Kindeswohl-Kriterien
- Deutschland -
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen
Der Begriff des Kindeswohls ist nicht abschließend und vollständig definiert. Es gehört zum Wesen der juristischen Methodologie, daß sie, da sie es mit Lebendigem, Wachsendem, sich Veränderndem des Soziallebens aber auch der Wissenschaft zu tun hat, diesen Veränderungen auch in ihrer Begrifflichkeit Rechnung tragen muß [FN01] . Greift man die Formel Kindeswohl mit Argumenten an, diese Formel sei völlig unbestimmt, so ist das - mittlerweile - schlicht und einfach falsch. Richtig ist vielmehr: die Formel Kindeswohl ist nicht völlig bestimmt, aber es gibt viele Kennzeichnungen und Definitionsmerkmale sowohl positiver (was zum Kindeswohl gehört) als auch negativer Art (was nicht unbedingt zum Kindeswohl gehört). Die JuristInnen arbeiten sozusagen mit wachstumsfähigen und änderungsfreundlichen Begriffen und tragen damit der Flexibilität des Lebens, Soziallebens und dem Stand der Wissenschaft und des Wissens Rechnung.
COESTER hat in seiner Habilitationsschrift "Das Kindeswohl als Rechtsbegriff" (Augsburg 1982 / 1983) eine umfassende Studie vorgelegt. Demnach lassen sich folgende Kindeswohlkriterien, wie sie sich aus Gesetz und Rechtsprechung ergeben haben, unterscheiden (S. 176 - 203):
COESTERs rechtliche Kindeswohlkriterien:
I Rechtliche Aussagen zum Kindeswohl
II Maßstäbe der umgebenden Rechtsordnung
Das Kindeswohl ist in dem Maße gegeben, in dem das Kind einen Lebensraum zur Verfügung gestellt bekommt, in dem es die körperlichen, gefühlsmäßigen, geistigen, personalen, sozialen, praktischen und sonstigen Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entwickeln kann, die es zunehmend stärker befähigen, für das eigene Wohlergehen im Einklang mit den Rechtsnormen und der Realität sorgen zu können. Letztlich ist also der Maßstab für das Kindeswohl das "Lebenswohl". Kindheit ist in dem Maße geglückt, wie sie einen Menschen instand setzt (die Grundlage bietet), als Erwachsener für sein eigenes Wohlergehen sorgen zu können.
Der Begriff des Kindeswohls bezieht sich nicht auf den Augenblick oder einen kurzen Zeitraum, sondern hat die ganze Kindheit und Jugend bis zur Volljährigkeit bzw. Erwachsenenreife zum Bezug. Das ist nun sehr allgemein und es kommt jetzt darauf an, die Kriterien zu konkretisieren. Hierbei ist es wichtig, den juristisch vorgegebenen Rahmen zu beachten. Allgemein juristisch sind das Bindungs-, Kontinuitäts- und Förderungsprinzip vorgegeben und zu berücksichtigen.
Wir entwickeln aus dieser Arbeitsdefinition und auf diesem Hintergrund einen psychologischen Kriterienkatalog, der als Leitfaden für die praktisch gutachterliche Erhebungs- und Beurteilungstätigkeit dienen kann. Einen allgemeinverbindlichen Leitfaden gibt es nicht. Das Beste, was man also tun kann, ist, seine Kriterien so darzulegen, daß sie nachvollziehbar und auch kritisierbar werden, wenn jemand anderer Meinung ist.
Kriterium Beziehung & Bindung (Bindung in der GIPT)
Eine positive Beziehung durch Erfahren von Liebe
und Wertschätzung erzeugt im Laufe der Zeit bei geeigneter Betreuung,
Pflege, Versorgung und Erziehung Elternliebe beim Kind und Bindung an die
Eltern. Eine starke Bindung bedeutet nicht notwendigerweise zugleich eine
qualitativ positive Beziehung. Im wesentlichen gibt es vier zwischenmenschliche
qualitative Grundbeziehungen, wenn wir uns folgendes Modell vergegenwärtigen:
Diese grundlegenden Beziehungsqualitäten - hier idealisiert dargestellt und von nur einer Person aus gesehen - können nun unterschiedliche Ausprägung haben, sowohl, was die inneren Verhältnisse der drei Wertgrundelemente (positiv, negativ, neutral) betrifft als auch die Intensität und Bedeutung der Werte.
Kombiniert man diese wertmäßigen Haltungen in einer Zweierbeziehung, so ergeben sich im Prinzip [FN03]:
Zwischen A und B gibt es bei vier Grundbeziehungen also 16 Beziehungsmöglichkeiten,
von denen, abstrahiert man von den Personen es 10 Dyaden-Grundtypen gibt.
Astronomische
Beziehungsmöglichkeiten in Familien
Selbst in kleineren Vier-Personenfamilien ergeben sich nach diesem
relativ groben Ansatz schon astronomische Beziehungsmöglichkeiten:
Unter Einbeziehung der Selbstbeziehung - was psychologisch sinnvoll ist - ergeben sich in einfachen Vierpersonen-Familien bzw. Gruppen bereits 416 = 4.294.967.296, also rund vier Milliarden [1] Beziehungs-Möglichkeiten, ohne Selbstbeziehungen immerhin noch 17 Millionen. Man sieht hier eindringlich, daß jeder Einzelfall (zum Idiographieproblem) seine eigene individuelle Analyse erfordert.
Wie entstehen Zuneigung und Liebe?
Wie entstehen positive Beziehungen, Sympathie, Liebe? Auf einen
kurzen Nenner gebracht: wir mögen Menschen, stehen ihnen positiv gegenüber,
um so mehr, je öfter, je länger und je einfacher sie uns
Befriedigung verheißen, gewähren oder gewährt haben. Aronson
(1969) [FN04] hat die sieben
Antworten, die die Forschung in diesem Gebiet bisher geben kann, zusammengefaßt.
Wir mögen Menschen, die (a) uns physisch näher sind, (b) unserer
Meinung sind, c) ihrer Persönlichkeit nach uns ähnlich sind,
(d) unsere Bedürfnisse befriedigen und Bedürfnisse haben, die
wir befriedigen können, (e) über Fähigkeiten und Kompetenz
verfügen, (f) 'angenehm' sind und 'schöne' Dinge tun, (g)
uns mögen. Kurz gesagt, 'wir mögen Menschen, die uns maximale
Befriedigung bei minimalem Aufwand verschaffen.'" In Bezug auf Partnerschaft
mag noch festgehalten werden, daß Liebe meist keine hinreichende
Bedingung für dauerhaftes Gelingen einer Partnerschaft ist, auch wenn
die Liebesehe [FN05] im allgemeinen hoch
im Kurs steht, sondern passen (mehr
hier) hinzutreten muß.
Qualitativer und quantitativer Aspekt der Bindung (ausführlich hier)
An der Bindung müssen wir zwei Aspekte unterscheiden: die quantitative (Stärke, Intensität) und die qualitative Komponente (überwiegend positive, negative oder ambivalente [FN06] Qualität). Nicht jede starke Bindung ist problemlos gut und von daher vorzuziehen. Die Qualität der Bindung ist nicht weniger bedeutend als die Quantität. Der Bindungsbegriff im engeren sprachlichen Sinne ist ein Unterbegriff, ein Merkmal oder Charakteristikum einer Beziehung.
Binden bedeutet a) befestigen, b) zusammenfügen,
c) abhängig machen, verpflichten, festlegen. Zum Gegenteil gehört
daher a) lockern, lösen, b) trennen, c) unabhängig, frei sein,
beliebig, willkürlich.
Zum Begriffsraum der Bindung gehören Subjekt; Objekt; Dimension
(Bezug, Bereich); Ausprägung der Dimension; Zeichen, Ausdruck oder
Erscheinungsform; Bedeutung für Subjekt und Objekt; Beziehung und
Bedeutung zu anderen Merkmalen / Sachverhalten; Bewertung. Die Kritik an
der Rolle der Bindung, wie sie z. B. von Fthenakis oder Jopt und deren
Parteigängern vorgetragen wird, teilen wir nicht (siehe unten Exkurs).
Eine besondere Bedeutung, wenn auch keine allein ausschlaggebende, für
die Stärke und Qualität der Beziehung und Bindung und mit zunehmendem
Alter mehr hat der Kindeswille. Hierbei ist zu berücksichtigen der
Beschluß des BGH vom 24.10.1979, IV ZB 169/78 [FN07],
in dem es heißt:
"Das Persönlichkeitsrecht des Kindes erfordert bei der gerichtlichen Regelung des Verkehrsrechts den Willen des Kindes im Rahmen seines wohlverstandenen Interesses und das Interesse des um die Regelung nachsuchenden Elternteils gegeneinander abzuwägen. Bedeutsam für einen Ausschluß des Verkehrsrechts eines Elternteils ist stets, ob die Einstellung des Kindes auf subjektiv beachtlichen oder verständlichen Beweggründen beruht." |
In den Streit über die
Bedeutung des Bindungsbegriffes zwischen Lempp und Fthenakis und ihren
Anhängern (siehe Fthenakis FamRZ 1985, S. 662 - 672 eine Replik auf
Lempp FamRZ 1984, S. 741 - 744) hat sich auch Kollege Jopt mit seinem Buch
"Im Namen des Kindes", Hamburg 1992, eingeschaltet. Er kritisiert den Bindungsbegriff
und seine Behandlung im Sachverständigengutachten. Nun, der von Fthenakis
und Jopt statt der Bindung vorgezogene Beziehungsbegriff ist weiter und
schon gar nicht klarer. Natürlich spielt nicht nur die Stärke,
sondern auch die Qualität der Bindung eine wichtige Rolle. Das ist
im Grunde eine solche Trivialität, daß man sich wundern muß,
weshalb dies von Fthenakis und von überhaupt so hervorgehoben wird.
Das Gesetz sagt im übrigen nur, daß die Bindungen zu berücksichtigen
sind. Nirgendwo steht im Gesetz, daß die Bindung ausschlaggebendes
Einzelgewicht ist oder, daß es falsch wäre, die Qualität
zu berücksichtigen. Falsch ist es, wenn Fthenakis die psychologischen
Sachverständigen außerhalb seiner Schule verdächtigt (FamRZ
1985, S. 665), sie ermittelten lediglich die "stärkere" Bindung. Falsch
ist die Behauptung von Fthenakis (FamRZ 1985, S. 666), die Stärke
ließe sich nicht messen. Messungen auf Ordinalniveau, das bedeutet
eine Aussage über ein unterscheidbares Mehr-Oder-Weniger sind sehr
wohl möglich abgesehen davon, daß die Fragestellungen der Familiengerichte
grundsätzlich und auch zu Recht nach einer Messung auf Ordinalniveau
verlangen. (zum Meßproblem hier _
Grundsätzlich
& allgemein)
Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn nach besserer Eignung, Voraussetzung, Beziehung, Bindung, etc. gefragt wird. Auch die verschiedenen qualitativen Bindungsmuster wie sie von Grossmann und seiner Forschungsgruppe in der Tradition Bowlby und Ainsworth [FN08] beschrieben wurde, formen eine Ordinalskala. Es kann ja nicht den geringsten Zweifel geben, daß gilt: Bindungstyp Sicher > Vermeidend, Ambivalent > Desorganisiert. ">" wird hier als Relation "günstiger für das Kindeswohl" interpretiert, wobei sicher auch innerhalb der Kategorien ordinale Ordnungen begründet werden können. Wenn Fthenakis und Jopt tatsächlich meinen sollten, daß sich Ordinalurteile nicht vernünftig begründen lassen, daß also ein Mehr oder Weniger, eine Ordnungsstruktur nicht begründbar ist, dann sind Gutachten nicht möglich. Die Ersetzung des Bindungsbegriffs durch den Beziehungsbegriff wäre nur eine Scheinlösung. Richtig an der Kritik ist aber, daß die bloße Stärke ohne ergänzende qualitative Erörterung und Bewertung als familienrechtspsychologischer Kunstfehler betrachtet werden kann. Das andere Extrem bilden die BindungstheoretikerInnen, die den Bindungsbegriff im Sinne der ethologischen Prägung (Lorenz 1935) interpretieren, hierzu zählt in erster Linie Klußmann, der sich vor allem auf die Arbeiten von Hassenstein [FN09] beruft. Wir halten fest: Menschenkinder sind keine Graugänse. Bindung unter Menschen im Sinne einer ethologischen Prägung zu postulieren, ist falsch. Ich nehme in der Bindungsfrage daher einen kritischen Standpunkt der Mitte ein. Ende des Exkurses |
Kriterium Kontinuität & Stabilität
(1) Allgemeines.
Hier sind Sicherheit, Berechenbarkeit und Dauer angesprochen. Ein Kind
hat das Bedürfnis (und nach Goldstein, Freud, Solnit, Simitis [FN10]
auch das Grundrecht) nach dauerhaften und verläßlichen Beziehungen
bzw. Behandlung. Dieser Rahmen ist wichtig für die Bildung von (Ur-)Vertrauen,
Orientierung, allgemeine Entwicklung, Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühle.
Zu stabil kann zu zwanghafter Starrheit, mangelnder Anpassungsfähigkeit
an Veränderungen und in Außenseiterrollen führen. Zu instabil
kann zu Bindungsproblemen, Desorientierung, Identitätsstörungen
und Gleichgültigkeit führen.
Jede Trennung und Scheidung bedeutet naturgemäß einen
schweren Eingriff in das Kontinuitätsgefüge [FN11]
der Kinder . Urvertrauen, Vertrauen und eine freie Entwicklung der Fähigkeiten
hängen von der Stetigkeit und Zuverlässigkeit des Kontinuitätsrahmens
ab. Trennungen von wichtigen Bindungspersonen sind daher häufig dem
Kindeswohl abträglich. Zur Beurteilung der Auswirkungen und Schwere
solcher traumatischer Trennungen können folgende Kriterien hilfreich
sein:
Auswirkungen der Abwesenheiten der Haupt-Bezugsperson
Zur Beurteilung der Auswirkungen der Trennung von Bindungspersonen orientieren wir uns an den Regeln von Yarrow [FN12] , ergänzt durch die neueren zusammenfassenden Ergebnisse von Schaffer (dt. 1992).
(1) ALTER
Die Auswirkungen sind besonders stark, wenn das Kind gerade eine innige
Beziehung zur Mutterfigur / Bindungsperson aufgebaut hat. Das ist nach
Meinung der älteren Forschung, auf die sich Yarrow bezieht, im allgemeinen
zwischen dem 6. Lebensmonat und 2. Lebensjahr der Fall. Nach Schaffer,
H. R. [FN13] , der die neuere
Forschung zur Frage "Ab welchem Alter sind Kinder fähig, menschliche
Bindungen aufzubauen?" zusammengetragen hat, gilt, daß Kinder schon
im Alter von 2 - 3 Monaten vertraute Personen von Fremden unterscheiden
können. Demnach müßten frühe Trennungen, um traumatische
Wirkungen zu vermeiden, rund innerhalb der ersten vier Lebens-Wochen erfolgen.
Früher glaubte man fälschlicherweise, daß Bindungen erst
ab ca. dem 6. Monat aufgebaut werden können.
(2) QUALITÄT DER BEZIEHUNG VOR DER TRENNUNG
Die Auswirkungen sind um so stärker, je enger und besser die vorherige
Beziehung zwischen Mutterfigur / Bindungsperson und Kind war.
(3) ART DER PFLEGE NACH DER TRENNUNG
Die Auswirkungen sind um so geringer, je besser eine geeignete Pflegeperson
für gute persönliche Beziehungen zum Kind, für angemessene
Anregungsbedingungen und für eine ausreichende Befriedigung der kindlichen
Bedürfnisse sorgt.
(4) ART DER BEZIEHUNG ZU DEN ELTERN WÄHREND DER TRENNUNG
Die Auswirkungen sind weniger gewichtig, wenn eine persönliche
Beziehung zu den Eltern während einer vorübergehenden Trennung
aufrechterhalten werden kann. Sie sind besonders stark, wenn die Trennung
plötzlich und vollständig erfolgt.
(5) DAUER DER TRENNUNG
Die negativen Auswirkungen verstärken sich im allgemeinen mit
der Dauer der Trennung.
(6) QUALITÄT DER ERFAHRUNGEN NACH DER TRENNUNG
Die Auswirkungen einer Trennung verstärken sich unter ungünstigen
Lebensbedingungen; sie nehmen ab als Folge angenehmer und zufriedenstellender
Erfahrungen.
(7) KONSTITUTIONELLE FAKTOREN
Art und Stärke der Auswirkungen hängen nicht zuletzt vom
Grad der persönlichen Sensibilität und der Anpassungsfähigkeit
des Kindes ab.
Die Bedeutung des Umgangs für die Kontinuität
Die Bedeutung des Umgangs erkennt man aus den aufgelisteten unterschiedlichen Funktionen, die der Umgang haben kann und sollte. Oft ist der Umgang in besonders streitigen Fällen ein großes Problem, weil die Kinder entweder in schwerwiegende Loyalitätskonflikte gestürzt und verwickelt werden oder auf einen wichtigen und von ihnen geliebten und verbundenen Elternteil verzichten müssen.
(1) KONTINUITÄTS-FUNKTION
Die Kontinuität zu beiden Eltern wird durch den Umgang gewahrt;
dadurch wird die Erschütterung des kindlichen Vertrauens durch die
Trennung und Scheidung gemindert. Es gibt den, der immer da war, noch immer.
Kontinuität ist wichtig für Vertrauen, Geborgenheit und emotionale
Sicherheit.
(2) SICHERHEITS-FUNKTION
Durch die Aufrechterhaltung der Beziehung wird eine Sorgerechtsersatzperson
bewahrt, was besonders dann wichtig werden kann, wenn der Sorgeberechtigte
die Sorge nicht mehr ausüben kann oder will. Daher trägt der
Umgang zur objektiven Zukunftssicherung des Kindeswohls bei.
(3) BINDUNGS-FUNKTION
Das Kind behält ein Liebes"Objekt" und eine Befriedigungs- und
Einflußquelle, die Bindung wird nicht durchtrennt.
(4) SELBSTWERT-FUNKTION
Das Kind erfährt durch das Interesse des Umgangsberechtigten eine
Aufwertung und Würdigung seiner Person, das stärkt das Selbstvertrauen
und Selbstwertgefühl.
(5) ANREGUNGS-FUNKTION
Das Kind hat durch den Umgangsberechtigten zusätzliche Anregung
und Förderung.
(6) SOZIALE-STATUS-FUNKTION
Das Kind wird durch das Interesse und die Beziehung zum Umgangsberechtigten
in seinem sozialen Rang und Status gestärkt, mehr respektiert und
geachtet.
(7) VOLLSTÄNDIGKEITS-FUNKTION
Das Kind hat durch den Kontakt mit dem Umgangsberechtigten zusätzliche
Erfahrungs- und Identifikationsmöglichkeiten, was besonders auch für
die Geschlechtsrollendifferenzierung wichtig sein kann.
(8) SOZIALE-NETZ-FUNKTION
Das Kind behält und gewinnt durch den Kontakt ein weiteres Netz
an Bezugspersonen, also Personen, die ihm näher stehen, mit denen
es etwas machen, von denen es etwas lernen, erfahren, bekommen, denen es
aber auch etwas geben kann. Es wird dadurch mehr und stärker verwurzelt.
Kriterium Förderungsprinzip I : Betreuung, Pflege, Versorgung
Hierzu gehören die Ernährung; Körperpflege, äußere
Erscheinung und Kleidung; die medizinische Versorgung; die Unterbringung
(Zimmer); Beaufsichtigung (da sein, angesprochen werden können) und
Beschäftigung (Spiel, Spielzeug); und letztlich die Verfügbarkeit
von Ersatzpersonen. Ganz wichtig ist selbstverständlich der Kinderschutz,
ganz besonders der Schutz vor Vernachlässigung, Mißhandlung
und sexuellem Mißbrauch. Die alte Meinung: wer versorgt und betreut,
wird am meisten geliebt, ist durch die Bindungsforschung (Harlow) als widerlegt
anzusehen. Betreuung, Pflege und Versorgung sind mit persönlicher
Gegenwart, Zuwendung, Interesse und Interaktion zeitlich konfundiert (treten
zusammen auf, fallen zeitlich zusammen). Daraus darf man nicht den Fehlschluß
ziehen, daß gemeinsam Zeit verbringen allein oder gar nicht von Bedeutung
sind. Beide Folgerungen wären falsch. Während Betreuung, Pflege
und Versorgung delegierbar sind, wie auch im Prinzip die Erziehung, so
ist die persönliche Gegenwart, Zuwendung, Interesse und Interaktion
nicht delegierbar, eine Fehlmeinung, der früher häufig Väter
aufgesessen sind. So gesehen ist die Zeit als Faktor Verfügbarkeit
für Betreuung, Pflege und Versorgung zwar nicht so von Bedeutung
wie man früher irrtümlich - zu Gunsten der Mütter - annahm,
aber er ist es natürlich insofern, als nur in einer den Kindern zur
Verfügung gestellten Zeit als gemeinsam verbrachter Zeit die Erfahrung
von Zuwendung, Interesse und Interaktion möglich ist.
Kriterium Förderungsprinzip II: Erziehung (Haltung, Ziele, Mittel)
Erziehung läßt sich im wesentlichen durch die grundsätzliche Erziehungs-Haltung, die Erziehungs-Ziele und durch die Erziehungs-Methoden und -Mittel kennzeichnen. Mit Erziehungshaltung meinen wir die grundlegende Einstellung und Haltung dem Kinde gegenüber.
Hierbei ist besonders wichtig: a) wertschätzen & mögen (lieben), b) einfühlen & verstehen, c) klar & konsequent sein, ohne in Starrheit zu verfallen, d) Grenzen setzen (mit Geboten und Verboten orientieren), e) anregen & fördern, f) angemessene, keine überzogenen Ansprüche an das Kind richten, g) Vorbild & Modell sein.
Der Bereich der Erziehungsziele ist sehr stark von weltanschaulichen und persönlichen Wertvorstellungen geprägt. Es ist daher sehr wichtig, die Orientierungskriterien sehr allgemein und überweltanschaulich [FN14] zu fassen ; hierzu zähle ich: (1) Gesundheit; (2) Lebensfreude; (3) Selbstentfaltung; (4) Selbstvertrauen; (5) Selbstbehauptung; (6) Anpassungsfähigkeit; (7) Leistungs-, Arbeitsfähigkeit und Lernbereitschaft; (8) Ausdauer, Geduld und Durchhaltevermögen; (9) Liebes- und Kontaktfähigkeit; (10) Entspannungs-, Erlebnis- und Genußfähigkeit; (11) Realitätsvermögen; (12) Zufriedenheit als Ausdruck persönlichen Wohlergehens. Und schließlich spielen die Erziehungsmittel eine wichtige Rolle: Varianten und Formen von Lohn & Strafe, Erziehungsstil, anleiten, vorgeben, reagieren, bitten, fordern, verlangen, Anreize, verhandeln, vormachen usw.
Damit sind Hintergrund und psychologischer Geist unter dem der Begriff des Kindeswohls in diesem Gutachten psychologisch interpretiert und die Untersuchung angelegt wird, ausreichend bestimmt.
Glossar,
Anmerkungen und Endnoten:
GIPT= General and Integrative
Psychotherapy,
internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
___
FN01 [3]
Zippelius, R. (1974). Einführung in die juristische Methodenlehre,
Abschnitt "Logischer Kalkül und Datenverarbeitung im Recht". München:
C. H. Beck. S.113f: "Übrigens ist es sehr zweifelhaft, ob man - selbst
dann, wenn es möglich wäre - eine völlig
exakte Rechtssprache anstreben sollte. Es ginge nämlich mit
dem Bedeutungsspielraum auch die Elastizität der Rechtsnormen, also
die Anpassungsfähigkeit der generellen Normen an die Vielgestaltigkeit
der konkreten Umstände verloren." Was nun den Kindeswohlbegriff betrifft,
so muß man sich doch nicht wirklich extra dumm stellen und so tun,
als sei nun völlig unklar und unbestimmt, um was es da gehe. Jeder
durchschnittlich intelligente Mensch im westlichen Kulturkreis hat eine
unmittelbare Vorstellung, was mit Kindeswohl gemeint ist, schon deshalb,
weil jeder selbst Kindheit erlebt und erfahren hat und weil Wohlergehen
eine erlebnismäßige jedem Menschen zugängliche und
mehr oder minder vertraute Erfahrung ist. Und im wesentlichen gibt es nur
drei Kardinalfragen: Gewährleistung, Nichtgewährleistung (Gefährdung
des Kindeswohls) und bessere Möglichkeit bei prinzipiell gleicher
Gewährleistung. Darüber hinaus gibt es Ausführungen in den
Gesetzen (im § 1666 implizit die Bedeutung der Nähe
zu den Eltern, im § 1671 (2) sogar ausdrücklich die Bindungen
an Eltern und an die Geschwister). Bindung, Elternnähe und Wohlergehen
sind unmittelbar und direkt aus dem Gesetz ablesbar. Darüber hinaus
gibt es eine reichhaltige Rechtsprechung und Fachliteratur, die näher
bestimmt, eingrenzt und am Einzelfall-Beispiel ausführt, ausgiebig
und umfangreich in Coester (siehe unten) belegt.
FN02
[4] Aus psychologischer
Sicht fehlt hier das Kriterium: als Ausdruck des persönlichen Wohlbefindens,
also der emotionalen Seite.
Infos
zur Aussagepsychologie Fußnote 2) in Kekulés Traum
FN03
[5]
Rein formal sind es 16 Beziehungsmöglichkeiten, sieht man von der
Richtung ab, kann man die 16 Grundbeziehungen auf 10 Grundtypen zurückführen.
Siehe Veranschaulichung. Nach: Sponsel, R. (1995). Handbuch Integrativer
Psychologischer Psychotherapie. Zur Theorie und Praxis der schulen- und
methodenübergreifenden Psychologischen Psychotherapie. S. 247. Mit
74 Quellentexten und 43 Falldarstellungen. Erlangen: IEC-Verlag.
FN04 [6]
Ruch & Zimbardo (dt. 1975 und ff) "Lehrbuch der Psychologie".
Berlin: Springer. S. 332.
FN05 [7] Andere
und nicht seltene Varianten sind Kameradschaftsehen, Ehen gegen die Einsamkeit,
aus gesellschaftlichen und soziokulturellen Gründen, aus Sympathie
oder zur Aufrechterhaltung eines familiären Rahmens für die Kinder.
FN06 [8] Ambivalenz, ambivalent:
zu deutsch: zwei- oder doppelwertig: zwiespältig, sowohl als auch,
hin- und hergerissen, angezogen wie abgestoßen. Unter solch ambivalenten
Beziehungen können Menschen mehr leiden als unter klar negativen,
die eine klare Abgrenzung und Neuorientierung fördern.
FN07 [9] Zitiert
nach: "Handbuch des gesamten Jugendrechts - Sammlung jugendrechtlicher
Entscheidungen", hrsg. Schnitzerling, M. v; Siegfried, F. F.; Fuchs,
K. 3 Bde., Ausgabe 1980, hier Ergänzungslieferung vom 22.April
1981. Der Beschluß betrifft zwar das Umgangsrecht, die darin enthaltene
Rechtsidee und das Kriterium sind jedoch von übergeordneter
Bedeutung für die Bewertung des Kindeswillens überhaupt. Fettung
von mir.
FN08 [10] Haupt-Bezugsperson
muß nicht unbedingt eine weibliche Person oder die Mutter sein. So
hat man den Bindungsforschern, z. B. Bowlby vielfach zu Unrecht vorgeworfen
- auch Fthenakis et al. in "Ehescheidung", München 1982, S.40/41 liefert
diese Fehlleistung, daß er die Mutter überbewertet und den Vater
vernachlässigt. Tatsächlich hat Bowlby selbst korrekt immer
von der Mutter-Figur gesprochen und das kann selbstverständlich auch
ein Mann sein, siehe "Bindung", dt. 1975 S.41 und 171
jeweils Fußnote und "Trennung" dt. 1976, S.19 Fußnote.
Hierzu auch M. Rutter "Bindung und Trennung in
der frühen Kindheit", dt. 1978, S.121
FN09 [11] Klußmann,
Rudolf W. (1981). Das Kind im Rechtsstreit der Erwachsenen. Kap.
6 ”Zu §§ 1632, 1666 BGB: Herausgabeanspruch von Eltern gegen
Pflegeeltern, S. 152. München: Ernst Reinhardt. ”Nach dem Stand der
Naturwissenschaften über biologische Naturgesetzlichkeiten handelt
es sich bei der Bindung des Säuglings und auch des älteren Kindes
an seine faktischen Eltern um eine echte Prägung, die nicht beliebig,
erst recht nicht oft, ‘umgelernt’ werden kann. Im Gegensatz zu anderen
Lernvorgängen ist diese Prägung nicht rückgängig zu
machen.” In diesem kurzen Text sind - aus entwicklungspsychologischer Sicht
- mehrere schwerwiegende und folgenreiche Fehler enthalten: (1) Die Unerheblichkeitsformulierung
für die bzw. die Gleichsetzung der Bindung eines Säuglings oder
älteren Kindes widerspricht dem ethologischen Prägungsbegriff
und repräsentiert definitionslogisch eine contradictio in adjecto,
also einen ”schwarzen Schimmel”. Es ist ja für den ethologischen Prägungsbegriff
wesentlich, daß die Prägung z. B. der Graugans (Lorenz 1935)
in eine genaue und eng definierte Zeitspanne fällt und völlig
irreversibel ist. Ein Säugling oder ein älteres Kind definieren
aber völlig unterschiedliche Zeitspannen. Bei H. M. Trautner (1978).
Lehrbuch der Entwicklungspsychologie. Bd. 1, S. 125. Göttingen: Hogrefe,
lesen wir S. 125: ”In der Ethologie oder Verhaltensforschung versteht man
unter Prägung (engl.: Imprinting) seit Lorenz (1935) den einmaligen,
irreversiblen Vorgang der Spezialisierung eines Auslöseschemas für
bestimmte Instinkthandlungen, der nur während einer kurzen Zeitspanne,
einer kritischen oder sensiblen Periode, bald nach der Geburt stattfinden
kann.” [Anmerkung: Der Entwicklungspsychologe Trautner ist übrigens
- wie viele andere Entwicklungspsychologen auch - nicht bei den 24
humanwissenschaftlichen Hochschullehrern, die von Klußmann zum Problem
”Herausnahme eines Pflegekindes aus seinem bisherigen Lebenskreis”, Der
Amtsvormund 3, 1985, S. 218, befragt wurden.] (2) Der ethologische
Prägungsbegriff wird unkritisch auf die Psychologie und Menschenkinder
übertragen. (3) Die Formulierung ”im Gegensatz zu anderen Lernvorgängen
ist diese Prägung nicht rückgängig zu machen” subsummiert
fälschlicherweise Prägung zur Klasse der Lernvorgänge. Prägung
unterscheidet sich wie Reifung entwicklungspsychologisch gerade vom Lernen.
Die Differenzierungsleistung zwischen Prägungs-, Reifungs-, Lern-
und allgemein Sozialisationsvorgängen ist geradezu ein methodologisches
Zentralthema in der deutschen Entwicklungspsychologie, z. B. (Trautner,
H. M. 1978 a. a. O.; Thomae, H. (1959 Hg.). Entwicklung und Prägung.
In: Handbuch der Psychologie, Bd.3, 240-311. Göttingen: Hogrefe.
Oerter, R.; Montada, L. (1982, Hg.) Entwicklungspsychologie. München:
Urban & Schwarzenberg.
FN10 [12]
In: ”Jenseits des Kindeswohls”, dt. Frankfurt: Suhrkamp.
FN11 [13] Das heißt
aber nicht zwingend, daß jede Aufrechterhaltung einer Ehe immer besser
für die Kinder wäre. Trennungen und Scheidungen können nämlich
auch für die betroffenen Kinder mittel- und langfristig gegenüber
dauerhaft spannungs- und konfliktreichen Ehen oder Partnerschaften sehr
positive Wirkungen haben. Das geflügelte Wort “Besser ein Ende
mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ drückt die Kernidee ziemlich
gut aus.
FN12 [14]
nach Weinert et al. (1974). Pädagogische Psychologie, Bd.1,
S.373/374
FN13 [15] Schaffer,
H. R. (dt. 1992, orig. 1990). "...und was geschieht mit den Kindern? Psychologische
Entscheidungshilfen in schwierigen familiären Situationen", Huber,
Bern 1992 (orig. Oxford 1990), S. 27
FN14 [16] Diese Kriterien
sollten von einem Liberalen wie von einem Konservativen, von einem Religiösen
wie von einem Atheisten, von einem politisch Linken wie von einem
politisch Rechten gleichermaßen anerkannt werden können.
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Salzgeber, Joseph (2011) Familienpsychologische Gutachten. 5. A. München:
C.H. Beck.
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