Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=26.08.2018 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: tt.mm.jj
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil.  Rudolf Sponsel   Stubenlohstr. 20    D-91052 Erlangen
    E-Mail: sekretariat@sgipt.org  _ Zitierung  &  Copyright

    Anfang_ Verstehen bei William Stern_ Service_ Überblick_ Relativ Aktuelles_ Rel. Beständiges _ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ Mail:_ sekretariat@sgipt.org_ Zitierung & Copyright_ Zwei wichtige Hinweise

    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Kommunikation, Kommunikationstheorie, Formen, Heilmittel, Verfahren, Methoden und Techniken,  hier speziell zum Thema:

    Verstehen bei William Stern

    von  Rudolf Sponsel, Erlangen


    Grundlagen des Verstehens bei William Stern

    Aus: Stern, William (1935) Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff.

    S. 25-29 (g e s p e r r t bei Stern hier fett): "c) Verstehen und Deuten. - Geht das „erklären" auf die Regelhaftigkeit, so das „Verstehen" (Verstzusam) auf die Sinnhaftigkeit von Zusammenhängen. Wir sprachen schon oben von dem notwendigen Ganzheitsbezug alles Seelischen: ist nun das Ganze ein Träger sinnvoller Bedeutung (eine menschliche Person, eine Gemeinschaft, ein Kulturwert), dann verstehen (Verstganzh) wir einen seelischen Tatbestand, sobald er in seinem Anteil an diesem Sinnganzen erfasst wird. [>26]
        Wir „verstehen" (Verstkomm) z.B. die Worte, die jemand spricht, als bedeutungshaltiges Mittel, mit ihm in Gemeinschaft zu treten; es ist ein in noch engerem Sinne psychologisches „Verstehen" (Verstzusam), wenn jene Worte uns des Sinn seiner Wünsche, Strebungen und Interessen enthüllen, wenn wir — durch seine Worte hindurch Verstehen (Verstganzh) — ihn selber als personale Ganzheit erfassen.
        Man hatte zeitweilig geglaubt, mit der Gegenüberstellung von „Erklären" und „Verstehen" (Verstheorie) zwei Psychologieen von wesenhafter Feindseligkeit postuliert zu haben; man hat den Gegensatz zugleich mit dem von „naturwissenschaftlicher" und „geisteswissenschaftlicher" Methodik und Problematik identifiziert. Nun ist es richtig, — unsere vorangehenden Ausführungen haben es schon angedeutet — dass die Psychologie längere Zeit hindurch unter dem einseitigen Einfluss naturwissenschaftlicher Gesichtspunkte stand und über den Elementen die Ganzheit, über der Gesetzmässigkeit die Sinnhaftigkeit ihres Gegenstandes vernachlässigt hatte. Es ist auch zuzugeben, das eine von dieser Einstellung beherrschte Psychologie für manche psychologischen Bedürfnisse der Geistes-, Kultur- und Geschichtswissenschaften nur Steine statt Brot bieten konnte. So begreift man die Versuche - sie erstrecken sich von Dilthey bis zu Spranger — eine eigene Seelenkunde zu schaffen, die es mit den bedeutungshaltigen und wertbezogenen Subjekten der Geisteswissenschaft zu tun hat, die sogenannte „verstehende" (VerstgsozM) Psychologie.
        Aber eine solche Trennung zweier Psychologieen ist höchstens als vorübergehende Zwischenphase möglich und erträglich. Die letzten Jahrzehnte zeigen auch schon deutlich die Synthese. In dem Augenblick, da die Naturwissenschaften selber den engen Elementenstandpunkt verliessen, da insbesondere die organischen Naturwissenschaften immer entschiedener die Ganzheit der Organismen und die Bedeutungshaltigkeit aller Lebensprozesse betonten, war jener Scheidung schon viel von ihrer grundsätzlichen Schärfe genommen — wie ja auch auf der andern Seite die Geisteswissenschaften mit „naturwissenschaftlichen"  Verfahrungsweisen und Gesichtspunkten (Statistik, Erbforschung, Trieblehre u.s.w.) arbeiteten, ohne ihr Wesen aufzugeben.
        Die Psychologie aber ist berufen, das eigentliche Bindeglied herzustellen. Denn seelische Tatbestände können erst dort völlig verstanden (Verstzusam) werden," [>27] wo ebenso ihr organisch-naturaler wie ihr geistig-kultureller Sinnbezug erfasst wird; ja noch mehr: wo das Ineinander beider zum eigentlichen Gegenstand der Forschung wird. Wer „naturwissenschaftlich" nur den organischen Aufbau der menschlichen Person, etwa ihr Trieb-und Instinktleben, ihre körperliche Gebundenheit, ihre Temperamentsbeschaffenheit, die Regelhaftigkeit der seelischen Abläufe beachtet, ist ihrem wahren Verständnis ebenso fern, wie derjenige, der „geisteswissenschaftlich" nur den Oberbau — ihre Ideale, Wertrichtungen, kulturellen und geschichtlichen Bezüge — berücksichtigt. Trieb und Wert, Instinkt und Geist, Naturell und Charakter sind nicht jeweils zwei getrennten menschlichen Welten zugeteilt und völlig verschiedenen wissenschaftlichen Betrachtungen und Betrachtern zugeordnet. Sie sind vielmehr die unbedingt zusammengehörigen — wenn auch zum Teil unter stärksten Spannungen und Unstimmigkeiten zusammengehörigen — Momente in der Sinneinheit der menschlichen Person, und daher der gemeinschaftliche Gegenstand der Wissenschaft von der menschlichen Person und ihrem seelischen Erleben.
        Diese Einheit des Verstehens (Versteinh) herbeizuführen, ist die besondere Aufgabe, die sich die „persona1istische Psychologie setzt.
        Nunmehr sind wir in der Lage, die letzte Aufgabe der wissenschaftlichen Psychologie zu umschreiben: das Deuten.
        Deuten ist vermitteltes Verstehen (Verstdeut), in welchem zwei getrennte Tatbestände auf einander bezogen werden: derjenige, aus dem heraus etwas verstanden wird, und derjenige, der verstanden wird. Der erste wird ge deutet und bildet die „Deutungsmaterie" ; der zweite wird er deutet und bildet das „Deutungsziel".
        So werden Gesichtszüge oder Schriftzüge ge deutet auf gewisse Charaktereigenschaften; es werden Testleistungen ge deutet auf Intelligenzgrade und Berufseignungen. Andrerseits werden geheime Wunschsysteme eines Menschenr er deutet aus seinen Träumen, tiefere Erlebnisschichten eines Künstlers er deutet aus seinem Werk.
        Betrachtet man diese verschiedenen Beispiele, so zeigt sich ein gemeinsamer Zug aller Deutung: sie ist Tiefenschau, sie geht von aussen nach innen. Die Deutungsmaterie ist stets [>28] das mehr Äusserliche, Vereinzelte, Abgehobene; das Deutungsziel stets das mehr Innerliche, mit der Totalität der Person inniger Verschmolzene. Diese Vertikalrichtung unterscheidet die Deutung von der „Erklärung", die auf das „horizontale" Nebeneinander der zu verknüpfenden Erscheinungen geht. Aber eben diese Besonderheit macht die Deutung zu einer Aufgabe von ungewöhnlicher Schwierigkeit; denn  der Weg in die Tiefe ist zugleich der Weg in das Unbestimmte, schwer Ausdrückbare, ist die Annäherung an das Ineffabile \g, den eigentlichen Sinn der Persönlichkeit.
        Die Gefahr ist gross, dass dieser Weg zu leicht genommen wird. Man glaubt, jene personale Tiefe, auf welche die Deutung geht, ebenso eindeutig formulieren und hart aufteilen zu können, wie die äusserlichen Symptome, aus denen man die Deutung schöpft. Dann kommt es zu „Persönlichkeitsdiagnosen", die im Grunde nur aus einem Register nebeneinandergeordneter Eigenschaften bestehen; dann wird ein einziger Symptomkreis, z.B. die Handschrift, als Universalschlüssel zur Erkenntnis des Menschen benutzt und je ein Einzelsymptom zu je einer Einzeleigenschaft in Beziehung gesetzt („Monosymptomatik").
        Da nun ein starkes praktisches Bedürfnis des Laienpublikums nach solchen Seelenschilderungen und Charakterdeutungen besteht, hat sich eine weite volkstümliche Persönlichkeitsdiagnostik entwickelt, welche zuweilen zu einer bedenklichen „Deutungspfuscherei" ausartet; von ihr wird in anderem Zusammenhang noch einiges zu sagen sein (S 62f).
        Aber auch die wissenschaftlichen Methoden der Persönlichkeitsdeutung halten sich nicht immer von den oben genannten Fehlern frei; Neigung zur Monosyrnptomatik zeigt etwa die Psychoanalyse, welche nur die dem Willen entzogenen Seelenäusserungen als Symptome verwertet ; oder auf anderer Seite die experimentelle Psychotechnik, wenn sie ihre Eignungsfeststellungen lediglich auf Testprüfungen stützt.
        Um diesen Gefahren und Bedenken zu begegnen, steht vor der Psychologie die grosse Zukunftsaufgabe, eine wissenschaftlich einwandsfreie und praktisch zuverlässige Deutungstechnik zu erarbeiten. Diese hat zwei Forderungen zu erfüllen:
    1) Die Deutungsmethodik muss personalistisch sein, d.h. die einzelnen Symptome in ihrem personalen Ganzheitsbezug [>29] erkennen und verwerten. 2) die Methodik muss „po1y-symptomatisch" sein, d.h. souverän über die verschiedenen Symptomgebiete verfügen und ihre Verbindung elastisch der jeweiligen psychodiagnostischen Aufgabe anpassen können. Hierbei sind — mit Vorsicht und Kritik — auch die positiven Einsichten und Verfahrungsweisen zu berücksichtigen, die von den monosymptomatischen Systemen volkstümlicher und wissenschaftlicher Art erarbeitet worden sind.
        Von der Methode der „Deutung" her fällt noch einmal ein Licht auf die sogenannte „verstehende" (VerstgsozM) Psychologie. Wenn das Verstehen, wie wir sahen, nur zum kleinsten Teil unmittelbar (rein „intuitiv") vor sich geht, zum weitaus grösseren Teil mittelbar („deutend") — dann bedarf auch die verstehende Psychologie einer breiten und tiefen Tatsachenbasis, die sich ebenso auf die deutbaren Symptome wie auf die zu erdeutenden Persönlichkeitszüge, wie endlich auf die Zusammenhänge zwischen beiden erstrecken muss. Und durch diesen Zwang zur Empirie, die ohne emsige Kleinarbeit nicht möglich ist, kommt die verstehende (VerstgsozM) Psychologie wieder in enge Berührung mit jenen Forschungen wie sie von der mehr „naturwissenschaftlich" eingestellten Psychologie ausgeführt zu werden pflegen. So ist auch von dieser methodischen Seite her zu hoffen, dass die eine Psychologie jenseits jener Gegensätze im Entstehen begriffen ist. Innerhalb ihrer bleibt Raum für die verschiedensten Interessen, Richtungen und Ziele."

    Weitere Einträge im Sachregister
    Verstehen 371, 415.

    S.371f: "c) Das Verstehen (Verstabstr) des Abstrakten.—Den mathematischen Satz: „Die Winkelsumme im ebenen Dreieck beträgt zwei Rechte" verstehe ich. Was bedeutet das bewusstseinsmäßig? Halten wir uns zunächst an die einzelnen Bestandstücke (obwohl wir dadurch dem Bewusstseinsgehalt eine gewisse Gewalt antun). Von den drei Gliedern: Winkelsumme, ebenes Dreieck, zwei Rechte ist offenbar das letzte am stärksten vorstellungshaltig; jeder, der irgendwann Geometrie getrieben hat, wird beim Hören der Worte „zwei Rechte" eine Vorstellung dieser Art in sich finden: _ ?g Anders ist es schon mit „Winkelsumme" ; mag mir hierbei auch ganz vage vorschweben, wie sich Winkel um einen gemeinsamen Scheitelpunkt zusammenfügen; so ist doch schon die Grösse der einzelnen Winkel völlig beliebig. Dasselbe gilt von dem Gedankenmoment „ebenes Dreieck". Ein etwa anschaulich vorgestelltes Dreieck gewisser Grösse, Form und Färbung kann ohne weiteres durch irgend ein anderes vorgestelltes Dreieck ersetzt werden, ohne dass dadurch der gedankliche Inhalt im mindesten berührt würde. Wesentlich ist nur das „Dreieck-Sein" und „Eben-Sein" ; alle andern Merkmale, welche vorgestellten Dreiecken zukommen und diese voneinander unterscheiden, sind für den Gedanken gleichgültig. Sofern überhaupt irgend eine Dreieckvorstellung da ist, hat sie lediglich als beliebiger Repräsentant des Gedankens zu dienen.
        Verlassen wir nun aber die künstliche Vereinzelung der drei Glieder; in meinem Bewusstsein sind ja nicht drei nebeneinander bestehende Gedanken vorhanden, sondern ein Gesamtge [>372] danke, der sprachlich die Form des Satzes, logisch die Form des Urteils angenommen hat. Psychologisch können wir diesen Gesamtgedanken am besten einen Sinn-Gedanken nennen: der Satz im ganzen hat einen einheitlichen, geschlossenen Bedeutungsgehalt, der mehr und anderes ist, als der Bedeutungsgehalt der einzelnen gedanklichen Erlebnismomente und ihrer Beziehungen. Was wir im Denkgebiet „Verstehen" (Verstdif) nennen, ist immer auf den Gesamtsinn einer geschlossenen gedanklichen Einheit bezogen. (Verstzusam) "

    S.415: "Diese Bedeutung des „Sinndenkens" gilt also ebenso für die Tiefe der Person, wie für die der Welt: man sucht den Sinn der eigenen Existenz, des eigenen Schicksals zu ergründen, aber ebenso den Sinn der We1t, den Sinn der Natur, den Sinn der Geschichte, den Sinn der Nationen. Ferner kann das Sinndenken auf Grösstes und Kleinstes gerichtet sein: man bemüht sich um den Sinn des Goethe'schen Faust im ganzen, und um den Sinn eines einzelnen Zitats aus dem Faust; um den Sinn der Mathematik, und um den Sinn des Pythagoräischen Lehrsatzes; um den Sinn des eigenen Lebens, und um den Sinn einer einzelnen Handlung, die man getan hat.
        Der Akt, in dem sich dieses Sinndenken erfüllt, bezeichnet man als „Verstehen". Damit wird auch psychologisch der Unterschied jener beiden Denkakte deutlich, die als „Erklären" und „Verstehen" in der modernen Wissenschaftstheorie eine gegensätzliche Rolle spielen 1). „Erklären" ist die Anwendung des Kausaldenkens auf einen bestimmten Denkgegenstand — wobei es gleichgültig ist, welche der verschiedenen Formen des Kausalgedankens verwertet sind; genug, wenn das Fremde und Einzelne dadurch einem bekannten Zusammenhang eingeordnet wird. „Verstehen" (Verstzusam) aber ist das Erfassen des Sinnes; die Fremdheit des oberflächenhaften Eindrucks soll nicht durch Ausgreifen in die Weite, sondern durch Eindringen in die Tiefe überwunden werden. Wer Napoleon „erklären" will, muss auf anderes ausserhalb Napoleon's Bezug nehmen: auf seine Vorfahren, seine Umgebung, die geschichtlichen Ereignisse, in die er hineingestellt war. Wer Napoleon „verstehen" (Verstzusam) will, kann sich ganz auf ihn selbst beschränken, aber muss sich alles einzelne, das er von Napoleon weiss, gleichsam transparent machen, um in die Substanz seines Lebens vorzudringen. Und es kann jemand, der Napoleon sehr gründlich erklärt hat, unter Umständen doch nur ein sehr geringes Verständnis für den Sinn des Phänomens Napoleon haben."
     



    Auswahl aus: Stern, William (1911/ 1921)  Die DifFerentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen. Dritte Auflage Unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1911. Vermehrt um ein Nachwort 1921 nebst neuer Bibliographie. Leipzig: Barth.

    S.5f: "... Wo es galt,das seelische Verhalten von Menschen im praktischen Leben zu verstehen (Verstfrage) und zu bewerten, zu leiten und zu beeinflussen, da begnügte man sich mit einer naiven Popularpsychologie oder mit dilettantischen Systemen, die auf alle Vorzüge und Folgewirkungen wissenschaftlicher Erkenntnis verzichten mußten. Darunter leidet bis auf den heutigen Tag Erziehung und Unterricht, Berufswahl und Verkehr, Rechtspflege und Strafvoll- [>6]zug, Seelenhygiene und -therapie und manche anderen Gebiete der Praxis."

    S.19: "Unter einem „Individuum" verstehen (Verstdef) wir ein Ganzes, das zwar eine Vielheit von Bestandteilen in sich schließt, aber dennoch nicht in diese Teile aufgelöst werden kann (also ,.in-divisibile"' ist). Die Einheitlichkeit bekundet sich empirisch in der Geschlossenheit der Form, in der Zweckmäßigkeit des Funktionierens und in der Einheit des Selbstbewußtseins.
        Unter einer ,,Individualität" verstehen (Verstdef) wir ein Individuum, sofern es als Ganzes eine singuläre Besonderheit darstellt."

    S.506:  "Dem personalistischen Gesichtspunkt ist dann auch die Unterscheidung einzuordnen, die mit immer steigender Deutlichkeit zwischen ,,erklärender" (oder ,, beschreibender") und verstehender (Verstdif) Psychologie gemacht wird. Seelische Merkmale (Phänomene, Akte, Dispositionen) kann man vergleichen und differenzieren, beschreiben und klassifizieren in ihren gesetzmäßigen Beziehungen, qualitativen Typen, quantitativen Stufen untersuchen, aus ihren äußeren und inneren Bedingungen erklären; Persönlichkeiten aber kann man — sofern sie Ganzheiten sind und auch geistigeine Ehenen darstellen — nur nacherlebend verstehen (Versteinf).  Eine solche verstehende (Verstdif) Psychologie ist, wie es insbesondere in der Schule DILTHEYS von SPRANGER (23) und anderen ausgeführt wird, die Grundlage geistes-, geschichts- und kulurwissenschaftlicher Erkenntnis.   Aber indem dies Verstehen (Verstkunst) zum großen Teil ein künstlerisches Tun ist,bedarf es, wie jede Kunst, der wissenschaftlichen Vorbereitung; und diese ist in der erklärenden generellen,weit unmittelbarer aber in der differentiellen Psychologie gegeben.   Wir können mit den Methoden der differentiellen Psychologie zwar niemals das historische „Verständnis" (Versthist) eines ROUSSEAU oder BISMARCK vollziehen, wohl aber dafür die Bausteine liefern, aus denen sich dann die Einheitsstruktur der Persönlichkeit aufbauen läßt in der verstehenden und zugleich gestaltenden Tat des Historikers. Und diese Hilfe wird die differentielle Psychologie umsomehr leisten können, je mehr sie schon bei der Auswahl ihrer Gesichtspunkte und der Einstellung ihrer Methoden vom bloßen Mosaik loszukommen sucht und sich durch allgemeine personalistische Gesichtspunkte leiten läßt."

    S.64: "Als Mittel, um den Symptomwert eines phi-Gebietes für ein bestimmtes psy-Gebiet festzustellen, dienen das ,, ätiologische" und das statistische" Verfahren.
        Das erste sucht die — oft sehr lange und verwickelte — Kette, die von psy zu dem schließlich als Symptom dienenden phi hinführt, von Glied zu Glied zu verfolgen, um die symptomatische Bedeutung des Endglieds für das Anfangsglied ursächlich zu verstehen (Verstkausal). "

    S.98: "Sehr einfach sind die Alternativ-Tests, d. h. solche bei denen die Leistungen der Prüflinge nur die zwei Möglichkeiten des ,, richtig" oder ,,falsch" bzw. ,,beantwortet" oder ,,nicht beantwortet" aufweisen (gewöhnlich bezeichnet durch +  und - ). So roh diese Tests zu sein scheinen, so sind sie uns doch unentbehrlich, denn sie beziehen sich meist auf jene höheren Funktionen, die am direktesten mit der Intelligenz verknüpft sind und die eben wegen dieser komplexeren Beschaffenheit nicht eine rein quantitative Abstufung erlauben, wie: Verstehen (Verstwitz) von Witzen, Erkennen von Absurditäten, Definieren von Begriffen usw."

    S.113: "Ahnlich steht es mit dem Plan, für psychiatrische Khniken ein zu vervielfältigendes Bilderinstrumentarium herzustellen, das als Universalprüfungsmittel für die verschiedensten Funktionen der Patienten (Auffassung von Formen, Farben, Lage, Perspektive, Wiedererkennen, Verstehen (Verstbild) von Bildern, Unterscheidungsfähigkeit, Aussage und Erinnerung, Affektreaktionen usw.) dienen kann."

    S.144: "... Andere Fälle liegen weniger günstig, z. B. die Versuche mancher Freudianer, dichterische Werke lediglich als  Konversionen verdrängter Sexualvorstellungen abnormer Art verstehen (VerstssB) zu wollen."

    S.157: "... Unter einer Norm verstehen (Verstdef) wir eine Anforderung, die zum Zwecke der Verwirklichung objektiver Werte in allgemeingültiger Weise gestellt wird — wobei hier natürlich die ,,Forderung" nicht in dem engen Sinne einer im Bewußtsein vorhandenen sittlichen Aufgabe gilt, sondern viel allgemeiner als treibende Kraft einer immanenten biologischen und sozialen Zielsetzung, die ebenso gut ganz ohne bewußte Absicht wie mit dieser wirken kann."

    S.170: "Daß man den Typus im dispositionellen Sinne bisher mehr stillschweigend als ausdrücklich anerkannt hat, ist aus der psychologischen Gesamtsituation heraus zu verstehen (Verstzusam);  denn die herrschende Psychologie war ja bis vor kurzem durchaus eingestellt auf einen Kampf gegen Alles, was nach ,, Vermögen" oder seelischen ,,Kräften" aussah. Indessen ist gerade die sich immer mehr entwickelnde Typenlehre das Gebiet, auf dem sich die Unentbehrlichkeit des Dispositionsbegriffs am deutlichsten zeigt."

    S.181: "Unter Typengliederung verstehen (Verstdef) wir die interindividuelle Verteilung der Varianten eines allgemeinen Merkmals auf eine Reihe nebeneinandergeordneter Typenformen. Das so entstehende Schema heiße Typik (,,Typik der Aufmerksamkeit", ,,Typik des sensorischen Gedächtnisses" usw.)."

    S.203: "Von irgendeinem Erlebniskomplex bis zu seiner Darstellung führt ein weiter Weg, auf welchem eine mehrfache Auslese stattfindet. Sowie nur dasjenige zum Gegenstand der Wahrnehmung wird, was die Empfindlichkeits-Schwelle überschritten hat, so hebt ein weiterer Akt des Individuums wiederum aus diesem Wahrnehmungsmaterial gewisse Elemente über die Schwelle des Auffassens und interessebetonten Verstehens(Verstmoti), während andere darunter bleiben."
     



    Stern, William (1917) Die Psychologie und der Personalismus. Zeitschr. f.Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 78, 1 und 2, 1-54. [interne PDF-Quelle: .. EigDat/E-Books/PsychologiePDF/Geschichte/Stern_PsychologiePersonalismus_durchsuchbar.pdf]
     
    • S.9: "1. Es gilt, die Mannigfaltigkeit in ihrer Bedeutung und /Ordnung jeweils durch das Einheitsprinzip zu verstehen (Verstford)."
    • S.15: "Wir sehen somit, welche großen positiven Aufgaben der Phänomenpsychologie dort gestellt sind, wo es sich um das Feststellen, Zerlegen und Ordnen der Bewußtseinserlebnisse handelt; zugleich ergab es sich aber, daß sie bei der Aufgabe die Zusammenhänge des Psychischen zu verstehen (Verstzusam) (Verstford), an der Grenze ihrer Leistungsmöglichkeit angelangt ist. Überall muß sie zu künstlichen Hilfskonstruktionen greifen oder gar zu Abweichungen von ihren eigensten Prinzipien, die nur notdürftig verschleiert werden."
    • S.16: "... Die Psychologie als Wissenschaft fängt erst hinter dieser Tat an, erst wenn die Gegebenheiten (Phänomene) da sind, die ihr alleiniges Objekt bilden:" Eine solche Beschränkung dessen, was der Psychologe unter Psychologie verstehen (Verstdef) will, kann ihm natürlich keiner verwehren ; und jene Nichtberücksichtigung der „Akt" Kategorie wäre dann berechtigt, wenn wirklich der Akt lediglich an dieser einen Stelle, als Vorbedingung der Existenz von Gegebenem überhaupt, aufträte. Der „Akt" gliche dann dem Nus des Anaxagoras , der zwar den Anstoß gibt zu einem geordneten Weltlauf, aber nicht mehr selbst in diesen eingreift, dessen „Vorbedingung" er ist."
    • S.32: "Dasselbe Individuum, welches wir bisher in seiner "psychischen" Struktur von den Bewußtseinsphänomenen bis zum Ich hin betrachtet haben, ist zugleich ein physisches Wesen. Unter „physisch" verstehen (Verstdef ) wir hier diejenigen Gegebenheiten eines Individuums, welche dem Erkennen anderer Menschen in übereinstimmender Weise zugänglich sind."
    • S.35: "Aber andererseits ist auch der Ausdruck „physischer Akt" nur in uneigentlichem Sinne zu verstehen (Verstdef ). Denn physisch ist an ihm nur das Material, an dem er angreift; er selbst ist ja überhaupt nichts in der unmittelbaren Erfahrung Gegebenes, sondern die notwendige kausale Ergänzung, deren wir zur wissenschaftlichen Erklärung der physischen Vorgänge bedürfen."
    • S.42f: "Der Grundsatz der psychophysischen Neutralität der Person muß in seinen Konsequenzen noch weiter verfolgt werden. Wir sehen, dafs es dieselbe Person ist, die sich als „Ich" ihren eigenen Erlebnissen gegenüber und als „Organismus" ihren physischen Bestandteilen gegenüber bekundet; wir verstehen (Verstzusam) nun aber ferner, daß selbst die begriffliche Scheidung von Ich und Leib nicht restlos durchgeführt werden kann, weil die Zweckzusammenhänge der Person (wie wir es vorher von einem Einzelakte zeigten) die Gebiete beider Phänomengruppen auf das mannigfaltigste verquicken, oder besser: sich [>43] ungeschieden über beide erstrecken. Es ist deshalb nicht einmal möglich, die Akte und Dispositionen der Person erschöpfend einzuteilen in solche, die ihrer Ichseite und solche, die ihrer körperlichen Seite angehören."

    • S.44: "... Nicht in der Beseitigung des Teleologischen, sondern in seiner kritischen Fassung liegt die Aufgabe der Wissenschaft und auch speziell der Psychologie, sie muß die Zweckkategorien des Personalismus so formulieren, dafs sie nicht in 'Widerspruch, sondern im Einklang stehen zu den Tatsachen und Gesetzen der wissenschaftlichen Erfahrung; und sie muß den Nachweis führen, dafs sich diese Tatsachen und Gesetze wirklich am besten aus jenen Kategorien verstehen (Verstford), (Verstheorie) lassen. Die wilde und phantastische Teleologie des naiven Personalismus muß aufs strengste innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie bekämpft werden ; aber sie soll nicht ersetzt werden durch die Ateleologie des Mechanismus, sondern durch die geläuterte und philosophisch begründete Teleologie des kritischen Personalismus."


    Literatur (Auswahl) > siehe bitte auch Literatur zu: Einfühlung und Empathie, Kommunikation, Selbst, Biographie und Psychopathographie, Medien,
     
    • Stern, William (1935) Allgemeine Psychologie auf personalistischer Grundlage. Haag: Martinus Nijhoff. [interne PDF-Quelle: .. EigDat/E-Books/PsychologiePDF/AllPsy/Stern_1935_Allgemeine_Psychologie_durchsuchbar.pdf]
    • Stern, William (1917) Die Psychologie und der Personalismus. Zeitschr. f.Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 78, 1 und 2, 1-54. [interne PDF-Quelle: .. EigDat/E-Books/PsychologiePDF/Geschichte/Stern_PsychologiePersonalismus_durchsuchbar.pdf]
    • Stern, William (1911/ 1921)  Die Differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen. Dritte Auflage Unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1911. Vermehrt um ein Nachwort 1921 nebst neuer Bibliographie. Leipzig: Barth.  [interne PDF-Quelle: .. EigDat/E-Books/PsychologiePDF/DiffPsy/SternW_Die_Differentielle_Psychologie_in_Ihren_Methodischen_Grundlagen.pdf]

    •  


    Links (Auswahl: beachte)
    • 4.4  Die Sicherung des Verstehens zum Zwecke forschender Kommunikation.
    • https://lexikon.freenet.de/Verstehende_Psychologie.




    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    __
    Internetseite
    Um die häufige und lästige Fehlermeldung 404 zu minimieren, geben wir nur noch Links von Quellen an, die in den letzten Jahrzehnten eine hohe Stabilität ihrer URL-Adressen gezeigt haben (z.B. Wikipedia, DER SPIEGEL)
    __


    Querverweise
    Standort: Verstehen bei William Stern.
    *
    Hauptseite verstehen.
    * Kommunikationsregeln für Nahestehende * Kritik, ein wichtiges soziales Heilmittel *
    Allgemeines und Integratives Psychologisch-Psychotherapeutisches Manifest.
    Beispiele Lenkungsmittel im Leben, Kommunikation, Beratung, Training und Therapie.
    Übersicht wichtige sozialpsychologische Heilmittel.
    *
    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    z.B. Kommunikation site: www.sgipt.org. * Therapiekonzept site: www.sgipt.org.
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Querverweise
    • Überblick der Signaturen: Dokumentations- und Evaluationssystem Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    • Über den Aufbau einer präzisen Wissenschaftssprache in Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie
    • Übersicht Wichtige Sozialpsychologische J Heilmittel
    • Beziehung, Beziehungen, Beziehungstheorie, Taxonomie und Klassifikation der Beziehungen in der GIPT
    • Welten und  die Konstruktion unterschiedlicher Wirklichkeiten in der GIPT
    • Die grundlegenden Probleme und Aporie jeglicher Einzelfall- und damit Therapieforschung. Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie
    • Spezielle Theorie und Praxis der Vergleichbarkeit und des Vergleichens von Psychotherapiesystemen. 13 GIPT-Kriterien und Fehlermöglichkeiten vergleichender Psychotherapieforschung
    • Allgemeine und Integrative Symboltheorie
    • Überblick Arbeiten zur Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung



    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Verstehen bei William Stern. Grundlagen und Gebrauchsbeispiele. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/kom/SternW.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Das Einbinden in fremde Seiten oder Rahmen, die die Urheberschaft der IP-GIPT nicht jederzeit klar erkennen lassen, ist nicht gestattet. Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden. Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus  ...  geht, sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.


      Ende_Verstehen bei William Stern_Service_ Überblick_ Relativ Aktuelles_ Rel. Beständiges _ Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_
    Mail:_ sekretariat@sgipt.org_ Zwei wichtige Hinweise

    korrigiert: irs 26.08.2018



    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    26.08.18  erstmals ins Netz gestellt.
    25.08.18  Angelegt.