Allgemeine
und Integrative Texte von
Johann
Christian Reil (1759-1813)
Biographie
Vater
der Allgemeinen und Integrativen Psychiaterie
und Psychotherapie
TOP-10
Arbeitsprinzipien der GIPT
Handlungsprinzipien:Intuition
Heuristik FlexibilitätKontrolle
Außendarstellung
GIPT
Übersicht:
Die grundlegenden auch für die Psychotherapie bedeutungsvollen Ausführungen zur Heilmittellehre befinden sich in Reils psychiatrisch-psychotherapeutischem Hauptwerk, den Rhapsodieen:
|
Reils Originalausgabe kostet derzeit im Antiquariat zwischen vier- und fünftausend Mark. Eines der wenigen kostbaren Exemplare besitzt die Bibliothek der Psychiatrischen Universitätsklinik Erlangen. Hiervon wurde der "Schmutztitel", wie die Schriftsetzer sagen, (siehe links) abgelichtet und ausgebessert. Einen relativ wohlfeilen Nachdruck kann man aber über das Verlagshaus Bonset in Amsterdam erwerben. "Der Arzt und Psychologe sind die nächsten Kräfte, durch welche die Kur der Irrenden bewerkstelligt werden muß. Sie sind beide Heilkünstler ... Auf Namen und Personen kömmt es hier nicht an. Genug daß die Irrenden zum Theil psychisch behandelt werden müssen, und daß dies nicht anders als von einem Menschen geschehen kann, der dazu die nöthigen psychologischen Kenntnisse hat ... Allein da beide Zweige der Arzneikunde, die psychische und pharmaceutische, von einem so ungeheuren Umfang sind, daß sie fast die Kräfte eines Menschen überschreiten; so halte ich es für gerathen, zwey Personen im Irrenhause zur Kur der Kranken unter den Namen des Arztes und des Psychologen anzusetzen." (S. 476f) |
Kommentar
Reil erkennt hier klar und präzise,
daß jeder Sachverhalt eine Heilmittel-, Gift- oder eine neutrale
Funktion annehmen kann. Daß dies auch noch von Situation zu Situation,
von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann, ist später von Leopold
Löwenfeld (1897), von Dieter
Wyss (1982) und von Sponsel (1995) zu
einem idiographischen Heilmittel Relativitätsprinzip
verallgemeinert worden.
|
Moderne
psychosomatische Auffassung
der psychischen Kur bei Reil
"Psychische Curmethoden sind also methodische Anwendungen solcher Mittel auf den Menschen, welche zunaechst auf die Seele desselben und auf diese in der Absicht wirken, damit dadurch die Heilung einer Krankheit zustande kommen moege. Es ist daher in Ruecksicht ihres Begriffes gleichgueltig, ob sie eine Krankheit der Seele oder des Koerpers heilen; ob das erregte Spiel der Seelenkraefte, zum Behuf der Heilung, durch mitgetheilte Vorstellungen und Begriffe, oder durch koerperliche Mittel ... erregt worden ist."
Quelle: Reil,
Johann Christian (1803). Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen
Curmethode auf Geisteszerruettungen.Halle: Curtsche Buchhandlung, S. 27/28.
"Einige Wahnsinnige, bemerkt H e l m o n t)*, waren sich, nach dem Anfall, der Symptome bewusst, die sie waehrend desselben erlitten hatten. Ihre Seele, sagten sie von sich aus, sey im Alltag desselben bey einem Begriff stehen geblieben, von dem es ihnen vorgekommen sey, als wenn sie ihn im Spiegel vor sich gesehen haetten . Doch sey es ihnen nicht klar gewesen, dass sie denselben gedacht haetten. Auch wuerden sie mehrere Tage lang gestanden seyn, ohne es zu wissen, wenn der Anfall sie im Stehen ueberfallen haette.
)* demens idea; Opera p. 174"
Quelle: Reil,
Johann Christian (1803). Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen
Curmethode auf Geisteszerruettungen. Halle: Curtsche Buchhandlung, S. 127.
Prinzip
der Konditionierung und
assoziativen Verkettung bei Reil 1796
„§
21
Drittes Gesetz
Wenn mehrere tierische Organe, die miteinander in Gemeinschaft stehen, in einer gewissen Ordnung, naemlich zu gleicher Zeit, oder in einer unmittelbaren Folge zusammenwirken; und diese vereinigten Wirkungen in derselben Ordnung oft wiederholt werden: so werden dadurch die Organe so miteinander verbunden, dass, wenn eins aus der verbundenen Menge durch eine zufaellige Ursache in Taetigkeit gesetzt wird, die andern eine Neigung haben wieder mitzuwirken. Ihre Taetigkeit begleitet oder folgt gerne auf die Taetigkeit des gereizten Organs. Uebrigens ist es einerlei, ob die Taetigkeiten durch Vorstellungen oder durch Bewegungen sichtbar werden, nur muessen die Organe, deren Taetigkeiten sich gegenseitig erregen sollen, eine gewisse Gemeinschaft miteinander haben."
Quelle: Johann Christian Reil (1796). Von der Lebenskraft. Archiv fuer die Physiologie. Erster Band. Halle: Curtsche Buchhandlung, S. 141. Hier Text nach: Nachdruck Klassiker der Medizin (1910). Leipzig: Barth und unveraenderter Nachdruck Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik Leipzig 1968, Seite 81.
Empirisch-Kreatives
Konzept zur
Erforschung
der psychischen Curmethode
„§ 17
Vorlaeufig einige allgemeine Regeln, die auf die psychische Curmethode des Wahnsinns ueberhaupt Bezug haben.
1)
Ein zuverlaessiges Heilverfahren dieser Krankheit ist nach dem jetzigen
Stand unseres Wissens nicht moeglich.
Die
Natur desselben und ihre Causalverhaeltnisse sind uns wenig bekannt und
die Wirkungen der psychischen Mittel so relativ, dass wir auf nichts Bestimmtes
rechnen koennen.
Weder die Art der Erregung der Seele, wie sie unseren Absichten entspricht, noch die Staerke, Dauer und Ausbreitung derselben steht durch sie in unserer Gewalt.
Wir muessen uns daher jetzt noch mit ganz allgemeinen Anweisungen begnuegen und auf das Talent des Kuenstlers rechnen, diese den concreten Faellen anzupassen.
Daher sollte man vorerst gute Koepfe, die Genie, Scharfsinn, Erfindungsgeist und Philosophie haben, durch Uebung zu einer gelaeuterten Empirie ausbilden.
Diese
wuerden mit Behutsamkeit das Bekannte auf die vorkommenden Faelle anwenden,
ihren Irrthum bald einsehen, dadurch zu entgegengesetzten Methoden geleitet
werden und nach und nach von ihren gemachten Erfahrungen allgemeine Ideen
absondern, die als kuenftiges Regulativ in der Behandlungsart der Irrenden
dienen koennten."
Quelle:
Reil, Johann Christian (1803). Rhapsodieen ueber die Anwendung der psychischen
Curmethode auf Geisteszerruettungen. Halle: Curtsche Buchhandlung, S.
218-219.
Historische Ergänzung: Begriff der Psychiaterie 1808
1808 schuf J. C. Reil in seiner Arbeit Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen den Begriff der Psychiaterie, der sich sehr schnell durchsetzte.
|
|
Mechler, A. (1966). Das Wort „Psychiatrie“. Historische Anmerkungen. Nervenarzt 34, 9, 405-406. |
"Die Heilanstalt fuer Irrende an sich ist ein todtes Ding.
Durch Menschen muss sie gleichsam erst Leben und Federkraft bekommen. Wir
geben ihr eine aeussere und innere Administration; jene besorgt die allgemeinsten
und oekonomischen, diese ihre besonderen und technischen Geschaeffte.
Die aeussere Administration uebergehe ich, und bemerke bloss, dass sie
nicht allein, aus oeffentlichen Auctoritaeten bestehen sollte, die so leicht
durch ihren Rang im Staat imponiren und von ihrer Macht Gebrauch machen,
wo sie mit Gruenden nicht durchdringen koennen. Wenigstens sollten einige
Privatpersonen zugezogen werden, die ohne Eigennutz, aus Patriotismus,
fuer die buergerliche Societaet arbeiten und durch fremde Verhaeltnisse
nicht von ihrer Pflicht abgezogen werden. Dann muss auch das Personal der
inneren Administration in ihr Sitz und Stimme haben, damit jene nicht nicht
Dinge beschliesse, die mit dem Zweck der Anstalt in Widerspruch stehn.
Zur innern Administration zaehle ich die Oberaufseher, Arzt, Psychologen
und die Dienstleute. ... ...
Der Oberaufseher, Arzt und Psychologe muessen folgende allgemeine Eigenschaften,
Talente, Kundes ihres Faches und guten Willen zur Ausuebung desselben haben.
Sie muessen Beobachtungsgabe und Scharfblick besitzen, um ins Innerste
der Herzen zu dringen und die verborgensten Triebfedern der Verkehrtheit
auszuspaehn; Schnelligkeit im Auffassen der Gegenstaende, im Entschliessen
und Improvisiren, um jedes momentane Ereigniss zu nuetzen;
Muth,
um die erschuetterndesten Scenen auszuhalten; Geduld und Beharrlichkeit,
um die misslungnen Versuche solang zu wiederholen, bis sie zum Zweck fuehren.
Der ganze Vorrath von Kenntnissen, von allgemeiner Menschenkenntnis, Philosophie,
Psychologie und Arzneykunde stehe ihnen zu Gebot, der zur Ausuebung ihres
Fachs erfordert wird. Dabey fehle es ihnen nicht an Uebung, ihre Kenntnisse
auf concrete Faelle, Behufs des Zwecks der Heilung Irrender, anzuwenden.
Ihr Charakter sey unbescholten, ihr Herz edel, Menschenliebe und Pflichtgefuehl
leite jeden ihrer Schritte; fern sey aller Eigennutz, Liebe fuer die Kunst
und Trieb, das vorgesteckte Ziel zu erreichen, belebe ihre Thaetigkeit.
Sanftmuth und Ernst wechsele auf ihrem Gesicht, wie die Umstaende es wollen;
ihr Herz sey so fern von
kalter
Barbarey als von ohnmaechtiger Gelindigkeit. Durch Ueberlegenheit ihrer
Talente, Maessigung ihrer Leidenschaften und durch Wuerde in ihrem Betragen
sollen sie sich die Liebe und Achtung der Irrenden erwerben. Furcht,
als Folge einer tyrannischen Behandlung, ist mit Hass und Verachtung gepaart.
Meistens sind die Verrueckten noch klug genug, die Schwaeche und den Unverstand
ihrer Vorgesetzten bemerken zu koennen.
Ihre
Rede sey kurz, buendig und lichtvoll. ... ...
Der Arzt und Psychologe sind die naechsten Kraefte, durch welche die Kur der Irrenden bewerkstelligt werden muss. Sie sind beide Heilkuenstler, bloss verschieden durch die Mittel, welche sie anwenden, sofern jener durch pharmaceutische, dieser durch psychische Mittel wirkt. Sie stehn also in einem aehnlichen Verhaeltnis zu einander wie der Arzt zum Wundarzt. Auf Namen und Personen koemmt es hier nicht an. Genug dass die Irrenden zum Theil psychisch behandelt werden muessen, und dass dies nicht anders als von einem Menschen geschehen kann, der dazu die noethigen psychologischen Kenntnisse hat. Es ist gleichgueltig, ob diese Kenntnisse in zwey Personen oder gemeinschaftlich mit den aerztlichen in einer Person vereinigt sind, ob der Inhaber derselben Psychologe, Arzt oder Prediger heisse. Allein da beide Zweige der Arzneykunde, die psychische und pharmaceutische, von einem so ungeheuren Umfang sind, dass sie fasst die Kraefte eines Menschen ueberschreiten; so halte ich es fuer gerathen, zwey Personen im Irrenhause zur Kur der Kranken unter dem Namen des Arztes und des Psychologen anzusetzen. Der Arzt muss die pharmaceutische Arzneykunde in ihrem ganzen Umfang umfassen, mit der Physiologie des Koerpers durchaus bekannt seyn, die Krankheiten der Seele aus der Pathologie zu seinem Hauptfach gemacht haben, und dabey in der Psychologie nicht unerfahren seyn. Der Psychologe hingegen soll in der Philosophie ueberhaupt zu Hause seyn, die praktische Seelenlehre, auf Arzneykunde angewandt, das Studium der Seelenkrankheiten, die psychische Kurmethode zum Hauptgegenstand seines Wissens gemacht, und von der Medicin ueberhaupt wenigstens eine allgemeine Ansicht haben. Beide muessen beobachten und untersuchen, dieser die Urspruenge aus der Seele, jener die Ursachen im Koerper, den Plan zur Kur gemeinschaftlich entwerfen, und der Arzt dann die Heilung der koerperlichen Gebrechen, der Psychologe die Paedagogik der Seele uebernehmen. ..."
Quelle: Reil, Johann Christian (1803). Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerruettungen. Halle: Curtsche Buchhandlung, S. 473-478.
Al
Raschid's schoene Beischlaeferin
Historisches
Fallbeispiel zum Heilmittel Scham-Ueberraschung-Zorn
der
Heilmittel-Klasse Erregung einer Leidenschaft
(einer
heftigen Emotion oder Gemuetsbewegung)
„Diese Curmethode ist zwar als eigene Disciplin; in einem systematischen Zusammenhang und in Verbindung mit den ihr angehoerigen Wissenschaften nie bearbeitet ... Die Griechen und Roemer waren mit ihr nicht unbekannt. Davon ueberzeugen uns manche Stellen in den Schriften des Hippocrates, Celsus und C. Aurelianus.
Auch
die Araber bedienten sich ihrer zur Heilung der Krankheiten. Mit welchem
Glueck?
Das
erhellt aus folgender Geschichte.
A l - R a s c h i d ’s schoene Beischlaeferin hatte sich in den Umarmungen ihres Gebieters mit so vieler Inbrunst gestreckt, dass einer ihrer Arme starr blieb. Man versuchte alles zu ihrer Herstellung; Balsame von Gilead und Mekka flossen in Stroemen, Narden und Ambra dampften in dem Rauchfasse, aber umsonst.
Es
wurde also ein neuer Arzt, G a b r i e l, herbeigerufen. Dieser heilte
die Kranke in einem Augenblick, durch einen psychologischen Versuch. Er
stellte sich, als wollte er ihren Unterrock beruehren, und dies in Gegenwart
von Zeugen. Schnell entbrannte Zorn in der Brust des schoenen Maedchens,
ihr Krampf verschwand, und sie griff mit b e i d e n
H
a e n d e n auf den verwegenen Frevler zu.
Sie war geheilt, der Kaiser aller Glaeubigen gluecklich durch die Hoffnung neuer Umarmungen und der Arzt nicht minder durch 500,000 Thlr, die er fuer diese Cur geschenkt bekam.)*
Gregor. Abul. Pharaji Histor. orient. dynast. Oxoniae 1662."
Quelle: Reil, Johann Christian (1803). Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerruettungen. Halle: Curtsche Buchhandlung, S. 28-29.