Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=09.04.2005 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 31.01.20
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_
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    Willkommen in unserer Abteilung Differentielle Psychologie der Persönlichkeit (Persönlichkeitspsychologie, Typen, Charaktere), hier zum Thema aus unserer Reihe

    Differentielle Psychologie, Psychodiagnostik, Psychopathologie und Psychotherapie der Persönlichkeiten:

    Einführung in das Thema der Hochstapelei
     Kennzeichnungs- und Definitionsprobleme
    Die normalpsychologischen Grundlagen der Hochstapelei

    Hochstapelei - Psychologie und Psychopathologie der HochstaplerIn

    von Rudolf Sponsel, Erlangen
    Zum Geleit:
    Wir hochstapeln alle mehr oder minder


    Wie interessant das Thema für die Gesellschaft ist, kann man z.B. am Erfolg von Thomas Manns Felix Krull ablesen.


      Überblick :
    • Einführung und Überblick in das Thema der Hochstapelei.
    • Die akzeptierten Formen der Hochstapelei in der bürgerlichen Gesellschaft.
      • Alltags-Hochstapeleien jedermanns.
    • Die normalpsychologischen Grundlagen der Hochstapelei: Die Grenzen sind sehr fließend.
      • Die akademische Psychologie, die Hochstapelei und die Lüge.
      • Eigene Arbeitshypothesen.
      • Motivationsanalyse des Hochstapelns.
    • Kennzeichnungs- und Definitionsprobleme.
    • Die 10 Gebote des Hochstaplers Viktor "Graf" Lustigs.
    • Kulturbedingte Relativitäten der Begriffsbestimmungen und Wertungen.
    • Exkurs: Tiefstapeln, "understatementen" und fishing for compliments.
    • Anmerkungen und Endnoten.
    • Änderungen.
    • Querverweise.



    Einführung und Überblick in das Thema der Hochstapelei
    Das Thema Hochstapelei erfreut sich wahrscheinlich immerwährenden Interesses und ist daher vermutlich zeitlos attraktiv. Das rührt wahrscheinlich daher, daß es in uns allen mehr oder weniger hochstaplerische und auch kriminelle Motive [EN01a,b,c] gibt und die HochstaplerIn wegen ihres frechen Mutes und ihrer Geschicklichkeit vielfach bewundert wird. Sie traut sich etwas, lebt etwas, das wir uns vielfach versagen und nicht trauen. So wagen und leben sie ein Stück von uns selbst: Mehr sein als wir sind, das wünschen sich die meisten von uns, und deshalb werden es die meisten als angenehm empfinden, wenigstens mehr zu gelten und zu scheinen als sie sind. Täuschend echt, groß und selbstbewußt auftreten, wer wünschte sich das nicht? Die Fähigkeit zu täuschen, läßt die HochstaplerIn als tüchtige SchauspielerIn und ZauberIn erscheinen, auch zwei Berufe und Rollen, die vielfach Bewunderung hervorrufen. Und häufig sind die Geschädigten an ihrer Täuschung mitbeteiligt, offenbaren Schwächen und Fehler, die ihnen nicht eben zu Ruhm und Ehre gereichen. Hochstapeln ist, wenn es gelingt, ein gut inszeniertes und sehr wirkungsvolles Schauspiel, das anscheinend leicht und mühelos zu Vorteilen, Geld und zu gesellschaftlichem Rang und gesellschaftlicher Stellung führt. HochstaplerInnen gebrauchen keine Gewalt, wirken charmant, zeigen meist sehr gute Manieren, und sie sind an der Oberfläche sehr anpassungsfähig und einfühlsam und haben einen sicheren Instinkt für ihr Gegenüber. Sie sind MeisterInnen der Blendung und des Bluffs. Eigentlich sollten sie auch gute PolitikerInnen, VerkäuferInnen, WerbeagentInnen, SchauspielerInnen oder MedienpräsentatorInnen sein können, denn Show und Schein sind ihr Metier und eigentliches Kerngeschäft. Doch es fehlen ihnen hierzu oft die formalen Voraussetzungen und die richtige Einstellung zur Arbeit, Anstrengung und damit die Ausbildung. Im allgemeinen fliegt der Erfolg niemandem zu, meist ist viel Arbeit und Training und letztlich auch noch das nötige Glück erforderlich, um nach oben zu kommen und dort zu bleiben. Und es ist nicht einmal so schwer, zu täuschen oder getäuscht zu werden. Wir alle müssen im Alltag notwendigerweise vertrauen und verlassen uns vielfach auf einige wenige Zeichen, die uns die HochstaplerInnen natürlich geschickt anbieten. Wer eine Briefträgeruniform an hat, wird für einen solchen gehalten, wie der Monteur in seiner Montur, der Arzt im weißen Kittel, mit Stethoskop und Reflexhämmerchen. Es ist sehr leicht, einen falschen Eindruck hervorzurufen und es ist sehr leicht, einem falschen Eindruck zu erliegen. Das ist das Grundkapital der HochstaplerIn. Doch nicht alle sind nur charmant, nett und geschickt. Darunter sind rücksichtslose, ja manchmal sogar sadistische SoziopathInnen, die nicht die geringsten Skrupel haben, andere Menschen bis in den Tod hinein zu vernichten oder auch mal, mit dem Rücken an der Wand, in ganz gewöhnliche erpresserische und räuberische kriminelle Verhaltensmuster abzudriften [EN02].

    Die akzeptierten Formen der Hochstapelei in der bürgerlichen Gesellschaft

    Höflichkeit, Wohlverhalten, sog. gute Manieren, Formen und Diplomatie sind vielfach allgemein akzeptierte Formen der Hochstapelei. Erziehung zu Sozialverhalten kann vielfach als Erziehung zur Hochstapelei angesehen werden.
        Weniger akzeptiert, aber doch hingenommen, sind die Phrasen und Lügengebäude der PolitikerInnen, die über weite Strecken als BerufshochstaplerInnen gleich neben der Werbeindustrie, den Medien und den Abgesandten Gottes auf dieser Erde plaziert werden können. Religions- und Kirchenrepräsentanten sind aber weitgehend akzeptierte Hochstapler und auch so betrachtet eine besondere Gattung.
    In der Wirtschaft gehört die Hochstapelei mit der Werbung zum Kerngeschäft des Kapitalismus, natürlich höchstrichterlich für gut und nötig erkannt. Der Wettbewerb ist eine zivilisierte Form des Krieges und freier Wettbewerb ist mörderisch und echte Selbstbehauptung. Deshalb ist kein Konzern an echtem Wettbewerb oder an Freiheit wirklich interessiert, sondern nur an einer marktbeherrschenden Stellung, was zwangsläufig zu Oligopolen, Monopolen und Kartellen führen muß. Die sog. freie Marktwirtschaft bedeutet daher in Wahrheit die Aufhebung des freien Wettbewerbs; sie ist immer in der Gefahr, ihre sog. freien Wettbewerbsgrundlagen selbst aufzuheben.
        Auch vor Gericht spielen Form und Formen eine extreme Rolle und damit sind JuristInnen und Gerichte offenbar auch besonders anfällig für Hochstapelei, was der falsche Arzt und falsche Psychiater Gert Postel eindrucksvoll vorführte. Auch  Roben und andere Rituale unterstreichen die juristische Schwäche für das Schauspiel und das Hochstapeln. Und letztlich ist ja die ganze Rechtsprechung vom Anspruch her sehr nahe an der Hochstapelei, vergegenwärtigt man sich, daß das eigentliche Ziel Gerechtigkeit heißen sollte. In den USA ist es schon zu einem entwürdigenden Handelsgeschäft und Spiel verkommen. Old Europe hat eigene Wege der Aushöhlung gefunden.
        Im Krieg gelten Hochstapeleien mitunter als besonders dekorierungswürdig. Die Kriegslist kann Schlachten gewinnen und zu Weltruhm führen. Hier gelten Tücke, Verschlagenheit, Täuschung als hohe und ordensverdächtige Tugenden, ebenso bei der Kriminalpolizei, den Geheimdiensten und im Spionagewesen. Man kann sagen: Es gibt grundsätzlich zweierlei Rechtsauffassungen, nämlich das Recht für Freunde, Gegner oder gar Feinde (Auserwählt im Normalpsychologischen), Sieger und Besiegte, Herrscher und Beherrschte, Oben und Unten, ein Recht für die Feinen und eins für die Kleinen. Was in einem Fall verboten, kriminalisiert und verfolgt wird, ist im anderen Fall eine höchst ehrwürdige Tugend. So leiden alle Rechtssysteme und Gesellschaften an diesem zweierlei Maß - und wirkliche Zivilisationen sollten dem Rechnung tragen und sich schützen.
        Das Ambiente, Atmosphäre, Form, Verpackung, Oberfläche und Präsentation spielen eine extreme Rolle in der ganzen Gesellschaft, sie durchdringen alle Bereiche. Und je mehr und nachhaltiger sie das tun, desto leichter haben es HochstaplerInnen, sich diese Formen und Verpackungen anzueignen und zu simulieren. Erfolgreiche HochstaplerInnen sind Erscheinungs-, Verpackungs- und PräsentationskünstlerInnen. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob und was man kann, als vielmehr darauf, den entsprechenden Eindruck, die richtige Illusion hervorzurufen. Der Schein ist zwar nicht alles, aber doch sehr wesentlich und sehr oft das Sesam öffne Dich dafür, daß es überhaupt weiter und vorwärts geht.

    Alltags-Hochstapeleien jedermanns
    abschreiben; anpassen; ausschmücken; diplomatisch sein, schmeicheln, einseifen; sagen, was das Gegenüber hören möchte, nach dem Mund reden; flunkern, frisieren; verdrehen, manipulieren, was vormachen, gute Miene zum bösen Spiel machen; höflich sein; schwindeln; Spickzettel; türken; verschweigen; vorteilhaft präsentieren; weglassen.

    Die normalpsychologischen Grundlagen der Hochstapelei: Die Grenzen sind sehr fließend [EN01]

    Die akademische Psychologie - mit Ausnahme der ForensikerInnen (Aussagepsychologie) - kennt das Phänomen der Hochstapelei, der Lüge und der LügnerInnen nicht. Wie so oft, wenn es um Lebensfragen geht, sucht man in den Elfenbeintürmen der Universitäten vergeblich. Vielleicht bedeutet das aber auch nur (Arbeits-Hypothese), daß das Phänomen in Hochstapler- Gesellschaften mit psychologischen Lehrstühlen so alltäglich  und normal ist, daß es gar keiner besonderer Erwähnung bedarf . Vielleicht gehört dies aber auch zur spezifisch akademisch psychologischen Hochstapelei, daß man sich um die Lebensfragen  - Liebe, Freundschaft, Gerechtigkeit, Echtheit, Schwindel, Betrug, Lüge, ...  - nicht kümmert ;-). Dies sei aber, bevor ich meine Arbteits-Hypothesen zur Hochstapelei vorstelle, zunächst belegt:

    Die akademische Psychologie, die Hochstapelei und die Lüge

     
    Im „Dorsch Psychologisches Wörterbuch“ (12. A. bis 1994) findet sich kein Eintrag „Hochstapler“.
    Das „Wörterbuch der Psychologie“, Kröner, (Hehlmann 1965) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    Im „Kleines Psychologisches Wörterbuch“ von Michel & Novak (1990), Herder, findet sich kein Eintrag „Hochstapler“.
    Das „dtv Wörterbuch zur Psychologie“ von Fröhlich (20. A. bis 1994) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    Das „abc Fachlexikon Psychologie“, Harry Deutsch, hrsg. von Clauß et al. (1995) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    Das „Lexikon der Psychologie“, Kröner, von Städtler (1998) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    Das „Lexikon der Psychologie“, Faktum / Bertelsmann (1995) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
        Auch in den Nachbar- und Grenzgebieten sieht es nicht viel besser aus: 
    Das „Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie“, Urban & Schwarzenberg,  von Peters (3. A. 1984) hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    Das Wörterbuch der Soziologie von Hartfiel & Hillmann (1972), Kröner,  hat keinen Eintrag „Hochstapler“.
    In „Das Vokabular der Psychoanalyse“ von LaPLanche & Pontalis (dt. 1972) findet sich kein Eintrag „Hochstapler“.
    Das „Lexikon der Ethik“ von Höffe (1997, Hrsg.), C.H. Beck, hat keinen Eintrag „Hochstapler“.

    Wie steht es nun mit der differentiellen Psychologie der Persönlichkeit? 
    Kennt man hier das Hochstapler-Phänomen? (zeitlich geordnet)

    In Allport, G. W. (dt. 1959, 2. A.). Persönlichkeit gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Lersch, Ph. (1956, 7. A.). Aufbau der Person gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Lersch, Ph. & Thomae, H. (1960, Hrsg.). Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie. Handbuch der Psychologie, Bd. 4. gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“. Auch „Lüge“ oder „Lügner“ sucht man vergeblich. Das Phänomen scheint die akademische Psychologie nicht zu kennen. 

    In Wellek, Albert (1966, 3. A.). Die Polarität im Aufbau des Charakters. System der konkreten Charakterkunde. gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“. Aber er thematisiert immerhin „Echtheit und Maske“, S. 351-361. 

    In Guilford, J. P. (1970, 4. A.). Persönlichkeit gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Hofstätter, P.  R. (1971). Differentielle Psychologie gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Meili, R. (5. A., 1971). Lehrbuch der Psychologischen Diagnostik gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hoch¬stapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Heiss, R.  (3. A. 1971, Hg.). HBdPsychol Bd. 6, Psychologische Diagnostik gibt es auf über 1040 Seiten keinen  Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“, aber wenigstens „Lügen-Fragen“. 

    In Graumann, C.F. (1969 I., 1972 II., Hrsg.). Handbuch der Psychologie. Sozialpsychologie I.  u. II. (zusammen 2060 Seiten) gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. In Bd. II. kennt man aber wenigstens den Begriff der "Täuschung" (Auswertung im Detail).

    In Herrmann, Theo (1976, 3. A.). Lehrbuch der empirischen Persönlichkeitsforschung gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“, aber immerhin einen Eintrag zur „Lügenskala“ und Querverweis zu „Beantwortungsstil“. 

    In Asendorpf, Jens (1988). Keiner wie der andere gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“ auch nicht  „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Amelang, Manfred & Bartussek, Dieter (1990, 3.A.). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“.

    In Fisseni, H.-J. (1990). Lehrbuch der psychologischen Diagnostik gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“, aber wenigstens ein Eintrag „Lügenskala“ mit Querverweis zu Offenheit, Verschlossenheit. 

    Fisseni, H.-J. (1992, 2. A.). Persönlichkeitsbeurteilung gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“. 

    In Jäger, R. S. &  Petermann, F. (1992, Hg.). Psychologische Diagnostik. Ein Lehrbuch gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“, wohl aber „Lügendetektor“. 

    In Amelang, M. (1996, Hrsg.). Enzyklopädie der Psychologie [C, VIII, 3]. Temperaments und Persönlichkeitsunterschiede gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, auch nicht „Lüge“ oder „Lügner“ und nicht "Täuschung" oder "täuschen", obwohl gleich das erste Kapitel "Generalisierte Einstellungen" zum Thema hat.

    Selbst in Fiedler, P. (1997, 3.A.). Persönlichkeitsstörungen gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, und der einzige Eintrag "Lügner und Schwindler" ist nicht etwa Ausdrucks seiner Realitätsauffassung, sondern S. 16 zitiert er nur Kraepelin - mit erhobenem moralischen Zeigefinger, der allerdings Kraepelin, nicht den Lügnern und Schwindlern gilt.

         Auch in Undeutsch, U. (1967, Hrsg.). Handbuch der Psychologie. Bd. 11 Forensische Psychologie. gibt es keinen Sachregister-Eintrag „Hochstapler“, aber ein paar Einträge zu „Lüge“ und „Lügendetektion“. 

         Die akademische Psychologie erweist sich damit als ein erstaunlicher Ort und Hort der Naivität und Lebensfremdheit.
     

    Eigene Arbeitshypothesen
    Die normalpsychologische Grundlage der Hochstapelei beruht nach meiner Auffassung auf  folgenden natürlichen Bedürfnissen (Wünschen, Motiven): (1) etwas zu gelten, etwas zu haben und zu sein und zwar (2) auf möglichst angenehme Weise (einfach, schnell, leicht, viel, mühelos). (3) Vielen macht es auch Spaß, eine Rolle zu spielen und zu täuschen, anderen einen "Streich" zu spielen, sie hochzunehmen und zu verulken; hier kommt auch eine verbrämte aggressive Komponente ins Spiel, weil der Lustgewinn auf Kosten des oder der anderen erfolgt. (4) Schließlich kommt mit dem Hochstapeln als Risikospiel eine erhöhte Grundspannung und Erregung in das Leben, es wird abenteuerlicher, aufregender, ereignis- und erlebnisreicher. (5) Hochstapeln kann bei entsprechender Befriedigung auch zu einer Gewohnheit werden und in einen Wiederholungszwang oder in Sucht ausarten, wobei auch reizvolle oder gewohnte Milieufaktoren eine begünstigende Rolle spielen können.

    Motivationsanalyse des Hochstapelns
    Am Hochstapeln können zahlreiche Motive beteiligt sein (Brainstorming):

    1. Lust am Spiel des Täuschens
    2. Lust am Abenteuer, an der Erregung und Spannung
    3. Lust am heimlichen Regie führen: die Puppen tanzen lassen, die Fäden in der Hand halten, die Strippen ziehen.
    4. Lust an der Herausforderung: wird es gelingen, kann ich bestehen?
    5. Befriedigung durch das Macht-, Kompetenz- und Triumpfgefühl: ich kann es, bin fähig, beherrsche es (Funktionslust des Könnens)
    6. Befriedigung durch Vorteile und Gewinn (direkte Belohnung) durch die Betrügereien
    7. Befriedigung durch das Macht.- und Überlegenheitsgefühl, den anderen täuschen und sich nutzbar machen zu können: ich habe Dich reingelegt, an der Nase herumgeführt; ich bin schlauer, cleverer als du.
    8. Befriedigung durch die erzielten Wirkungen: wer zu sein, als dieser oder jener zu gelten, für diesen oder jenen gehalten zu werden.
    9. Befriedigung durch die Geltung der erfolgreich gespielten Rolle (Idenitifikationslustgewinn), Aneignung und Verwertung einer gesellschaftlichen Stellung, Nutznießen eines Rufes.
    10. Befriedigung durch Rache: es tut gut, es anderen zu zeigen, erlittene Schmach, nicht erhaltene, verpaßte oder verpatzte Chancen zu "korrigieren".
    11. Optimierungs-Befriedigung: auf  leichte und schnelle Weise Erfolge zu erzielen, für die andere oft hart und lange arbeiten müssen.
    12. Tagtraumlust in der Vorwegnahme, berühmt, bewundert, beneidet zu werden: wenn das herauskommt, wenn die wüßten, was werden die Medien sagen?




    Kennzeichnungs- und Definitionsprobleme:
    Zum weiteren Begriffsumfeld (Zur Etymologie) hochstapeln gehören z.B. Angeben, lügen, schwindeln, betrügen, scheinen, listig, schlau, heucheln, Rolle, Theater spielen, täuschen, aufschneiden, auf den Putz hauen, Fassade, Maske, Gauner, Lügner, Schwindler, Betrüger, Trickbetrüger, List, Trick, Täuschung, Bluff.
     
    Die HochstaplerIn täuscht vor, eine andere und meist mehr zu sein, als sie ist, kann oder zu leisten bereit ist.

    Diese Definition ist sehr weit und reicht von der kleinen Angeberei, vom etwas ausschmücken und sich selbst ein bißchen erhöhen durch weglassen, hinzufügen oder verändern bis hin zum schweren Betrug mit erheblichen Folgen und Schäden für Menschen und ihre Gemeinschaften. Die Grenzen sind also sehr weit und fließend, und die Bewertungen hängen auch sehr von Kultur, Gesellschaft, Milieu und Sozialisation ab. In gewisser Weise sind fast alle Menschen zumindest hin und wieder, mehr oder minder, HochstaplerInnen, weil wir fast alle gelegentlich etwas ausschmücken, uns erhöhen, unsere Geschichten ein bißchen "verändern", das eine so erzählen, das andere so, ein bißchen weglassen, ein bißchen hinzufügen; weshalb auch eigentlich kaum jemand vor Gericht beschwören kann, die ganze und nichts als die - subjektive - Wahrheit zu sagen: man kann sich bestenfalls bemühen. Und daher kann sich im Grunde auch fast jede(r) sehr leicht mit HochstaplerInnen identifizieren, besonders dann, wenn sie entsprechende Bewunderung und Wertschätzung erfährt und man es den  Geschädigten "gönnt". Hier greifen dann die berühmt-berüchtigten Abwehr- und Neutralisationsmechanismen, die Unrecht bagatellisieren (herunterspielen, klein machen), rationalisieren (mit falschen Gründen rechtfertigen) oder gar verdrehen und mit dem Robin- Hood- Mechanismus ins Gegenteil verkehren und auf den Kopf stellen (das geschieht dem aber recht, verdient hat er es, warum ist er auch so dumm, eitel oder gierig usw.)



    Die 10 Gebote des Hochstaplers Viktor "Graf" Lustigs
    Einer der erfolgreichsten Hochstapler und Betrüger, Viktor "Graf" Lustig, der Mann, der den Eifelturm gleich zweimal verkaufte, stellte 10 Regeln für erfolgreiches Hochstapeln auf. Diese Regeln, die einerseits an die hohe Kunst der "Arschkriecherei" und andererseits an Aronsons Bedingungen für die Liebe erinnern, waren nach Egon Larsen, S. 263:
       
      "Sei ein guter Zuhörer; zeige niemals, daß du dich langweilst; warte, bis dein Gesprächspartner seine politischen Ansichten enthüllt, und stimme ihm dann bei; lasse ihn religiöse Themen anschneiden und teile ihm mit, daß du ebenso denkst; fange vorsichtig an, von Liebesgeschichten zu erzählen, aber verfolge das Thema nur, wenn der andere besonderes Interesse zeigt; sprich nicht von Krankheiten, es sei denn, der andere ist fasziniert davon; stelle keine persönlichen Fragen -  früher oder später machen die Menschen ja immer auch unverlangte Enthüllungen über ihr Privatleben; protze nicht - die ganze Persönlichkeit muß deine Wichtigkeit ausstrahlen; sei niemals schlampig gekleidet; und betrinke dich nie. 
          Nur ein Mann von starkem Charakter und hoher Willenskraft ist imstande, sich in jeder Lebenslage strikt an derartige Disziplinarregeln zu halten. Graf Lustig gelang es." 


    Kulturbedingte Relativitäten der Begriffsbestimmungen und Wertungen.
    Werte, Recht und Sitte sind extrem kultur-, zeit-, situations- und individuationsabhängig. In Bezug auf unser Thema heißt das, was der eine als heilig verehrt, mag ein anderer für reinen Schwindel und Hochstapelei halten, z.B. wenn man die Institution Papst betrachtet.



    Exkurs: Tiefstapeln, "understatementen" und fishing for compliments.
    Es gibt neben echter auch eine Form der Bescheidenheit, die gar nicht so gemeint ist und nur gespielt wird, so daß man sich fragen kann, ob diese bestimmten Formen der Untertreibung und des "Tiefstapelns" in Wahrheit nicht verdeckte und raffinierte Formen des Hochstapelns bedeuten. Also Erhöhung durch "Erniedrigung"? Ist das nicht ein Widerspruch zu den obigen definitorischen Bestimmungen?  Die Antwort lautet "Jein": In der Methode ja, im Ziel nicht, aber das Verhalten kommt in bürgerlichen Gesellschaften, wo viel Wert auf Form und Schein gelegt wird, gut an. Davon abzugrenzen sind also echte Bescheidenheit und Unsicherheit, Zweifel, falsche Einschätzung hinsichtlich der eigenen Fähig- und Tüchtigkeiten, wie sie etwa Clance in ihrem Buch "Erfolgreiche Versager. Das Hochstapler-Phänomen" beschreibt. Der Ausdruck "Hochstapler-Phänomen" ist bei Clance falsch gewählt. Treffender wäre gewesen: Das Leistungs-Unsicherheits-Phänomen.



    Anmerkungen und Endnoten

    [EN01] Es ist eine weit verbreitete Wunschvorstellung (vermeintlich) gut-bürgerlicher Kreise, daß es so etwas wie die geborene VerbrecherIn gibt, von der sich der "anständige" und "ordentliche" Mensch wohlabgesetzt dünken und denken kann, dies betrifft doch ziemlich sicher nur eine kleine Minderheit kriminell handelnder Menschen. So gibt es zwar ziemlich sicher auch einige genetisch vorbelastete PsychopathInnen, die dieser Wunschvorstellung entsprechen, das ist aber im weiten Feld der Kriminalität, die zu allererst eine sehr weit verbreitete soziokulturelle Erscheinung ist, ein eher seltener Fall. Im Regelfall ist fast jeder Mensch zu kriminellen Handlungen, die ja zum Teil auch nur durch seltsame und fragwürdige Gesetze zu solchen definiert werden, fähig und motiviert und er vollzieht sie auch. Die meisten Straftaten werden wahrscheinlich gar nicht entdeckt - bis hin zum Mord, da bereits die Todesursachenfeststellung vielfach sehr nachlässig und fehlerhaft erfolgt. Ähnlich äußerte sich schon 1923 der berühmte Staatsanwalt Wulffen in seiner Schrift Der Hochstapler (S.5): "Vielmehr behaupten wir neueren Kriminalisten, daß die Charaktere der Verbrecher in ihrer Umgebung sich bilden und körperlich wie seelisch, genau oder modifiziert, je die Grundeigenschaften der Gesellschafts- und Volksklasse wiedergeben, in welcher sie geboren wurden. Es gibt keine besonderen, ausdrücklichen verbrecherischen Strebungen, welche die Natur der Menschenseele eingepflanzt hätte. Wenn sich seelische Strebungen verbrecherisch im Sinne der Strafgesetze auswirken, so handelt es sich um Instinkte, Triebe oder Eigenschaften, die unter günstigeren Umständen oder in geringerer Stärke eine für den Menschen lebensnotwendige, wohltätige, soziale Bestätigung finden. Die Psychologie, welche das menschliche Gefühls- und Vorstellungsleben im allgemeinen ergründet, weist bei diesen Instinkten, Trieben und Strebungen Breiten von Übergängen nach, wo die soziale Betätigung allmählich oder plötzlich in die unsoziale überfließt. Die fließenden Übergänge zeigen die interessantesten Gebiete der Kriminalpsychologie auf."
    Auch von Cleric schreibt schon 1926, S. 38: "Es ist vielfach mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die psychischen Eigenarten des Hochstaplers und besonders auch des pathologischen Schwindlers, zu denen häufig der Hochstapler zählt, zunächst aus psychischen Erscheinungen des Normalmenschen abzuleiten sind." [FN4: Hinweise auf Wulffen, Aschaffenburg, Hinrichsen, Strauss] "So zeigen sich schon im Seelenleben des normalen Menschen oft gewisse Parallelen zur hochstaplerischen Denkweise. Auch der Normalmensch hat häufig seine Tagträume. Und auch er besitzt vielfach einen besonderen Trieb und ein grosses Talent, sich zu verstellen und zu schwindeln. In gewissem Umfange regiert überhaupt ein Gesetz des Scheines Leben und Welt (Wulffen, Hochstapler 23). ..."
    Der Untertitel von Delbrücks berühmter Schrift - Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom für Ärzte und Juristen - weist ebenfalls auf die Nähe und enge Verwandtschaft des Normalen und des Pathologischen hin.
    ___
    [EN02]. Siehe von Hentig (1957), Kapitel V, Abschnitt IV "Zerstörer".
    ___
    Kriegslist. Hierzu: Kriegslisten in : Time Life Bibliothek erstaunlicher Fakten und Phänomene: Schwindel und Betrug  (1992, Hrsg. Philips, Ellen). Deutsche Erstausgabe, München. Zu Krieg, Kriegspsychologie und zur Psychologie des Tötens.
    ___
    Arschkriecherei. Buch von Alphons Silbermann: "Von der Kunst der Arschkriecherei" (Abbildung Buchtitelblatt). Bibliographischer Hinweis zum  Buch.
    ___
    Aronsons Liebesbedingungen: Aronson (1969) hat die sieben Antworten, die die Forschung in diesem Gebiet bisher geben kann, zusammengefaßt. Wir mögen Menschen, die (a) uns physisch näher sind, (b) unserer Meinung sind, c) ihrer Persönlichkeit nach uns ähnlich sind, (d) unsere Bedürfnisse befriedigen und Bedürfnisse haben, die wir befriedigen können, (e) über Fähigkeiten und Kompetenz verfügen, (f) 'angenehm' sind und 'schöne' Dinge  tun, (g) uns mögen. Kurz gesagt, 'wir mögen Menschen, die uns maximale Befriedigung bei minimalem Aufwand verschaffen.'" Zitiert nach: Ruch & Zimbardo (dt. 1975 und ff) "Lehrbuch der  Psychologie". Berlin: Springer. S. 332. Zur Liebe: [1,2]
    ___
    Täuschung. Die Sachregister im HBdP, Sozialpsychologie, weisen folgende Fundstellen beim Eintrag "Täuschung" auf: Bd. I. 336, 360ff. Bd. II, der mit S. 861 beginnt, ist nicht einmal konsistent zu Bd. I, weist folgende Fundstellen auf: 240, 248, 249, 336, 341, 349, 360ff, 1229, 1571, 1666, 1769 f.
        Der Eintrag S. 336 beschäftigt sich mit Fehlern in Experimenten (Rosental-Effekt u.a.), zu deren Erforschung auch Versuchspersonen getäuscht wurden (also Lügen der Wissenschaft im Dienste der Wissenschaft), dies wird S. 360 ff näher ausgeführt. Dies betrifft auch den Eintrag auf S. 240 (Asch-Phänomen) , das 248/249 noch einmal erwähnt wird. Auch der Eintrag S. 341 und 349 beschäftigt sich mit experimenteller Kontrolltechnik in der Sozialpsychologie. Der Eintrag im II. Bd. S. 1229 thematisiert Kleidung, Selbst und Identität. S. 1571 erörtert wieder experimentelle Designs. S. 1666 erörtert das Studium von Gruppen, Führungs- und Kommunikationsstrukturen. S. 1769 f  bespricht den Milgram-Versuch, bei dem 62% der Versuchteilnehmer zu maximalen Sanktionen durch Elektroschocks bereit waren (40 befragte Psychiater schätzten 0,1%, das ist ein Irrtum um das 620fache). Summa Summarum: Die akademische Sozialpsychologie kennt offenbar nur eigene, nämlich  wissenschaftliche Hochstapelein und Lügen; draußen in der wirklichen sozialen Welt scheint Hochstapeln, Lüge und Lügner für sie keine Relvanz zu besitzen.



    [ Interner Merkzettel (Stichworte, Themen): Minimierung emotional-kognitiver Dissonanz: Die Rolle der Abwehr- und Neutralisationsmechanismen * Nicht bewußt motivierter Irrtum * Unschärfe zwischen Phantasie und Wirklichkeit * Warum steckt in fast jedem Menschen eine zumindest kleine HochstaplerIn? * Warum ernten HochstaplerInnen oft viel Sympathie, Anerkennung und Bewunderung? * ]


    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    23.05.05    Nachtrag: Exkurs: Tiefstapeln, "understatementen" und fishing for compliments.
    02.05.05    Querverweis (Link) zur Etymologie.
    16.04.05    Motivationsanalyse des Hochstapelns.
    11.04.05    Auswertung Sachregister Handbuch der Psychologie. Sozialpsychologie (2 Bde. 2060 Seiten) und Enzyklopädie der Psychologie, [C, VIII, 3]. Temperaments und Persönlichkeitsunterschiede.
    10.04.05    Einbau: Die akademische Psychologie, die Hochstapelei und die Lüge.


    Querverweise
    Standort: Einführung in das Thema der Hochstapelei.
    Überblicks- und Verteilerseite: Hochstapelei - Psychologie und Psychopathologie der HochstaplerIn.
    Übersicht Differentielle Psychologie der Persönlichkeit in der Allgemeinen und Integrativen Psychodiagnostik, Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie.
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B.  Hochstapler site:www.sgipt.org * 
    *
    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Sponsel, R. (DAS).  Einführung: Hochstapelei - Psychologie und Psychopathologie der HochstaplerIn. Aus der Reihe Differentielle Psychologie der Persönlichkeit in der Allgemeinen und Integrativen Psychodiagnostik, Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie, hier speziell der Devianz (abweichendes Verhalten).  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/diffpsy/devianz/hochstap/einf_hs.htm
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    korrigiert: irs 09.04.05