Über Bindung, Beziehung und das Messen in der Psychologie
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Postprint aus:
Praxis der Rechtspsychologie, 4,2, 1994, 121-129.
Im Original
ohne Übersicht und Links. {In geschweiften Klammern Seiten im Zeitschriftenartikel}
(In runder
Klammer mit Ozz Originalfußnoten der eingereichten Arbeit: sie enthalten
auch alle von der
Redaktion
aus unerfindlichen Gründen nicht aufgenommen Literaturhinweise)
[In eckiger
Klammer neue Anmerkungen beginnend mit Nzz [N01]
]
Übersicht
1 Einleitung
2 Problem
der Quantifizierung: Messen in der Psychologie
3 Analyse des Bindungsbegriffs:
3.1 Vorläufige
Begriffseingrenzung der Bindung
3.2 Dimensionen
(Objekte, Bezüge) der Bindung
3.3 Qualität der
Bindung
3.4 Quantität
der Bindung
3.5 Stabilität
& Kontinuität der Bindung
3.6 Ursachen
und Entstehungsbedingungen von Bindungen und Beziehungen
3.7 Bindungs-Paradoxa
- Pathologische Bindungen
3.8 Zeichen &
Ausdruck von Bindung
3.9 Bedeutung
der Bindung für das Kindeswohl
{121}
Fthenakis und
seine Schule, Jopt und Anhänger attackieren nunmehr seit Jahren die
Bedeutung des Bindungskriteriums und bestreiten vehement den Sinn
einer Quantifizierung. Mit ihrer wenig überzeugenden Entwertung
der Bindung geht eine entsprechende Entwertung psychologischer
Sachverständigentätigkeit einher, die so nicht mehr länger
hingenommen werden kann. Quantifikation als Ordinalurteile (mehr oder weniger-Urteile)
sind sowohl möglich als auch notwendig (O01).
Das Konzept Bindung ist ein wichtiges, unverzichtbares und
außerordentlich wertvolles Kriterium für das Konzept Kindeswohl
(O02), wie auch die neuere deutsche Bindungsforschung
(O03) zeigt. Der Bindungsbegriff ist durch den
viel zu weiten und damit nichtssagenden Beziehungsbegriff nicht ersetzbar.
2 Das Problem der Quantifizierung: Messen in der Psychologie
Im wesentlichen
gibt es drei familienrechtspsychologische Paradigmen: (a) Entscheidende
Feststellung Kindeswohl, (b) Beratend-unterstützendes
Finden einer günstigen Lösung für das Kindeswohl,
(c) Befriedungsauftrag. (a) ist der schlimme 5%-Streitfall.
(b) und (c) wird zunehmend von Mediatoren übernommen, was auch
gut zur Vermeidung von schweren Rollenkonflikten des Gutachters ist (=O04).
Wie immer auch das Paradigma sein mag, es sind in jedem Fall
Entscheidungen zu treffen der Art: Wer ist für welche
Aufgabe geeignet bzw. geeigneter und daher zuständig?
Meßtheoretisch verlangt die häufigste gerichtliche Fragestellung
der schlimmen 5%-Streitfälle eine Antwort auf Ordinalniveau
(O05). D. h. das Gericht erwartet, daß
der Psychologe in der Lage ist, zwischen mehr und weniger unter
scheiden und damit entscheiden zu können.
Können Sachverhalte nach einer Dimension (Einheit) in
eine Ordnung vom Typ mehr oder weniger gebracht werden,
so formt eine solche Ordnung eine Ordinalskala. Vergleicht
man z.B. zwei Eltern hinsichtlich ihrer Fähigkeit,
sich in ihr Kind einzufühlen, so heißt die Dimension
(Einheit) Einfühlung in Kind X. Glaubt man z.B. mit Hilfe
psychologischer Methoden und Verfahren, eine Entscheidung der Art herbeiführen
zu können: Elter A's Einfühlungsvermögen in
Kind X ist besser, stärker, größer etc.
als das Elter B's, so hat man eine Messung auf Ordinalniveau - das
üblich Mögliche in den Sozialwissenschaften und in der
Psychologie (O06) - vorgenommen. Es ist nun völlig
gleichgültig, welches Kriterium oder welch komplexes
Kriterium man nimmt, ob es Beziehung heißt, ob man es Qualität
der Bindung nennt oder wie auch immer. Sobald man ein komparatives
Urteil vom Typ mehr, besser, geeigneter,
qualitativer, günstiger, stärker, also vom Typ mehr oder weniger
abgibt, trifft man ein {122} Ordinalurteil, d. h. man behauptet,
es existiert eine Ordnungsrelation M(n)> M(n-1)>...>M(i)>...>M(1).
Nehmen wir die moderne Bindungsforschung in Deutschland,
also die Regensburger Forschungsgruppe um das Psychologenehepaar
Großmann, Fremmer-Bombik u.a. und deren Bindungsmuster als
Beispiel. Sie unterscheiden bislang vier Hauptbindungsverhaltensmuster:
A= vermeidend,
B= sicher, C= ambivalent, D= desorganisiert. Ohne jeden
Zweifel gilt hier folgende Ordnungsrelation B>A,C,D, d.h. stellt der Psychologe
fest, daß zwischen Elter E1 und Kind K1 das Bindungsverhaltensmuster
B(E1,K1) gilt, während für für Elter E2 und Kind K1
A(E2,K1) gilt, so gilt auch die Präferenzrelation B(E1,K1)>A(E2,K1),
wobei der Relator ">" hier "vorzuziehen" oder gar "deutlich vorzuziehen"
bedeutet. Man kann aber auch den differenzierteren Fall betrachten,
daß wir "sicher gebunden" differenzieren und damit quantifizieren,
z.B. (im Prinzip) drei Grade unterscheiden können: B3>B2>B1. Die Einheit
der Messung heißt hier "Günstige Bindungsart für
das Kindeswohl". Bezieht man mehrere Kriterien in die Entscheidung
ein - der Regelfall in Theorie und Praxis -, so stellt sich
das Problem der Konstruktion eines komplexen Ordinalmaßes.
Gute Alltagsbeispiele für komplexe Ordinalprobleme und
deren Messung sind etwa die Qualität einer Wohnung, eines
Arbeitsplatzes oder die Attraktivität eines Partners,
aber auch, um bei unserem Thema zu bleiben: das
Kindeswohl. Von der meßtheoretischen Anforderung her,
handelt es sich um einen komplexen, d. h. zusammengesetzten
Ordinalbegriff.
Gesetzgeber und Rechtsprechung meinen zu Recht, wie ich denke, daß es ein mehr oder weniger an Kindeswohl gibt. Das ist der Sinn der Beweisfrage sowohl im Beratungs- als auch im Streitfall: wer soll die elterliche Sorge (meist orientiert am Kindeswohl) ausüben? Wer sich als Gutachter auf eine Wahlfrage einläßt, der muß (implizit) annehmen, daß das (meist komplexe) Kriterium auf dem Niveau einer Ordinalskala vorliegt. Hält man auf diese Frage eine Antwort für möglich, so anerkennt man die potentielle Existenz einer Präferenzrelation: das ordinale Skalenniveau des Kindeswohlbegriffs. Wer das nicht anerkennt, kann überhaupt keine Gutachten erstellen, weil er die Vergleichbarkeit verneint und behauptet, nicht unterscheiden zu können. Wer aber sagt, Qualität Q1 ist besser als Q2, der unterstellt ebenfalls eine gemeinsame Dimension zwischen Q1 und Q2, postuliert eine Ordnungsrelation zwischen Q1 und Q2, trifft also ein Ordinalurteil und mißt daher, wenn auch nur auf dem bescheidenen Ordinalniveau (O07). Das Argument, man müsse sich auf Qualitäten zurückziehen, weil man nicht messen könne, ist ein Scheinargument, verleugnet die Problematik und Realität und verschiebt sie gleichzeitig.
Es macht
weder einen logischen noch empirischen Sinn, wenn Fthenakis und Jopt zwar
meinen, man könne zwischen der Qualität von Beziehungen differenzieren,
aber nicht zwischen Bindungen. Ein mehr oder weniger, eine bessere oder
günstigere Qualität erkennen, heißt messen auf Ordinalniveau.
Weshalb sollte eine ordinale Messung für Beziehungen, nicht aber für
Bindungen möglich sein? Folgte man Fthenakis, opferte man ein {123}
inhaltlich gut ausgefülltes und empirisch vielfach untersuchtes Konzept
zugunsten eines völlig nichtssagenden und unbestimmten Beziehungs-Begriffs.
Beziehungen, die eine starke Bindung beinhalten, sind demgegenüber
nicht nur konkreter sondern ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach auch viel
richtiger bestimmt, da es schließlich um Eltern-Kind-Beziehungen
geht.
3 Analyse des Bindungsbegriffs
3.1 Vorläufige Begriffseingrenzung der Bindung
Bindung ist Merkmal bzw. eine Eigenschaft einer Beziehung (Beziehungsgeschichte genau genommen). Da der Bindungsbegriff nicht verschwindet, wenn man ihn durch Beziehung ersetzt, da er ja gerade ein Charakteristikum von Beziehungen ist, ergibt sich schon von daher eine Zurückweisung der Argumente, Bindung durch Beziehung zu ersetzen (O08). Beziehung umfaßt Bindung. Bindung ist in diesem Sinne ein Beziehungsmerkmal. Man muß aufpassen, den Bindungsbegriff nicht einseitig im Sinne einer besonderen psychologischen oder psychoanalytischen Schule oder Wissenschaftsmode zu interpretieren bzw. als Terminus technicus für eine bestimmte experimentelle Situation, wie z.B. kurzfristige Trennung von einer Bemutterungs-Figur (O09); auch empfiehlt sich eine strenge Trennung zwischen der Begriffs-Konstruktion Bindung und einer der zahlreichen Operationalisierungen (O10). Hier soll der allgemeine Bindungsbegriff, die "objektive" Idee, der "objektive Geist" des Gesetzes und der Rechtsprechung zur Begriffs-Konstruktion der Bindung ausgedeutet werden (O11). Der gesamte (und auch nur vorläufige) Begriffsinhalt ergibt sich erst am Ende der Analyse.
Binden oder gebunden sein bedeutet (O12) a) befestigen, fest sein, b) zusammenfügen, zusammengefügt, verbunden sein, c) abhängig machen/ sein; verpflichten oder verpflichtet sein, festlegen oder festgelegt sein. Zum Gegenteil gehört daher a) lockern, lösen, b) trennen, c) unabhängig, frei sein, beliebig, willkürlich. Im Begriff der Bindung selbst ist tatsächlich keine Qualität enthalten. Bindung ist so gesehen streng begriffsanalytisch als relevantes Kriterium an sich zu verstehen. Es können aber bei wohlwollender Interpretation - die bei Jopt und Fthenakis allerdings nicht zu erkennen ist - weder die Gesetzgebung und Rechtsprechung noch die Sachverständigen meinen und wollen, daß alle anderen Gesichtspunkte vernachlässigt werden sollen. Psychologisch ist Bindung affektive Bindung. Zur Psychologie der Affekte zählen hierbei Gefühle, Emotionen, Stimmung, Temperament, Antrieb, Bedürfnisse, Wünsche, Motive, Interessen und der Wille (O13).
3.2 Dimensionen (Objekte, Bezüge) der Bindung
Man kann sich neben Personen im Prinzip fast an alles binden: an Orte & Landschaften (O14), Sachen (O15), Ideen, Ideale & Werte (O16), Ereignisse & Betätigungen (O17), Erfahrungen (O18), Tiere (O19) und an {124} Gewohnheiten (O20) oder an Aspekte der aufgeführten Sachverhalte (FN1). Bindung im Sozialraum eines Kindes und Menschen ist daher ein komplexes und kompliziertes Konstrukt mit vielen Rückkopplungen, Überschneidungen und Überlagerungen.
3.3 Qualität (= Wert) der Bindung
Man kann gegenüber Sachverhalten der Welt folgende Grundeinstellungen einnehmen: positiv (S gut für X), negativ (S schlecht für X), neutral (S gleichgültig für X) und zugleich sowohl positiv als auch negativ (S sowohl positiv als auch negativ für X). Eine zugleich sowohl positive als auch negative Einstellung oder Haltung bezeichnet man in der Psychologie als Ambivalenz (Zwiespältigkeit, Doppelwertigkeit), das sind die Beziehungen, die uns Kummer machen. Infolgedessen kann man alle zwischenmenschlichen Beziehungen, wozu auch die Bindung als ein Aspekt einer Beziehung zählt, im Prinzip wie folgt charakterisieren:
Graphik: Zur Matrix der vier Grundbeziehungen [N02]
{125}
Bindung
und allgemein zwischenmenschliche Beziehungen sind nicht (zwingend)
symmetrisch oder transitiv: A kann B mögen, aber
B A nicht. A kann B mögen und B kann C mögen, aber A muß
nicht C mögen. Ja, sie sind nicht einmal konstant,
sondern variieren und wechseln nach Befinden und Situation. Betrachtet
man eine Dyade, also eine Zweierbeziehung, so gibt
es im Prinzip nach obigem Schema und Modell 4x4=16
Beziehungsmöglichkeiten.[N03] In
einer Triade (A,B,C) gibt es drei Paarbildungen (AB,AC,BC), also 16x16x16=4096
Beziehungsmöglichkeiten. Man sieht, wie extrem die kombinatorischen
Möglichkeiten wachsen und welches Beziehungspotential
Familien bergen! Für N>1 Personen gibt es 16 EXPONENT((N/
2 (N-1)) [N03] qualitative Beziehungsmöglichkeiten.
3.4 Quantität (= Ausprägung) der Bindung
Der Quantitätsbegriff in Bezug auf die Bindung ist nicht eindeutig, sondern vieldeutig. Man kann mindestens sechs Aspekte des Quantitäts-Begriffsraums unterscheiden: (1) Quantität als (nicht näher bestimmte) Ausprägung (allgemeines Bild einer Ausdehnung, Vielheit); (2) Quantität als Menge (Bild: Anzahl der miteinander verbundenen "Elemente" zweier Persönlichkeiten); (3) Quantität als Stärke (Bild: Kraft); (4) Quantität als Festigkeit (Bild: Reißfestigkeit, Widerstand); (5) Quantität als Erlebnis-Intensität (Bild: intensive Verliebtheit) und (6) Quantität als Tiefe (Bild: Verwurzelungstiefe eines Baumes bzw. affektive Schichten eines Menschen). Die Entwertung des quantitativen Bindungsbegriffs, wie sie etwa Jopt und Fthenakis betreiben, wird der Mehrgestaltigkeit und Bedeutungsvielfalt des Quantitätsbegriffsraumes überhaupt nicht gerecht. Deren völlig verkürzte eindimensionale Interpretation erfaßt den komplexen Sachverhalt, wie er von zahlreichen Sachverständigen in praxi erfaßt und berücksichtigt wird, in gar keiner Weise.
3.5 Stabilität & Kontinuität der Bindung
Die Bindung kann im Prinzip mehr oder minder flüchtiger Natur sein, nur kurzfristig existieren, z. B. wenn ein starker Anreiz, etwa eine große Geschenkerwartung, eine kurzfristig intensive Bindung bewirkt. Es widerstrebt allerdings dem Alltagssprachgebrauch und auch dem "objektiven" Geist von Gesetzgebung und Rechtsprechung von Bindung als etwas Flüchtigem zu sprechen. Der Bindungsbegriff impliziert seiner Natur nach Dauer und Konstanz im Gegensatz zum Beziehungsbegriff. Unter Stabilität versteht man die Beibehaltung, Konstanz einer Bindung (O21). Bindungsmuster zeigen nicht nur eine erstaunliche Stabilität über Entwicklungszeiträume, sondern sie zeigen sogar eine Tradierung über Generationen hinweg (70-80%), (vgl. Köhler, 1992) eine glänzende Bestätigung der Bedeutung der Persönlichkeitsanalyse im Sorgerechtsverfahren.
{126}
3.6 Ursachen und Entstehungsbedingungen von Bindungen und Beziehungen
Aronson (O22) fand in der Sympathieforschung sieben Faktoren; wir mögen Menschen, die: (1) uns nahe sind, (2) ähnliche Ansichten haben, (3) uns selbst ähnlich sind, (4) Bedürfnisse haben, die wir befriedigen können und unsere Bedürfnisse befriedigen, (5) über Fähigkeiten und Kompetenzen verfügen, (6) angenehm sind und schöne Dinge tun und (7) uns mögen. Ruch & Zimbardo fassen zusammen: wir mögen Menschen, die uns maximale Befriedigung geben bei minimalem Aufwand und umgekehrt (O23 =). Man erkennt unschwer, daß diese 7 Faktoren direkt zur Schätzung der Bindung, ihrer Qualität und Stärke herangezogen werden können.
Die Entstehung der Bindung kann auf diesem Hintergrund gut verstanden werden: Bindung ist in der Hauptsache das Ergebnis von Bedürfnis-Befriedigungs-Erfahrungen. Entwicklungspsychologisch sind nicht alle Bedürfnisbefriedigungserfahrungen gleichwertig. Aus den Versuchen von Harlow (O24) wissen wir z.B., daß die Bedürfnisbefriedigungserfahrung von Nähe, Wärme, Geborgenheit wichtiger ist als die Nahrungsversorgung. Lange Zeit nahm man fälschlicherweise an, daß die bevorzugte Bindung vieler Kindern ihre Mutter-Figur (O25) auf der ursprünglichen Versorgungsleistung beruhte. Man hat Bowlby vielfach zu Unrecht vorgeworfen - auch Fthenakis, Niesel & Kunze (1982, S.40/41) liefern diese Fehlleistung -, daß er die Mutter überbewertet und den Vater vernachlässigt. Tatsächlich hat Bowlby selbst korrekt immer von der Mutter-Figur gesprochen und das kann selbstverständlich auch ein Mann sein (vgl. Bowlby, 1975, S.41 und 171 jeweils Fußnote, 1976, S.19; Rutter, 1978, S.121).
Begegnen sich zwei Menschen und teilen ein Stück Lebensraum miteinander, so treffen ihre Wünsche und Bedürfnisse, ihre Erwartungen, ihre Meinungen, Ziele und Werte und ihre Handlungen aufeinander. Zahlreiche Gefühle werden hierdurch berührt, aktiviert und die Erlebnisse als Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert. Zwischen zwei Menschen kann man nun eine Gefühls-Ereignis-Matrix annehmen, die als Resultat gemeinsamer Erfahrungen aufgefaßt werden kann. Eine solche Gefühls-Ereignis-Matrix kann nun zwischen je zwei Menschen gedacht und konstruiert werden, diese repräsentiert dann die Beziehung und Bindung zwischen diesen beiden. Jedes Ereignis, jede Begegnung zwischen zwei Menschen hinterläßt auf der Gefühls-Ereignis-Matrix eine Spur. Sobald die Vorstellung und Fantasietätigkeit ausgebildet ist, kann ein Ereignis auch in der Vorstellungs- oder Fantasietätigkeit stattfinden (O26, FN2). Die Gefühls-Ereignis-Matrizen sind nun im Gedächtnis untereinander und mit anderen Matrizen vernetzt. Das ist der Grund, weshalb {127} wir in einer neuen Begegnung einem Menschen niemals völlig "vorurteilsfrei" oder "unbefangen" gegenübertreten: sie aktiviert unsere Erfahrungsgeschichte, die den ersten Eindruck sehr mitbestimmt. Der Psychologe ist nun in der Kontrolle seiner Erfahrungsgeschichte besonders geschult und diszipliniert und daher besonders zur Objektivität befähigt.
3.7 Bindungs-Paradoxa - Pathologische Bindungen [N04]
Die Bindungs-Paradoxa machen darauf aufmerksam, daß Bindung und Liebe nicht identisch sind. Nicht jede Bindung bedeutet Liebe, aber jede Liebe zieht eine Bindung nach sich oder bildet eine Bindung aus. Eine wirkliche allgemeine wissenschaftliche Theorie der Bindung muß die Bindungs-Paradoxa erklären können. Stellen wir uns vor, daß zwei Menschen, die ein Stück Lebensraum teilen, ein starkes - äußerliches - Bindungsverhalten zeigen, obwohl, blickt man genauer und tiefer hin, ihre Gefühls-Ereignis-Matrizen gar nicht so gut aussehen. Wie kann man sich das erklären? Menschen binden sich aneinander, obwohl die Matrix dies nicht vermuten ließe. Wir alle kennen jene paradoxen Phänomene, daß Menschen in ihr Milieu zurückgehen, wo sie geschlagen, entwürdigt und ausgebeutet werden, obwohl niemand sie zwingt (z. B. Frauenhäuslerinnen, Prostituierte, Kriminelle, aber auch scheinbar ganz "normale" Menschen aus scheinbar ganz "normalen" Familien). Wir kennen die paradoxen Phänomene der Hörigkeit und Abhängigkeit. Kinder binden sich an Eltern, die sie schlagen, vernachlässigen, wegstoßen, die sie, wie ich meine, gar nicht lieben können. Wie ist das erklärbar? Schon Freud postulierte 1920 (O27) das Konzept des Wiederholungszwanges, wonach Menschen dazu neigen, alte Szenarien zu wiederholen (O28, FN3). Eine Hypothese zur Erklärung dieses absonderlichen Verhaltens liefert uns Skinners Lerntheorie (O29). Wir wissen, daß Verhalten mehr verfestigt und wahrscheinlicher wird, wenn die Verstärkung (positive = Gabe einer Belohnung, negative = Wegnahme einer Strafe) unregelmäßig erfolgt. Irrationalität, Unberechenbarkeit im Betreuungs-, Versorgungs- und Erziehungsverhalten müßte, stimmte die Analogie, stärkere Bindung schaffen, was sich z.B. in der Festigkeit, mit der an Beziehungen zu Menschen, Orten und Milieus festgehalten wird, zeigen müßte (O30 =). Prägungskonzepte könnten hier eine neue Rechtfertigung erfahren und sind keineswegs so ungerechtfertigt wie Fthenakis (1985, S. 285) meint.
3.8 Zeichen & Ausdruck von Bindung
Man muß hier besonders aufpassen, daß man einzelne Zeichen in besonderen Situationen nicht falsch (O31) (z. B. eine problematische Angstbindung als besonders günstig, weil intensiv {128} zu verkennen) oder überbewertet (z. B. Idealisierungen und Sehnsuchtsbindungen ohne reale Erfahrungsgrundlage). Wir haben in der konkreten Praxis immer nur Operationalisierungs- und Situations - S t i c h p r o b e n und das gewöhnlich in einer interessegeleiteten Kampfsituation mit massiven Beeinflussungen und Manipulationen innerhalb einer besonders stressigen Lebensphase. Im folgenden einige Charakteristika nach Großmann, Fremmer-Bombik et.al.:
Sichere Bindungs-Kinder (Typ B) zeigen Gefühle und Bedürfnisse offen; suchen z.B. die Hauptbindungsperson, wenn sie den Raum verläßt, rufen nach ihr, weinen, schreien, freuen sich und sind glücklich, wenn sie wieder da ist. Günstiger Bezugspersonen-Hintergrund: Angemessenes, einfühlsames Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes, insbesondere für sein Bedürfnis sowohl nach Nähe als auch nach Exploration. Ungünstiger Bezugspersonen-Hintergrund: Überbehütung, Überbesorgnis. Zu schnelle Erziehung zur Selbständigkeit.
Unsicher-vermeidende Bindungs-Kinder (Typ A) mit gleichgültigem äußeren Ausdruck: zeigen keine Gefühle oder Reaktionen, wenn die Hauptbindungsperson z. B. den Raum verläßt, reagieren auch nicht, wenn sie wieder kommt. Bezugspersonen-Hintergrund: Öfter als gut nicht angemessenes, einfühlsames Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes, Frust.
Unsicher-ambivalente Bindungs-Kinder (Typ C) mit ängstlich gespanntem Ausdruck. Bezugspersonen-Hintergrund: für die Kinder nicht berechenbar, wann und unter welchen Bedingungen die Hauptbindungsperson auf seine Bedürfnisse eingeht: mal geht sie ein, mal nicht, jenachdem wie es bei ihr paßt, was aus der Perspektive des Kindes nicht kalkulierbar ist.
Über Typ D kann noch wenig gesagt werden, außer daß die Bezugsperson mit unbewältigten Verlusten zu kämpfen hat, also sich in einer psychischen Neuorganisation befindet (vgl. Köhler, 1992, S. 276) (O32).
3.9 Bedeutung der Bindung für das Kindeswohl
Die Bindung an Bemutterungs-Figuren (O33) bei kleinen Kindern repräsentiert das mit Abstand wichtigste Kriterium für das Kindeswohl, wobei es auch Überschneidungen gibt: so ist die Bindung z. B. untrennbar mit der Kontinuität verbunden. Ehescheidung bedeutet für Kinder vielfach einen schweren Einschnitt in die Bindung, besonders in die Bindungskontinuität, sowie einen Bruch der Kontinuität ganz allgemein. Die Grundlagen der Bindungsforschung beginnen mit Bowlby (1951) und Spitz (1956) (O34) erst in den fünfziger Jahren und die Differenzierungskonzepte entstehen sogar erst in den siebziger Jahren mit Ainsworth (1978) u.a. und seither erforscht das Ehepaar Großmann, Fremmer-Bombik und Mitarbeiter die verschiedenen Bindungsmuster, ihre Entstehung und Bedeutung. Dank Ainsworth, den Großmanns und anderen wissen wir mittlerweile - Kliniker und auch therapeutisch tätige Forensiker wußten das schon immer - um problematische Bindungen (A,C,D-Muster [N05] ). Was wir nicht wissen ist (O35), wie sind die Folgen von Trennungen bei mehr {129} oder minder problematischen und starken Bindungen gegenüber den Folgen bei Alternativentscheidungen, weil die Forschung noch viel zu jung ist. Welche Entscheidung auch getroffen wird: jede ist mit Fehlern, unerwünschten Begleit- und Nebenwirkungen behaftet (O36). Hier hilft nur eines: eine sorgfältige und umfassende Einzelfallanalyse auch in der Darstellung, um eine kritische Kontrolle aller Beteiligten - Eltern, Rechtsanwälte, Richter - zu ermöglichen. Juristen und praktisch-forensische wie auch beratende und therapeutisch tätige Psychologen haben eines gemeinsam: sie haben konkrete individuelle Einzelfälle zu entscheiden, Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten helfen da wenig (O37):
Nomothetisches,
d. h. naturwissenschaftliches Wissenschaftsverständnis
ist so wenig angebracht wie moderner statistischer Hokuspokus womöglich
gar in Eintracht mit naiver Testgläubigkeit oder das andere
Extrem: die Verleugnung des Quantitativen. Was wir brauchen
ist eine Entwicklung der idiografischen Methodik. Auch
bessere Gesetze im Sinne gemeinsamer Sorge ändern nichts an
der Problemfrage: bei wem soll das Kind leben ("residieren") und
nach welchen Kriterien sollte eine solche Entscheidung erfolgen?
Die Probleme ändern sich weder durch andere Namensgebung
noch durch andere Gesetze: wo sollen die Kinder hin, wenn die
Eltern sich trennen? Wer soll entscheiden, wenn sie sich
nicht einigen können oder wollen? Und welche Kriterien sind hierfür
besonders wichtig? Die Rechtsprechung sagt bislang: Bindungs-,
Kontinuitäts- und Förderungsprinzip. Ich denke, daß
diese Kriterien psychologisch vernünftig und bewährt
sind und die von Jopt und Fthenakis betriebene Entwertung
nicht verdient haben.
Ende der Originalarbeit.
O01)
W.E. Fthenakis "Zum Stellenwert der Bindungen des Kindes als sorgerechtsrelevantes
Kriterium gemäß § 1671 BGB", FamRZ, 1985, S. 662-672,
hier zur Quantität S.666, eine Replik auf Lempp FamRZ
1984, S. 741-744). Siehe auch (Anhänger von Fthenakis): Christian
Ullmann "Lempps Meinungswandel zum Umgangsrecht", in: Zeitschrift
für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Bd. 14, 1986, 1, S. 88-94)
und R. Lempp "Zum Aufsatz von Ch. Ullmann: Lempps Meinungswandel
zum Umgangsrecht", Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie",
Bd. 14, Bern, 1986, S. 268-269. U.J. Jopt "Im Namen des Kindes", Hamburg
1992, S.83. Jopt fordert neben der Gesetzesänderung (Regelfall gemeinsame
elterliche Sorge) wie Fthenakis einen Paradigmenwechsel, wobei er offenbar
der Illusion anhängt, man könne Menschen zur Kooperation
oder zur Vernunft zwingen und die Streitrate wesentlich
senken, wenn man nur den gesetzlichen Rahmen
entsprechend gestaltete. Einem systemischen Familientherapeut hätte
ich mehr Watzlawickschen Realitätssinn zugetraut
(P. Watzlawick, J. Weakland, R. Fisch "Lösungen",
Bern 2.A. 1979, S.59: Fazit Ziffer 2 und 3): die Minimierung
(noch weniger 'desselben') der Streitrate strebt gegen einen Grenzwert
und der scheint hierzulande bei 5% zu liegen. Daraus
allerdings zu folgern, es gibt überhaupt nur 5% Problemfälle,
wäre völlig abwegig. Viele Problemfälle werden nicht
entdeckt oder man will sie gar nicht entdecken.
O02)
Es ist Mode geworden, das Konzept Kindeswohl als unbestimmte
Generalklausel oder Universalkategorie zu beklagen, obwohl
der Begriff seit mindestens 1959 juristisch relevant
ist und seither ausgedeutet und erforscht wird.
Spätestens aber seit Coesters Habilitationsschrift "Das Kindeswohl
als Rechtsbegriff", Frankfurt 1982/83, ist diese Klage weitgehend überflüssig.
Gesetzgebung, Rechtsprechung, Rechtswissenschaft, forensische Psychologie,
Entwicklungspsychologe, Gesundheitspsychologie, klinische Psychologie sowie
Kinder und Jugendpsychiatrie, Sozialpädagogik und
Pädagogik haben reichlich Kriterien und Merkmale entwickelt.
Wem das immer noch nicht reicht, der sollte sich nicht nach Gutachten drängen.
So wie ein formales Beweisverfahren nicht sinnvoll ist, so
wenig wäre es auch sinnvoll, in einer stets sich wandelnden
Welt und des Wissens von ihr die Begriffe zu sehr festzuschreiben:
vgl. R. Zippelius "Einführung in die juristische Methodenlehre",
München 1974, 113/114
O03)
Regensburger Forschungsgruppe um das Ehepaar Großmann,
Fremmer-Bombik u.a., zahlreiche Veröffentlichungen, Diplom-Arbeiten,
Dissertationen.
O04)
Im wesentlichen gibt es drei familienrechtspsychologische Paradigmen:
(1) Entscheidende Feststellung Kindeswohl, (2) Beratend-unterstützendes
Finden einer günstigen Lösung für das Kindeswohl,
(3) Befriedungsauftrag. (1) ist der schlimme 5%-Streitfall.
(2) und (3) wird zunehmend von Mediatoren übernommen,
was auch gut zur Vermeidung von schweren Rollenkonflikten des Gutachters
ist.
O05)
In der Meßtheorie werden vier Skalenniveaus unterschieden:
(1) Nominalskala: einfache klassifikatorische Unterscheidung. Urteil:
ja, nein; gehört zu, gehört nicht zu.
(2) Ordinalskala: das Quantum läßt sich in eine Ordnung
vom Typ mehr oder weniger bringen: größer, geeigneter, mehr,
besser, günstiger ... als (Bindung bei A besser als bei B).
(3) Intervallskala: das Quantum kann in gleichabständige
Intervalle unterteilt werden, d. h. gleichabständigen Zahlenabständen
entsprechen gleiche empirische Abstände (Bindung bei A um 12 Einheiten
besser als bei B). Varianten sind (3a) logarithmische Intervallskalen
(Psychophysik) und Intervallskalen (3b) mit einem willkürlichen
Nullpunkt, wie bei der Temperaturmessung, d.h. Verhältnisvergleiche
(Bindung bei A 3x besser als bei B) sind auf
Intervallniveau nicht statthaft. (4) Verhältnisskalen erlauben Verhältnisvergleiche,
sie setzen einen empirisch-sinnvollen Nullpunkt voraus. In Psychologie,
Forensik und im Recht hat man es meist mit komplexen Ordinalskalen zu tun,
die oft sogar nur auf einen Einzelfall beschränkt sind und genau
für diesen passend konstruiert werden, wobei man zugeben muß,
daß die Einzelfallmessung völlig unererforscht ist:
eine Folge nomothetischer Wissenschaftsfixierung, so auch Bredenkamp
& Feger (Hrsg.) "Messen und Testen", Enzyklopädie der Psychologie,
Serie I: Forschungsmethoden der Psychologie Bd. 3, speziell
2. Kapitel B. Orth "Grundlagen des Messens". In der Psychologie haben
wir es mit Ausnahme der Psychophysik mit unscharfen Größen
zu tun. Die traditionelle Mathematik taugt nicht für diese Problemlage
und die neuen Ansätze der Fuzzy-Methoden (s.u.) sind weder genügend
entwickelt noch hinreichend bekannt: fuzzy [englisch] = flockig,
kraus, unklar. FuzzyMathematik oder Fuzzy-Logik ein neuer Zweig der
Mathematik und Logik, der sich speziell mit unscharfen Mengen, Maßen,
mathematischen und logischen Objekten befaßt: H.
Bandemer & S. Gottwald "Einführung in Fuzzy-Methoden", 3.A.
Berlin 1992.
O06)
a) In der Psychologie findet seit Jahrzehnten ein noch
nicht entschiedener Kampf - gegenwärtig beherrschen die SzientistInnen
noch das Feld, obwohl sie im Rückzug begriffen sind -
um Sinn und Unsinn quantitativer Messungen statt, der sich
hauptsächlich aus der Auseinandersetzung um die Bedeutung von Tests
entwickelt hat. Schärfste und geradezu vernichtende Kritik an
der klassischen Testtheorie kommt aus vielen Lagern: (1) von den
(richtigen) Meßtheoretikern, siehe z.B. B. Orth
"Einführung in die Theorie des Messens", Mainz 1974,
S.31: "So wird in der Testtheorie die Annahme einer
Intervallskala [=gleiche Einheiten sind konstruierbar, es gilt
u.a. 4-3=9-8] vorausgesetzt." (2) aus der Ecke der "modernen" Testtheorie,
die behaupten auf der Grundlage des Rasch-Modells nicht nur
Intervallskalen konstruieren, sondern auch eine stichprobenunabhängige
Messung vornehmen zu können (was m.E.
bestenfalls für diejenigen Testtypen gilt, bei denen das Axiom
gilt, daß die Lösungshäufigkeit die Ausprägung
repräsentiert) Hauptvertreter:
G. Fischer "Einführung in die
Theorie psychologischer Tests", Wien 1974, der ganze erste Teil, besonders
aber das 9. Kapitel "Kritik der klassischen Testtheorie". (3)
aus dem Lager der Pragmatiker und Lebensrealisten,
die z.B. kritisieren, daß die Testausprägungen nicht die wirklichen
Fähigkeiten der Menschen repräsentieren, Lebensprobleme,
die meist komplex, vernetzt und mit Unsicherheit behaftet sind, zu
lösen, ein wichtiger Vertreter auf dem Gebiet der Intelligenz
und Problemlösung etwa D. Dörner "Die Logik des Mißlingens
- Strategisches Denken in komplexen Situationen", als Taschenbuch
Reinbek bei Hamburg 1992, S.46. (4) Erfahrene Forensiker und insbesondere
Aussagepsychologen wissen natürlich um die Problematik von Tests und
kritisieren deren naive und unkritische Anwendung vor Gericht. Die Kritik
aus dem therapeutischen Lager ist anderer Art und soll hier nicht weiter
ausgeführt werden. b) Fthenakis behauptet in FamRZ 1985,7, S.666,
Zeile mit Fußnote 52 sogar - allerdings
unbelegt -, daß Bindungstheoretiker angeblich sogar
Differenzen der Bindungsstärke, also auf Intervallskalenniveau,
messen könnten. Mir ist kein einziger Autor bekannt, der dies behauptet,
obwohl es grundsätzlich auch nicht ausgeschlossen ist (Rasch-Modell).
O07)
Es macht auch weder einen logischen noch empirischen Sinn, wenn Fthenakis
und Jopt zwar meinen, man könne zwischen der Qualität von
Beziehungen differenzieren, aber nicht zwischen Bindungen.
Ein mehr oder weniger, eine bessere oder günstigere
Qualität erkennen heißt messen auf Ordinalniveau. Weshalb
sollte eine ordinale Messung für Beziehungen, nicht aber für
Bindungen möglich sein?
O08)
Folgte man Fthenakis opferte man ein inhaltlich relativ gut ausgefülltes
und empirisch vielfach untersuchtes Konzept zugunsten eines völlig
nichtssagenden und unbestimmten Beziehungs-Begriffs. Beziehungen, die eine
starke Bindung beinhalten, sind demgegenüber nicht nur konkreter
sondern ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach auch viel richtiger
bestimmt, da es schließlich um Eltern-Kind-Beziehungen geht.
O09)
Kinder verschiedenen Entwicklungsstandes reagieren unterschiedlich
und nicht einheitlich auf die Trennungssituation vgl. E. Fremmer-Bombik
"Beobachtungen zur Beziehungsqualität im zweiten Lebensjahr und ihre
Bedeutung im Lichte mütterlicher Kindheitserinnerungen", Dissertation
Regensburg 1987, S.18 f.
O10)
Der seelisch geistige Bereich entzieht sich meist der direkten Beobachtung.
Möchte man zuverlässige Informationen über nicht-direkt
beobachtbare Begriffskonstruktionen im seelisch-geistigen Bereich,
muß man Methoden und Verfahren konstruieren, die eine
Beziehung zwischen nicht-direkt-beobachtbarem Konstrukt und Wahrnehmbarem,
Beobachtbarem herstellt. Diesen Prozeß nennt man Operationalisierung.
O11)
und zwar unabhängig von den Möglichkeiten der Operationalisierung.
Analogie im Juristischen: Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit
einer Handlung ist grundsätzlich unabhängig von der Frage der
Beweisbarkeit. Obwohl Fthenakis' Kapitel über Bindung 77 Seiten umfaßt
("Väter" Bd.I), hält er eine Begriffsanalyse offenbar
für unnötig, wie überhaupt auffällt, daß die
Arbeiten aus seiner Schule zwar sehr viel empirisches Material
aneinanderreihen, aber es fehlt die Durchdringung, das konstruktive,
inhaltliche und verbindende Moment.
O12)
Siehe: "Duden: Das Bedeutungswörterbuch", Mannheim 1970,
Stichworte: binden, Bindung.
O13)
Bindung zeigt sich daher auch, wie Coester zu Recht erkennt,
im Kindeswillen a.a.O. S.258/259, wobei den beiden Dimensionen
des Kindeswillens - Selbstbestimmung und Verbundenheit - eine
wichtige dritte hinzuzufügen wäre: der Kindeswille
als Ausdruck persönlichen Wohlbefindens, Wohlergehens, emotionaler
Zufriedenheit.
O14)
Im weiteren Sinne Bindung an die Heimat (Heimweh), an Sprache
und Volk (was man erst merken kann, wenn man längere Zeit im Ausland
lebt), s.a.: U. Fuhrer, F.G. Kaiser "Bindung an das Zuhause:
Die emotionalen Ursachen", Zeitschrift für Sozialpsychologie
1992,23 (2), S.105-118.
O15)
Besonders zwanghafte Sammler, aber auch jeder, für den bestimmte
Gegenstände einen spezifischen emotionalen Erinnerungswert haben.
O16)
L. Bolterauer "Die Macht der Begeisterung - Fanatismus und
Enthusiasmus in tiefenpsychologischer Sicht", Tübingen
1989.
O17)
Hier besonders die Angstbindungen der Phobiker, kulturelle Riten, aber
auch leidenschaftliche Betätigungen wie FLOW-Erlebnisse (= lustvolles
Tun, Hingabe, die um ihrer selbst willen erfolgt), aber
auch z.B. die Sucht des Spielers.
O18)
Freuds unten zitierter Wiederholungszwang, z.B.
immer den gleichen Partnertyp wählen und mit ihm streiten.
O19)
die eine stärkere Rolle spielen können als manche Menschen
im Beziehungsfeld.
O20)
wie sehr man z.B. an sein Aussehen gewöhnt ist,
merkt man, wenn einen der Friseur verschnitten hat oder wenn man
etwas Ungewöhnliches an hat.
O21)
Bindungsmuster zeigen nicht nur eine erstaunliche Stabilität
über Entwicklungszeiträume, sondern sie zeigen sogar eine
Tradierung über Generationen hinweg (70-80%), eine glänzende
Bestätigung der Bedeutung der Persönlichkeitsanalyse im
Sorgerechtsverfahren. Vgl. Lotte Köhler "Formen und Folgen früher
Bindungserfahrungen", in: Forum der Psychoanalyse (1992),8,
263-280, besonders 266/67 und 271.
O22)
nach Aronson zitiert aus Ruch & Zimbardo "Lehrbuch der Psychologie",
dt. Berlin 1975, S. 332.
O23)
Man erkennt unschwer, daß diese 7 Faktoren direkt zur Schätzung
der Bindung, ihrer Qualität und Stärke herangezogen werden
können.
O24)
H.F. Harlow "Das Wesen der Liebe", dt. in: O.M. Ewert (Hrsg.) . "Entwicklungspsychologie",
Köln 1972 (orig. 1958), S.128-138.
O25)
Man hat Bowlby vielfach zu Unrecht vorgeworfen - auch Fthenakis
et. al. in "Ehescheidung", München 1982, S.40/41 liefert
diese Fehlleistung, daß er die Mutter überbewertet
und den Vater vernachlässigt. Tatsächlich hat Bowlby selbst korrekt
immer von der Mutter-Figur gesprochen und das kann selbstverständlich
auch ein Mann sein, siehe "Bindung", dt. 1975 S.41 und 171 jeweils Fußnote
und "Trennung" dt. 1976, S.19 Fußnote. Hierzu auch M. Rutter
"Bindung und Trennung in der frühen Kindheit", dt. 1978, S.121.
O26)
Sehr beeindruckend zeigt sich das Phänomen in der Pubertät,
wenn Idole und Ideale hingbungsvoll vergöttert werden, ohne
daß eine Realerfahrung oder Realbeziehung zugrunde liegt.
Auch die Beziehung zu Gott als einem imaginären
Wesen paßt hierher. Unser Thema wird berührt durch
Idealisierungen und Sehnsuchtsbeziehungen ohne reale oder falsche
Erfahrungsgrundlage, wie sie z.B. in Sorgerechtsfragen
zu Fehlentscheidungen führen oder in reinen "Sonntagsbeziehungen"
beim Umgang vorkommen können. Das ist auch eine gute Begründung
dafür, dem Kindeswillen zwar Beachtlichkeit (BGH)
zuzuerkennen, aber keine alleinige Entscheidungskraft.
O27)
S. Freud "Jenseits des Lustprinzips" in: "Psychologie des Unbewußten",
Bd. III Studienausgabe, Frankfurt 1975.
O28)
Aus der Beratungs- und Therapiepraxis ist bekannt, daß
viele Menschen eine starke Neigung haben, immer
wieder an den gleichen Partner-Typ zu geraten,
immer wieder die gleichen Fehler zu machen oder Problemlösungen
vergeblich zu versuchen. Andererseits gehört
zu einem Charakter, zu einer Persönlichkeit eine
gewisse Konstanz, so daß es auch nicht verwundert, wenn
Regelhaftigkeiten auftreten.
O29)
Vgl. Hilgard & Bower "Theorien des Lernens", Bd. I, dt. 2.A.
Stuttgart 1971, vor allem Kapitel 5 (Skinner).
O30)
Prägungskonzepte könnten hier eine neue Rechtfertigung
erfahren und sind keineswegs so ungerechtfertigt wie Fthenakis
meint ("Väter", Bd.I, München 1985, S.285).
O31)
vgl. die Kritik von Großmann et.al., eine problematische Angstbindung
als besonders günstig, weil intensiv, zu verkennen,
in "Die Entwicklung emotionaler Organisation und ihre Beziehung
zum intelligenten Handeln", in: Mönks & Lewald (Hrsg.) "Neugier,
Erkundung und Begabung bei Kleinkindern", München
1991, S.66. Umgekehrt darf man Idealisierungen und Sehnsuchtsbindungen
ohne reale Erfahrungsgrundlage nicht überbewerten.
O32)
Vgl. Lotte Köhler "Formen und Folgen früher
Bindungserfahrungen", Forum der Psychoanalyse (1992)
8, 263-280, hier S.276.
O33)
siehe Anmerkung 25)
O34)
Eine Zusammenfassung der Forschungen bis Mitte der 60er Jahre
gibt Emil Schmalohr "Frühe Mutterentbehrung bei Mensch und Tier",
2.A. München 1975, bis etwa 1970 M. Rutter "Bindung und Trennung in
der frühen Kindheit", dt. München 1978. Ausführlich,
wenn auch tendenziös überkritisch auch Fthenakis "Väter",
Bd.I, München 1985, Kapitel 8, S.209-288. Ganz neu:
K.E. Großmann & E. Fremmer-Bombik "Über die lebenslange
Bedeutung früher Bindungserfahrungen", in: H. Petzold
(Hrsg.) "Psychotherapie und Babyforschung": im Druck.
O35)
Mit Ausnahme Jopt's und Fthenakis', die offenbar ganz genau wissen, wie
wenig gewachsene Bindungsstärke für Kinder bedeutet.
O36)
Das Problem existiert allenthalben. So wie jede statistische
Entscheidung mit einem Fehler behaftet ist (Alpha, Beta), so stellt
sich das Problem auch im Recht, das immer im Dilemma steht: Maximierung
der Verurteilung der Unrechthandelnden gegenüber
Minimierung der zu Unrecht Verurteilten. Minimiere
ich die zu Unrecht Verurteilten, begehe ich den
Fehler, daß viele Gangster und Ganoven frei herumlaufen und
ihr Unwesen treiben. Maximiere ich die Verurteilung
der Unrechthandelnden, erwische ich auch so und so viele Unschuldige.
Will man den Wert oder Unwert von psychologischen Gutachten
burteilen, muß man die Fehler und Mängel mit Gutachten
gegenüberstellen den Fehlern und Schwächen bei den
Entscheidungen ohne Gutachten. So wie man im Leben für fast
alles bezahlen muß, aber freie Wahl in der Währung (Schweiß,
Geld, Unterwerfung, Anpassung, Symptombildung etc.) hat, so kommen
wir nicht ohne Fehler aus, wir können uns nur die Fehlerart und
das Risiko wählen. Fehlerminimierung kann arg daneben gehen
- was Jopt nicht begreift - und Watzlawik so überzeugend
darlegt, siehe oben Anmerkung 1.
O37)
Selbst wenn wir theoretisch einmal annehmen: Sei Kriterium k erfüllt,
sei die Wahrscheinlichkeit, daß Kind X eine bessere
Bindung an Y gegenüber Z hat, p=0.95, so weiß
ich immer noch nicht, gehört das Kind, um das es konkret hier
und jetzt geht, zu den 95% oder zu den 5%, d.h. an der kritischen
idiografischen Einzelfallbewertung führt k e i n Weg vorbei.
Ich muß mich immer mit Risiko entscheiden.
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