British empiricists, the scientific transformation of common sense doctrines of perception becomes increasingly important. J. S. Mill’s definition of ‘matter’ as ‘a permanent possibility of sensation’ results from a combination of science and Berkeley. So does the doctrine of the materialists, sanctified throughout the U.S.S.R. by the authority of Lenin, that ‘matter’ is ‘the cause of sensations’.
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    Ein viel ernsthafterer Angriff auf die Wahrnehmungs- theorie des gesunden Menschenverstand kam aus der Wissenschaft, durch das Studium der Ursachen von Empfindungen. Die erste Auswirkung dieses Angriffs auf die Meinungen von Philosophen führte zu Lockes Lehre, dass die sekundären Qualitäten subjektiv sind. Berkeleys Leugnung der Materie wurde, wenn nicht hauptsächlich, so doch teilweise von den wissenschaftlichen Theorien des Lichtes und Schalls abgeleitet. Bei den späteren britischen Empiristen, wurde die wissenschaftliche Transformation der Lehre des gesunden Menschenverstandes zur  Wahrnehmung,  immer wichtiger. J. S. Mills Definition von 'Materie' als "eine dauerhafte Möglichkeit von Empfindung' ergibt sich aus einer Kombination von Wissenschaft und Berkeley. So auch die Doktrin der Materialisten, in der U.S.S.R. durch die Autorität von Lenin, dass 'Materie' die 'Ursache der Empfindungen' ist.
     
      Kommentar: Hier wird der ernsthaftere Angriff durch die Wissenschaft auf den GMV angeführt (GMVkritisch), besonders durch das Studium der Ursachen der Empfindungen (GMVKriterium).
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    p. 131  Die Wahrnehmung geht über den aktuellen Wahrnehmungsmoment nicht hinaus
     
    As to (2): the judgements that common sense bases upon perception, such as ‘there is a dog’, usually go beyond the present datum, and may therefore be refuted by subsequent evidence. We cannot know, from perception alone, anything about other times or about the perceptions of others or about bodies understood in an impersonal sense. That is why, in the search for data, we are driven to analysis: we are seeking a core which is logically independent of other occurrences. When you think you see a dog, what is really given in perception may be expressed in the words ‘there is a canoid patch of colour’. No previous or subsequent occurrence, and no experience of others, can prove the falsehood of this proposition. It is true that, in the sense in which we infer eclipses, there can be evidence against a present judgement of perception, but this evidence is inductive and merely probable, and cannot stand against ‘the evidence of the senses ’. When we have analysed a judgement of perception in this way, we are left with something which cannot be proved to be false.
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    Zu (2): die Urteile, die der gesunde Menschen- verstand auf die Wahrnehmung stützt, wie "da ist ein Hund", geht in der Regel über die gegenwärtigen Daten  hinaus und kann daher widerlegt werden durch nach- folgende Beweise. Wir können nicht wissen aus der Wahrnehmung alleine über die Zeiten hinweg oder über die Wahrnehmungen anderer oder über Körper verstehen in einer unpersönlichen Art und Weise. Deshalb, auf der Suche nach Daten, werden wir zur Analyse veranlasst:  wir suchen nach einem Kern, der logisch unabhängig ist von anderen Erscheinungen. Wenn du denkst, du siehst einen Hund, der wirklich in der Wahrnehmung gegeben ist, kann das in den Worten ausgedrückt werden: 'da ist ein farbiger, hundeartiger Fleck'. Kein vorheriges oder nachfolgendes Auftreten, und keine Erfahrung von anderen, kann die Falschheit dieser Aussage beweisen.  Es ist wahr, dass in dem Sinne, wie wir Sonnenfinster- nisse, erschließen, dass es Beweise gegen ein Wahrneh- mungsurteil geben kann, aber diese Beweise sind induktiv und  nur wahrscheinlich, und können nicht gegen die Beweise der Sinne stehen. Wenn wir ein Wahrnehmungs- urteil auf diese Weise analysiert haben, dann bleibt etwas, das nicht als falsch bewiesen werden kann. 
      Kommentar: Schwierige methodologische Erörterung. Weshalb ein einfaches Wahrnehmungsurteil wie "da ist ein Hund" (GMVaugsch) über die gegenwärtige Daten hinaus gehen soll, wird nicht weiter erklärt oder begründet. Der Tenor wirkt einerseits kritisch (GMVkritisch), andernseits wird der Sinnenwahrnehmung Beweiskraft (GMVwert) zuerkannt.
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    p. 211 1:1 Relation der GMV zwischen Wahrnehmung und Sachverhalt
     
    But when a sentence goes beyond present experience, it must involve at least one apparent variable. If, for the moment, we adhere as closely as logic will permit to the metaphysic of common sense, we shall say that, when I experience a percept a, there is a one-one relation S between some ‘thing’ and a, the ‘thing' being what I should commonly be said to be perceiving. E.g. let a be a canoid patch of colour; then Sca is the dog that I say I am seeing when I experience a. When I say ‘this dog is ten years old’, I am making a statement about Sca, which involves apparent variables. If my statement is true, there is a c such that [>212] c = Sca; in this case, what I indicate is ‘c is ten years old’, or rather, is what makes this true.
        But this is, as yet, very unsatisfactory. In the first place, the sentence ‘c is ten years old’ can never be pronounced, because the proper name c does not occur in my vocabulary. In the second place, for the same reason, I can never have a belief expressible in this sentence. In the third place, we decided that sentences are nothing but expressions of beliefs. In the fourth place, I made, above, the hypothesis that the sentence ‘this dog is ten years old’ was ‘true’, and so far we have not defined the ‘truth' of sentences which contain apparent variables, as this sentence does.
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    Aber wenn ein Satz über die gegenwärtige Erfahrung hinausgeht, dann muss er mindestens eine offensichtliche  Variable beinhalten. Wenn wir uns für einen Moment so eng an die Logik halten, wie es die Metaphysik des gesunden Menschenverstandes zulässt, werden wir sagen, wenn ich eine Wahrnehmung a erlebe, es gibt eine Eins-Eins-Beziehung S zwischen etwas 'Ding' und a, von einem existierenden 'Ding', kann ich allgemein sagen, es sei eine Wahrnehmung. Z.B. wenn a ein canoider  Farbfleck ist; dann ist Sca der Hund, von dem ich sage, dass ich ihn sehe, wenn ich a erfahre. Wenn ich sage 'dieser Hund ist zehn Jahre alt ', mache ich eine Aussage über Sca, welche offensichtliche Variablen einschließt.  Wenn meine Aussage wahr ist, dann gibt es ein c, so dass [> 212] c = Sca; in diesem Fall das ist, worauf ich hinweise, dass 'c ist zehn Jahre alt' ist oder genauer gesagt das ist, was die Aussage zu einer wahren macht. 
       Aber das ist bisher noch sehr unbefriedigend. Erstens kann der Satz 'c ist zehn Jahre alt' niemals ausgesprochen werden, weil der Eigenname c in meinem Wortschatz nicht vorkommt. Zweitens kann ich aus dem gleichen Grund mit diesem Satz niemals eine Überzeugung ausdrücken. Drittens haben wir entschieden, dass Sätze nichts anderes sind  als Ausdrücke von Überzeugungen. Viertens habe ich oben die Hypothese, dass der Satz "dieser Hund ist zehn Jahre alt" wahr ist, aber bis jetzt haben wir die "Wahrheit" von Sätzen nicht definiert, die offensichtliche   Variablen enthalten, wie dieser Satz.
     
      Kommentar: Schwierige methodologische Erörterung.
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    p. 281 Glauben und Wissen
     
    I am not now concerned with common sense reasons for doubt, such as mirrors, auditory hallucinations, etc. I am willing to suppose that everything happened as we naturally think it did, and even, to avoid irrelevances, that in all similar cases it has so happened. In that case, my beliefs as to the causal antecedents of my belief that Jones is in the neighbourhood are true. But true belief is not the same thing as knowledge. If I am about to become a father, I may believe, on grounds of astrology, that the child will be a boy, when the time comes, it may turn out to be a boy; but I cannot be said to have known that it would be a boy.
    The question is: is the true belief in the above causal chain any better than the true belief based on astrology?
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    Ich kümmere mich jetzt nicht um Gründe für Zweifel des gesunden Menschenverstandes etwa bei Spiegeln, akustischen Halluzinationen, etc. Ich bin bereit zuzugeben,  dass alles, was so geschieht, wie wir es natürlich denken,  und sogar, um Irrelevanzen zu vermeiden, dass in allen ähnlichen Fällen, es so geschehen ist. In diesem Fall ist mein Glaube wie an die kausalen Vorhergehenden wie an  Jones ist in der Nachbarschaft wahr. Aber wahrer Glaube ist nicht dasselbe wie Wissen. Wenn ich kurz davor bin, Vater zu werden, kann ich aufgrund der Astrologie glauben,  dass das Kind ein Junge sein wird, und wenn die Zeit gekommen ist, kann es sich erweisen, dass es ein Junge ist; aber es kann von mir nicht gesagt werden, dass ich wusste, dass es ein Junge sein würde. Die Frage ist: ist die Überzeugung in die obige Kausalkette irgendwie besser als die Überzeugung, die auf Astrologie basiert?
      Kommentar: Es wird nicht so recht klar, was Russell nun hinsichtlich Glauben und Wissen am GMV kritisieren möchte.
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    p. 284 Kritik am GMV: keine Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Realität.
     
    It must be understood that I am not discussing any inference performed by common sense. Common sense believes in naive realism, and makes no distinction between physical and perceptual space. Many philosophers, although they have realized that naive realism is untenable, nevertheless retain some opinions logically connected with it, more particularly in this matter of different kinds of space. The question that I am discussing is this: having realized all that is implied in the rejection of naive realism, how can we enunciate the hypothesis that there is physical space, and what sort of principle would (if true) justify us in believing this hypothesis?
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    Es muss verstanden werden, dass ich keine Schlussfolgerungen, die mit dem gesunden Menschenverstand durchgeführt wurde, diskutiere. Gesunder Menschenverstand glaubt an naiven Realismus und macht keinen Unterschied zwischen physischem und wahrnehmbarem Raum. Viele Philosophen, obwohl sie erkannt haben, dass dieser naive Realismus unhaltbar ist, verbinden dennoch logische Meinungen mit dieser Frage nach den verschiedenen Räumen. Die Frage, die ich diskutiere, ist folgende:  Wurde realisiert, was alles impliziert ist mit der Ablehnung des naiven Realismus, wie können wir die Hypothese behaupten, dass es physischen Raum gibt, und welche Art von Prinzip würde uns (wenn es wahr ist) berechtigen, dies Hypothese zu glauben?
     
      Kommentar: Wenn Russells Unterstellung richtig wäre, dass der GMV nicht zwischen physischem und wahrnehmbaren Raum unterschiede (GMVKriterium), dann kritisierte er zu Recht (GMVkritisch). Aber GMV ist nicht gleich GMV, es gibt sicher mannigfache Stufen und Varianten bis hin zum aufgeklärten GMV. 
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    Gebrauchsbeispiele gewoehnlicher Menschenverstand
    Aus Russell, Bertrand (1950) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle. Das Buch ist sehr interessant, weil es um Wissen geht. Der gewöhnliche Menschenverstand hat keinen Sachregistereintrag. Man muss die Stellen suchen.
     
  • S. 100 Gewoehnlicher Menschenverstand : "Können zwei Personen dasselbe »dies« erleben und, wenn ja, unter welchen Umständen? Ich glaube diese Frage läßt sich durch logische Erwägungen nicht entscheiden: a priori wäre jede Antwort möglich. Nimmt man aber die Frage empirisch, so hat sie eine bestimmte Antwort. Wenn das fragliche »dies« das ist, was der gewöhnliche Menschenverstand als Wahrnehmung eines physikalischen Gegenstandes ansieht, so macht schon der Unterschied der Perspektive einen Unterschied in den Wahrnehmungen unvermeidlich, wenn dasselbe physische Objekt in diesen zwei Fällen betrachtet wird. Zwei Menschen, die einen Baum ansehen oder dem Gesang eines Vogels lauschen, haben etwas unterschiedliche Wahrnehmungen. Wohingegen zwei Personen, die auf verschiedene Bäume blicken, theoretisch genommen genau gleichartige Wahrnehmungen haben könnten, obwohl das sehr unwahrscheinlich wäre. ..."
    1. Kommentar: Ob der Ausdruck gewöhnlicher Menschenverstand  mit gesundem Menschenverstand (GMVgew) gleichgesetzt werden darf, ist ungeklärt (GMV?).
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    Gebrauchsbeispiele Gemeiner Menschenverstand
    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1927, engl. 1921) Die Analyse des Geistes. Hamburg; Meiner.
    Die Frage ist hier, ob gemeiner MV dem gesunden  MV gleichzusetzen ist, was ich bejahen möchte wofür besonders die Textpassage S. 214 spricht in der sowohl gemeiner als auch gesunder MV vorkommen.
     
  • S. 119 Herkunft von einem Objekt : "... Wir kommen also zu dem Schluß, daß, wenn ein bestimmter Stern an einem bestimmten Orte sichtbar ist oder mittels einer hinreichend empfindlichen Platte photographiert werden könnte, dort etwas vor sich geht, was mit diesem Stern speziell zusammenhängt. Es muß daher an jedem Orte uud zu jeder Zeit eine ungeheuere Menge von Vorgängen stattfinden, nämlich mindestens einer für jeden physischen Gegenstand, der von diesem Orte aus gesehen oder photographiert werden kann. Wir können diese Vorgänge nach zwei Prinzipien klassifizieren:

  • 1. Wir können alle diejenigen Vorgänge zusammenfassen, die an einem und demselben Orte stattfinden, wie das, soweit das Licht in Betracht kommt, durch die Photographie geschieht.
    2. Wir können alle diejenigen Vorgänge zusammenfassen, die untereinander denjenigen Zusammenhang aufweisen, den der gemeine Menschenverstand auf die Herkunft von einem und demselben Objekt zurückführt. Wir können also, um zu unseren Sternen zurückzukehren, entweder zusammenfassen: [>120]
    1. alle Erscheinungen verschiedener Sterne an einem Orte oder
    2. alle Erscheinungen desselben Sternes an verschiedenen Orten."
      Kommentar: Schwierige Textpassage für gemeinen MV. Nach der Darstellung Russells scheint der gemeine MV nur eine von zwei Möglichkeiten vorzusehen und das wäre kritisch (GMVkritisch) zu bewerten. Andererseits ist die Frage, ob die Spur einer Lichterscheinung auf ein oder mehrere Objekte zurückkgeht, keine Frage des gemeinen MV im Alltag. Das sind Fragen der Wissenschaft, an Astronomie und Astrophysik.
  • S. 121 Physischer Gegenstand und gemeiner MV :  "Nach der von mir vertretenen Auffassung ist ein physischer Gegenstand oder ein Stück Materie die Gesamtheit aller der durch Korrelation verbundenen Elemente, die der gemeine Menschenverstand als seine Wirkungen oder Erscheinungen an verschiedenen Orten ansehen würde. Andererseits stellen alle Vorgänge an einem bestimmten Orte das dar, was der gemeine  Menschenverstand als die Erscheinungen einer Anzahl verschiedener Objekte ansehen würde, die von diesem Platze aus wahrgenommen werden. Ich will die Ansicht der Welt von einem bestimmten Orte aus eine „Perspektive“ nennen. Eine Photographie stellt eine Perspektive dar. Wenn andererseits Photographien von den Sternen von allen Stellen des Baumes aus aufgenommen würden und aus allen solchen Photographien ein bestimmter Stem, sagen wir Sirius, wenn er erscheint, herausgenommen würde, so würden alle diese Erscheinungen des Sirius zusammen den Sirius bilden. Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Psychologie und Physik ist es wesentlich, daß man diese beiden Arten, Elemente zusammenzufassen, versteht, nämlich:
    1. 1. nach der Stelle, an welcher sie vorkommen;
      2. nach dem System von durch Korrelation verbundenen Elementen an verschiedenen Orten, zu dem sie gehören, wobei ein solches System als ein physischer Gegenstand definiert ist."
          Kommentar: Schwierige Textpassage für den gemeinen MV, letztlich unklar (GMV?).
  • S. 134 Erkenntnisvorgang und gemeiner MV : "... Nach dieser Ansicht gehört zu jedem einzelnen Erkenntnisvorgang sowohl ein Inhalt als ein Gegenstand, wobei der Inhalt seinem Wesen nach psychisch ist, während der Gegenstand physisch ist, außer bei der inneren Wahrnehmung und beim abstrakten Denken. Ich habe diese Ansicht bereits kritisiert und will mich bei ihr jetzt nicht weiter aufhalten, sondern nur sagen, daß mir der Ausdruck „der Vorgang, durch den Gegenstände erkannt werden“ sehr leicht zu Mißverständnissen Anlaß geben zu können scheint. Wenn wir im Sinne des gemeinen Menschenverstandes sagen, wir „sehen einen Tisch“, so ist der Tisch als physischer Gegenstand nicht das „Objekt“ unserer Wahrnehmung (im Sinne der Psychologie). Unsere Wahrnehmung setzt sich zusammen aus Empfindungen, Vorstellungen und Überzeugungen, der angenommene Gegenstand hingegen ist etwas Erschlossenes, das mit dem Vorgang in uns in einer äußeren Beziehung steht und nicht logisch mit ihm verbunden ist.  ..."
    1. Kommentar: Die Passage klingt kritisch für den gemeinen oder gesunden MV (GMVkritisch). Der gemeine MV wie der GMV unterstellen, dass die Wahrnehmung eines Tisches ein entsprechend physikalisches Objekt in der Außenwelt annimmt ("Erschlossenes"). Das ist für den Alltag nicht zu kritisieren, auch wenn es sich wissenschaftlich natürlich viel genauer analysieren und darstellen lässt. Im Alltag "ist" ein Tisch ein Tisch, für den GMV wie für den Physiker.
  • S. 214 Erfassen des Identischen am Beispiel Gesicht eines Freundes: "Der zweite Punkt ist der, daß wenn wir etwas wiedererkennen, wir in Wirklichkeit nicht genau dasselbe Ding wiedererkennen, sondern nur ein demjenigen ähnliches, das wir bei der früheren Gelegenheit erlebten. Wir wollen annehmen, der fragliche Gegenstand sei das Angesicht eines Freundes. Das Angesicht einer Person ist in ständigem Wechsel begriffen und ist nie bei zwei Gelegenheiten genau dasselbe. Der gemeine Menschenverstand behandelt es als dasselbe Gesicht mit verschiedenem Ausdruck; aber was wirklich existiert, jedes zu seiner Zeit, das sind die verschiedenen Gesichtsausdrücke, während das eine Gesicht nur eine logische Konstruktion ist. Für die Zwecke des gemeinen Menschenverstandes betrachten wir zwei Gegenstände als identisch, wenn die von ihnen hervorgerufene Reaktion praktisch dieselbe ist. Zwei visuelle Erscheinungen, auf die beide der Ausruf paßt: „Hallo, Jones!" werden als Erscheinungen eines identischen Gegenstandes, nämlich Jones behandelt. Der Name Jones ist auf beide anwendbar, und erst die Reflexion zeigt uns, daß viele verschiedene Elemente in der Bedeutung des Namens „Jones" zusammengefaßt sind? Was wir bei einer bestimmten Gelegenheit sehen, ist nicht die ganze Reihe von Elementen, aus der Jones besteht, sondern nur eines von ihnen (oder wenige in rascher Aufeinanderfolge). Bei einer anderen Gelegenheit sehen wir ein anderes Glied der Reihe, aber es ist den früheren ähnlich genug, um vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes als dasselbe gerechnet zu werden. Wenn wir demnach urteilen „Ich habe
  • früher gesehen", so urteilen wir falsch, wenn „dies" [>215] den aktuellen Bestandteil der Welt bezeichnen soll, den wir in diesem Augenblick sehen. Das Wort „dies“ muß unbestimmt genommen werden, so daß es alles umfaßt, was dem, was wir augenblicklich sehen, hinreichend gleich ist. ..."
    1. Kommentar: Hier formuliert Russell eine Identifizierungsregel des gemeinen und gesunden MV. Ein Gegenstand wird identisch angesehen, wenn er die sehr ähnliche, praktisch dieselben Reaktionen hervorruft (GMVKriterium).




    Gebrauchsbeispiele Nuechterner Menschenverstand

    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1991, engl. 1959) Denker des Abendlandes (wisdom of the west). Überarbeitete Ausgabe von 1976. München: dtv. Hier ist unklar, ob der nüchterne MV dem GMV gleichgesetzt werden darf.
     

  • S. 58 : Zenos Argumentationshilfe "Die eleatische Lehre führt - wie schon früher gezeigt - zu sehr überraschenden Schlußfolgerungen. Daher wurden viele Versuche unternommen, die materialistische Doktrin aufzufrischen. Was Zeno zeigen wollte, ist, daß - sofern sich der Eleatismus vor dem nüchternen Menschenverstand nicht behaupten kann - auch die Gegenlehren nicht aus der Sackgasse heraus-, sondern in noch seltsamere Schwierigkeiten hineingeraten. Statt Parmenides nur zu verteidigen, griff er daher direkt die Standpunkte seiner Gegner an. Davon ausgehend, pflegte er durch deduktive Argumente nachzuweisen, daß sie unmögliche Folgen nach sich ziehen. So konnte die ursprüngliche Annahme nicht mehr aufrechterhalten werden und war in der Tat vernichtet."
    1. Kommentar:  Hier wird der nüchterne MV mit der Methode Zenos verglichen (GMVvergl), die Russell als überlegen darstellt.
  • S. 298 f Berkeley und der nüchterne MV sind unvereinbar : "Die Grundthese der Philosophie Berkeleys ist, daß sein und wahrgenommen werden dasselbe sei. Diese Formel [>299] schien ihm derart selbstevident, daß er seinen weniger überzeugten Zeitgenossen nicht erklären konnte, was er damit eigentlich meinte. Denn diese Formel steht auf den ersten Blick mit dem nüchternen Menschenverstand auf Kriegsfuß. Niemand denkt normalerweise, daß Objekte, die er wahrnimmt, in seinem Geist sind. Der springende Punkt, den Berkeley neben allem andern berührt, ist, daß vom empirischen Gesichtspunkt aus, den Locke wohl gepredigt, aber nicht immer folgerichtig ausgeübt hat, in der Idee des Objekts ein Irrtum liegt. Ob aber Berkeleys eigene Theorie letzten Endes ein sicheres Mittel gegen diese Schwierigkeiten ist, das ist freilich eine andere Frage. Allerdings muß daran erinnert werden, daß uns Berkeley nicht mit esoterischen Rätseln mystifizieren will, sondern gewisse Unstimmigkeiten bei Locke zu tilgen sucht. Das gelingt Ihm vollkommen. ..."
    1. Kommentar: Zum nüchternen MV gehört wie zum GMV vielfach bemerkt die Annahme einer Außenwelt (GMVKriterium). Russell thematisiert Berkeleys Grundthese, das Sein und Wahrgenommes eins sei.
  • S. 380 f Ganzes groesser als der Teil beim nüchternen MV: "Das zahlenmäßig Unendliche hatte seit Zenos Zeiten und seinen Paradoxen immer wieder Kummer gemacht. Wenn wir uns an den Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte erinnern, so um auf einen der vielen kniffligen Punkte dieses Wettbewerbs hinzuweisen: Für jeden Platz, den [>381] Achilles erreicht, gibt es einen andern, den die Schildkröte entnimmt. Das heißt, die zwei Läufer erreichen zu jeder Zeit eine gleiche Anzahl von Stationen. Nur legt Achilles offensichtlich eine größere Strecke zurück. Das scheint dem nüchternen Menschenverstand zu entsprechen, daß das Ganze größer ist als der Teil. Wenn wir uns aber mit den unendlichen Mengen befassen, dann ist das nicht mehr so. ..."
    1. Kommentar:  Dass das Ganze größer als ein Teil ist (GMVKriterium) kann als inhaltliches Kriterium des nüchternen MV gewertet werden.




    Gebrauchsbeispielmenschlicher Verstand ohne nähere Erläuterung
    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1991, engl. 1959) Denker des Abendlandes (wisdom of the west). Überarbeitete Ausgabe von 1976. München: dtv.
  • S. 280d Zwei logische Prinzipien als Grundaxiome : "In seiner logischen Auffassung gab Leibniz viele Hinweise, die seine Metaphysik, wenn nicht einleuchtend, so doch leichter verständlich machen. Beginnen wir mit der Tatsache, daß Leibniz die aristotelische Subjekt-Prädikat-Logik übernahm. Zwei allgemeine logische Prinzipien dienen hier als Grundaxiome. Das erste ist der  Satz vom Widerspruch  wonach von zwei sich widersprechenden Behauptungen eine wahr, die andere falsch sein muß. Das andere ist der schon erwähnte Satz vom zureichenden Grunde, nach dem der jeweilige Stand der Tatsachen aus zureichenden hervorgegangenen Gründen folgt. Wenden wir diese zwei Prinzipien auf analytische Sätze im Sinne von Leibniz an, das heißt auf solche Behauptungen, in denen das Subjekt das Prädikat schon in sich enthält, wie zum Beispiel »alle Metallmünzen sind metallisch«, so wird aus dem Satz vom Widerspruch ersichtlich, daß alle solchen Behauptungen wahr sind, während der  Satz vom zureichenden Grunde  zu der Ansicht führt, daß alle wahren Behauptungen, zureichend begründet, analytisch sind, obwohl nur Gott sie auf diese Weise betrachten kann. Dem menschlichen Verstand scheinen solche Wahrheiten zufällig zu sein. Hier sehen wir, wie auch bei Spinoza, den Versuch eines Angriffs auf das Idealprogramm der Wissenschaft. Denn was der Wissenschaftler mit seinen Theorien versucht, ist, das Zufällige zu begreifen und so darzustellen, daß es als Folge eines Sachverhaltes und [>281] daher als notwendig erscheint. Gott allein ist im Besitz einer vollkommenen Wissenschaft, und deswegen sieht er alles im Lichte der Notwendigkeit."
    1. Kommentar: Schwierige Textpassage, die den menschlichen Verstand kritisch (GMVkritisch) sieht ("Dem menschlichen Verstand scheinen solche Wahrheiten zufällig zu sein.") Von  der Formulierung her könnte Russell mit menschlichem Verstand etwas anderes meinen als den GMV, obwohl man in der obigen Textpassage den menschlichen Verstand auch als GMV interpretieren könnte. Der Sinn der Aussage ändert sich für mich nicht, wenn Russell geschrieben hätte: Dem gesunden Menschenverstand scheinen solche Wahrheiten zufällig zu sein.
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    Exkurs: Gebrauchsbeispiele Typus Mensch

    Aus: Russell, Bertrand. (dt. 1947, engl. 1938) Macht (Power) Wien: Europa-Verlag.
    Gebrauchsbeispiel wissenschaftlicher Mensch
    Aus: Russell, Bertrand (dt. 1963, engl. 1961) Hat der Mensch noch eine Zukunft? München: Kindler.

  • S. 79 Kann der wissenschaftliche Mensch weiterleben : "Angenommen, daß die Menschen auch weiterhin die wissenschaftliche Technik beherrschen: Welche Auswege aus der Gefahr völliger Vernichtung stehen ihnen offen? Wir schränken jetzt unsere Fragestellung ein. Wir fragen nicht: »Kann der Mensch weiterleben?«!, sondern wir fragen: »Kann der wissenschaftliche Mensch weiterleben?« Dabei handelt es sich nicht nur um die Frage, ob er die nächsten zehn oder sogar die nächsten hundert Jahre überleben werde. Er könnte ohne weiteres mit Hilfe verschiedener Notmaßnahmen und durch glückliche Zufälle äußerst gefährliche Perioden überdauern. Aber auf das Glück darf man sich nicht ewig verlassen, und die Gefahren, die man duldet, werden sich früher oder später rächen.

  •     Aus diesen Gründen muß man es leider für so gut wie sicher halten, daß der wissenschaftliche Mensch, wenn die heutige internationale Anarchie bestehen bleibt, sich auf die Dauer nicht behaupten wird. Solange bewaffnete Streitkräfte unter dem Befehl einzelner Völker oder Völkergruppen stehen, die nicht stark genug sind, um eine unbestrittene Weltherrschaft auszuüben, ist es fast [>80] sicher, daß früher oder später ein Krieg kommen wird, und solange die wissenschaftliche Technik besteht, wird der Krieg immer verheerender werden. Es zeichnen sich bereits Möglichkeiten ab, vor denen sogar die Anhänger der Wasserstoffbombe zurückschrecken. Die »Weltuntergangsmaschine«, die uns alle ausrotten würde, könnte bereits in der Entstehung begriffen sein. ..."
      Kommentar: Was der wissenschaftliche Mensch sein soll, wird von Russell nicht erklärt. Naheliegend ist, dass Russell den  wissenschaftlich gebildeten Menschen meint oder die Wissenschaftler selber.
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    Gebrauchsbeispiel denkender Mensch
    Aus: Russell, Bertrand (dt.1971, engl. 1918) Wege zur Freiheit, Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus (dt.1971, engl. 1918)
  • S. 113 Frieden und Gleichberechtigung : "Es lassen sich hauptsächlich zwei Zwecke bestimmen, denen internationale Beziehungen dienen: erstens, Krieg zu vermeiden, zweitens, die Unterdrückung schwacher Nationen durch starke zu verhindern. Die beiden Zwecke müssen nicht unbedingt zum gleichen Ergebnis führen, da einer der einfachsten Wege zur Sicherung des Weltfriedens ein Bündnis der mächtigsten Staaten zur Ausbeutung und Unterdrückung der übrigen wäre. Doch diese Methode kann kein denkender Mensch gutheißen. Wir müssen beide Ziele beachten und dürfen uns nicht mit einem allein begnügen."
    1. Kommentar: Mit "denkender Mensch" ist offenbar ein ethisch und verantwortlich denkender Mensch gemeint.
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    Gebrauchsbeispiel vernuenftiger Mensch
    Aus: Russell, Bertrand (dt.1971, engl. 1918) Wege zur Freiheit, Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus (dt.1971, engl. 1918)
  • S. 143 Die meisten haben keine Chance auf ein gutes Leben : "Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein vernünftiger Mensch [>144] noch daran zweifeln kann, daß die negativen Begleiterscheinungen der Machtausübung in ihrer gegenwärtigen Form erheblich stärker sind als es zu rechtfertigen ist, noch daran, daß sie durch eine angemessene Form von Sozialismus deutlich verringert werden könnten, Nur wenige Menschen befinden sich wirklich in der glücklichen Lage, von ihrem Renten- oder Zinseinkommen frei leben zu können. Sie würden unter einem anderen System kaum mehr Freiheit genießen. Aber die überwiegende Mehrheit aller Schichten von Lohnempfängern und selbst der freien Berufe - nicht nur die ganz Armen - sind sklavisch auf den Gelderwerb angewiesen. Fast alle sind dazu verdammt, so hart zu arbeiten, daß ihnen kaum Zeit für Erholung oder zu irgendeiner Betätigung außerhalb ihrer eigentlichen Berufsarbeit bleibt. Und wer in der Lage ist, sich gegen Ende des mittleren Lebensabschnitts zur Ruhe zu setzen, ist meist abgestumpft, da er nicht gelernt hat, seine Freizeit sinnvoll zu nutzen, und die Interessen, die ihn früher einmal neben seiner Berufsarbeit anregten, sind inzwischen geschrumpft. ..."
    1. Kommentar: Ein vernünftiger Mensch ist nach Russell offenbar einer, der die soziale Realität der Lebensverhältnisse sieht, die für die meisten ein freies und gutes Leben unmöglich macht.


    Gebrauchsbeispiel naiver Mensch
    Aus: Russell, Bertrand (dt. 2004, engl. 1926; 1.A. 1914 ) Unser Wissen von der Aussenwelt. Hamburg; Meiner.

  • S. 96 Ansichten des naiven Menschen : "Wenn wir von den Ansichten des naiven Menschen ausgehen, so ergibt sich der Begriff des Dinges-an-sich ganz natürlich aus den Schwierigkeiten infolge der wechselnden Erscheinungsart, also des verschiedenen Aussehens dessen, was als ein und derselbe Gegenstand angesehen wird. Es wird angenommen, der Tisch etwa rufe unsere Sinnesdaten, in diesem Fall Gesichts- und Tastempfindungen, hervor; da diese Empfindungen sich aber je nach Gesichtspunkt und dazwischen befindlichem Medium ändern, muß er etwas von den durch ihn hervorgerufenen Sinnesdaten völlig Verschiedenes sein. Ein sehr viel schwerwiegender Einwand entsteht dieser Theorie meines Erachtens aus dem Umstand, daß sie nicht verdeutlicht, von wie grundlegender Natur die Verbesserungen sind, welche die Überwindung der von ihr selbst aufgezeigten Schwierigkeiten zur Voraussetzung hat. Wir sind nicht befugt, von Veränderungen des Gesichtspunktes und des dazwischenliegenden Mediums zu sprechen, ehe es uns gelungen ist, eine Welt von größerer Beständigkeit als die der momentanen Sinnesempfindung aufzubauen. Unsere Erörterung über die blaue Brille und den Gang um den Tisch herum hat dies, so hoffe ich wenigstens, zur Genüge klar gemacht. Alles andere als klar ist zunächst aber noch die Art der notwendigen Verbesserungen."
    1. Kommentar: Hier ist nicht klar, ob Ansichten des naiven Menschen solche des GMV sind. Jedenfalls ist Russells Stellungnahme kritisch (GMVkritisch), wenn sie auch etwas fundamentalistisch wirkt. Weshalb sollte ein "naiver" r Mensch im Alltag seinen Sinnesdaten nicht trauen, z.B. da kommt ein Auto, hier steht ein Tisch, ich verspüre etwas Hunger, morgen wird die Sonne wieder aufgehen, ...?
  • S. 101  : "Wir sind nunmehr imstande, die momentanen „Dinge“ des naiven Menschen im Gegensatz zu ihren momentanen Erscheinungsformen zu definieren. Aufgrund der Ähnlichkeit benachbarter Perspektiven können viele Gegenstände der einen Perspektive mit Gegenständen der anderen in Beziehung gebracht werden, nämlich mit Gegenständen, die ihnen ähnlich sind. Wenn man zu einem gegebenen Gegenstand in einer Perspektive das System aller Gegenstände konstruiert, die in allen Perspektiven mit ihm in Beziehung gebracht werden können, so haben wir in diesem System das momentane „Ding“ des naiven Menschen. Danach ist ein Anblick eines „Dinges“ ein Glied jenes Systems von Erscheinungsformen, das in dem gegebenen Augenblick mit dem „Ding“ identisch ist. Das Aufeinanderbeziehen der Zeiten verschiedener Perspektiven begegnet noch gewissen Schwierigkeiten, deren Lösung in der Relativitätstheorie versucht wird; für unsere Zwecke können wir aber davon absehen, uns näher mit diesem Punkt zu beschäftigen. Alle Ansichten eines Dinges sind wirklich, das Ding selbst ist dagegen bloß eine logische Konstruktion. Es hat aber den großen Vorzug, daß es gegenüber den verschiedenen Gesichtspunkten neutral ist und von vielen Personen gesehen werden kann - in dem einzigen Sinne, in dem es überhaupt gesehen werden kann, nämlich, indem jeder eine von seinen Ansichten wahmimmt."
    1. Kommentar: Hier ist nicht klar, ob Ansichten des naiven Menschen solche des GMV sind.
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    Exkurs Gebrauchsbeispiele Durchschnittsbuerger und Durchschnittsmensch (Quelle Russell)
    Anmerkung: In dem Buch Macht referiert Russell öfter auf den "Durchschnittsbürger" (S. 114, 118, 240, 242) oder "Durchschnittsmenschen"  (S. 14, 40). Was Russell genau unter Durschnittsbürger, Durchschnittsmensch oder dem  Durchschnitt  versteht, erläutert er nicht genau und muss intuitiv im Sinne des GMV gedeutet werden. Das könnte im engeren Sinne der häufigste Träger des GMV sein. Auch von einem  durchschnittlichen Aktieninhaber (S. 240) ist díe Rede.
     
      Durchschnittsbuerger
    • S. 114: "Es ist leicht, einen Fall zur Begründung der Ansicht zu finden, daß die Meinung allmächtig ist und alle anderen Formen der Macht sich von ihr ableiten. Heere sind nutzlos, wenn die Soldaten nicht an die Sache glauben, für die sie kämpfen, oder, im Falle von Söldnern, kein Zutrauen zur Fähigkeit ihres Kommandanten haben, sie zum Siege zu führen. Das Gesetz ist machtlos, wenn es nicht allgemein geachtet wird. Wirtschaftliche Einrichtungen hängen von der Achtung vor dem Gesetz ab; überlegen wir zum Beispiel, was im Bankwesen geschehen würde, wenn der Durchschnittsbürger nichts gegen die Falschmünzerei einzuwenden hätte. Religiöse Ansichten haben sich oft als machtvoller als der Staat erwiesen. Wenn in irgendeinem Land die große Mehrheit für den Sozialismus wäre, würde der Kapitalismus nicht mehr funktionieren. Aus diesen Gründen könnte man sagen, daß Meinung die grundlegende Macht in gesellschaftlichen Dingen darstellt."
      1. Kommentar: Was Russell genau unter Durschnittsbürger, Durchschnittsmensch oder dem  Durchschnitt  versteht, erläutert er nicht genau und muss intuitiv im Sinne des GMV gedeutet werden.
    • S. 118: "... Einer der Vorteile der Demokratie vom Regierungsstandpunkt aus besteht darin, daß der Durchschnittsbürger leichter zu enttäuschen ist, da er die Regierung als die seinige betrachtet."
      1. Kommentar: Was Russell genau unter Durschnittsbürger, Durchschnittsmensch oder dem  Durchschnitt  versteht, erläutert er nicht genau und muss intuitiv im Sinne des GMV gedeutet werden.
    • S. 240: "Die Situation ändert sich in keiner Weise wesentlich, wenn der Staat die Stelle des Verbandes einnimmt; da es der Umfang des Verbandes ist, der die Hilflosigkeit des durchschnittlichen Aktieninhabers verursacht, ist in der Tat der Durchschnittsbürger dem Staat gegenüber noch hilfloser. ..."
      1. Kommentar: Was Russell genau unter Durschnittsbürger, Durchschnittsmensch oder dem  Durchschnitt  versteht, erläutert er nicht genau und muss intuitiv im Sinne des GMV gedeutet werden.
    • S. 242: "Daher ist die Demokratie nicht allein wesentlich, wenn Staatsbesitz und Staatskontrolle in wirtschaftlichen Unternehmen für den Durchschnittsbürger irgendwie vorteilhaft sein sollen, sondern sie wird auch eine wirksame Demokratie sein müssen, und das wird schwieriger sein, als es heute ist, weil die Beamtenklasse, wenn sie nicht sorgfältig überwacht wird, die Macht in sich vereinen wird, die heute Regierung und führende Männer der Industrie und Finanz besitzen, und da die Mittel der Agitation gegen die Regierung von der Regierung selbst geliefert werden müssen - denn sie ist ja der einzige Besitzer von Sälen, Papier und allen sonstigen Propagandamitteln."
      1. Kommentar: Was Russell genau unter Durschnittsbürger, Durchschnittsmensch oder dem  Durchschnitt  versteht, erläutert er nicht genau und muss intuitiv im Sinne des GMV gedeutet werden.


      Durchschnittsmensch
      Der Durchschnittsmensch wird nicht näher erläutert. Man sollte ihn daher mit dem GMV interpretieren dürfen.

    • S. 14: "... Der Charakter mancher Menschen führt sie immer zum Kommando, andere immer zum Gehorsam; zwischen diesen Extremen liegt die Masse der Durchschnittsmenschen, die in gewissen Situationen zu befehlen lieben, aber in anderen vorziehen, sich einem Führer unterzuordnen."
      1. Kommentar: Damit sind wahrscheinlich Menschen gemeint, die durch keine besonderen Merkmale oder Extreme hervorstechen ("Normalbürger", "Otto Normalverbraucher")
    • S. 40: "... Derartige Menschen haben unvermeidlich, selbst in den modernsten Regierungsformen, eine bedeutende Macht in Ämtern, die vom Durchschnittsmenschen für mysteriös angesehen werden. In unserer Zeit betreffen die wichtigsten dieser Ämter Währung und Außenpolitik. ..."
      1. Kommentar: Man kann dieser Fundstelle entnehmen, dass der Durchschnittsmensch nicht besonders mächtig ist.


      Durchschnittlicher Aktieninhaber

    • S. 240-1: " ...Als ich 1896 zum erstenmal die Vereinigten Staaten besuchte, verblüffte mich die enorme Zahl von bankrotten Eisenbahnen; als ich der Sache nachging, fand ich, daß dieser Umstand nicht der Unfähigkeit der Direktoren, sondern ihrer Geschicklichkeit zuzuschreiben war: die Investierungen der durchschnittlichen Aktieninhaber waren durch diesen oder jenen Trick auf andere Kompanien übertragen worden, an denen die Direktoren stark interessiert waren. Das war eine brutale Methode, und heutzutage faßt man die Dinge vorsichtiger an, das Prinzip aber bleibt dasselbe. In jedem großen Verband ist die Macht notwendigerweise weniger verteilt als der Besitz und bringt Vorteile mit sich, die, obwohl zunächst politischer Natur, in unbegrenztem Ausmaß zu Quellen des Reichtums werden können. Der kleine Geldgeber kann höflich und legal beraubt werden; die einzige Grenze besteht darin, daß seine Erfahrungen nicht so böse sein dürfen, daß er schließlich seine zukünftigen Ersparnisse in den Strumpf steckt."
      1. Kommentar: Hier sind offensichtlich KleinanlegerInnen gemeint.
    • S. 240-2: "Die Situation ändert sich in keiner Weise wesentlich, wenn der Staat die Stelle des Verbandes einnimmt; da es der Umfang des Verbandes ist, der die Hilflosigkeit des durchschnittlichen Aktieninhabers verursacht, ist in der Tat der Durchschnittsbürger dem Staat gegenüber noch hilfloser.  ..."
      1. Kommentar: Hier sind wohl AnlegerInnen gemeint, die durch keine besonderen Merkmale hervorstechen, in der Regel im Feld der Aktienanlage durch die eher geringe Anzahl der Aktien, die sie halten.
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    Literatur (Auswahl) Allgemein zum gesunden Menschenverstand  ..." []
    Russell hat sehr viele Bücher geschrieben, eine fast vollständige Bibliographie  [The impact of science on society 1952, dt. 1953 fehlt] seiner Werke findet man in der Rowohlt-Monographie, ein Teil wurde auch ins Deutsche übersetzt, wovon wieder ein Teil hier ausgewertet wurde. Man muss die Stellen suchen, weil mit Aussnahme (S. 224 in Das menschliche Wissen und Inquiry ... ) keine entsprechenden Sachregistereinträge vorliegen.
    • Russell, Bertrand (dt.1967, engl. 1912)  Probleme der Philosophie. Frankfurt: Suhrkamp.
    • Russell, Bertrand (dt.1971, engl. 1918) Moral und Politik. Frankfurt: Fischer (Philosophie).
    • Russell, Bertrand (dt.1971, engl. 1918)Wege zur Freiheit, Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus. Frankfurt: Suhrkamp.
    • Russell, Bertrand (dt. 1923, engl. 1919) Einführung in die mathematische Philosophie. Darmstadt, Genf: Holle Verlag.
    • Russell, Bertrand (dt. 1927, engl. 1921) Die Analyse des Geistes.Hamburg: Meiner.
    • Russell, Bertrand (dt. 2004, engl. 1926; 1. A. 1914) Unser Wissen von der Außenwelt. Hamburg; Meiner.
    • Russell, Bertrand (dt. 1947, engl. 1938) Macht. Lizensausgabe 1974 Wien: Europa-Verlag.
    • Russell, Bertrand (1940) An Inquiry into Meaning and Truth. Harmondsworth: Pelican 1962 ff.
    • Russell, Bertrand (dt. 1950, engl. 1948) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle.
    • Russell, Bertrand (dt. 1953, engl. 1952) Wissenschaft wandelt das Leben. München: List.
    • Russell, Bertrand (dt. 1974, engl. 1957) Warum ich kein Christ bin. München: Szczesny Verlag.
    • Russell, Bertrand (dt. 1972, engl. 1958; 1969) Das ABC der Relativitätstheorie. Reinbek: Rowohlt.
    • Russell, Bertrand (dt. 1991, engl. 1959) Denker des Abendlandes (wisdom of the west). Überarbeitete Ausgabe von 1976. München: dtv.
    • Russell, Bertrand (dt. 1963, engl. 1961) Hat der Mensch noch eine Zukunft? München: Kindler.
    • Russell, Bertrand (1940) An Inquiry into Meaning and Truth. Harmondsworth: Pelican 1962 ff.
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    Links (Auswahl: beachte) > Hauptseite.
    Hier werden nur Links erfasst, die sich mit dem gesunden Menschenverstand in der Mathematik befassen.

    • Kritische Anmerkungen zur Sprache und Didaktik der Mathematik.
    • Zahlen.
    • Die Sprache der Mathematik: Metamathematische Hilfsbegriffe.
    • Die Sprache der Mathematik am Beispiel Kommutativität.
    • Die Sprache der Mathematik am Beispiel zählen.
    • Die Sprache der Mathematik am Beispiel komplexe & imaginäre Zahlen.
    • Was ist ein Dreieck?
    • Naleph-Phantasien. Ein heuristischer Ansatz zur Unterscheidung von Unendlichkeiten aus naiv mathematischer Perspektive orientiert an den Erwartungen natürlicher Intuition - Wie oder was zählen wir eigentlich?
    • Cantor Diagonalverfahren I Probleme. Unklarheiten, Paradoxes, Widersprüchliches mit Zählen, Anzahlen und den Mächtigkeiten im Endlich-Unendlichen aus der Sicht eines mathematischen Laien.
    • Unendlich. Vorstellungen, Metaphern, Analogien, Begriffe, Kennzeichnungen, Definitionen. Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche.
    • Materialien zur Kontroverse um "das" Unendliche.
    • Beweis und beweisen in der Mathematik.
    • Geschichte des Grundlagenstreits in der Mathematik unter besonderer Einbeziehung einiger Arbeiten zur Entwicklung der Mengenlehre und mathematischen Logik aus der Perspektive eines mathematisch interessierten Laien.




    Glossar, Anmerkungen und Fußnoten > Eigener wissenschaftlicher Standort.
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    Canoid
    "waren hundeähnliche wilde Tiere, die von Corellia und Dellalt gelebt haben. Sie hatten einen Greifschwanz und nadelnähnliche Zähne." [Quelle]
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    Internetseite
    Um die häufige und lästige Fehlermeldung 404 zu minimieren, geben wir nur noch Links von Quellen an, die in den letzten Jahrzehnten eine hohe Stabilität ihrer URL-Adressen gezeigt haben (z.B. Wikipedia, DER SPIEGEL)
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    Satz vom zureichenden Grunde
    Kurz und bündig: Nichts geschieht ohne zureichenden Grund. Oder: Alles und jedes hat einen Grund. Das  Wörterbuch der Logik sagt: "Satz vom zureichenden Grund [lex rationis determinants sive sufficients lat.]: einer der vier Sätze der formalen Logik, nach dem jeder wahre Gedanke durch andere Gedanken begründet werden muß, deren Wahrheit bewiesen ist. Die Entdeckung des S.es v. z. G. wird LEIBNIZ zugeschrieben. ... Aber LEIBNIZ hatte bereits Vorgänger, z. B. LEUKIPP und DEMOKRIT, die die erste Formulierung des S.es v. z. G. gaben. Sie sagten: kein Ding entsteht ohne Ursache, alles entsteht aus irgendeinem Grunde und mit Notwendigkeit. ..." So auch Schopenhauer (1813) im § 9 seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde: "LEIBNIZ hat zuerst den Satz vom Grunde als einen Hauptgrundsatz aller Erkenntnis und Wissenschaft förmlich aufgestellt. Er proklamiert ihn an vielen Stellen seiner Werke sehr pomphaft, tut gar wichtig damit und stellt sich, als ob er ihn erst erfunden hätte; jedoch weiß er von demselben nichts weiter zu sagen, als nur immer, daß alles und jedes einen zureichenden Grund haben muß, warum es so und nicht anders sei; was die Welt denn doch wohl auch vor ihm gewußt haben wird. Die Unterscheidung der zwei Hauptbedeutungen desselben deutet er dabei gelegentlich zwar an, hat sie jedoch nicht ausdrücklich hervorgehoben, noch auch sonst sie irgendwo deutlich erörtert. Die Hauptstelle ist in seinen  principiis philosophiae  § 32, und ein wenig besser in der französischen Bearbeitung derselben, überschrieben  Monadologie.  [...] - womit zu vergleichen  Theodicee  § 44 und der 5. Brief an CLARKE, § 125."
        Eisler führt in seinem philosophischen Wörterbuch aus (Quelle  Internetseite  Textlog, Abruf 03.08.2018): "Grunde, Satz vom (zureichenden) (»principium rationis sufficientis«) ist ein Denkgesetz (s. d.), eine Denknorm, welche für jeden Gedanken, jedes Urteil einen Grund, d.h. einen gültigen Satz fordert, durch den die Notwendigkeit des fraglichen Urteils sich rechtfertigt. Das (logische) Denken geht auf Zusammenhang und Folgerichtigkeit (Konsequenz) der Denkakte aus, der Satz vom Grunde gibt der Forderung des logischen Zusammenhanges, der Konsequenz (die schließlich auf der Einheit des Ich beruht) Ausdruck. Unbegründet darf nichts behauptet werden, soll dem Wahrheitswillen Genüge geschehen.
        Der Satz vom Grunde wird bald logisch und ontologisch, bald rein logisch formuliert, in ontologischer Form (zugleich als Kausalgesetz) besonders in früheren Zeiten. So bei PLATO: anankaion, panta ta gignomena dia tina aitian gignesthai (Phileb.); pan de to gignomenon hyp' aition tinos ex anankês gignesthai. panti gar adynaton chôris aitiou genesin schein (Tim. 28 A). Ferner bei ARISTOTELES: pasôn men oun koinon tôn archôn, to prôton einai, hothen ê estin ê ginetai ê gignôsketai (Met. I, 1). So auch bei den Stoikern: malista men kai prôton einai doxeie, to mêden anaitiôs gignesthai, alla kata proêgoumenas aitias (Plut., De fato).
        DESCARTES erklärt: »Nulla res existit, de qua non possit quaeri, quaenam sit causa, cur existat« (Resp. ad II. obiect., ax. I). Und SPINOZA: »Notandum, dari necessario uniuscuiusque rei existentis certam aliquam causam, propter quam existit« (Eth. I, prop. VIII). Die Bedeutung des Satzes vom Grunde betont aber erst LEIBNIZ. Der Satz bedarf keines Beweises (5. Brief an Clarke 125). Er bezieht sich auf empirische Wahrheiten, dient zur logischen Verarbeitung von Erfahrungsinhalten (3. Brief an Clarke, Erdm. p. 751). Dazu ist nötig eine »raison suffisante, pour qu'une chose existe, qu'un événement arrive, qu'une vérité ait lieu« (Gerh. VII, 419), »raison suffisante, en vertu duquel nous considérons qu'aucun fait ne saurait se trouver vrai ou existant, aucune énonciation véritable, sans qu'il y ait une raison suffisante, pourquoi il en soit ainsi et non pas autrement« (Monadol. 32; vgl. Theod. I, § 44). Nach CHR. WOLF ist der Satz vom Grunde »menti nostrae naturale« (Ontol. § 74). Er lautet: »Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit, quam non sit« (l.c. § 70). »Alles, was ist, hat seinen zureichenden Grund, warum es vielmehr ist, als nicht ist« (Vern. Ged. I, § 928). »Da nun unmöglich ist, daß aus nichts etwas werden kann, so muß auch alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas sein, daraus man verstehen kann, warum es wirklich werden kann« (l.c. I, § 30). Gegen Wolf polemisiert CRUSIUS, Diss. philos. de usu et limit. princip. ration. determin. 1743. FEDER unterscheidet vom metaphysischen Satze des Grundes (Log. u. Met. S. 265 ff.) den »logischen Grundsatz vom zureichenden Grunde«, »daß wir ohne Grund nichts für wahr halten können und sollen« (l.c. S. 269). Das »Prinzip der Folge« stellt BAUMGARTEN auf: Nichts ist ohne ein Begründetes, alles hat seine Folge.
        KANT formuliert: »Nihil est verum sine ratione determinante« (Princ. pr. cogn. sct. II, prop. V). Der Satz: »alle Dinge haben ihren Grund«, d.h. »alles existiert nur als Folge, d. i. abhängig, seiner Bestimmung nach, von etwas anderem« gilt ausnahmslos nur von den Dingen als Erscheinungen (Üb. e. Entdeck. S. 33). Es ist eine apriorische Regel, »daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d. i. notwendigerweise) folgt«. »Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund möglicher Erfahrung, nämlich der objektiven Erkenntnis der Erscheinungen, in Ansehung des Verhältnisses derselben in der Reihenfolge der Zeit« (Kr. d. r. Vern. S. 189). Dieser Satz hat folgenden Beweisgrund: »Zu aller empirischen Erkenntnis gehört die Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft, die jederzeit successiv ist, d. i. die Vorstellungen folgen in ihr jederzeit aufeinander. Die Folge aber ist in der Einbildungskraft der Ordnung nach (was vorgehen und was folgen müsse) gar nicht bestimmt, und die Reihe der einen der folgenden Vorstellungen kann ebenso rückwärts als vorwärts genommen werden. Ist aber diese Synthesis eine Synthesis der Apprehension (des Mannigfaltigen einer gegebenen Erscheinung), so ist die Ordnung im Objekt bestimmt, oder, genauer zu reden, es ist darin eine Ordnung der successiven Synthesis, die ein Objekt bestimmt, nach welcher etwas notwendig vorausgehen und, wenn dieses gesetzt ist, das andere notwendig folgen müsse« (l.c. S. 189 f.). Nach a. E. SCHULZE lautet der Satz vom Grunde: »Jedes wahre Urteil, es sei bejahend oder verneinend, muß einen Grund haben; oder die Wahrheit eines Urteils ist immer die Folge einer andern Erkenntnis, wodurch der Verstand genötigt wird, das im Urteile zwischen dem Grundund Beziehungsbegriffe gedachte Verhältnis davon für wahr anzunehmen« (Allg. Log. § 19). FRIES: »Jede Behauptung in einem Satze muß einen anderweiten zureichenden Grund haben, warum sie ausgesagt wird« (Syst. d. Log. S. 177). »Der Satz des Grundes hat es nur mit dem subjektiven Verhältnisse der Urteile zur unmittelbaren Erkenntnis zu tun und gibt also gar kein philosophisches Grundgesetz« (l.c. S. 178). J. G. FICHTE leitet den Satz vom Grunde aus der Tätigkeit des Ich (s. d.) ab. »Wir haben die entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich vereinigt durch den Begriff der Teilbarkeit. Wird von dem bestimmten Gehalte, dem Ich und Nicht-Ich, abstrahiert, und die bloße Form der Vereinigung entgegengesetzter durch den Begriff der Teilbarkeit übriggelassen, so haben wir den logischen Satz, den man bisher den des Grundes nannte: A zum Teil = - A und umgekehrt« (Gr. d. g. Wiss. S. 28). HEGEL betrachtet den Satz vom Grunde als die Bedingtheit der Begriffe durch andere. »Was ist, ist nicht als Seiendes unmittelbar, sondern als Gesetztes zu betrachten« (Log. II, 76). »Alles hat seinen zureichenden Grund, d.h. nicht die Bestimmung von etwas als Identisches mit sich, noch als Verschiedenes, noch als bloß Positives oder als bloß Negatives, ist die wahre Wesenheit von etwas, sondern daß es sein Sein in einem andern hat, das als dessen Identisches-mit-sich sein Wesen ist« (Encykl. § 121).
        Nach WAITZ sagt der Satz des Grundes psychologisch: »Alle psychischen Phänomene, mit Ausnahme der sinnlich gegebenen oder der einfachen Vorstellungen, sind ableitbar aus anderen« (Lehrb. d. Psychol. S. 561). ULRICI spricht vom »Gesetz der Kausalität« an Stelle des Satzes vom Grunde. »Alles Gedachte hat notwendig an der Denktätigkeit seine Ursache.« »Alles Unterschiedene (Mannigfaltige, Einzelne) muß als gesetzt durch eine unterscheidende Tätigkeit gedacht werden« (Log. S. 115). HAMILTON stützt den Satz vom Grunde auf den Identitätssatz. Auch HEYMANS und RIEHL: »Aus dem Gedanken der ursprünglichen Einheit und Sich-selbst-Gleichheit ergibt sich...: daß die Veränderung einen Grund haben müsse« (Philos. Krit. II 1, 246). »Aus der Idee des logischen Ganzen, der synthetischen Einheit der Begriffe, entspringt... die Forderung des Grundes, welche eine Aufgabe stellt« (l.c. S. 238). »Wir fordern... für jede begriffliche Besonderung den Nachweis ihres Zusammenhangs mit dem Ganzen und ihres Hervorgangs aus demselben« (ib.). Nach B. ERDMANN besteht beim Beweis der zureichende Grund »aus dem Inbegriff der Urteile, aus denen der zu beweisende Satz, die Folge, denknotwendig ableitbar ist« (Log. I, 296).
        Ale Grundgesetz denkender Verarbeitung von Erfahrungen betrachtet den Satz vom Grunde SCHOPENHAUER. Der Satz ist der allgemeinste Ausdruck für Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Bewußtseinsinhalten aller Art. »Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen untereinander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehen, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grunde in seiner Allgemeinheit ausdrückt« (Vierf. Wurz. d. Satz. vom zur. Gr. C. 3, § 16). Je nach der Art der Objekte nimmt der Satz verschiedene Gestalten an, die in vier Klassen zu bringen sind: 1) Satz vom Grunde des Werdens: »Alle in der Gesamtvorstellung, welche den Komplex der erfahrungsmäßigen Realität ausmacht, sich darstellenden Objekte sind hinsichtlich des Ein- und Austrittes ihrer Zustände, mithin in der Richtung des Laufes der Zeit, durch ihn miteinander verknüpft.« »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt, so muß ihm ein anderer vorhergegangen sein, auf welchen der neue regelmäßig, d.h. allemal, so oft der erstere da ist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung« (l.c. § 20). Die Kausalität stellt sich als physikalische, organische (Reiz) und psychologische dar. 2) Satz vom Grunde des Erkennens; dieser besagt, »daß, wenn ein Urteil eine Erkenntnis ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß« (l.c. § 29). 3) Satz vom Grunde des Seins: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Teile in einem Verhältnis zueinander stehen, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dieses Verhältnis Lage, in der Zeit Folge« (l.c. § 36). 4) Satz vom Grunde des Handelns (Gesetz der Motivation): »Bei jedem wahrgenommenen Entschluß, sowohl anderer als unser, halten wir uns berechtigt, zu fragen ›Warum?‹, d.h. wir setzen als notwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist und welches wir den Grund, genauer das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen« (l.c. § 43). Der Satz vom Grunde ist a priori, hat bloß empirische Geltung. »Der allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde überhaupt läuft darauf zurück, daß immer und überall jegliches nur vermöge eines anderen ist. Nun ist aber der Satz vom Grund in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserem Intellekt: Daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit Einschluß dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden« (l.c. § 52). Nach WUNDT ist der Satz vom Grunde das »Grundgesetz der Abhängigkeit unserer Denkakte voneinander« oder das »allgemeine Gesetz der Abhängigkeit der Begriffe«. Er bedarf der Anschauung (Erfahrung) zu seinen Anwendungen, und alles Anschauliche fügt sich seinem Gebrauche. Aber er ist kein Produkt der Erfahrung, da er erst Erfahrungszusammenhang erzeugt; in der Erfahrung hat er nur die Bedingungen seiner Anwendung (Syst. d. Philos.2, S. 77 ff., 167). Er ist ein »Prinzip der allgemeinen Verbindung unserer Denkakte«, das Prinzip des begründenden Denkens, ein Erkenntnisgesetz (l.c. S. 80 ff., 167 f.). Er wird zu einem »Prinzip der Verbindung aller Teile des gesamten Erkenntnisinhalts«, zu einem »Prinzip der widerspruchslosen Verknüpfung des Gegebenen«. Er liegt der Vernunfterkenntnis (s. d.), dem Fortschritte zur Transcendenz (s. d.),. zu den Ideen (s. d.) zugrunde (l.c. S. 168 ff.; Log. I2, 557 ff., 606 ff.). Nach H. COHEN muß das Denkgesetz des Grundes das Idealgesetz des Denkens werden, es ist das »Gesetz des reinen Denkens, der reinen Erkenntnis« (Log. S. 232, 266), entspringt dem Trieb des Denkens nach rastlosem Bedingen (1. c S. 262). Der Grund besteht nur im Legen des Grundes, im Bedingen (ib.)."
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    tierischer Schluss
    Ungewöhnliche Wortschöpfung Russells. Kurz und bündig: durch Gewohnheit erworbene Verbindungen (Asooziationen, bedingte Reflexe). Russell erläutert in Das menschliche Wissen ausführlich S. 183:
        "Wir müssen uns dabei den Unterschied zwischen dem Schließen, das in der Logik betrachtet wird, und dem, was wir als tierisches Schließen bezeichnen können, vor Augen halten. Unter »tierischem Schließen« verstehe ich das, was geschieht, wenn ein Ereignis A einen Glauben B ohne bewußte Zwischenglieder hervorruft. Wenn ein Hund einen Fuchs riecht, so wird er erregt, aber wir glauben nicht, daß er zu sich selbst sagt: »Dieser Geruch ist in der Vergangenheit oft in der Nähe eines Fuchses aufgetreten; daher wird wahrscheinlich auch jetzt ein Fuchs in der Nähe sein.« Es ist wahr, daß er so handelt, als wenn er diese Überlegung angestellt hätte, aber die Überlegung stellt sein Körper auf Grund von Gewohnheit oder, wie man auch sagt, eines »bedingten Reflexes« an. Immer, wenn ein Ereignis A in der früheren Erfahrung des Tieres häufig mit einem Ereignis B verbunden gewesen ist, wobei B ein gefühlsmäßiges Interesse haben muß, hat das Ereignis A die Neigung, ein Verhalten hervorzurufen, das dem B angepaßt ist. Hier gibt es keinen bewußten Zusammenhang zwischen A und B. Es ist nichts anderes da, so können wir wohl sagen, als eine A-Wahmehmung und ein B-Verhalten. In veralteter Sprechweise würde man sagen, daß der »Eindruck« von A die »Vorstellung« von B verursacht. Aber die neuere Ausdrucksweise, die auf körperliches Verhalten und beobachtbare Gewohnheiten Bezug nimmt, ist bestimmter und umgreift ein weiteres Feld.
        Die meisten inhaltlichen Schlüsse in den Wissenschaften ergeben sich, im Gegensatz zu den rein mathematischen Schlüssen, in erster Linie aus der Analyse tierischen Schließens. Aber ehe wir diese Seite unseres Gegenstandes aufhellen, lassen Sie uns betrachten, welche Rolle tierisches Schließen bei menschlichem Verhalten spielt.
        Das praktische Verständnis der Sprache (im Gegensatz zum theoretischen) fällt in das Bereich des tierischen Schließens. Das Verständnis eines Wortes besteht praktisch aus a) den Wirkungen, die auftreten, wenn man es hört, und b) den Ursachen, die dazu führen, daß man es ausspricht. Sie verstehen das Wort »Fuchs«, wenn Sie, sobald Sie es hören, einen Drang verspüren so zu handeln, wie Sie bei Anwesenheit eines Fuchses handeln würden, und umgekehrt fühlen Sie beim Anblick eines Fuchses einen Drang, das Wort »Fuchs« zu sagen. Sie brauchen sich aber des Zusammenhanges zwischen Füchsen und dem Wort Fuchs durchaus nicht bewußt zu sein. Der Schluß vom Wort auf den Fuchs oder vom Fuchs auf das Wort ist ein tierischer Schluß. Die Sache liegt anders bei gelehrten Wörtern, wie etwa dem Wort »Dodekaeder«. Die Bedeutung solcher Wörter lernen wir durch eine verbale Definition, und in solchen Fällen werden Wort und Bedeutung zunächst durch einen bewußten Schluß verbunden, und erst später wird diese Verbindung zur Gewohnheit."
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    Querverweise
    Standort: Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand bei Bertrand Russell
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    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand.
    Beweis und beweisen im Alltag.
    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalysen.
    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    z.B. Wissenschaft site: www.sgipt.org.
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    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Sponsel, R.  (DAS). Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand bei Bertrand Russell. (Analyse von 13 Büchern und 73 Textstellen nach der Methode Wittgensteins). Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen:  https://www.sgipt.org/wisms/sprache/BegrAna/BA_GMV_BRus.htm
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    Ende_ Begriffsanalyse Gesunder Menschenverstand bei Bertrand Russell  __Rel. Aktuelles _Überblick_Überblick Wissenschaft _Rel. Beständiges_ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ Service iec-verlag__Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen_ Mail: sekretariat@sgipt.org_

    korrigiert: irs 27. / 28.07.2018 / 14.08.2018 15.08.2018 / 17.08.2018 / 18.08.2018



    Aenderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    08.09.18    Zusätzlich Auswertung "Common Sense" in  Inquiry into Meaning and Truth als 14 Buch.
    18.08.18    Kommentar Korrekturen fertig.
    04.08.18    Erstmals ins Netz gestellt.
    22.07.18    Angelegt und mit der Auswertung begonnen.