Reader zu: Kann die literarische Erzählform "Bewusstseinsstrom" den Bewusstseinsprozess repräsentieren?
"Der Strom des Bewußtseins"
S. 148 - S. 174. Übersetzt von Dr. Marie Dürr mit Anmerkungen von Prof. Dr. E. Dürr. Leipzig: Quelle & Meyer. |
von Rudolf Sponsel und Irmgard Rathsmann-Sponsel, Erlangen
Querverweise.
Der Strom des Bewußtseins.
Der Gang unserer Untersuchung muß ein analytischer sein. Wir sind nun so weit, um das introspektive Studium des entwickelten Bewußtseins selbst zu beginnen. In den meisten Lehrbüchern wird die sogenannte synthetische Methode befolgt. Mit den einfachen Empfindungsinhalten beginnend, die als ebensoviele Atome betrachtet werden, geht man dazu über, die höheren Geisteszustände aus ihrer “Assoziation", “Integration" oder “Verschmelzung" aufzubauen, geradeso wie Häuser durch das Zusammenfügen von Backsteinen aufgebaut werden. Dieses Verfahren hat all die didaktischen Vorzüge, welche die synthetische Methode gewöhnlich zu haben pflegt. Aber es erzeugt von vornherein die sehr bedenkliche Auffassung, daß unsere höheren Bewußtseinszustände Zusammensetzungen von Einheiten seien, und anstatt mit dem zu beginnen, was der Leser direkt kennt, nämlich mit den konkreten Gesamtzuständen seines Geistes, geht man von einer Anzahl hypothetisch angenommener “einfacher Inhalte" aus, von denen er gar keine direkte Kenntnis hat und in bezug auf deren angebliche Wechselwirkung er jeden plausibeln Satz gelten lassen muß. Außerdem setzt uns die Methode des Fortschreitens von dem Einfachen zum Zusammengesetzten auf jedem [>149] Gebiet gewissen Täuschungen aus. Natürlich werden alle Pedanten und Abstraktionsenthusiasten sie um keinen Preis aufgeben wollen. Aber ein Student, der den Reichtum der menschlichen Natur liebt, wird der “analytischen" Methode den Vorzug geben, und lieber mit den konkretesten Tatsachen beginnen, mit jenen, die er in seinem Innenleben täglich von neuem kennen lernt. Die analytische Methode wird die elementaren Teile, wenn es solche gibt, zur rechten Zeit und ohne die Gefahr einer voreiligen Annahme aufzeigen. Der Leser wird sich erinnern, daß unsere eigenen Kapitel über die Empfindung sich hauptsächlich mit den physiologischen Bedingungen derselben befaßt haben. Sie wurden einzig aus Gründen der Konvenienz, deswegen, weil die zentripetalen Erregungen das Primäre sind, zuerst behandelt. Psychologisch hätten sie besser zuletzt kommen sollen. Reine Empfindungen wurden auf S. 12 als Prozesse bezeichnet, die im Leben des erwachsenen Menschen so gut wie unbekannt sind, und es wurde nichts gesagt, was dem Leser auch nur für einen Augenblick die Vermutung hätte nahelegen können, daß sie Elemente wären, aus denen die höheren Geisteszustände sich zusammensetzen.
Die Grundtatsache. Die erste und oberste konkrete Tatsache, die jedermann bezüglich seiner inneren Erfahrung konstatieren wird, ist die, daß Bewußtsein irgendwelcher Art stattfindet. In ihm folgen seelische Zustände aufeinander. Wenn wir sagen könnten “es denkt", so wie wir sagen “es regnet" oder “es windet", würden wir damit die betreffende Tatsache am einfachsten und mit einem Minimum von Hypothesen konstatieren. Da wir das aber nicht können, müssen wir eben sagen, daß Bewußtseinsgeschehen stattfindet.
Vier Eigentümlichkeiten
des Bewußtseins. Wie findet es statt? In der Beantwortung dieser
Frage bemerken wir sofort vier wichtige Eigentümlichkeiten an dem
Prozeß, der in dem gegenwärtigen Kapitel seine allgemeine Behandlung
finden soll.
Wenn wir diese vier Punkte der Reihe nach betrachten,
werden wir gleich in medias res geführt, was unsere Nomenklatur anlangt,
und müssen psychologische Termini gebrauchen, die erst in den späteren
Kapiteln dieses Buches zureichende Bestimmung finden können. Allein
es weiß jeder was diese Termini in groben Umrissen bedeuten; und
wir werden uns ihrer vorläufig nur in diesen groben Umrissen bedienen.
Dieses Kapitel gleicht der ersten Kohlenskizze, die der Maler auf seine
Leinwand wirft, und in der noch keine Feinheiten zu entdecken sind.
Wenn ich sage jeder “Zustand" oder Bewußtseinsinhalt ist Bestandteil eines persönlichen Bewußtseins, so ist “persönliches Bewußtsein" einer der in Frage stehenden Termini. Solange uns niemand auffordert, ihn zu definieren, wissen wir was damit gemeint ist, aber eine genaue Bestimmung desselben zu geben, ist die schwierigste philosophische Aufgabe. Dieser Aufgabe müssen wir uns im nächsten Kapitel unterziehen; hier mag ein einleitendes Wort genügen.
In diesem Zimmer — sagen wir diesem Hörsaal — befinden sich eine Menge von Gedanken, die Ihrigen und die meinigen, von denen einzelne miteinander zusammenhängen und andere nicht. Es ist ebensowenig jeder einzelne von ihnen ganz für sich und von den Übrigen unabhängig, wie sie alle zusammengehören. Sie sind keines von beiden: kein einziger von ihnen steht vereinzelt da, aber jeder hängt mit gewissen anderen und mit keinen außer diesen zusammen. Ein Gedanke von mir hängt mit meinen übrigen Gedanken, ein Gedanke von Ihnen mit Ihren übrigen zusammen. Ob sich irgendwo in diesem Zimmer ein Gedanke an sich befindet, der der Gedanke von niemand ist, darüber können wir keine Gewißheit erlangen, denn etwas derartiges liegt außerhalb unserer Erfahrung. Die einzigen Bewußtseinszustände, mit denen wir normalerweise zu tun haben, finden sich in irgendeinem persönlichen Bewußtsein, in irgendeiner Seele, einem Selbst, irgendeinem besonderen konkreten Ich oder Du.
Jede dieser Seelen hat ihre eigenen Gedanken für sich. Es findet kein Geben oder Tauschen zwischen ihnen statt. Es kommt auch kein Gedanke einem Gedanken irgendeines anderen persönlichen Bewußtseins als seines eigenen gegenüber in die Lage direkt erfaßt zu werden. Absolute Isolation, irreduktibler Pluralismus das ist die Regel. Es scheint als ob nicht der Gedanke oder dieser Gedanke oder jener Gedanke, sondern mein Gedanke die psychische Grundtatsache wäre, da jeder Gedanke einem Subjekte zugeteilt ist. Weder Gleich[>151]zeitigkeit, noch räumliche Nähe, noch Ähnlichkeit; von Qualität oder Inhalt vermögen Gedanken miteinander zu verschmelzen, die durch diese Schranke der Zugehörigkeit zu verschiedenen Persönlichkeiten getrennt sind. Die Kluft zwischen solchen Bewußtseinsinhalten ist die absoluteste Kluft in der Natur. Jedermann wird die Richtigkeit dieses Satzes einsehen, solange man nur Nachdruck legt auf die Existenz von Etwas was dem Wort “persönlicher Geist" entspricht, ohne sich auf eine bestimmte Theorie über seine Natur festzulegen. In diesem Sinne könnte das persönliche Ich mit mehr Recht wie der einzelne Bewußtseinsinhalt, als das für die Psychologie unmittelbar Gegebene behandelt werden. Die allgemeinste Bewußtseinstatsache ist nicht die, daß “Gefühle und Gedanken existieren", sondern die, daß “ich denke" und daß “ich fühle". Keine Psychologie kann die Existenz persönlicher Ichs irgendwie bestreiten. Zusammenhängende Gedanken, sofern wir sie als zusammenhängend auffassen, sind das was wir unter dem persönlichen Ich verstehen. Das schlimmste was eine Psychologie tun kann ist, das Wesen dieser persönlichen Ichs so zu interpretieren, daß ihre Bedeutung dabei verloren geht.
Das Bewußtsein befindet sich in fortwährender Veränderung. — Ich will damit nicht sagen, daß kein psychischer Zustand irgendwelche Dauer hätte — selbst wenn dem so wäre, würde es schwerlich festzustellen sein. Auf was ich besonderes Gewicht lege ist, daß kein psychischer Zustand, der einmal vorüber ist, wiederkehren und identisch sein kann mit dem, was er zuvor war. Jetzt sehen wir, jetzt hören wir; jetzt fällen wir ein Urteil, jetzt wollen wir etwas; jetzt leben wir in der Erinnerung, jetzt in der Erwartung; jetzt fühlen wir Liebe, jetzt Haß; und auf hundertfach andere Weise noch wissen wir unsere Seele bald so, bald anders in Anspruch genommen. Aber, könnte man einwenden, all das sind komplexe Zustände, hervorgebracht durch die Kombination einfacherer; — folgen nicht die einfacheren einem anderen Gesetz? Sind nicht die Empfindungen, die wir, von dem gleichen Objekt z. B., haben, stets dieselben? Liefert uns die gleiche Klaviertaste, mit der gleichen Kraft angeschlagen, nicht stets die gleiche Gehörsempfindung? Veranlaßt dasselbe Gras nicht stets die gleiche Grünempfindung derselbe Himmel nicht dieselbe Blauempfindung? und haben wir nicht immer die gleiche Geruchsempfindung gleichviel wie oft wir unsere Nase der gleichen Eau de Cologne-Flasche nähern? Es scheint ein Stück metaphysischer [>152] Sophisterei zu sein, wenn man daran denkt, daß dies nicht der Fall sei; und doch zeigt uns eine sorgfältige Untersuchung des Tatbestandes, daß gar kein Grund vorliegt für die Annahme, irgendeine zentripetale Nervenerregung könne uns genau die gleiche körperliche Empfindung zweimal vermitteln.
Was uns zweimal gegeben ist, ist das gleiche Objekt. Wir hören den gleichen Ton immer und immer wieder; wir sehen die gleiche Qualität Grün, riechen den gleichen objektiven Wohlgeruch, oder erleben die gleiche Art von Schmerz. Die Realitäten, konkret und abstrakt, physisch und ideal, an deren permanente Existenz wir glauben [Fn01], scheinen beständig wieder vor unserem Bewußtsein aufzutauchen, und veranlassen uns, wenn wir nicht ganz genau achtgeben, zu der Annahme, daß unsere “Ideen" von ihnen immer die gleichen Ideen sind. Wenn wir später zu dem Kapitel von der Wahrnehmung kommen, werden wir sehen, wie fest wir daran gewöhnt sind, die sinnlichen Eindrücke lediglich als die Brücke zu verwenden, über die hinweg wir zur Erkenntnis der Realitäten gelangen, deren Dasein sie ankündigen. Der Rasen, den ich jetzt vor meinem Fenster sehe, besitzt für mich dasselbe Grün, da wo die Sonne darauf scheint und da wo er im Schatten liegt, und doch müßte ein Maler, um den tatsächlichen Empfindungseffekt wiederzugeben, einen Teil davon tiefbraun, den anderen leuchtend gelb malen. Wir geben, in der Regel, zu wenig darauf acht, wie verschiedenartig die gleichen Dinge bei verschiedener Entfernung oder unter verschiedenen Umständen aussehen, klingen und riechen. Die Identität der Dinge ist es, auf deren Feststellung wir ausgehen; und alle Empfindungen, die uns vom Vorhandensein solcher Identität überzeugen, werden wahrscheinlich in Bausch und Bogen als miteinander identisch betrachtet. Dies ist es, was uns veranlaßt, die im Ton der Selbstverständlichkeit abgegebenen Urteile über die subjektive Identität verschiedener Empfindungen als einen Tatsachenbeweis einfach nicht gelten zu lassen. Alles was wir über die sogenannte Empfindung wissen, bedeutet einen Kommentar zu der Tatsache, daß wir nicht imstande sind, anzugeben, ob zwei Sinnesqualitäten, die uns getrennt gegeben werden, genau gleich sind. Was unsere Aufmerksamkeit weit mehr fesselt als die absolute Qualität eines [>153] Eindrucks, ist sein Verhältnis zu den übrigen Eindrücken, die wir gleichzeitig mit ihm haben. Wenn alles dunkel ist, läßt uns der Eindruck einer geringeren Dunkelheit ein Objekt weiß erscheinen. Helmholtz hat ausgerechnet, daß der gemalte weiße Marmor auf einem Bild, das ein vom Mondlicht beschienenes Gebäude darstellt, bei Tageslicht gesehen, 10 — 20000 Mal heller ist, als der wirkliche mondbeschienene Marmor sein würde.
Um einen solchen Unterschied zu erfassen, dazu hat nicht die sinnliche Wahrnehmung ausgereicht; er mußte durch eine Reihe indirekter Erwägungen erschlossen werden. Dies bringt uns zu der Überzeugung, daß unsere Sensibilität sich fortwährend verändert, so daß ein und dasselbe Objekt uns nicht leicht dieselbe Empfindung noch einmal vermitteln kann. Wir empfinden die Dinge verschieden je nachdem ob wir schläfrig oder wach, hungrig oder gesättigt, frisch oder müde sind; wir empfinden sie anders bei der Nacht als am Morgen, anders im Sommer als im Winter; und vor allem anders in der Kindheit, im Mannes- und im Greisenalter. Und dennoch zweifeln wir nie daran, daß unsere Empfindungen uns stets die gleiche, mit den gleichen sinnlichen Qualitäten ausgestattete und von den gleichen sinnlichen Objekten erfüllte Welt offenbaren. Der Wandel unserer Empfindlichkeit tritt am deutlichsten zutage in dem Unterschied der Gemütsbewegungen, zu denen uns die Dinge Veranlassung geben, wenn wir in verschiedenem Lebensalter oder verschiedenem organischen Zustand ihnen. gegenübertreten. Was uns einmal licht und anregend dünkte, kann ein anderes Mal ermüdend, schal und nutzlos erscheinen. Des Vogels Sang wird langweilig, das Säuseln der Luft traurig, der Himmel düster. [Fn02]
Diesem Gedankengang, der uns zu der Annahme geführt hat, daß unsere Empfindungen dem Wechsel unserer Gemütsempfänglichkeit entsprechend, stets wesentliche Veränderungen erleiden, tritt ein anderer Gedankengang zur Seite, der sich auf die Vorgänge im Gehirn bezieht. Jede Empfindung entspricht irgendeinem Gehirnvorgang. Damit eine identische Empfindung wiederkehre, müßte dieselbe zum zweiten Male in einem unmodifizierten Gehirn stattfinden. Aber da dies im strengsten Sinn, des Wortes eine physiologische Unmöglichkeit ist, so ist auch ein unmodifiziertes Wiederauftreten der Empfindung etwas Unmögliches; denn wir nehmen an, daß jeder, wenn auch noch [>154] so kleinen Gehirnmodifikation eine gleichgroße Veränderung in dem an das betreffende Gehirn gebundenen Bewußtsein entspricht. [Fn03]
Aber wenn schon die Annahme “einfacher Empfindungen", die in unveränderlicher Form immer wieder auftauchen, so leicht als grundlos erwiesen werden kann, um wieviel grundloser ist dann die Annahme einer Unveränderlichkeit in den komplexeren Bewußtseinsinhalten.
Deshalb ist es klar und offenbar, daß unser Geisteszustand niemals genau derselbe ist. Jeder Gedanke, den wir von einer gegebenen Tatsache haben, ist, streng genommen, einzig und ist unseren anderen Gedanken von dem gleichen Tatbestand nur in dem Sinne ähnlich, wie mehrere Individuen der gleichen Art einander ähnlich sind. Wenn genau dieselbe Tatsache wieder auftritt, müssen wir auf eine neue Art darüber denken, sie unter einem etwas anderen Gesichtswinkel betrachten, sie in Beziehungen bringen, die verschieden sind von denen, in welchen sie das letzte Mal stand. Und der Bewußtseinsinhalt, durch den wir sie erkennen, ist ein Bewußtseinsinhalt, der sich auf die betreffende Tatsache bezieht, sofern sie in jenen Beziehungen steht, ein Bewußtseinsinhalt, zu dem das Bewußtsein des ganzen dunkel erfaßten Zusammenhangs hinzugehört. Oftmals staunen wir selbst über die seltsamen Unterschiede, die unsere Betrachtung eines und desselben Dinges von Fall zu Fall aufweist. Wir wundern uns, daß wir über eine bestimmte Sache so denken konnten, wie wir es im letzten Monat taten. Wir sind unversehens herausgewachsen aus der Möglichkeit, diesen Seelenzustand zu erleben. Von Jahr zu Jahr sehen wir die Dinge in anderem Licht. Was unwirklich war ist Wirklichkeit geworden, und was wir anregend fanden, erscheint uns abgeschmackt. Die Freunde, die einmal eine große Rolle in unserem Leben gespielt haben, sind Schatten geworden, die einst so vergötterten Frauen, die Sterne, die Wälder und die Meere, wie abgeblaßt und alltäglich heute! — Die jungen Mädchen, die uns einen Hauch der Unendlichkeit gebracht, jetzt kaum beachtete Existenzen; die Bilder so leer; und die Bücher — was war da so mysteriös Bedeutungsvolles bei Goethe, so Vollgewichtiges bei John Mill zu finden? Was sie verloren haben, hat die Arbeit an Bedeutung gewonnen, die [>155] Arbeit, die uns heute besser schmeckt als je; und voller und tiefer ist uns aufgegangen der Sinn für die Bedeutung alltäglicher Pflichten und alltäglicher Freuden. [Fn04]
Ich bin überzeugt, daß diese aufs Konkrete und Ganze gerichtete Art die Veränderungen des Geistes zu betrachten, die einzig richtige ist, wie schwer es auch sein mag, sie bis in die Details durchzuführen. Wenn irgend etwas unverständlich daran erscheint, wird es im folgenden klarer werden. Einstweilen ist es, wenn sie richtig ist, sicherlich ebenso richtig, daß niemals zwei “Vorstellungen" genau gleich sind, und das ist der Satz, den wir zu beweisen unternommen haben. Dieser Satz ist theoretisch wichtiger als es auf den ersten Blick erscheint. Denn er macht es uns bereits unmöglich getreu in den Spuren der Lockeschen oder Herbartschen Schule zu wandeln, Schulen, welche in Deutschland und bei uns einen fast unbegrenzten Einfluß ausgeübt haben. Zweifellos ist es oft bequem die geistigen Tatsachen in einer atomistischen Weise zu formulieren und die höheren Bewußtseinszustände so zu behandeln, als ob sie alle aus unveränderlichen einfachen Inhalten aufgebaut wären, die da “gehen und wiederkehren". Ebenso ist es oft bequem Kurven so zu behandeln, als ob sie aus kleinen geraden Linien zusammengesetzt wären, und elektrische und nervöse Kräfte, als ob sie Flüssigkeiten wären. Aber in dem einen wie in dem anderen Falle dürfen wir nie vergessen, daß wir uns bildlich ausdrücken, und daß in Wirklichkeit nichts vorhanden ist, was genau mit unseren Begriffen übereinstimmt. Ein dauernd vorhandener “Inhalt", der in periodischen Intervallen vor den Rampenlichtern des Bewußtseins auftaucht, ist ein ebenso sagenhaftes Wesen wie der ewig wandernde Ahasver.
Jedes persönliche Bewußtsein erscheint uns unmittelbar als kontinuierlich. Ich kann kontinuierlich nicht anders definieren als durch den Hinweis auf das was ohne Bruch, ohne Riß, ohne Spaltung ist. Wenn man mit dem Begriff eines Bruches innerhalb einer einzelnen Seele einen bestimmten Sinn verbinden wollte, so könnte man höchstens denken ent- [>156] weder an Unterbrechungen, zeitliche Lücken, in denen das Bewußtsein entschwindet; oder an Risse im Inhalt des Bewußtseins, so einschneidend, daß dadurch jede Verbindung zwischen dem Vorangehenden und dem Nachfolgenden aufgehoben wird. Der Satz, daß das Bewußtsein uns als kontinuierlich erscheint, will zweierlei sagen:
a) Daß auch da, wo eine zeitliche Lücke
vorhanden ist, das nach dieser auftretende Bewußtsein seine Zusammengehörigkeit
mit dem Vorausgehenden als einem anderen Teil desselben Ich unmittelbar
erfaßt.
b) Daß die von einem Moment zum anderen vor
sich gehenden Veränderungen im Inhalt des Bewußtseins niemals
vollkommen abrupt sind.
Der Fall der zeitlichen Lücken soll, als der einfachste, zuerst erörtert werden.
ad a. Wenn Paul und Peter in demselben Bett aufwachen und erkennen, daß sie geschlafen haben, greift jeder im Geist zurück und stellt die Verbindung her mit nur einem der beiden Bewußtseinsströme, die durch die Stunden des Schlafs unterbrochen waren. Wie der Strom einer in die Erde eingegrabenen Elektrode unfehlbar den Weg zu dem eingegrabenen Gegenpol findet, ganz gleich wieviel Erde die beiden trennt, so findet Peters Gegenwart sofort Peters Vergangenheit auf und knüpft niemals irrtümlich an Pauls Vergangenheit an. Pauls Bewußtsein andrerseits läuft ebensowenig Gefahr irre zu gehen. Die Bewußtseinsvergangenheit Peters gehört nur dem gegenwärtigen Peter. Er kann ein Wissen, und noch dazu ein ganz richtiges, haben um die schläfrige Geistesverfassung, in der sich Paul kurz vor dem Einschlafen befand, aber diese Art von Wissen unterscheidet sich ganz wesentlich von demjenigen, das sich auf seine eigenen letztvergangenen Zustände bezieht. Er erinnert sich seiner eigenen Zustände, während er die von Paul nur geistig erfaßt. Erinnerung gleicht dem unmittelbaren Empfinden; über ihr Objekt ist eine Wärme und Vertrautheit ausgegossen, welche die Objekte der bloßen begrifflichen Auffassung niemals erreichen. Diese Eigenschaften der Wärme, Vertrautheit und Unmittelbarkeit hat auch Peters gegenwärtiges Bewußtsein für sich. So sicher diese Gegenwart zu meinem Ich gehört, mein eigen ist, sagt er, so sicher gehört auch alles andere, was mit der gleichen Wärme, Vertrautheit und Unmittelbarkeit auftritt, zu mir und meinem Bewußtsein. Was die als Wärme und Vertrautheit bezeichneten Eigenschaften an sich sein mögen, soll späterhin [>157] Gegenstand unserer Betrachtung sein. Jedenfalls muß man zugeben, daß auch alle vergangenen Zustände, die mit diesen Qualitäten behaftet auftreten, von dem gegenwärtigen Bewußtseinszustand gastlich aufgenommen, von ihm angeeignet und als mit ihm zusammen einem gemeinsamen Ich zugehörig anerkannt werden. [Fn05] Diese Zusammengehörigkeit des Ich ist es, welche durch die Zeitlücke nicht auseinandergerissen werden kann, sie ist der Grund, warum ein gegenwärtiger Bewußtseinsinhalt, trotz des Wissens um die zeitliche Lücke, seine Kontinuität mit bestimmten, sicher herausgefundenen Teilen der Vergangenheit erfassen kann.
Das Bewußtsein erscheint sich daher selbst nicht als in Stücke zerhackt. Worte wie “Kette" oder “Zug" geben nicht richtig den Eindruck wieder, den es unmittelbar von sich selbst gewinnt. Es besteht nicht aus verbundenen Gliedern; es fließt. Ein “Fluß", ein “Strom", das sind die Metaphern, durch welche es am natürlichsten versinnbildlicht wird. Wir wollen es also, wenn wir von nun an davon sprechen, den Strom des Denkens, des Bewußtseins oder des subjektiven Lebens nennen.
ad b. Aber nun zeigt sich auch innerhalb der Grenzen eines und desselben Ich und zwischen Bewußtseinsinhalten, die alle in gleicher Weise diesen Charakter gegenseitiger Zusammengehörigkeit besitzen, eine Art von Gliederung und Sonderung zwischen den Teilen, welcher diese Beschreibung nicht gerecht zu werden scheint. Ich verweise auf die Brüche, die durch plötzliche Kontraste in der Qualität der sukzessiven Abschnitte des Bewußtseinsstroms entstehen. Wenn die Worte “Kette" und “Zug" gar nichts natürlich Taugliches an sich hätten, wie kämen sie dazu überhaupt gebraucht zu werden? Reißt nicht eine laute Explosion das von ihr jäh überraschte Bewußtsein auseinander? Nein; denn gerade in unser Bewußtwerden des Getöses schleicht sich das Bewußtsein der vorangegangenen Stille ein und setzt sich in ihm fort; denn was wir hören, wenn der Donner kracht, ist nicht reiner Donner, sondern “die Stille durchbrechender und mit ihr kontrastierender" Donner. Unser Bewußtsein des [>158] gleichen objektiven Donners unterscheidet sich, wenn es auf diese Weise entsteht, gänzlich von demjenigen Bewußtsein, das wir hätten, wenn der Donner die Fortsetzung von vorhergegangenem Donner wäre. Der Donner selbst scheint uns die Stille aufzuheben und auszuschließen; aber das Bewußtsein des Donners ist auch ein Bewußtsein der eben noch vorhandenen Stille; und es würde schwer fallen, in dem wirklichen konkreten Bewußtsein eines Menschen einen so auf die Gegenwart beschränkten Zustand zu finden, daß darin gar kein Hinweis auf irgend etwas Vorausgehendes läge.
“Substanzartige" und “transitive" Bewußtseinszustände. — Wenn wir einen allgemeinen Überblick auf den wunderbaren Strom unseres Bewußtseins werfen, dann fällt uns zuerst der an verschiedenen Stellen so verschiedene Verlauf auf. Wie im Leben eines Vogels so herrscht auch hier ein beständiger Wechsel von flüchtiger Bewegung und Ruhe. Das kommt zum Ausdruck im Rythmus der Sprache, wo jeder Gedanke in einem Satz ausgedrückt, und jeder Satz durch einen Punkt geschlossen wird. Die Ruhe-Stellen sind gewöhnlich durch anschauliche Vorstellungen irgendwelcher Art ausgefüllt, deren Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie für eine unbestimmte Zeit vor der Seele festgehalten und ohne sich zu verändern betrachtet werden können; an den Stellen der Bewegung findet sich das Bewußtsein von Relationen, statischer oder dynamischer Art, die in den meisten Fällen zwischen den Gegenständen erfaßt werden, deren Betrachtung die Perioden relativer Ruhe ausfüllt.
Wir wollen die Ruhe-Stellen die “substanzartigen", die Bewegungs-Stellen die “transitiven" Bestandteile des Bewußtseinsstroms nennen. Es zeigt sich alsdann, daß unser Bewußtsein, wenn es eben von einem substanzartigen Bestandteil sich entfernt hat, sogleich einem anderen dieser Art zustrebt. Und wir können sagen, daß die Hauptaufgabe der transitiven Teile darin besteht, uns von einem substanzartigen Endziel zum anderen zu führen. Nun ist es sehr schwierig, auf dem Weg der Introspektion die transitiven Teile als das zu erkennen, was sie wirklich sind. Wenn sie nur Übergänge darstellen zu einem Endziel, dann bedeutet es einfach eine Vernichtung derselben, wenn man sie festzuhalten sucht, bevor das Endziel erreicht ist, um sie in diesem Stadium zu betrachten. Warten wir aber bis das Endziel erreicht ist, dann übertrifft dieses die Übergangserlebnisse so sehr an Wucht und Stabilität, daß es dieselben in seinem Glanz vollständig verdunkelt und [>159] verschwinden läßt. Laßt jemand versuchen, einen Gedanken in der Mitte entzwei zu schneiden und im Querschnitt zu betrachten, da wird er sehen, wie schwierig die introspektive Beobachtung der transitiven Verbindungen ist. Das Denken nimmt stets einen so jähen Anlauf, daß es uns fast immer zum Endziel bringt, bevor wir imstande sind, es anzuhalten. Ist aber einmal unser Vorsatz flink genug, um es zu hemmen, so hört es sogleich auf es selbst zu sein. Wie eine Schneeflocke, in der warmen Hand aufgefangen, aufhört eine Schneeflocke zu sein, und sich in einen Wassertropfen verwandelt, so zergeht uns das seinem Endziel zustrebende Relationsbewußtsein, wenn wir es aufzufassen versuchen, und wir halten statt seiner irgend etwas Substanzartiges fest, gewöhnlich das zuletzt ausgesprochene Wort, das nun einen statischen Charakter besitzt und seine Funktion, seine Tendenz und seine besondere Bedeutung im Satzganzen verloren hat. Die Bemühungen, in diesen Fällen introspektive Analyse zu treiben, gleichen wirklich dem Bestreben, einen drehenden Kreisel zu ergreifen, um seine Bewegung festzuhalten, oder dem Versuch, das Gas schnell genug aufzudrehen, um zu sehen, wie die Dunkelheit aussieht. Und die Forderung, diese transitiven Bewußtseinszustände aufzuweisen, die sicherlich von skeptischen Psychologen demjenigen gegenüber erhoben wird, der ihre Existenz behauptet, ist ebenso unpassend wie Zenos Vorgehen gegen die Vertreter der Bewegungslehre, wenn er ihnen die Frage vorlegte, an welchem Punkt ein fliegender Pfeil sich jeweils befinde, und wenn er die Unrichtigkeit ihrer Behauptung daraus glaubte nachweisen zu können, daß sie auf eine so alberne Frage nicht sofort eine Antwort fanden.
Die Folgen dieser introspektiven Schwierigkeit sind betrüblich. Wenn das Festhalten und Beobachten der transitiven Teile unseres Bewußtseinsstroms so schwer ist, dann muß der große Irrtum, zu dem alle Schulen hinneigen, darin bestehen, daß man es versäumt, sie überhaupt zu verzeichnen und daß man übermäßig viel Gewicht legt auf die mehr substanzartigen Teile des Stroms. Nun hat dieser Irrtum historisch in zweierlei Richtungen gewirkt. Eine Reihe von Denkern ist durch ihn zum Sensualismus geführt worden. Unfähig irgendeinen substanzartigen Bewußtseinsinhalt zu erfassen, der den zahllosen Relationen und Verbindungsformen zwischen den sinnlichen Dingen der Welt entspricht, außerstande benannte Geisteszustände ausfindig zu machen, in denen sich solche Relationen spiegeln, haben sie es größtenteils geleugnet, daß solche Zustände überhaupt vorkommen, [>160] und viele von ihnen, wie Hume, sind so weit gegangen, die Realität der meisten Relationen sowohl außerhalb wie innerhalb des Geistes in Abrede zu stellen. Einfache substanzartige “Inhalte", Empfindungen und ihre Abbilder, nebeneinander gesetzt wie die Steine im Dominospiel, aber tatsächlich von einander getrennt, alles andere nur durch die Sprache uns vorgetäuscht — darauf läuft schließlich diese Theorie hinaus. Die Intellektualisten andrerseits, die es nicht fertig gebracht haben, die Realität von Relationen extra mentem aufzugeben, aber ebensowenig imstande gewesen sind, auf irgendwelche bestimmten substanzartigen Bewußtseinsinhalte hinzuweisen, in welchen sie erfaßt werden, sind zu derselben Annahme gelangt, daß es solche Bewußtseinsinhalte überhaupt nicht gibt. Aber nun haben sie die entgegengesetzte Schlußfolgerung gezogen. Sie sagen: die Relationen müssen in etwas erfaßt werden, was kein Bewußtseinsinhalt ist, kein Geisteszustand, kontinuierlich und wesensgleich mit dem psychischen Material, aus welchem die Empfindungen und anderen substanzartigen Bewußtseinszustände gemacht sind. Sie müssen erfaßt werden durch etwas, was auf einem ganz anderen Niveau liegt, durch einen actus purus des Verstandes, des Geistes oder der Vernunft, Worte, die durchweg mit großen Buchstaben geschrieben werden und als Bezeichnungen gelten für etwas, was allen flüchtigen und vergänglichen Tatsachen der Sinnlichkeit unsagbar überlegen ist. [Fn06]
Allein von unserem Standpunkt aus haben sowohl die Intellektualisten als auch die Sensualisten unrecht. Wenn es überhaupt so etwas wie Bewußtseinsinhalte gibt, dann existieren, so sicher als Relationen zwischen den Objekten in rerum natura, ja noch sicherer Bewußtseinsinhalte, in welchen diese Relationen erfaßt werden. Es gibt in der menschlichen Sprache nicht eine Konjunktion oder Präposition und kaum einen adverbialen Ausdruck oder eine syntaktische Form oder eine Modulation der Stimme, die nicht die eine oder andere Nuance einer Relation zum Ausdruck brächte, von deren Existenz zwischen den massiveren Gegenständen unseres Denkens wir jeweils wirklich ein Bewußtsein haben. Wenn wir objektiv sprechen, dann sind es die realen Relationen, die sich uns zu enthüllen scheinen; sprechen wir subjektiv, dann ist es der Strom [>161] des Bewußtseins, der jede von ihnen dadurch wiedergibt, daß er selbst eine besondere Färbung annimmt. In beiden Fallen sind die Relationen zahllos, und keine existierende Sprache ist imstande all ihren Schattierungen gerecht zu werden.
Wir müßten ebenso bereitwillig wie von einem Bewußtsein des Blauen oder des Kalten, von einem Bewußtsein des Und, des Wenn, des Aber und des Durch sprechen. Dennoch tun wir das nicht: die Gewohnheit, die substanzartigen Bestandteile allein anzuerkennen, ist so sehr in uns eingewurzelt, daß es die Sprache fast verweigert, sich zu irgendeinem anderen Gebrauche herzugeben. Betrachten wir wieder einmal die Analogie des Gehirns. Wir halten das Gehirn für ein Organ, dessen inneres Gleichgewicht beständig sich verändert, wobei die Veränderung sich überall bemerkbar macht. Der Pulsschlag der Veränderung ist zweifellos an einer Stelle stärker als an einer anderen, ihr Rythmus einmal schneller als ein ander Mal. In einem mit gleichförmiger Geschwindigkeit sich drehenden Kaleidoskop sind, zwar beständig neue Formen in Bildung begriffen, dabei gibt es jedoch Momente, in denen die Veränderung unbedeutend, stockend zu sein, ja ganz zu fehlen scheint. Diesen folgen andere Momente, wo sie mit märchenhafter Geschwindigkeit sich vollzieht, so daß relativ stabile Formen abwechseln mit Formen, die so flüchtig sind, daß wir sie beim zweiten Sehen nicht wiedererkennen würden. Ebenso muß im Gehirn die fortwährende Umgestaltung manchmal zu Spannungszuständen führen, die relativ lang dauern, während manchmal solche nur eintreten, um sogleich wieder zu vergehen. Wenn nun aber das Bewußtsein zusammenhängt mit der Tatsache, daß die Umgestaltung im Gehirn stattfindet, warum sollte nicht dem unaufhörlichen Verlauf dieser Umgestaltung auch ein unaufhörlicher Fluß des Bewußtseins entsprechen. Und wenn ein langsamerer Verlauf der betreffenden Umgestaltung eine Art von Bewußtsein mit sich bringt, warum sollte nicht ein beschleunigter eine andere Art herbeiführen, die ebensogut ihre Besonderheit hat wie die Umgestaltung selbst. [Fn07]
Das vor der Seele stehende Objekt hat stets eine “Franse". Es gibt noch andere unbenannte Modifikationen des Bewußtseins, die ebenso wichtig sind wie die transitiven Zustände und [>162] die ebensosehr wie diese zur Erkenntnis beitragen. Beispiele sollen erklären, was ich meine.
Nehmen wir an, drei Personen nacheinander riefen uns zu; “Warte!" “Höre!" “Sieh!" Dadurch wird unser Bewußtsein in drei ganz verschiedene Erwartungszustände versetzt, obwohl in keinem der drei Fälle ein bestimmtes Objekt vor ihm steht. Vermutlich wird hier niemand die Existenz einer wirklichen Bewußtseinsaffektion in Abrede stellen, eines Bewußtseins von der Richtung, aus welcher ein Eindruck ungefähr kommen wird, obgleich noch gar kein positiver Eindruck vorhanden ist. Wir besitzen indessen keine anderen Namen für die in Frage stehenden psychischen Zustände, als die Namen höre, sieh und warte.
Setzen wir den Fall, wir suchten uns zu erinnern an einen vergessenen Namen. Unser Bewußtseinszustand ist dabei ein ganz eigentümlicher. Es ist eine Leere vorhanden; aber keine bloße Leere. Es ist eine Leere, in der es intensiv arbeitet. In ihr spukt eine Art Geist des Namens, der uns in bestimmte Richtung lockt, der manchmal ein gewisses Prickeln erzeugt in dem Bewußtsein unserer Konzentration und der uns dann zurücksinken läßt ohne den gesuchten Namen. Wenn sich uns falsche Namen aufdrängen, wirkt diese eigenartig bestimmte Leere sofort so, daß sie dieselben verwirft. Sie passen in ihre Form nicht hinein. Und die Leere, die dem Suchen eines Worts entspricht, macht uns nicht denselben Eindruck wie diejenige, welche einem ändern zugehört, so inhaltslos die beiden notwendig auch erscheinen müssen, wenn man sie einfach als Lücken bezeichnet. Wenn ich vergebens versuche mir den Namen Spalding zurückzurufen, ist mein Bewußtsein ein ganz anderes, als wenn ich mich fruchtlos bemühe mich auf den Namen Bowles zu besinnen. Es gibt unzählige Modifikationen im Bewußtsein des Mangels, von denen keine einen besonderen Namen hat, die sich aber alle voneinander unterscheiden. Ein solches Bewußtsein des Mangels ist etwas ganz anderes als ein Mangel an Bewußtsein: es ist ein intensives Bewußtsein. Es kann der Rythmus eines vergessenen Wortes vorhanden sein, ohne den ihn umkleidenden Klang; oder ein flüchtiger Eindruck davon, wie der Anfangsvokal oder -konsonant lautet, kann uns immer aufs neue foppen, ohne bestimmtere Gestalt anzunehmen. Jedermann wird die Qual kennen, die der leere Rythmus eines vergessenen Verses uns bereiten kann, der ruhelos in unserem Geist herumwirbelt und nach den ausfüllenden Worten sucht. [>163]
Worin besteht jene erste blitzartige Erkenntnis der Gesinnung eines Menschen, die wir haben, wenn wir ihn, wie man gewöhnlich sagt, durchschauen? Gewiß in einer ganz spezifischen Affektion unseres Geistes. Und hat sich der Leser niemals gefragt, was für ein psychischer Tatbestand vorliegt, wenn er die Absicht hat etwas zu sagen, bevor er es gesagt hat? Es ist eine ganz bestimmte Intention, verschieden von allen anderen Intentionen und deshalb ein mit keinem anderen zu verwechselnder Bewußtseinszustand; und doch wird man kaum viel bestimmte sinnliche Bilder daran entdecken können, weder von Wörtern noch von Sachen. Wahrscheinlich kein einziges! Wartet man etwas, bis die Wort- und Sachvorstellungen ins Bewußtsein kommen, dann ist die vorgreifende Intention, die Ahnung des Kommenden nicht mehr vorhanden. Aber beim Auftauchen der an ihre Stelle tretenden Wörter übt sie noch eine Funktion aus, sie besorgt den Empfang derselben, heißt sie richtig [Fn08], wenn sie mit ihr übereinstimmen und falsch, wenn sie das nicht tun. Die Absicht so-und-so-zu-sagen ist der einzige Name, den man ihr geben kann. Man kann annehmen, daß ein gutes Drittel unseres psychischen Lebens aus diesen flüchtigen, kritisch wirksamen Überblicken noch nicht formulierter Gedankenreihen besteht. Wie käme es, daß jemand, der etwas zum erstenmal laut liest, imstande ist alle Worte sofort richtig zu betonen, wenn er nicht von allem Anfang an ein Bewußtsein wenigstens von der Form des jetzt kommenden Satzes hätte, welches mit seinem Bewußtsein des gegenwärtigen Wortes verschmilzt, und ihm diejenige innere Betonung zuteil werden läßt, die dem eigentümlichen Akzent des ausgesprochenen Wortes zugrunde liegt? Eine Betonung dieser Art hängt fast gänzlich von der grammatikalischen Konstruktion ab. Wenn wir lesen “nicht mehr", erwarten wir sogleich ein “als"; lesen wir “indessen", dann ist's ein “doch", ein “noch" oder ein “nichtsdestoweniger", was wir erwarten. Und diese Vorahnung des kommenden verbalen und grammatikalischen Scheines ist tatsächlich so genau, daß ein Leser, der unfähig ist, auch nur vier Gedanken des Buches, das er liest, zu verstehen, es nichts- [>164] destoweniger mit einem aufs feinste modulierten Ausdruck des Verständnisses laut lesen kann.
Wie der Leser wohl merken wird, ist es die Anerkennung des Vagen und Unartikulierten, nach der ihm in unserem geistigen Leben zukommenden Bedeutung, auf die aufmerksam zu machen ich so eifrig bemüht bin. Galton und Huxley haben, wie wir in dem Kapitel über die Einbildungskraft sehen werden, einen Schritt vorwärts getan in der Verwerfung der lächerlichen Theorien von Hume und Berkeley, wonach wir nur Bilder von vollkommen bestimmten Dingen, haben sollen. Ein weiterer Schritt besteht darin, daß wir die ebenso lächerliche Meinung zurückweisen, wonach, im Gegensatz zu einfachen objektiven Qualitäten, die unserer Erkenntnis in “Bewußtseinszuständen" gegeben sind, Relationen keine derartige psychische Vertretung finden. Allein diese Reformen sind noch lange nicht durchgreifend und radikal genug. Was zugegeben werden muß ist, daß die bestimmten Bilder der traditionellen Psychologie nur den kleinsten Teil unseres tatsächlichen Seelenlebens ausmachen. Die Ansicht der traditionellen Psychologie gleicht derjenigen, wonach ein Fluß lediglich aus so und soviel Löffeln, Eimern, Krügen, Fässern oder sonstigen Gefäßen voll Wasser bestünde. Auch wenn die betreffenden Gefäße alle tatsächlich in dem Strom standen, würde das freie Wasser doch fortfahren, zwischen ihnen hindurch zu fließen. Gerade dasjenige, was diesem freien Wasser im Bewußtsein entspricht, ist es, was die Psychologen so standhaft übersehen. Jedes bestimmte Bild in unserem Geist wird von dem “freien Wasser", das es umspült, benetzt und gefärbt. Neben jedem derartigen Bild geht einher das Bewußtsein seiner Relationen, naher und entfernter, das verklingende Wissen, woher es zu uns kam und die aufdämmernde Ahnung, wohin es führt. Die Bedeutung, der Wert des Bildes, liegt ganz und gar in diesem Hof, diesem Halbschatten, der es umgibt und begleitet, — oder vielmehr der mit ihm in eins verschmolzen, Bein von seinem Beine, Fleisch von seinem Fleisch geworden ist. Vergeht er, so läßt er freilich ein Bild von dem gleichen Ding wie vorher zurück, aber das Ding wird dabei neu aufgefaßt und ganz anders verstanden.
Wir wollen das Bewußtsein dieses das Bild umgebenden Hofes von Relationen seinen “psychischen Oberton" oder seine Franse nennen.
Die zerebralen Bedingungen der “Franse" — Nichts ist leichter als diese Tatsachen in gehirnphysiologischen Begriffen [>165] bildlich darzustellen. Wie das verklingende Wissen des Woher, das Bewußtsein des Ausgangspunktes eines geistigen Verlaufs wahrscheinlich beruht auf dem Verzittern der Erregungsprozesse, die nur einen Augenblik vorher in voller Lebhaftigkeit vorhanden waren, so muß das Bewußtsein des Wohin, die Vorahnung des Endziels, bedingt sein durch die anklingende Erregung von Nervenfasern oder Prozessen, deren psychisches Korrelat einen Augenblick später die lebendige Gegenwart unseres Bewußtseins bildet. In einer Kurve dargestellt muß der dem Bewußtsein zugrunde liegende Verlauf der Nervenprozesse in jedem Augenblick aussehen wie folgt:
Die Horizontale in Fig. 52 soll die Zeitlinie darstellen, und die drei, bei a, b und e beginnenden Kurven sollen die mit den
Fig. 52.
Es verhält sich gerade wie mit den “Obertönen" in der Musik; sie werden durch das Ohr nicht getrennt wahrgenommen; sie verbinden sich mit dem Grundton, umkleiden and verändern [>166] ihn; und geradeso verbinden sich die wachsenden und abnehmenden Gehirnprozesse in jedem Augenblick mit dem psychischen Effekt der auf ihrem Kulminationspunkt befindlichen Prozesse, umkleiden und modifizieren sie.
Der Gegenstand des Denkens. — Wenn wir nun die Erkenntnis-Funktionen der verschiedenen Geisteszustände betrachten, können wir sicher sein, daß der Unterschied zwischen solchen, die ein bloßes “Bewußt-Werden" und solchen, die ein “Wissen um etwas" darstellen, fast gänzlich auf die Ab- oder Anwesenheit von psychischen Fransen oder Obertönen zurückzuführen ist. Wissen um ein Ding ist Wissen von seinen Relationen. Bloßes Bewußt-Werden bedeutet Beschränkung auf den bloßen Eindruck, den es hervorruft. Die meisten seiner Relationen erfassen wir nur in der unklaren Art, wobei uns eine Fülle ungegliederter Anhängsel in Gestalt einer “Franse" gegeben ist. Und bevor wir zu dem nächsten in Betracht kommenden Gegenstand übergehen, muß ich mich ein wenig über dieses Fransenbewußtsein verbreiten, das selbst eine der interessantesten Bildungen des Bewußtseinsstroms ist.
Alle Arten von Bewußtseinsinhalten können die gleiche rationale Bedeutung besitzen. — All unser willkürliches Denken enthält irgendeinen Gegenstand oder ein Subjekt, worum sich alle Glieder des Gedankens drehen. Beziehungen zu diesem Gegenstand oder Interesse, und besonders die Beziehung der Harmonie und Disharmonie, der Unterstützung und Hemmung des Gegenstands kommen beständig in der Franse zum Bewußtsein. Jeder Gedanke, dessen Franse die Eigenschaft hat, uns zu dem Glauben der “Richtigkeit" zu veranlassen, kann als ein den Gegenstand unterstützender Gedanke betrachtet werden. [Fn09]
Nun können wir über unseren Gegenstand hauptsächlich in Worten, oder hauptsächlich in visuellen oder anderen Bildern denken, aber das braucht keinen Unterschied in bezug auf die Förderung unserer Erkenntnis des Gegenstandes auszumachen. Wenn wir nur in den Bewußtseinsinhalten, welcher Art sie auch sein mögen, eine Franse erfassen, in der sich ihre Zusammen-[>167]gehörigkeit und die Zugehörigkeit zum Gegenstand zu erkennen gibt, und wenn wir uns bewußt sind uns einer Schlußfolgerung zu nähern, dann haben wir das Bewußtsein, daß unser Denken vernunftgemäß und richtig ist. [Fn10] Die Wörter in jeder Sprache gewinnen durch lange Assoziation Fransen gegenseitiger Verträglichkeit oder Unverträglichkeit miteinander und mit dem, was sich aus ihnen ergibt, Fransen, die ihre unzertrennlichen Begleiter bilden, gerade wie Fransen an den visuellen, taktilen oder sonstigen Vorstellungen. Ich wiederhole, das wichtigste Element dieser Fransen ist das bloße Bewußtsein der Harmonie oder Disharmonie, der richtigen oder falschen Richtung im Denken.
Wenn wir englisch und französisch sprechen können und wir beginnen einen Satz auf französisch, dann sind alle später kommenden Wörter französisch; wir verfallen kaum je ins englische. Und diese gegenseitige Affinität der französischen Wörter ist nicht etwas bloß mechanisch Wirkendes wie ein Gehirngesetz, sondern etwas, was uns gleichzeitig auch zum Bewußtsein kommt. Unser Verständnis für einen gehörten französischen Satz steht niemals auf einer so tiefen Stufe, daß wir nicht wenigstens der linguistischen Zugehörigkeit der Wörter zueinander gewahr würden. Unsere Aufmerksamkeit kann kaum so abschweifen, daß wir nicht sofort stutzig werden, wenn plötzlich ein englisches Wort dazwischen auftritt. Ein solch unbestimmtes Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit der Wörter ist das Mindestmaß an Franse, das sie begleiten kann, wenn man sich bei ihnen überhaupt etwas “denkt". Gewöhnlich ist die unbestimmte Wahrnehmung, daß alle Wörter, die wir hören, zu derselben Sprache und zu demselben speziellen Wortkreis in dieser Sprache gehören, und daß die grammatikalische Konstruktion uns vertraut ist, praktisch gleichbedeutend mit einem Zugeständnis, daß das, was wir hören, Sinn hat. Wenn aber ein ungebräuchliches Fremdwort eingeführt wird, wenn ein grammatikalischer Fehler oder ein Ausdruck aus einem nicht hierhergehörigen Wortkreis plötzlich auftritt, wie etwa im Lauf eines philosophischen Gesprächs der Ausdruck “Rattenfalle" oder “Bleiarbeitergesetz", dann klingt der Satz sozusagen falsch, wir erhalten einen Ruck auf Grund der Unzusammengehörigkeit, und mit der stillen Zustimmung ist es vorbei. Das Bewußtsein der Vernunftgemäßheit scheint in diesen Fällen eher etwas Negatives als etwas Positives zu sein, nämlich [>168] die bloße Abwesenheit eines Rucks oder des Bewußtseins der Disharmonie zwischen den Gedankengliedern.
Wenn umgekehrt Wörter zu demselben Wortkreis
gehören und wenn ihr grammatischer Aufbau richtig ist, dann können
vollkommen sinnlose Sätze in gutem Glauben ausgesprochen und unbeanstandet
hingenommen werden. Die Zwiegespräche in den Betstunden, wo die nämliche
Kollektion einzelner Stellen aus Liedern immer wieder heruntergeleiert
wird und die bekannten Reporter-Stilblüten liefern Beispiele dazu.
Ich erinnere mich folgenden Satz einmal in einem Bericht über irgendeine
athletische Übung gelesen zu haben: “Vögel erfüllten die
Baumwipfel mit ihrem Morgengesang und machten die Luft feucht, kühl
und angenehm." Er ist von dem übereilten Reporter wahrscheinlich ohne
klares Bewußtsein geschrieben und von vielen Lesern kritiklos hingenommen
worden.
Wir sehen also, daß es wenig oder gar keinen Unterschied macht, auf welcher Art von Bewußtseinsmaterial, auf welcher Qualität von Vorstellungen unser Denken beruht. Die einzig wirklich wichtigen Bilder sind die Haltestellen, die vorläufigen oder endgültigen substantivischen Ergebnisse des Denkens. Im ganzen übrigen Verlauf des Bewußtseinsstromes bedeuten die Erlebnisse des Relationsbewußtseins alles, die inhaltlichen Träger dieser Relationen fast nichts. Diese Relationserlebnisse, diese psychischen Obertöne, Höfe, Überzüge oder Fransen an den Inhalten, können dieselben sein, während sie sich auf das verschiedenartige Vorstellungsmaterial gründen. |
Eine Zeichnung soll uns helfen, diese Gleichwertigkeit der allerverschiedensten geistigen Mittel für ein und denselben Zweck hervorzuheben. A soll irgendeine Erfahrung darstellen, von der eine Anzahl Denker ausgehen. Z soll die vernunftgemäß daraus sich ergebende praktische Schlußfolgerung sein. Der eine gelangt auf der einen, der andere auf einer anderen Linie zu ihr; der eine denkt in einer Reihe von englischen, der andere, von deutschen Wörtern. Bei dem einen Überwiegen die visuellen, bei dem andern die taktilen Bilder. Bei einem ist der Gedankenverlauf mit Gefühlen verbunden, beim anderen nicht. Bald ist er sehr abgekürzt, synthetisch und schnell verlaufend; bald stockend und mehrfach unterbrochen. Aber wenn die vorletzten Glieder all der Gedankenketten, wie [>169] sehr sie auch unter sich verschieden sein mögen, in dieselbe Schlußfolgerung auslaufen, dann sagen wir, und zwar mit Recht, daß alle diese Denker im wesentlichen denselben Gedanken gehabt haben. Es würde wahrscheinlich jeder überaus erstaunt sein, wenn er in seines Nachbars Geist Einblick erhalten und entdecken würde, wie ganz anders hier die Szenerie ist, als bei ihm selbst.
Die letzte Eigentümlichkeit, auf welche in dieser ersten groben Beschreibung des Gedankenstroms aufmerksam gemacht werden muß, ist folgende:
Das Bewußtsein wendet stets einem Teil seines Objekts mehr Interesse zu als einem anderen und betätigt sich beständig in anziehender und abstoßender oder in auswählender Weise.
Die Phänomene der selektiven Aufmerksamkeit und des überlegenden Wollens sind natürlich nächstliegende Beispiele dieser auswählenden Tätigkeit. Aber wenige von uns merken es wie unaufhörlich sie auch bei solchen Operationen am Werk ist, die gewöhnlich nicht mit diesen Namen bezeichnet werden. Akzent und Betonung finden sich in jeder unserer Wahrnehmungen. Es ist uns ganz unmöglich unsere Aufmerksamkeit unparteiisch über eine Anzahl von Eindrücken zu verteilen. Eine monotone Aufeinanderfolge von Schalleindrücken wird durch die verschiedenen Akzente, die wir auf verschiedene Eindrücke legen, bald in diese, bald in jene Art von Rythmen zerlegt. Der einfachste dieser Rythmen ist der zweigliedrige: tick-táck, tick-táck. Punkte, die über eine Fläche verteilt sind, werden in Reihen und Gruppen aufgefaßt; unzusammenhängende Linien in verschiedenen Figuren. Auch das beständige Unterscheiden in dies und das, hier und dort, jetzt und damals ist das Resultat der gleichen auswählenden Hervorhebung bestimmter Teile von Raum und Zeit.
Aber wir beschränken uns nicht darauf, auf gewisse Dinge Nachdruck zu legen, gewisse zur Einheit zusammenzufügen und andere davon auszuschließen. Wir ignorieren tatsächlich die meisten vor uns befindlichen Dinge. Ich will kurz zeigen wie das zugeht.
Um von unten anzufangen, was sind (wie wir S. 9 — 11 gesehen haben) unsere Sinne selbst anderes als Selektionsorgane? Aus dem unendlichen Chaos von Bewegungen, die, wie die Physik uns lehrt, die Außenwelt ausmachen, faßt jedes Sinnesorgan diejenigen auf, welche innerhalb gewisser Geschwindigkeitsgrenzen liegen. Auf diese spricht es an und ignoriert alle, anderen so vollkommen, als ob sie nicht existierten. Aus dem, was an sich [>170] ein ununterscheidbares, ineinanderfließendes, nirgends besondere Stützpunkte bietendes Kontinuum ist, machen unsere Sinne dadurch, daß sie diese Bewegung beachten und jene ignorieren, für uns eine Welt voll von Kontrasten, scharfen Akzenten, jähen "Wechseln, pittoresken Licht- und Schattenwirkungen. [Fn11]
Wenn die Empfindungen, die uns ein gegebenes Organ vermittelt, auf diese Weise bereits eine Auswahl bedeuten, indem die Bildung der Sinnesnervenendigungen nur bestimmte Vorgänge als Bedingungen derselben zuläßt, so wählt die Aufmerksamkeit wiederum aus allen ihr zur Verfügung gestellten Empfindungen gewisse als ihrer Beachtung würdig aus und unterdrückt alle Übrigen. Wir beachten nur jene Empfindungen, welche Zeichen für uns sind von Dingen, die uns gerade praktisch oder ästhetisch interessieren, denen wir deshalb substantivische Namen geben, und denen wir sonach eine gewisse Ausnahmestellung in bezug auf Unabhängigkeit und Bedeutung zuweisen. Aber an sich, abgesehen von meinem Interesse, ist eine einzelne Staubwolke an einem windigen Tag ein genau ebenso individuelles Ding und verdient ebensosehr oder ebensowenig einen individuellen Namen wie mein eigener Leib. [Fn12]
Und was geschieht alsdann mit den Empfindungen, die wir von jedem einzelnen Ding empfangen? Der Geist trifft wieder seine Wahl. Er hebt gewisse Empfindungen als die wahren Repräsentanten des Dings heraus und betrachtet alle übrigen als ihre, durch die Bedingungen des Augenblicks modifizierten Erscheinungen. So wird meine Tischplatte rechteckig genannt, nach nur einem der unzähligen Netzhautbilder, die sie liefert, während alle übrigen Eindrücke die Vorstellungen von zwei spitzen und zwei stumpfen Winkeln sind; aber ich nenne die letzteren perspektivische Ansichten, und die vier rechten Winkel die wahre Form des Tisches und erhebe das Attribut der Rechteckigkeit zum Wesen des Tisches, weil ich selbst dafür ästhetische Gründe habe. [Fn13] In ähnlicher Weise wird die wirkliche [>171] Form des Kreises beurteilt nach der Vorstellung, die er hervorruft, wenn die Gesichtslinie senkrecht auf seinem Mittelpunkt steht — all seine übrigen Bilder sind Zeichen dieser Vorstellung. Der wirkliche Klang einer Kanone ist die Empfindung, die sie veranlaßt, wenn sich das Ohr ganz in ihrer Nähe befindet. Die wirkliche Farbe eines Ziegelsteins ist [Fn14] die Empfindung, die er veranlaßt, wenn das Auge von einem nahgelegenen Punkt aus ihn gerade anschaut nicht im Sonnenschein und auch nicht im Dunkeln; unter anderen Umständen vermittelt er uns andere Farbenempfindungen, die bloß Zeichen jener sind — wir sehen ihn dann mehr blaßrot oder blauer als er ist. Der Leser kennt kein Objekt, das er sich nicht vorzugsweise als in irgendeiner typischen Stellung, irgendeiner normalen Größe, irgendwelcher charakteristischen Distanz, irgendeiner Originalfarbe usw. vorstellt. Aber all diese wesentlichen Merkmale, die zusammen für uns die unverfälschte Objektivität des Dinges und den Gegensatz bilden zu dem, was wir die subjektiven Empfindungen nennen, die es uns in einem gegebenen Moment vermitteln kann, sind ebensowohl bloße Empfindungen wie die letzteren. Der Geist trifft nach seinem eigenen Gesetz die Auswahl und entscheidet darüber, welche besondere Empfindung für realer und gültiger gehalten werden soll als die übrigen.
Was dann, in einer durch die selektive Tätigkeit unseres Geistes derart individualisierten Welt, unsere “Erfahrung" genannt wird, ist fast gänzlich bestimmt durch unsere Aufmerksamkeitsgewohnheiten. Es kann irgendein Ding einem Menschen hundertmal gezeigt werden, aber wenn er beharrlich unterläßt es zu beachten, kann man nicht sagen, daß es in seine Erfahrung eingegangen sei. Wir sehen alle Tausende von Fliegen, Motten und Käfer, aber wem außer dem Entomologen sagen sie etwas besonderes? Andererseits kann etwas, was nur einmal im Leben vorkommt, eine unauslöschliche Erfahrung im Gedächtnis hinterlassen. Laßt vier Menschen eine Reise nach Europa unternehmen. Da wird der eine nur künstlerische Eindrücke mit nach Hause bringen — Erinnerungen an Kostüme und Farben, Gartenanlagen, Landschaften und Gebäude, Gemälde und Statuen. Für einen anderen wird alles das gar nicht existieren; statt dessen interessiert er sich für Entfernungen und Preise, Einwohnerzahlen [>172] und Entwässerungsanlagen, für Tür- und Fenstereinfassungen und andere nützliche Statistiken. Ein dritter wird viel zu erzählen haben von Theatern, Restaurants und Vergnügungslokalen, und von sonst nichts; während der vierte vielleicht so sehr in seine eigenen subjektiven Betrachtungen versunken war, daß er wenig mehr anzugeben weiß, als die Namen einiger Orte, durch die er gekommen ist. Jeder hat aus der gleichen Masse der ihnen dargebotenen Objekte diejenigen, die zu seinen privaten Interessen paßten, herausgesucht, und daraus seine Erfahrung gebildet.
Wenn wir nun von der empirischen Kombination von Objekten absehen und fragen, wie der Geist verfährt, um sie rational zu verknüpfen, so stoßen wir wieder auf die Allmacht der Selektion. In einem späteren Kapitel werden wir sehen, daß alles logische Denken auf der Fähigkeit des Geistes beruht, die Gesamtheit des betrachteten Phänomens in Teile zu zerlegen und unter diesen die besonderen herauszufassen, die in dem gegebenen Fall zu der geeigneten Schlußfolgerung führen können. Der geniale Mensch ist derjenige, der bei seinem Überblick über einen Tatbestand stets an der rechten Stelle innehält und den betreffenden Punkt mit seinen richtigen Konsequenzen hervorhebt, die wir “Gründe" nennen, wenn der Fall ein theoretischer, Mittel, wenn er ein praktischer ist.
Gehen wir nun auf das ästhetische Gebiet über,
dann tritt unser Gesetz noch offener zutage. Der Künstler trifft bekanntlich
eine sorgfältige Auswahl unter seinen Mitteln und verwirft alle Töne,
Farben, Formen, die nicht miteinander und mit dem Hauptzweck seines Werks
übereinstimmen. Jene Einheit, Harmonie, “Konvergenz der Charaktere",
wie sie Taine nennt, die den Kunstwerken ihre Superiorität über
die Werke der Natur verleiht, beruht einzig auf der Elimination.
Jeder natürliche Gegenstand bildet einen geeigneten Vorwurf, wenn
der Künstler Geist genug besitzt, um irgendeinen Zug an ihm als charakteristisch
herauszugreifen, und alle bloß nebensächlichen Züge, die
damit nicht harmonieren, beiseite zu lassen.
Steigen wir noch eine Stufe höher, dann gelangen
wir in das Gebiet der Ethik, wo die Wahl bekanntlich die allergrößte
Bedeutung besitzt. Eine Handlung hat keinerlei sittliche Qualitäten,
wenn sie nicht unter mehreren gleich möglichen Handlungen ausgewählt
worden ist. Die Argumente für einen guten Lebenswandel festzuhalten
und uns ihrer stets bewußt zu sein; unsere Sehnsucht nach blumigeren
Pfaden zu unterdrücken und [>173] den Fuß
mutig auf den steinigen Pfad zu setzen, das charakterisiert die sittliche
Energie. Aber es gibt noch höhere Leistungen als diese; denn sie gehen
hervor aus richtunggebenden Interessen, die von den Menschen bereits als
die wichtigsten empfunden werden. Die ethische Leistung par excellence
dagegen hat, weiter zu gehen und hat auszuwählen, welches Interesse
von verschiedenen gleich zwingenden das höchste werden soll. Der Erfolg
ist hier von größter Wichtigkeit, denn er entscheidet über
das ganze Leben eines Menschen. Wenn er überlegt: Soll ich dieses
Verbrechen begehen? diesen Beruf wählen? dieses Amt annehmen oder
dieses Vermögen heiraten? dann hat er tatsächlich die Wahl unter
mehreren gleich möglichen zukünftigen Charakteren. Was aus ihm
werden
wird, ist durch sein Benehmen in diesem Augenblick bestimmt. Schopenhauer,
der seinen Determinismus durch das Argument stützt, daß bei
einem gegebenen feststehenden Charakter nur eine Reaktion unter bestimmten
Umständen möglich ist, vergißt, daß in diesen kritischen
sittlichen Momenten dasjenige, was im Bewußtsein gerade entschieden
zu werden scheint, die Gestaltung des Charakters selbst ist. Die
schicksalbedeutende Frage für den Menschen ist nicht die, welche Handlung
er jetzt zu vollbringen sich entschließen, sondern die, was für
ein Wesen zu werden er jetzt wählen soll.
Nimmt man die menschliche Erfahrung im allgemeinen,
dann ist die Auswahl der verschiedenen Menschen in weitem Umfang die gleiche.
Die Rasse im ganzen genommen zeigt bedeutende Übereinstimmung in der
Entscheidung darüber was bemerkt und benannt werden soll; und unter
den beachteten Teilen verhalten wir uns inbezug auf Hervorhebung und Vorliebe
oder Unterordnung und Abneigung sehr gleichartig. Es gibt jedoch einen
ganz außergewöhnlichen Fall, in welchem, soweit wir wissen,
noch nie zwei Menschen die gleiche Wahl getroffen haben. Eine große
Spaltung des ganzen Universums in zwei Teile wird durch jeden von uns ausgeführt.
Und jeder von uns konzentriert fast sein ganzes Interesse auf die eine
der beiden Hälften. Aber wir alle ziehen die Trennungslinie zwischen
diesen Hälften in verschiedener Weise. Wenn ich sage, daß wir
alle die beiden Hälften mit dem gleichen Namen benennen, und daß
wir dafür die Bezeichnungen “Ich" und “Nicht-Ich" haben,
dann wird man sofort sehen, was ich meine. Das ganz einzigartige Interesse,
das jedes menschliche Bewußtsein an denjenigen Teilen der Schöpfung
besitzt, die es als Ich oder ihm gehörig auffaßt, mag ein moralisches
Rätsel sein, aber es ist eine fundamentale [>174]
psychologische Tatsache. Keine Menschenseele kann an dem Selbst des Nebenmenschen
das nämliche Interesse haben wie an dem eigenen Selbst. Das Selbst
des Nebenmenschen bildet mit allen übrigen Dingen zusammen eine fremde
Masse, der das eigene Selbst durch eine tiefe Kluft getrennt gegenüber
steht. Selbst der getretene Wurm bringt, wie Lotze irgendwo sagt, sein
eigenes leidendes Selbst in Gegensatz zu dem ganzen übrigen Universum,
wenn er auch keinen klaren Begriff davon haben mag, was er selbst und was
das Universum bedeutet. Er ist für mich ein bloßer Teil der
Welt; für ihn bin ich ein derartiger bloßer Teil. Jeder von
uns vollzieht den Schnitt durch das Universum an verschiedener Stelle.
Indem wir nun von dieser ersten allgemeinen Skizze uns der detailierteren
Ausführung zuwenden, wollen wir im nächsten Kapitel versuchen,
diese Tatsache des Selbstbewußtseins, auf die wir bereits mehrfach
gestoßen sind, psychologisch zu behandeln.
Fn01: Von der Existenz abstrakter und idealer Realitäten
kann eigentlich keine Rede sein. Richtiger würde der obige Satz lauten:
Die Gegenstände, konkret und abstrakt, physisch und ideal, an deren
permanentes Bestehen wir glauben ...
___
Fn02: Die Verschiedenheit der Gemütsbewegungen
kann freilich durch ganz andere Momente bedingt sein als durch Unterschiede
der Empfindlichkeit und ist wohl in der Regel anders bedingt.
___
Fn03: Damit ist natürlich nicht bewiesen, daß
gleiche Empfindungen nicht auftreten können, sondern nur, daß
gleiche Reize, die nacheinander einwirken, nicht genau gleiche Empfindungen
auslösen.
___
Fn04: Diese Stelle klingt in der Übersetzung
viel philiströser als im Original, wo sie übrigens auch nicht
die Zustimmung jedes Lesers finden dürfte. Das, wofür uns im
höheren Alter der Sinn mehr und mehr aufgehen soll, heißt im
Englischen “common duties" und “common goods". Vielleicht wäre dies
besser durch “Pflichten für die Allgemeinheit und das allgemeine Wohl"
übersetzt worden?
___
Fn05: Diese Erklärung, welche den Charakter
der Wärme, Vertrautheit, Unmittelbarkeit als den Grund der Zueignung
vergangener Bewußtseinszustände betrachtet, läßt
manches zu wünschen übrig. Wenn ein Ich sich an seine eigene
Vergangenheit erinnert, so besitzt das Erinnerte von vornherein die Ichbeziehung
und braucht sie nicht erst durch derartige Schlußprozesse zu gewinnen.
___
Fn06: Was hiemit für eine Lehre gemeint sein
soll, ist nicht recht ersichtlich. James scheint die nicht immer klar durchgeführte
Unterscheidung zwischen Akten und Inhalten im Auge zu haben.
___
Fn07: Daß die ganze Besonderheit des Relationsbewußtseins
nur in seinem beschleunigten Verlauf bestehe, ist nicht wahrscheinlich
und läßt sich mit guten Gründen bestreiten.
___
Fn08: Vorsichtiger ausgedrückt ist die Absicht
“von Einfluß" auf das bei ihrer Erfüllung eintretende Bewußtsein
der Richtigkeit. Daß sie den Empfang der auftauchenden Wort- und
Sachvorstellungen besorge und daß diese mit ihr übereinstimmen,
sind bildliche Wendungen, die leicht zu Mißverständnissen Veranlassung
geben.
___
Fn09: Es folgt hier ein Satz, dessen Übersetzung
das Verständnis des deutschen Lesers nur beeinträchtigen könnte.
Neben dem Begriff “topic", der oben mit “Gegenstand" wiedergegeben ist,
wird nämlich in diesem Satz noch der Begriff “object" eingeführt.
Wenn wir das Bewußtsein haben, daß dieses “Objekt" in dem nämlichen
Relationsschema liegt wie die “Topik", so soll das den Gedanken für
uns wichtig machen.
___
Fn10: Die Verwendung bildlicher Ausdrücke
hat in der Psychologie schon mehr Schaden als Nutzen gestiftet. So dient
auch diese Lehre von den Fransen mehr zur Verschleierung als zur Lösung
schwieriger Probleme.
___
Fn11: Allzuviel Nachdruck darf auf den Begriff des
Kontinuums hier nicht gelegt werden. Man vergleiche, was S. 155 über
die Kontinuität des Bewußtseinsstromes gesagt wurde.
___
Fn12: Mit diesem vagen Hinweis auf unsere praktischen
oder ästhetischen Interessen ist natürlich das Problem, warum
wir gewisse Bestandteile der Welt zu Einheiten zusammenfassen, andere nicht,
keineswegs gelöst. Eine feste Einheit wird, was wir häufig zusammen
beobachten, und die praktischen und ästhetischen Interessen sind nur
einzelne Motive für dieses “Zusammen-Beachten”.
___
Fn13: Diese Behauptung ist wiederum mit Vorsicht
aufzunehmen.
___
Fn14: Psychologen, welche die Empfindungen nicht
mit den Gegenständen der Vorstellung identifizieren, würden lieber
sagen “entspricht der Empfindung ....” James verfällt hier in die
Fehler des Psychologismus, der die Transzendenz der Erkenntnis übersieht.
___
Links (Auswahl: beachte)
kontrolliert: irs 06.06.09