Kurzbiographie Karl Philipp Moritz 1756- 1793
Karl Philipp MORITZ, geboren am
15.9.1756 in Hameln, stammt aus ärmlichen, streng pietistischen und
zerrütteten Familien-Verhältnissen. 1763 Hannover. 1768 Hutmacherlehrling
in Braunschweig. Abbruch 1770 zurück nach Hannover. 1771 durch Freitische
und Förderung seinen Konfirmationspfarrers Besuch des Gymnasiums.
Ab 1774 in Prima. 1776 verlässt er heimlich die Stadt, um Schauspieler
zu werden, was scheitert. Ab 1777 studierte er Theologie in Erfurt und
Wittenberg und wurde von Basedow nach Dessau gerufen; verschiedene Lehrtätigkeiten
an Gymnasien, 1786 zwei Jahre Italien, dort Bekanntschaft mit Goethe und
von diesem stark beeinflußt. 1789 Professor für Altertumskunde
in Berlin.
Lebensphilosoph und Ästhetiker ("Über die Bildende Nachahmung des Schönen"), Reiseliteratur (England, Italien). 4-teiliger autobiographischer psychologischer Roman: Anton Reiser. Herausgabe des 10-bändigen Werkes "Magazin für Erfahrungsseelenkunde" 1783 - 1793, empirisch orientierte Psychopathologie, ein Ausdruck Moritzens mit viel Beschreibung und Kasuistik. Von großer Bedeutung für die Geschichte der klinischen Psychologie, Psychopathologie, Kasuistik und Psychotherapie ist das 10-bändige von ihm herausgegebene Werk "Magazin für Erfahrungsseelenkunde". Zurecht berufen sich sowohl die Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie auf dieses einzigartige historische Dokument, das von Franz Greno aus Nördlingen 1986 bibliophil nachgedruckt wurde. |
Der - unvollendete
- Roman "Anton Reiser" gilt als einer der ersten großen psychologischen
(Entwicklungs-) Romane. Die vier Teile erschienen 1785, 1786 und 1790.
Im Nachwort der Reclamausgabe führt Wolfgang Martens in seiner ausgezeichneten
psychologischen Analyse aus (S. 550):
"Moritz notiert zahlreiche Einzelheiten, an denen Bedrückung
und Erniedrigung erfahren werden: die Kleidung im grauen Bediententuch,
die wohlweisen Ermahnungsreden der freitischgebenden Frau Filter, die Bevorzugung
von Mitschülern aus besseren Häusern, das Ausgeschlossensein
vom Fackelzug aus Mangel an Mitteln. Anton Reiser ist ein Spiegel menschlicher
Nöte, die durch niedrige Herkunft, durch geringen Stand bedingt sind.
Heine spricht von der »Geschichte einiger hundert Taler, die der
Verfasser nicht hatte, und wodurch sein ganzes Leben eine Reihe von Entbehrungen
und Entsagungen wurde, während doch seine Wünsche nichts weniger
als unbescheiden waren«. Mit einer bisher unbekannten Schärfe
zeigt der Roman, in welchem Maße das Milieu, die soziale Situation
einen Menschen in seiner Entwicklung behindern, seelisch verletzen und
verklemmen kann. Vom häuslichen Unfrieden über die Lehrlingsfron
beim Hutmacher Lobenstein, die Demütigungen des armen Gymnasiasten
bis zum Ausgeschlossensein von den Theateraufführungen der Primaner
sind Reisers Leiden soziale Leiden. Die Ungleichheit der menschlichen >Glücksumstände<
wird von ihm in unzähligen Einzelerfahrungen erlebt, und dies Erlebnis
führt ihn bis zum grundsätzlichen Anstoß an der gegebenen
Sozialordnung: »Im Grunde war es das Gefühl, der durch bürgerliche
Verhältnisse unterdrückten Menschheit, das sich seiner [<550]
hiebei bemächtigte, und ihm das Leben verhaßt machte — er mußte
einen jungen Edelmann unterrichten, der ihn dafür bezahlte, und ihm
nach geendigter Stunde auf eine höfliche Art die Türe weisen
konnte, wenn es ihm beliebte - was hatte er vor seiner Geburt verbrochen,
daß er nicht auch ein Mensch geworden war, um den sich eine Anzahl
anderer Menschen bekümmern, und um ihn bemüht sein müssen
— warum erhielt er gerade die Rolle des Arbeitenden und ein andrer des
Bezahlenden?« (S. 366). Weiter freilich als bis zu dieser Reflexion
kommt Reiser nicht und kommt auch Moritz, der Verfasser, nicht. Die Gesellschaftskritik
des Romans bleibt in der Regel immanent; der sozialen Ordnung, den Herrschaftsverhältnissen
im Zeitalter des Absolutismus wird nicht mit Bewußtsein der Prozeß
gemacht; der Gedanke an Gleichheit, an soziale Gerechtigkeit, an Aufhebung
der Ständeordnung, an Revolution oder auch nur an Reformen keimt nicht
auf - was übrigens dem Verhalten Moritz' etwa gegenüber der Französischen
Revolution entspricht. Der Roman ist eine Dokumentation sozialen Leidens
ohne ein Element Hoffnung.
Das freilich hängt wiederum eng zusammen mit
einer besonderen psychischen Disposition, mit der Reiser der gesellschaftlichen
Wirklichkeit begegnet. Reiser erscheint als ganz außerordentlich
dünnhäutig, reizbar, empfindlich und verletzlich. Sein Selbstgefühl
ist von äußerster Labilität. Mangelndes »Selbstzutrauen«
(dies Wort scheint übrigens eine Neuprägung Moritz' zu sein!),
Gehemmtheit, Schüchternheit, Kontaktschwäche kennzeichnen Reisers
Verhalten auf Schritt und Tritt. Nur so können auch kleinste Anstöße,
geringfügige Zufälle, harmlose Begegnisse die schwersten Folgen
für Reisers inneres Gleichgewicht haben. Nach Eybischs
Feststellung sind etwa ein Drittel aller Mitschüler Moritz' in gleicher
Weise wie er arme Schlucker gewesen, aber nur Reiser-Moritz scheint unter
den Folgen der Armut bis zum Selbstverlust gelitten zu haben. Reiser ist
in ungewöhnlicher, krankhafter Weise in seinem Selbstgefühl von
allem Äußeren, von Umständen abhängig, wobei diese
Umstände [<551] keineswegs immer in der Ständeordnung begründet
oder ökonomischer Art zu sein brauchen; ein mißverstandenes
Scherzwort kann ihn niederwerfen. Die Bedingtheit durch die Umstände,
durch die Verflechtung »einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten«
(S. 122), wird in mimosenhafter Sensibilität empfunden. Diese Bedingtheit
bestimmt zugleich die Struktur des Berichtens, wenn der erste Satz des
autobiographischen Romans mit Anton als Subjekt erst auf S. 12 erscheint,
während alles Vorherige nur Schilderung der Umstände ist, unter
denen Anton heranwachsen muß: die Umstände kommen zuerst; sie
sind das Primäre! - Man hat den Anton Reiser eine Studie über
den Minderwertigkeitskomplex hundert Jahre vor der Individualpsychologie
nennen können (Minder). Er ist eine psychische Pathographie mit einer
Fülle von für den Psychologen aufschlußreichen Befunden.
Moritz selber übrigens verweist dabei, und das entspricht den Erkenntnissen
der modernen Psychologie, auf die entscheidende Rolle der Kindheitserlebnisse
Antons. Der Konflikt mit dem Vater, der Zwist der Eltern, die Bevorzugung
der Geschwister provozieren die Gefühle der Minderwertigkeit. Das
»zurücksetzende Betragen seiner eignen Eltern gegen ihn«
wird für die »Seelenlähmung« verantwortlich gemacht,
die noch den Jüngling »zum Spott der Welt gleichsam an der Stirne
gebrandmarkt« sein läßt (S. 368). Mangel an Wärme,
an Liebe, an Geborgenheit in frühester Jugend lassen ihn, so versteht
es Moritz selber, zu krankhaften, neurotischen Reaktionen noch als Zwanzigjährigen
kommen. Bezeichnend die selige Erinnerung an das seltene Erlebnis, da ihn
seine Mutter einst bei Sturm und Regen in ihrem Mantel geborgen hielt (S.
37). Diese Geborgenheit ist Reiser sonst versagt. Er ist wie ein schutzloses
Kind in einer liebeleeren Welt ohne ein Selbstwertgefühl den
Unbilden des Lebens - nicht nur sozialer Bedrückung im
engeren Sinne — ausgeliefert. ... .... ...."