Bolten,
die Psychotherapiedefinition
und
die Paradoxa in der Verhaltenstherapie
Was "ist"
Psychotherapie? Vorsicht! Der Philosoph, Logiker und Wissenschaftstheoretiker
Wolfgang Stegmüller warnte in seiner Schrift "Sprache und Logik" vor
dem Wörtchen "ist". Genaugenommen ist diese Frage wissenschaftlich
unscharf und unklar gestellt. Korrekt ist nach der Lehre der Erlanger Konstruktivisten
die Klärung der Zwecke und Ziele, was mit der Begriffsbestimmung "Psychotherapie"
erreicht werden soll.Definitionen
"sind" daher nicht wahr oder
falsch, wie Aussagen, sondern mehr
oder minder zweck- oder zielangemessen. Um den Sinn und Nutzen von Definitionen
zu beurteilen, muß man also über die Ziele und Zwecke sprechen,
die mit den Bestimmungen erreicht werden sollen.
Exkurs:
Die Bedeutung der Worte und das Definitionsproblem
- drei Meinungen und ein
bissiger
Kommentar -
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"Nun müssen diejenigen,
welche ihre Gedanken untereinander
austauschen wollen,
etwas voneinander verstehen;
denn wie könnte denn,
wenn dies nicht stattfindet,
ein gegenseitiger Gedankenaustausch
möglich sein?
Es muß also jedes Wort bekannt
sein
und etwas, und zwar eins
und nicht mehreres, bezeichnen;
hat es mehrere Bedeutungen,
so muß man erklären,
in welcher von diesen
man das Wort gebraucht."
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Aus: Aristoteles (384-322)
Metaphysik. 11. Buch, 5 Kap., S. 244 (Rowohlts Klassiker 1966)
Willy
Hellpach (1877-1955),
Arzt und Psychologe,
1922-1925 badischer Kultusminister, Gründer des Karlsruher Instituts
für Sozialpsychologie und früher Pionier aus der Glanzzeit der
deutschen Psychologie fordert 1912 in einem Diskussionsbeitrag zum Vortrag
von H. Rupp "Übersicht der Eigenschaften des Gedächtnisses" auf
dem V. Kongreß für experimentelle Psychologie in Berlin:
"Unser
Ziel muß gerade jetzt in der Psychologie möglichste Vereinheitlichung
der Begriffe und ihrer Bezeichnungen sein."
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Zitiert im Bericht: Über den V. Kongreß für
experimentelle Psychologie in Berlin vom 6.- 20. 4. 1912. Leipzig:
Barth. W. Hellpach (1912(6), S. 215). Hintergrund: Willy Hellpach (links
unten) mit Kollegen im Labor beim psychologischen Experi- mentieren,
wahrscheinlich im sozialpsychologischen Institut in Karlsruhe. Nach
einem Bild aus Lück und Miller (1993). Illustrierte Geschichte der
Psychologie. München: Quintessenz, S. 301. Foto links aus: (1934.)
Vom Leben geformt. Jugend- und Altersbildnisse berühmter Männer.
Sylt: Kampmann. |
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Und
die Erlanger Psychologischen Konstruktivisten
Toebe,
Harnatt, Werbik, Schneewind meinen 1977:
"Ein
sprachlich gefaßtes Wissen kann nur dann seinen Zweck erfüllen,
wenn die zu seiner Darstellung verwendete Sprache in übereinstimmender
und eindeutiger Weise verstanden wird. Wo dies nicht der Fall ist, treten
Mißverständnisse auf. Man redet aneinander vorbei oder erwartet
auf Grund der Anwendung eines bestimmten sprachlich vermittelten Wissens
bestimmte Dinge, die man eigentlich hätte nicht erwarten dürfen.
Die sprachlich vermittelte Erfahrung anderer wird so wertlos. Sieht man
den Zweck der Wissenschaften in der Bereitstellung eines Wissens, das dem
Menschen erlauben soll, seine Probleme lösen zu können, so muß
man von den Wissenschaftssprachen Eindeutigkeit und Übereinstimmung
im Gebrauch fordern. In der konstruktiven Wissenschaftstheorie spielt deshalb
die Frage nach den Möglichkeiten, diese Forderung zu erfüllen,
eine bedeutsame Rolle."
Mit
im Autorenteam ist auch noch der damals konstruktive Philosoph Oswald Schwemmer,
aus: Schneewind 1977, S. 103.
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Wissenschaftspolitischer
Kommentar
von R. Sponsel
Über das prä-galileische Chaos-Syndrom in Medizin,
Psychologie und vor allem in der Konfessions-Psychotherapie
Das Definitions-Chaos kostet die internationalen SteuerzahlerInnen
Abermilliarden. Das größte und traditionsreichste Chaos herrscht
in der Medizin (und hier besonders in der Psychopathologie und Psychiatrie),
der Psychologie, der Psychotherapie und in den Sozialwissenschaften. Die
Trivialität, daß ForscherInnengenerationen nur dann aufeinander
aufbauen können, wenn ihre grundlegenden wissenschaftlichen Termini
normiert sind, scheint vielen "Leerstühlen" weder einsichtig noch
abhilfewürdig. Wahrscheinlich sind viele dazu auch gar nicht in der
Lage, weil ihnen die wissenschaftstheoretische Einsicht, Grundmotivation
und daher wohl auch die entsprechende Bildung fehlt. Das mag auch mit der
Vorherrschaft des relativ oberflächlichen angloamerikanischen pragmatischen
Empirismus zusammenhängen und der mit ihm an den psychologischen Instituten
der Universitäten so weit verbreiteten numerologischen Esoterik der
SzientistInnen, ZahlenfetischistInnen, SignifikanzmagierInnen und anderen
WissenschaftsspielerInnen.
Wissenschaft?
Was würde Nietzsche sagen?
In einem einzigen Wort? Versuchen Sie es! Deutungsvorschlag
Erläuterungen
Aus dem "GIPT-Wörterbuch" der wissenschaftlichen
Schimpfworte
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Numerologische EsoterikerInnen =: glauben naiv oder wahrheitsverachtend
an die arithmetische Bedeutung der Zahlen, ohne dies empirisch-kritisch
und meßtheoretisch zu begründen (Per fiat WissenschaftlerInnen)
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Oneupmanshipment =: Satirischer Ausdruck der nie veröffentlichten
Potter-Studie über die Praxis der Psychoanalyse mit der Spielregel:
Es kommt immer darauf an, one-up (oben) zu sein und one-down (unten) ist
jemand (gewöhnlich die PatientIn), der nicht one-up ist. Zitiert nach
Haley, J. (orig. 1963, dt. 1978). Gemeinsamer Nenner Interaktion. Strategien
der Psychotherapie, München: Pfeiffer, Seite 246. Dieses Macht-Prinzip
scheint besonders auch in den hier attackierten Kreisen verbreitet zu sein.
-
Per fiat WissenschaftlerInnen glauben vor allem an
das, was sie tun, ohne sich der Mühe und Rechtfertigung einer Begründung
oder eines Beweises zu unterziehen, typische Unsitte früherer Philosophen,
Gesetze des Lebens durch bloßes Nachdenken am Schreibtisch herausfinden
zu wollen - sehr schön karikiert in Brechts Galilei. Ausdruck
bei Orth, B. (1974). Einführung in die Theorie des Messens. Stuttgart:
Kohlhammer, S. 41 unter Bezugnahme auf Torgerson, Pfanzagl und Fischer.
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SignifikanzmagierInnen =: überbewerten Statistik, die
sie meist falsch anwenden, indem z. B. die elementaren wissenschaftlichen
Grundprinzipien wie Datenniveau, Status der Verteilungsparameter oder die
Parameterkonstanz (Ergodizität) und die grundlegend notwendige
Zufallsauswahl souverän ignoriert werden.
-
SzientistInnen =: Verkleiden sich gerne mit mathematisch-naturwissenschaftlich
erscheinenden Kostümen, ohne die entsprechenden Inhalte und Ansprüche
wirklich zu erfüllen.
-
WissenschaftsspielerInnen =: angepaßte, persönlichkeitslose,
prinzipienlose KarrieristInnen, die sich um den Preis des Mittun-Dürfens,
des zur Scientific Community Gehörens an jede Mode, an jeden
Trend, ja an alles hängen, nur um dabei zu sein - ohne entsprechende
innere Überzeugung. Aber sie beherrschen die Form, das Zitieren, das
Schmeicheln und das zu Kreuze Kriechen auf der Hühnerleiter der Bedeutungshierarchie,
das "Oneupmanshipment"
-
ZahlenfetischistInnen
=: überbewerten die Zahlen, die sie meist gar nicht richtig verstehen
und anwenden und
setzen naiv und fälschlich die Verwendung
von Zahlen gleich
mit Wissenschaftlichkeit, obwohl es natürlich
sehr viel wissenschaftlicher, wahrheitsachtender und charaktervoller ist,
auf den Gebrauch von Zahlen zu verzichten, wo sie nur eine - meist vieldeutige
und unklare - Bedeutung suggerieren. Das ist auch die Hauptschwäche
im berüchtigten Buch der Forschungsgruppe Grawe (Psychotherapie im
Wandel - Von der Konfession zur Profession), wobei man aber seine Stärken
und Richtigkeiten auch nicht übersehen darf.
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Ende des Exkurses: Die Bedeutung der Worte und das Definitionsproblem
Therapie
heißt Heilbehandlung. Im Alltagsbegriff der Psychotherapie ist sowohl
die Psyche als Ziel als auch als Instrument (Mittel, Werkzeug) enthalten.
Will man die Seele selbst als Ziel (originär psychische
Störung) oder will man mit Hilfe der Seele als Mittel
heilen (Psychosomatik)? Je nachdem wie man die Definition vornimmt, sind
bestimmte Verfahren per definitionem keine oder eben Psychotherapien.
Die
progressive Muskelrelaxation des Harvard Physiologen und Internisten Edmund
Jacobson (1885-1976), also die Methode, entspannen über die Sensibilisierung
für den Kontrast Muskelanspannung und Muskelentspannung
zu lernen, bedient sich des Körpers als Mittel, um den Körper
und die Seele zu entspannen. Definierte man Psychotherapie, wie es Freud
unangemessen getan hat, als Heilmethode mit bloß psychologischen
Mitteln, wäre die Jacobson-Methode kein psychologisches Verfahren,
sondern gehörte definitionsgemäß zur Medizin, Krankengymnastik
und zum Sportunterricht.
Bolten,
sehr weise, sagt etwas auch heute noch Stimmiges. Wer Psychotherapie betreibt,
sei es mit physikalischen, medizinischen, chemischen oder sonstigen Mitteln,
also gleichgültig aus welchem Lager man kommt, muß auf jeden
Fall, die Gesetze der Seele studieren und das heißt heute: Psychologie
studieren. Interessanterweise scheinen das heute weder die ärztlichen
PsychotherapeutInnen noch die PsychopathologInnen tun zu müssen. Wie
sonst könnte man sich erklären, daß sie sich im Durchschnitt
nur 7 % der psychologischen Wissens, das Diplom-PsychologInnen im Laufe
ihres Studiums in ihrer Ausbildung erwerben, aneignen? Im Grunde ergibt
sich aus Bolten für nichtpsychologische PsychotherapeutInnen die Forderung
nach einem Doppelstudium. Wer die Seele chemisch behandeln will, muß
quasi PharmazeutIn und PsychologIn sein. Wer die Seele physikalisch behandeln
will, muß PhysikerIn und PsychologIn sein. Wer die Seele medizinisch
behandeln will, muß MedizinerIn und PsychologIn sein. Wer die Seele
körpertherapeutisch behandeln will, muß Körperfachkundige
und PsychologIn sein.
Für
die Ausübung von Psychotherapie ist ein Grundstudium Psychologie in
jedem Fall erforderlich, egal ob man die Seele zum Ziel hat oder als Mittel
und Instrument nutzen möchte, man braucht ein Studium der "Gesezze
der Natur der Seele" (Bolten, 1751).
Doch
die Wirklichkeit ist, wie nicht selten, auf den Kopf gestellt. NichtpsychologInnen
wollen die Heilung mit den Mitteln der Seele bestimmen. Und dies hat seinen
(eher verständlichen) Grund in der Tradition, daß die Heilkunde
seit Jahrtausenden in der Medizinischen Fakultät angesiedelt ist.
Der zweite (verständliche aber nicht billigbare) Grund liegt einfach
darin, daß ÄrztInnen die Macht über das Heilen nicht teilen
oder abgeben wollen. Mehr zu diesem interessanten Thema im Verlauf dieser
Internet-Publikation, die garantiert nicht von der Pharmaindustrie gesponsert
wird, sondern frei und unabhängig
Stellung bezieht im Geiste der "Wahrheitsfreunde" eines Karl
Philipp Moritz und um Selbstachtung und Ichstärke wie Theodor
Reik bemüht ist.
Zum
Nachdenken übers Jahr:
Die Gretchenfrage
der Definition lautet: wollen wir Psychotherapie nur als psychologisches
Mittel definieren oder soll Psychotherapie die Seele auch direkt zum Ziel
haben dürfen und wie können wir jeweils dafür argumentieren?
Schreiben
Sie uns sekretariat@sgipt.org,
machen Sie mit bei dieser spannenden Definitionsfrage und ihren gesundheits-
und berufspolitischen Auswirkungen. Was
spricht für diese, was für jene, was vielleicht für eine
ganz andere Variante?
Querverweise
Standort: Johann Christian Boltens (1751)
Forderung nach einem Psychologiestudium
*
Überblick Geschichte der
Psychotherapie in der IP-GIPT.
*
*
Dienstleistungs-Info.
*
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS). Johann
Christian Bolten's Forderung (1751), ein Psychologiestudium zur Grundlage
der Psychotherapie zu machen und das Definitionsproblem. Internet Publikation
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT. Erlangen:
https://www.sgipt.org/gesch/bolt_t.htm
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Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um
Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus ... geht,
sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.
Deutungsvorschlag:
"Erbärmlich!" würde Nietzsche
sagen.
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