Materialien zur Psychologie und Psychopathologie
der HochstaplerIn:
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Arbeit.
Schulpolitik als Hochstapelei
Aus der BAYERISCHEN STAATSZEITUNG vom 7. März 2003
Von Josef K r a u s
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL)
Hochstapelei scheint ein Phänomen der Neuzeit zu sein. Bibel und Antike kennen Hochstapelei zumindest als Begriff nicht. Zwar gibt es im 1. Buch Samuel einen Goliath, das Großmaul der Philister; und es gibt den Prahlhans in Äsops Fabel, der Sprüche über seine Weitsprungleistung reißt und deshalb sein Können hier und jetzt - Hic Rhodos! Hic salta! - unter Beweis stellen soll. Im deutschen Sprachraum taucht der „Hochstapler“ als vornehm auftretender Bettler aber erst in der rotwelschen Gaunersprache des 18. Jahrhunderts auf. Andere Sprachen kennen ihn nur wenig früher, etwa ab dem 16. Jahrhundert. Im Italienischen ist er der „escroguerie“, der Schnorrer, bzw. der „cavaliere d’ industria, also der Ritter vom großen Eifer; im Französischen ebenfalls der „chevalier d’ industrie“ bzw. der „flibustier“ oder „imposteur“, der Täuscher; „impostor“ heißt er auch im Englischen, außerdem „highflyer“ und „confidence trickser“ (kurz: „conman“).
An diese weise Semantik fühlt sich erinnert, wer aktuelle Politik mit ihren „Machtworten“ und ihrer permanenten Ankündigung „radikaler Reformen“ betrachtet - eine Politik zumeist von der Verfallszeit einer Tageszeitung. Die Schulpolitik will da nicht außen vor bleiben. Ja mehr noch: Schulpolitik scheint, nachdem die Segnungen des Dinosauriers Gesamtschule kaum noch glaubhaft sind, einen Nachholbedarf an Hochstapelei zu haben. Und so greift eine schulpolitische Verbalerotik um sich. Angesagt sind jetzt - wohlgemerkt für „Bildung“: Total Quality Management, Marketing, Intellectual-Capital-Management, Best Practice, Just-in-time-Knowledge usw. Fehlt nur noch ein „Last Minute Learning“, wenn dieses Schüler nicht schon längst erfunden hätten. Ansonsten gibt es: Edutainment, Educ@tion, Learntec, didaktische Hyperlinks, knowledge-machines, Lern-Animation, Download-Wissen usw. Und auch darüber hinaus werden die Schulen tagtäglich bombardiert von allen möglichen Institutionen und „Experten“, die ihren pädagogischen Helfer-Komplex entdecken und der Schule „Highlights“ anbieten: „Cinema goes School“, „IT works“, „Girls go Tec“ etc.
Wie Hochstapelei muten die ins Kraut schießenden Vorstellungen von einer schulischen Omnipotenz an. Viele kochen ihr Süppchen und meinen, sich hier profilieren zu müssen. Ein Erziehungswissenschaftler aus Hamburg, dessen Bücher sich halbjährlich klonen, will die Lehrer künftig als „Gemeinwesenarbeiter“ und „Interaktionsanwälte“. Ein Filmemacher, der eine nordische Schule von innen gefilmt hat, lässt sich als Schulexperte durch Presse, Gewerkschaften und Stiftungen reichen und „Schule am Wendekreis“ verkünden. Ein selbsternannter Innovationsberater aus Rheinland-Pfalz zieht durch die Lande und wirbt für sein „Methodentraining“ als Basis aller „Schulentwicklung“; es besteht darin, dass Schüler den Umgang mit dem Textmarker und das flüchtige Lesen lernen. Sogar die gegenüber progressiver Pädagogik sonst nicht abgeneigte Frankfurter Rundschau weiß zu berichten: Das sei Scharlatanerie, denn dieses Training entlaste die Schüler von der Mühe des Verstehens.
Amtlicherseits werden ständig neue Kulturen propagiert: Eine neue Aufgaben-Kultur, eine neue Lern-Kultur, eine neue Gesprächs-Kultur, eine neue Anstrengungs-Kultur u.v.a.m. müssten her. Und außerdem habe Schule Freizeit-, Konsum-, Verkehrs-, Gesundheits-, Umwelt-, Medien- und Ernährungs-Erziehung zu leisten. Die Bundesministerin für Verbraucherschutz, Renate Künast, fordert kürzlich, dass Schule den Kindern beibringen müsse, wie man sich fettfrei ernährt. Wörtlich: „In den Schulen sollen Essen und Kochen als Kulturtechniken wieder entdeckt werden.“ Bundesfamilienministerin Renate Schmidt fordert Ende 2002 ein Schulfach Familienkunde, denn viele wüssten nicht, was Liebe sei; messerscharf folgert sie: „Da kann der Staat helfen“.
Nicht hoch genug ist vielen schulpolitischen Vor- und An-Denkern die Abiturientenquote. Deshalb fordern sie in planwirtschaftlicher Verwechslung von Quantität und Qualität eine drastische Erhöhung des Abiturienten-Outputs. Bundesbildungsministerin Bulmahn und ihr Vorgänger, der vergangene Zukunftsminister Rüttgers, marschieren hier parteiübergreifend Arm in Arm. Und schlussendlich soll Schule Unterrichts-, Personal- und Organisationsentwicklung managen, ja sie soll eine lernende Organisation sein, die Metakompetenzen vermittelt. Ach ja: „Nachhaltig“ muss alles sein. Und: Wohin man guckt, sind Evaluationitis und Testeritis (vulgo: Schul-TÜV) angesagt. Dabei müsste eigentlich die alte Landwirte-Weisheit gelten: Vom Wiegen allein wird das Schlachtvieh nicht fett.
Da Bayern nicht hinter dem Mond liegt, geht die Hochstapelei am Freistaat nicht spurlos vorüber. Die permanenten „Initialzündungen“ sind auch hier Legion: Nachdem in Nordrhein-Westfalen 1995 das Konzept der teilautonomen Schule „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ ausgerufen worden war, hat die bayerische Regierungspartei nun das Konzept „Zukunft der Schule – Schule der Zukunft“ entdeckt. „Lernfeste“ sind angesagt, und ein „Schulentwicklungs-Portal“ gewährt einen Blick ins pädagogische Paradies. Das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium wird zum naturwissenschaftlich-technologischen befördert, ohne dass jemand erklären könnte, was denn nun das Technologische an diesem vermeintlich neuen Typ ist. Auch sonst missionieren beflissene Beamte beiderlei Geschlechts quer durch Bayern; sie werben für MODUS-21-Schulen, weil das offenbar die Methode ist, mit der man das 21. Jahrhundert bewältigt; und sie werben für PPP („public private partnership“), indem sie diese so umwerfend neue Zusammenarbeit Schule-Wirtschaft in Vorträgen als praktizierte „Corporate Citizenship“ mit PPPP (Power Point Presentation Pest) visualisieren. Eine Bildungs-Initiative Gymnasium nennt sich BIG, und ein Schulpreis ISI. Man fragt sich unwillkürlich: Kein Superlativ? Is big big enough? Is easy easy enough?
Während sich die Grundschule in höchste Höhen aufzuschwingen hat und „Methodenkompetenzen“ samt „Primärstrategien“ vermitteln soll, reduziert man den Pflichtwortschatz eines Zehnjährigen auf ganze 700 Wörter – und das, obwohl man wissen müsste, dass sich bereits Fünfjährige täglich (!) bis zu 30 neue Wörter einprägen! Dazu kommen endlos die erlebnis- und erleichterungspädagogischen Versprechungen: Bessere Noten durch weniger Druck, heißt es. Und: Die neue Schreib- und Leselernmethode samt „vereinfachter“ Schreibschrift und samt Materialtheke macht alles leichter. Die Erfahrungen versierter Grundschulpädagogen und die Gesetze der Schreibmotorik sagen etwas anderes. Und vergessen scheint längst eine andere Versprechung: Die Rechtschreibreform sollte den Schülern 70 Prozent der Fehler ersparen. Heute will kein Reformer mehr an diese Realsatire erinnert werden.
Abgesehen von der ins Auge springenden sprachlichen Barbarei, besteht „moderne“ Schulpolitik („modo“ heißt übrigens „für soeben“) oft nur noch aus Platitüden; sie sind platt, flach, ja Fladen - Wortfladen im wortgeschichtlichen Sinn. Betrüblich ist, dass manch progressive Pädagogen in ihrem avantgardistischen Sendungsbewusstsein offenbar glauben, Bildung „handhaben“ zu können wie das Marketing einer neuen Zahnpasta.
Nein, von den Visionen des „neuen“ Menschen, der mittels „Bildung“ geschaffen wird, sollten wir uns verabschiedet haben. Die größenwahnsinnige Vorstellung einer Machbarkeit aller menschlichen Möglichkeiten durch “Bildung“ sollte überwunden sein, kommt sie doch aus einem Behaviorismus, der seine Erkenntnis aus Experimenten mit der Dressur von Ratten, Katzen und Tauben gewann. Ein solcher Behaviorismus sollte auch nicht im Gewande eines „Bildungstechnizismus“ wiederauferstehen, selbst wenn man meint, nach dem poetischen Nürnberger Trichter der Barockzeit nunmehr einen elektronischen Nürnberger Trichter versprechen zu können.
Dass sich die schulpolitischen Pyrotechniker gerne das Image der Macher umhängen, ist ja wahlkampfstrategisch verständlich. Aber die ständige Suche nach immer neuen Mitteln mutet an wie eine Neomanie, wie ein hyperaktiver Polypragmatismus (so würde die Psychologie sagen). Wahrscheinlich ist sogar Hypochondrie im Spiel: Jedes Mittel muss her, und sei es nur ein Placebo! Damit aber wird Schulpolitik zum Problem, als dessen Therapeutikum sie sich ausgibt. Wohlwollende sehen mehr und mehr die Gefahr, selbst die innerdeutschen PISA-Sieger könnten dabei ihr schulpolitisches Tafelsilber verscherbeln.
Auch anthropologisch ist die aktuelle schulpolitische Windmaschine höchst bedenklich. Die Dialektik von Sein und Schein ist damit aufgehoben zu Gunsten des Scheins und einer Politik des „als ob“. Und die Dialektik von Zweck und Mittel ist aufgehoben zu Gunsten des Primats des Mittels. Was auf der Strecke bleibt, sind die Bildung der Persönlichkeit sowie die Vermittlung individueller und kultureller Identität.
Was sind die Folgen all der Hochstapeleien? Die Erwartungen an Schule und Lehrer steigen ins Überdimensionale. In vielen Schulen geht ob der auf Hochtouren laufenden pädagogischen Pop-Corn-Maschinen der Frust um, in anderen ein ausgeprägter Sarkasmus. Die Kollegien fühlen sich nicht unbedingt vom Mantel der Bildungs- und Kulturgeschichte gestreift. Man hat zudem das Gefühl, als meine die hohe Politik, immer neue, immer mehr und immer höhere Bildung sei machbar in immer größeren Klassen, mit immer schwierigeren Schülern, bei immer erziehungsabstinenteren Eltern, in immer weniger Stunden pro Woche, in immer weniger Schuljahren und mit immer älteren Lehrern. Auf Fortbildungen resignieren selbst Schulräte, indem sie kritische Fragen und konträre Erfahrungen ihrer Grundschullehrer mit der Empfehlung quittieren: „Dann machen Sie es eben so, wie es sich bewährt hat!“ In Gymnasialkollegien blickt man nach siebenjähriger ergebnisloser Debatte um eine Reform der Oberstufe missmutig auf die nächsten Großtaten: auf die Ankündigung einer neuen Kommission oder auf den Besuch bayerischer Politiker in irgendeinem nördlichen Land. Oder man tröstet sich bei dem Gedanken, dass auch die heutige Schule immer noch mehr leistet, als es moderne Schulpolitik und Schulpädagogik zusammen überhaupt zulassen.
Angesagt wären für Schulpolitik und Pädagogik wenigstens ein Schuss Selbstironie und ein Schuss Humor. Vor allem durch seine Fähigkeit zum Humor lebt und erlebt der Mensch ein gütiges, lebensbejahendes Hinsehen auf die Unvollkommenheit der Welt und seiner selbst. Sogar Thomas Manns Hochstapler Felix Krull verfügt über mehr Selbstironie als manch politischer Hochstapler; Krull ist sich beispielsweise sehr bewusst, dass er vor allem deshalb als Wehrpflichtiger ausgemustert wird, weil es dem Musterungsarzt imponiert, wie der junge Mann „einige ausschweifende und träumerische Ausdrücke“ aus einer „Druckschrift klinischen Charakters“ auf sich anwendet.
Für die Debatte, die wir in Sachen Schule eigentlich bräuchten, nämlich die Debatte um Inhalte, hat Schulpolitik indes wenig übrig. Debatten um Inhalte erfordern geistige Unterkellerung. Über diese verfügt Schulpolitik kaum noch, weil sie sich - frei nach Nietzsche - vom Augenblick blenden lässt und weil sie zum Warten nicht Inhalt genug in sich hat. Eine intellektuelle Herausforderung ist solche Schulpolitik keine, allenfalls eine Banalität. Ob das typisch deutsch ist? Wahrscheinlich schon, allerdings nicht im Sinne des Faustischen, denn Faust will alles wissen, der Hochstapler aber gibt vor, all dieses Wissen bereits zu haben.
Wir brauchen keine Ritter vom großen pädagogischen Eifer. Seriosität und Skeptizismus sind vonnöten. Helfen könnten dabei Friedrich Nietzsches fünf Baseler Reden „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ von 1872. Darin wettert er gegen die „Bildungsphilister“, die über Dinge schwätzen, die sie nicht durchdringen. Vor allem aber ist Nietzsches Warnung vor einem einseitigen Nützlichkeitsdenken in Sachen Bildung aktuell. Schule ist gefesselt am „Pflock des Augenblicks“, würde Nietzsche heute poltern.
Vielleicht hilft auch ein Märchen von Hans Christian Andersen. Dieser würde heute den Titel wählen: „Der Schulkaiser innovative Schulen“. Warum? Nun, es waren einmal einige Schulkaiser, die es über die Maßen liebten, dass ihre Schulen so recht geputzt dastanden. Eines Tages kamen innovative Pädagogen und meinten, sie hätten ein ganz neues Modell von Schule. Nur die Gescheiten würden das merken, die Dummen aber würden sich outen, weil sie die Schönheit neuer Pädagogik nicht sähen. Die Kaiser schickten Fachleute aus, um das neue Haus des Lernens zu besichtigen. Zurückgekehrt, mochte aber kein Experte sagen, dass sich nichts geändert habe. Und so gab es einen Kongress, um aller Welt zu zeigen, was die neuen Schulen drauf hätten. „Aber das bringt doch nichts!“ rief der kleine Fritz. Die Kaiser schauderte es, denn sie fanden, Fritzchen hätte Recht. Aber sie hielten sich aufrecht und die Innovationsberater trugen die kaiserlichen Schleppen, die gar nicht da waren, noch stolzer.
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